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In der Schatzkammer des Landesmuseums in Zürich stand eine junge Dame und betrachtete aufmerksam die in der mittleren, großen Vitrine ausgestellten kunstvollen Becher, Statuetten und Büsten – die Zeugen der herrlichen Goldschmiedekunst vergangener Jahrhunderte. Eine »junge Dame«? Doch, es kamen ihr beide Prädikate zu. Eine Dame war sie zweifellos trotz ihrer mehr als einfachen, ihrer ärmlichen Toilette, trotzdem daß ihre gewirkten Handschuhe an den Fingerspitzen sorgsam gestopft waren, trotz des billigen Stoffes ihres nicht mehr modernen Kleides, das den Schnitt zeigte, der vor zwei Saisons schon Mode gewesen. Aber es umgab sie jenes undefinierbare Etwas, daß man ihr den Titel einer Dame ohne weiteres zuerkennen mußte. Wie sie gekleidet war, laufen Tausende von jungen Mädchen oder »jungen Personen« herum, und dem Beobachter fällt es nicht im Traume ein, sie mit dem Begriff des Wortes »Dame« zu verquicken. Doch diese war unzweifelhaft eine Dame, und zwar eine junge Dame von vier- bis sechsundzwanzig Jahren vielleicht, aber ihr leuchtendes Goldhaar mit dem rötlichen Schimmer und ihr milchweißer, tadellos reiner Teint ließen sie jünger erscheinen. Zwar waren da einige Linien um ihren blaßroten, schönen Mund, die von durchkämpften Leiden ihr stummes Zeugnis abgaben, und auch um die dunkelblauen, dunkelumrahmten Augen mit den über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen zeigten sich solche Runen, die des Lebens eiserne Hand erbarmungslos in die weiße Haut gegraben, aber trotzdem war sie noch jung und in der Eigenart ihrer Schönheit sogar auffallend. Sie war vollständig versenkt in den Anblick eines wundervollen Zunftbechers in der Vitrine, den sie so genau betrachtete, als wollte sie eine geistige Photographie davon aufnehmen oder Formstudien an ihm machen, und als sie endlich aufsah, gewahrte sie durch die doppelte Glaswand auf der andern Seite zwei Herren, welche sich ebenfalls die ausgestellten Schätze betrachteten, und zwar deutete der eine mit der tadellos elegant behandschuhten Rechten auf die Heiligenbüste des oberen Regals, die, ehedem ein Gegenstand frommer Verehrung in dem berühmten Frauenmünster, sich nun die profane Bewunderung Kunstverständiger und unverständiger mit Gleichmut gefallen lassen muß.
Der Blick der jungen Dame glitt von der ihr zunächst auffallenden Hand auf deren Besitzer, und aus ihrem so wie so schon blassen Gesicht wich das Blut so jäh und so gewaltig, daß aschfahle Schatten sich darüber legten und es leichenähnlich machten. Trotzdem verlor sie ihre Selbstbeherrschung nicht, sondern wandte sich scheinbar ruhig den Vitrinen mit den Medaillen zu, doch bemerkte ihr aufmerksamer Blick, daß einer der beiden Herren aus der Schatzkammer heraus und an den Fuß der Treppe trat, welche aus dem Souterraingeschoß herauf nach der gotischen Kapelle führt, und die einzige, dem Publikum geöffnete Passage nach den oberen Etagen des Landesmuseums ist, da die von der Schatzkammer rechts und links laufenden Gänge keinen Ausgang, wenigstens keinen freien haben und man daraus wieder zurück nach der breiten, nach oben führenden Treppe kehren muß.
Gleichzeitig kam von oben eine größere Gruppe Schaulustiger herab, und aus dem linken unteren Gange erschien ein Trupp junger Mädchen, irgendeiner Schule angehörig, die von ihrer Vorsteherin geführt, in den taxfreien Nachmittagsstunden das Landesmuseum »machten«. Die Schatzkammer war von der lustig im schönsten »Zürcher Dütsch« schwatzenden Schar schon absolviert, sie hatten dann links die bizarre Schlittensammlung betrachtet und zogen nun nach dem rechten Gange zur »grüslichen« Folterkammer. Das Zusammentreffen beider Gruppen vor der Tür der mit elektrischem Licht erleuchteten, fensterlosen Schatzkammer verursachte für den Augenblick eine allgemeine Stockung, da es ja bekanntlich in solchen Fällen der Mensch macht wie die Schafherden, das heißt, keiner will zurück oder zur Seite, sondern alle drängen dicht zusammen nach vorwärts. So entstand sowohl in dem Eingang als auf dem schmalen Platz davor und halb noch auf der Treppe plötzlich ein enormes Durcheinander und Gedränge, in das auch unsre junge Dame geriet, so daß sie von dem eindringenden und gegenströmenden Strom an die Tür gedrückt wurde, neben der sich einer der mit der elektrischen Beleuchtung in Verbindung stehenden Knöpfe befand. Kein Mensch sah es, daß sich dabei eine mit gestopftem Stoffhandschuh bekleidete Hand nach diesem elektrischen Schlüssel ausstreckte, und im nämlichen Moment war es auch stockdunkel in dem zuvor so strahlend hellen Raume. Schimpfend und wetternd sprang ja nun sofort der Aufseher der Schatzkammer hinzu und schaffte sofort wieder Licht, in welchem sich der Menschenknäuel lachend entwirrte und den Aufseher achselzuckend drohen ließ, daß er den groben Unfug zur Anzeige bringen würde und keiner die Schatzkammer verlassen dürfe, der nicht zuvor zu diesem Ende seinen Namen genannt, um zur Verantwortung gezogen werden zu können. Der Mann war ja in seinem Rechte, doch konnte das alles nicht verhindern, daß in dem allgemeinen Gedränge schon einige Besucher die Schatzkammer verlassen hatten und unter ihnen auch die junge Dame, die nun inmitten der glücklich durchgedrungenen Schule nach dem rechten Gange verschwand, doch trug sie nun ihr schwarzseidenes Cachenez wie eine Binde ums Gesicht unter dem einfachen alten Matrosenhütchen, welcher Appendix leider einen Teil ihres Gesichtes und den größten Teil ihres leuchtenden Goldhaares verdeckte. Das zum Überfluß gegen die linke Gesichtsseite gepreßte Taschentuch deutete an, daß sie wohl von plötzlichen Zahnschmerzen überfallen worden war. Inmitten des Stromes der schwatzenden Schülerinnen kam sie so in den nächsten Raum, der von einem Souterrainfenster erleuchtet, allerlei uralten Hausrat enthält, hier aber wand sie sich geschickt durch und schlüpfte in das folgende Gelaß, welches als Vorraum für die in den Turm aufwärts führende Wendeltreppe dient. Das unter derselben liegende runde Gemach ist als »Folterkammer« mit all den Schauerlichkeiten einer gottlob vergangenen Zeit angehörigen Inquisitionswerkzeugen angefüllt und stilvoll mit Henkersmantel, Leichentuch und Totenschädel dekoriert, der Raum selbst aber ist durch eine eiserne Gittertür abgeschlossen. Die junge Dame warf einen raschen Blick auf die in dem Vorraum ausgestellten, kunstlosen, länglichen Kisten verschiedener Größen – sie wußte wohl, daß die sonderbaren Kuriositäten Pestsärge waren. Ein leichtes Frösteln schien sie zu durchbeben, doch ohne Aufenthalt wandte sie sich der Treppe zu, die zwar durch einen Kordon abgesperrt und mit der Tafel: »Verbotener Aufgang« versehen war, aber sie kehrte sich nicht daran, sondern schlüpfte unter dem Kordon durch und eilte die Treppe in die Höhe bis hinter die Windung, die sie den Besuchern der Folterkammer verbarg. Ungehindert gelang ihr das, denn die Aufseherin dieser Abteilung war auf den Lärm und das Schelten in der Schatzkammer, das dem Erlöschen des Lichtes dort gefolgt war, neugierig dahin geeilt – es war doch mal eine Abwechslung in dem Einerlei dieses langweiligen Dienstes.
Die junge Dame aus der Wendeltreppe lauschte hinter ihrer Deckung mit angehaltenem Atem herab – was sie die nächsten zehn Minuten hörte, war nichts, als das Durcheinanderschwatzen der Schülerinnen. Dann hörte sie diese sich entfernen. Es ward still.
Nun kamen Schritte, langsam, etwas schlürfend: die Aufseherin. Dann wieder welche, leicht, sicher und fest, Doppelschritte, und eine Stimme, die der Lauscherin droben das Blut in den Adern zu Eis gerinnen machte, sagte in einem etwas fremdartigen Deutsch: »Pardon, Madame, haben Sie eine Dame eben hier gesehen mit goldblondem Haar, sehr weißer Gesichtsfarbe und dunkeln Augenbrauen, die über der Nase zusammengewachsen sind?«
»Bedaure, nein,« erwiderte die Stimme der Aufseherin nach einer Pause des Besinnens. »Es sind eben hier so viele Schülerinnen der Haushaltungsschule gewesen – wenn die Dame nicht etwa darunter war – besonders ist sie mir nicht ausgefallen.«
»Unter den Schülerinnen war sie nicht,« sagte eine zweite Männerstimme. »Ich habe sie alle an mir vorbeipassieren lassen. Sie wird vorher die Treppe heraufgegangen sein.«
»Pardon, das ist sie nicht,« fiel die erste Stimme betonend ein.
»Es ist mir niemand entgangen, der die Treppe nach oben nahm. Aber ich sehe hier eine andre Treppe. Vielleicht …«
»Verbotener Aufgang,« sagte die Aufseherin kurz. »Die Treppe ist außerdem von oben durch eine Tür abgeschlossen, da kommt keine Seele durch.«
»Vielleicht,« fuhr die erste Stimme nach dieser Unterbrechung sanft fort, »vielleicht kann man sich aber auf der Treppe aufhalten. Wenn Sie uns gestatten würden, Madame, nachzusehen …«
»Das ist doch sonderbar! Warum sollte sich denn die Dame dort verstecken? Ist sie eine Verbrecherin, die Sie suchen?«
»O nein, nein!« wehrte die zweite Stimme lachend ab. »Nichts als ein Scherz, Madame! Ein neckischer Scherz, ein jeu de cachet gewissermaßen.«
»Eben darum möchten wir gern die Gewinner sein,« fiel lachend die erste Stimme ein.
»Eh –!« ließ sich die Aufseherin mißtrauisch vernehmen. »Herauflassen darf ich Sie nicht, meine Herren, dazu muß ich eine Vollmacht haben. Aber ich will mal selbst nachsehen.«
»O, Sie sind die Güte selbst, Madame,« beeilten sich beide Männerstimmen zu versichern, und die junge Dame hörte die Aufseherin den Kordon loshaken, der die Treppe absperrte. Bei dem Geräusch stieg sie wohl noch eine Stufe höher empor, aber sie sah ein, daß es nutzlos war, denn oben versperrte eine verschlossene Tür ihr doch den Ausgang. Aber sie kannte die Aufseherin, sie hatte ihr oft zugesehen und sich mit ihr unterhalten, wenn sie im Landesmuseum gezeichnet hatte; es war eine Person von langsamen Begriffen, aber sie war nicht unzugänglich, und wenn …
Da kam sie eben langsam um die Treppenwindung herauf und sicher hätte sie ihrem Erstaunen, die Gesuchte doch hier auf dem verbotenen Terrain zu finden, lauten Ausdruck gegeben, wenn nicht die letztere ihr mit einem flehenden Ausdruck in den großen Augen beschwörend beide Hände entgegengestreckt hätte. Diese Augen mußten wohl eine ganz merkwürdig beredte Sprache gesprochen haben, daß sie der sonst so langsam begreifenden Aufseherin auf der Stelle verständlich war, denn der Ausruf, zu dem sie schon den Mund geöffnet, erstarb ihr in der Kehle – sie nickte nur und stieg die Treppe langsam wieder herab, aus deren erster Stufe die beiden Herren sie empfingen.
»Keine Seele oben,« sagte sie kurz, hakte die Schnur wieder ein und deutete durch eine Kehrtwendung an, daß sie die Unterhaltung für erledigt betrachtete. Im selben Augenblick schollen auch helle Glockentöne durch das Haus – das Zeichen, daß es vier Uhr war und die Besuchszeit des Landesmuseums für heute abgelaufen.
»Guten Abend, meine Herren,« sagte die Aufseherin, und da man deutlicher kaum werden kann, so entfernten sich die beiden, nachdem sie noch einige rasche Worte in einer fremden Sprache gewechselt. Kaum waren sie außer Gehörweite, als die Aufseherin eilig zu der Treppe zurückkehrte.
»Fräulein!« rief sie halblaut hinauf. »Kommen Sie herunter, ich bin allein!«
Die junge Dame erschien darauf ohne Zögern. Das schwarze Cachenez verbarg nicht mehr ihr weißes Gesicht das die Aufseherin teilnahmsvoll betrachtete.
»Grausam erschrocken sind Sie, Fräulein,« meinte sie freundlich. »Nun, sie sind fort, die beiden Mosjös mit ihrem sogenannten Scherz, der Ihnen aber nicht zu gefallen scheint. Na, na, lassen Sie's gut sein,« fügte sie hinzu, den Schauer, der die zarte Gestalt der jungen Dame schüttelte, gründlich mißverstehend, »wir sind sie ja los, die beiden feinen Don Juans. Aber jetzt müssen wir auch heraus, denn nun wird zugeschlossen.«
»Und draußen vor dem Tor werden sie auf mich warten,« sagte die junge Dame mit erneutem Schauern.
»Das wäre nicht übel,« meinte die Aufseherin. »Den Spaß wollen wir ihnen aber gründlich versalzen, Fräulein, gelt? Sie gehen mit mir zur Seitentür heraus, und wenn die Herren dann vor dem Tor warten, dann mögen sie's tun, bis sie schwarz werden. Kommen Sie nur ruhig mit.«
Und so geschah es. Die Aufseherin holte sich in der Garderobe erst ihre Sachen und verließ dann mit der jungen Dame das Landesmuseum durch eine Seitentür – ungesehen, unbemerkt.
Vor dem Tor hatten richtig die zwei Herren gewartet, bis der Strom der Besucher sich verlaufen und der Kastellan die schwere Tür verschlossen; ja, sie waren noch zwanzig Minuten länger geblieben, um zu beobachten, ob auch niemand verspätet das burgartige Gebäude verließ.
»Umsonst, sie ist uns entschlüpft,« sagte der ältere der Herren auf russisch. »Wie das möglich war, das verstehe ich noch nicht, denn ich habe die Treppe nicht aus den Augen gelassen, keine der vorbeipassierenden Personen ist mir entgangen.«
Der andre zuckte mit den Achseln.
»Sie ist eben durch einen andern Ausgang entwichen, nachdem sie das elektrische Licht ausgedreht. Es war ein kühner Trick an diesem Orte, den sie doch sehr gut kennen muß, um ihn für sich so auszunutzen. Vielleicht war sie doch auf der Treppe, welche uns die Aufseherin nicht betreten ließ. Es war ein Fehler, daß wir ihr nicht einfach folgten.«
»Lieber Freund,« erwiderte der Ältere überlegen, »das hätte uns ins Unrecht gesetzt, denn die Besucher dieses Museums sind gehalten, den Anordnungen der staatlich beorderten Aufseher Folge zu leisten, widrigenfalls etc. etc. etc. Nun wäre es mir gar nicht darauf angekommen, mich in das bewußte Unrecht zu setzen, wenn zum Beispiel die Vorräume leer gewesen wären. Es waren da aber ein halb Dutzend sehr handfest aussehender Eidgenossen um den gotischen Schrank des benachbarten Saales versammelt, und überdies war dem dummen Gesicht der Aufseherin vollkommen zu trauen, ganz abgesehen davon, daß eine Verständigung zwischen ihr und unsrer Prinzeß Goldhaar in der Kürze der Zeit ganz unmöglich war. Nein, nein, das Mäuslein ist durch ein andres Schlupfloch entwischt. Aber es tut nichts, Michael Mawrikiewitsch, wir werden sie schon finden, nun wir wissen, daß sie hier ist.«
»Oder war, Wassili Wassiliewitsch,« meinte der andre nicht ohne Hohn.
»Oder war,« gab der Ältere höflich und ohne Pike zu. »Sie haben recht, man muß auch diese Eventualität ins Auge fassen. Nein, diese Überraschung, plötzlich, ungeahnt durch diese Vitrine sie zu erblicken, die uns, wie von der Erde verschlungen, entschwunden war. Das sind ja jetzt her – lassen Sie mal sehen – fünf Jahre, wie? Sogar etwas drüber, fünfeinviertel Jahr präzis. Und so gar nicht verändert, höchstens zu ihrem Vorteil. Ich habe sie auf der Stelle wiedererkannt!«
»Ich auch,« bestätigte der mit Michael Mawrikiewitsch Bezeichnete. »Schade, daß sie aufblickte und uns sah – noch eine halbe Minute und wir wären an ihrer Seite gewesen –«
»Und hätten ein stürmisches, herzliches Wiedersehen vor aller Welt gefeiert und die so wunderbar Wiedergefundene im Triumph zwischen uns entführt,« ergänzte Wassili Wassiliewitsch mit einem seltsamen Lächeln. »Ja, wenn alles immer so glatt ginge, dann könnte das Wörtlein ›Hindernis‹ im Wörterbuch gestrichen werden.«
»Eigentlich,« meinte Michael Mawrikiewitsch nachdenklich. »Eigentlich hat die Jagd wenig Zweck. Es ist nicht bekannt geworden, daß das Mädchen irgendwelchen Gebrauch gemacht hat von ihrem Wissen, es ist auch nicht anzunehmen, daß sie welchen machen wird –«
»Wenn wir auf solche Brücken treten wollten, dann würden wir uns ja die Verräter einfach selbst erziehen,« fiel der andre ein. »Es ist auch nicht an uns zu entscheiden, ob eine der Maßregeln Zweck hat oder nicht, sondern wir haben einfach zu tun, was uns vorgeschrieben ist. Darum also zuerst unsern Agenten aufgesucht und bei ihm gleich die Depesche ans Komitee aufgesetzt. Sie wird wohl ein bißchen lang, aber darum interessanter. Wie denken Sie über den ungefähren Tenor sans vêtement: ›Zufällig Pflegetochter vom 16. März 1896 entdeckt. Erbitten Order.‹«
»O, gut. Man kann das – warten Sie – vielleicht so wiedergeben: ›Ist zufällig Ihre Pflegetochter disponibel vom 16. bis März? Vorzüglichen 1896 Walliser entdeckt. Wir erbitten Kauf-Order.‹ Was meinen Sie dazu?«
»Ausgezeichnet! Sie sind immer ein Schriftgenie gewesen, Michael Mawrikiewitsch! Das passiert anstandslos jede Zensur. Übrigens fällt mir ein: man könnte jetzt vielleicht noch eine Frage mit Erfolg riskieren. Lassen Sie uns den Kastellan des Museums aufsuchen!«
Dieser brave Hüter, um die junge Dame mit dem Goldhaar und den zusammengewachsenen Brauen befragt, legte den Finger an die Nase, konsultierte sein Gedächtnis und fand die Gesuchte darin nicht, wie er denn überhaupt nicht geneigt schien, dasselbe für ein paar lumpige Fremde in irgendwelcher Weise anzustrengen. Die hinzutretende Frau aber wußte besser Bescheid und behauptete, die Gesuchte könnte nur das Fräulein sein, welches schon oft hier im Museum gezeichnet habe, und wenn sie nicht sehr irre, hätte die vorgewiesene Erlaubniskarte dafür auf »Tell« mit noch was dran – richtig, ja »Tellgrün« oder so was Ähnliches gelautet. Wo sie wohnte, wußte die Frau nicht, aber das war für die beiden Herren nicht so sehr enttäuschend, denn wozu hätte man Polizeibureaus, auf denen man das Domizil der obskursten Namen erfahren konnte ohne irgendwelche Mühe.
Sie trennten sich also nach den gemachten Erhebungen und suchten das Telegraphenbureau, beziehungsweise das Polizeiamt auf. Und so kam es denn, daß sowohl Haustür als Hinterpforte eines gewissen Hauses in einer gewissen Straße unauffällig überwacht waren, ehe eine Stunde verronnen war.
Inzwischen war die junge Dame ungefährdet durch viele enge Gäßchen ihrer Wohnung zugeeilt und hatte wie gejagt die vier Treppen zu ihrer Mansarde erstiegen, deren Tür sie hinter sich zuschloß, um dann für den Moment völlig entnervt mit zitternden Knien und fliegendem Atem auf dem nächsten Stuhl niederzusinken – nebenbei dem einzigen, den das kahle Stübchen enthielt, wenn man eine umgestülpte, leere Kiste neben dem schmalen dürftigen Bette und einen kleinen Reisekorb neben der Tür nicht etwa zu den Sitzmöbeln rechnen will. Einer der charakteristischen schweizer Wandschränke oder Placard, praktisch und geräumig für alle Habseligkeiten eingerichtet, ein roher, tannener Tisch, darauf ein großes Reißbrett und allerlei Zeichenutensilien lagen, ergänzten die armselige Einrichtung, und trostlos genug wäre das winzige Stübchen mit der Aussicht auf die Nachbardächer gewesen, wenn am offnen Fenster nicht etliche Blumentöpfe gestanden hätten, in denen, umfächelt von der warmen Mailuft, bescheidene aber farbenprächtige Blumen blühten, die in das kahle Gemach einen Hauch von Poesie, von Glauben und Hoffen brachten.
Auf dem Reißbrett aber war ein Blatt aufgeheftet, das noch etwas andres in diese Wohnung der Armut brachte, nämlich die Seele der Kunst. Wohl war's »nur« ein Textilmuster, was da entworfen und zum größten Teil ausgeführt auf dem Blatte war, aber welche Begabung, welche Grazie, welche Beherrschung der Form verriet es! Auf einem Grunde vom schwersten mauve-Atlas gedacht, bildeten die voll und halberblühten Lilienzweige mit ihren silberschimmernden Kelchen und leichtgetönten grünen Blättern ein durchaus naturalistisches Muster von solcher Grazie und Eleganz, daß man angesichts derselben den Lügen strafen konnte, der die Lilie eine »steife« Blume nannte und ihr die Fähigkeit absprach, sich anders als stilisiert für die Textilfächer verwerten zu lassen. Und diese Zweige lagen auf dem Blatte wie frisch gepflückt, ja selbst die Verwertung von Silberfäden für die Blüten und von Goldfäden für die Stempel war eine so geschickte, daß sie sich der naturalistischen Darstellung ganz natürlich anschmiegte. Die Urheberin aber dieser tadellos schönen Arbeit – eine mit Reißnägeln angeheftete Visitenkarte an der Tür ihrer Mansarde bezeichnete sie als »Astrid Tellgreen, kunstgewerbliche Zeichnerin« – saß vor ihrem eignen Werk und sah darauf hin, ohne es zu sehen, fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde …
Tann hatte sie sich gesammelt, sich wiedergefunden. Langsam, schwerfällig stand sie auf, schloß den Wandschrank auf und räumte gewohnheitsmäßig ihre Straßensachen ein in das dürftig gefüllte, aber peinlich ordentlich gehaltene Gelaß: erst das Jackett, dann das Cachenez, sauber zusammengelegt, den Hut, die Handschuhe. Aus dem Fach, wo sie die letzteren hineinlegte, holte sie eine mit buntem Papier beklebte Pappschachtel hervor, die mit einem verschossenen blauen Seidenbändchen verschnürt war, und dies elende, billige Schächtelchen küßte Astrid Tellgreen mit heißen, brennenden Lippen, wog es für einen Moment unschlüssig in der Hand und löste dann das Band und schlug den Deckel zurück.
Ein altes, oft gelesenes, russisches Zeitungsblatt lag sorgsam gefaltet obenauf in der Schachtel. Das nahm Astrid Tellgreen heraus, strich es mit kalten, bebenden Fingern glatt und las, scheinbar mühelos, den mit Rotstift umrandeten Artikel der fremden, schweren Sprache:
»St. Petersburg, den 18. März 1893. In hohen wie niederen Kreisen erregt das schon gemeldete spurlose Verschwinden der als Philanthropin allbekannten Fürstin Sonja Sergiewskow das größte Aufsehen. Wie wir erfahren, hat die Dame ihr Palais am Nachmittag des 16. verlassen, um zu einem Diner bei Fürst X. zu fahren. Auf dem Wege dahin ist sie beim Professor Michael Mawrikiewitsch Belgratkin abgestiegen und von dessen Hause nach einhalbstündigem Besuche wieder abgefahren. Der den Schlag ihres Coupés öffnende Portier des Fürsten X. fand indes auf dem Sitz nichts vor, als den violettsamtnen, mit Zobel gefütterten und verbrämten Abendmantel der Fürstin, sowie das weiße Spitzenfichu, das sie statt eines Hutes wie gewöhnlich bei Fahrten zu Gesellschaften und ins Theater auf dem Kopf zu tragen pflegte. Weder der Diener, der ihr vor Professor Belgratkins Hause selbst in den Wagen geholfen, noch auch der Kutscher hatten gemerkt, daß die Fürstin, was ja auch undenkbar schien, während der Fahrt im scharfen Trabe das Coupé verlassen! Die Sache ist so rätselhaft wie möglich, ein Verbrechen ebenso unglaublich wie die die Annahme eines freiwilligen Verschwindens, das nur in einem Anfall von Geistesstörung erklärbar wäre, da nach Versicherung ihrer intimen Freunde nichts vorlag, was die letztere Annahme bei der in glänzenden Verhältnissen lebenden, fast fünfzigjährigen Witwe rechtfertigen könnte. Vielleicht führt der Umstand, daß die wohltätige Fürstin bei ihrem Verschwinden ein höchst merkwürdiges Schmuckstück trug, zur Entdeckung des Rätsels. Es ist dies die in den Fachkreisen der Juweliere allbekannte, ebenso sonderbare wie unermeßlich kostbare Perle, »Lucifers Träne«, so genannt von ihrer seltsam verkrüppelten Form, ein Unikum der Perlenfischerei. Gefunden in den Gewässern von Ceylon, kam diese Perle in den Besitz Tippo Sahibs, der sie, weil ein indischer Weiser ihr unheilvolle Kräfte zuschrieb, dem Großvater der Fürstin, General Graf Ustscheffsky schenkte, als dieser sich im Auftrage seiner Regierung bei dem indischen Radscha aushielt. Der General starb kurz darauf durch einen Sturz vom Pferde, noch ehe Tippo Sahibs Schicksal erfüllt war, und »Lucifers Träne« kam in den Besitz seines einzigen Sohnes, der bekanntlich vor Plewna fiel als der Letzte seines Namens. Sein großes Vermögen erbte seine Tochter Sonja und mit ihm die Perle, welche die Fürstin als Anhänger fassen ließ und gern trug, da es ihr sichtlich Freude zu machen schien, wenn Kenner und Nichtkenner das seltsame Juwel an ihr bewunderten, das wie gesagt ein Unikum ist und zweifellos auf ihre Spur führen müßte, wenn es irgendwo auftauchen sollte. Der bloße Hinweis genügt, die Aufmerksamkeit der Juwelenhändler zu erregen, denn sollte das Verbrechen die Hand im Spiele haben, so war's vergeblich, die Perle, »Lucifers Träne«, ist unverkäuflich. – – Nicht genug ist's mit dieser rätselhaften Begebenheit, die Chronik der Hauptstadt meldet auch noch das spurlose Verschwinden einer andern Persönlichkeit, nämlich der jungen Gräfin Marfa Gawriliewna Vucotic, der Tochter des bekannten Generals, welche seit dem Tode ihrer unter traurigen Umständen verwitweten Mutter im Hause des schon erwähnten Professors Michael Mawrikiewitsch Belgratkin lebte. Der hochgeachtete, reiche Gelehrte hat alle Hebel der Polizei in Bewegung gesetzt, seine verschwundene Pflegetochter wiederzufinden – leider bisher ohne Erfolg. Nach diskreten Andeutungen des Professors dürfte die junge Gräfin vielleicht nicht allein entwichen sein, da ihr Pflegevater ihr gewisse Herzenswünsche versagen zu müssen genötigt war – hoffen dürfen wir demnach, daß die kühne Art, ihre Wünsche durchzusetzen, die junge Gräfin bald wieder zurück in ihre Kreise bringt und mit ihr den merkwürdigerweise gleichzeitig vermißten Assistenten des berühmten Bakteriologen, den zu den schönsten, wissenschaftlichen Hoffnungen berechtigenden Doktor Kasimir Posnowski, ein Pole von Geburt.«
Mit einem tiefen, zitternden Seufzer beendete Astrid Tellgreen ihre Lektüre, indem sie das morsche Zeitungsblatt zusammenlegte und wieder in den zurückgeschlagenen Deckel der Pappschachtel drückte, aus der sie nun eine Schicht der sie füllenden rosafarbnen seidnen Watte hob. Zwischen dieser und der unteren Schicht eingebettet aber lag in der voll zum Fenster hereinscheinenden Nachmittagssonne funkelnd, gleißend und leuchtend ein seltsames Schmuckstück, das mit seiner Pracht einen schreienden Kontrast bildete mit dem ärmlichen Stübchen und seiner ebenso ärmlichen Bewohnerin – »Lucifers Träne«, mit ihrer barocken, an ein lateinisches S erinnernden Form fast taubeneigroß herabhängend aus einem gestürzten, diamantnen Halbmond, dem wiederum ein schöngefaßter Smaragd als Öse für eine Kette oder Band diente. Nur einen kurzen Augenblick ließ Astrid Tellgreen die Sonne auf dem Schmuckstück funkeln, dann deckte sie hastig wieder die rosa Watte darüber und klappte den Deckel der Schachtel zu.
»Erst du für mich – nun ich für dich,« zitterte es schluchzend über ihre bleichen, brennenden Lippen, als sie das blonde Haupt vornüber neigte, tief, tief, wie unter einer unerträglichen Last. Dabei hatte sie's überhört, daß feste, energische Schritte die knarrende, hölzerne Treppe heraufgekommen waren, und erst ein Klopfen an ihrer Tür ließ sie auffahren, blaß, mit vor Schrecken fast stillstehendem Herzen, die Augen in namenlosem Entsetzen auf die Tür geheftet, an der das Klopfen sich nach kurzer Pause wiederholte.
»Ist Fräulein Tellgreen nicht zu Hause?« hörte sie dann eine frische sympathische Männerstimme fragen.
»Doch – ich hab' sie ganz vor kurzem heimkommen sehen,« antwortete die Kinderstimme von der Nachbarin kleinem Mädchen, das wohl draußen im Gange gespielt haben mochte.
Nun fand Astrid Tellgreen wieder die Kraft der Bewegung. Steif, als wäre sie des Gehens ungewohnt, schleppte sie sich zur Tür, schob den Riegel zurück und drückte die Klinke herab.
» Sie, Herr Lenzburg?« fragte sie befremdet, aber ein warmer Hauch flog über ihre blassen Wangen, und in ihren dunkelblauen Augen leuchtete es auf wie der Widerschein einer unvermuteten Freude.
»Ja, ich,« erwiderte der vor der Tür stehende noch junge, sehr gediegen gekleidete, vornehm aussehende Mann, den Hut lüpfend. »Darf ich näher treten?«
Astrid Tellgreen schien einen Moment mit ihrer Antwort zu schwanken.
»Bitte,« sagte sie dann etwas steif und kühl. »Was verschafft mir diese unvermutete Ehre?«
Die hohe Männergestalt mußte sich bücken, um die niedere Tür ungefährdet zu durchschreiten, und über sein hübsches, sympathisches, offenes Antlitz, das der kurze dunkle Vollbart gut kleidete, flog beim Anblick des dürftigen Zimmerchens ein schöner Ausdruck von innigem Mitleid.
»Ehre?« fragte er schnell gefaßt mit freundlichem Lachen. »Die Ehre ist auf meiner Seite, da Sie mir den Eintritt bei sich gestatten.«
»Sie spotten,« erwiderte Astrid Tellgreen kühl. »Wenn der Brotherr sich herabläßt, seine Arbeiterin aufzusuchen, dann ist sie's, der die Ehre widerfährt. Ich weiß die Grenze genau zu ziehen, Herr Lenzburg. Sie, der reiche, hochangesehene Fabrikant – ich Ihre bezahlte Zeichnerin – der soziale Abgrund zwischen Ihnen und mir darf nicht vergessen werden. Sie kommen jedenfalls wegen der Zeichnung für den Brokatstoff – der Ablieferungstermin ist morgen mittag!«
Herrn Johannes Lenzburgs angenehmes Gesicht überflog bei diesen abweisenden Worten ein trauriger Zug, aber das ging schnell vorüber.
»Nun,« sagte er lächelnd, »ich bin ganz gewiß für eine bestimmte Scheidewand zwischen Arbeitgeber und Arbeiter, die sich übrigens schon ganz von selbst ergibt und auch selten überschritten wird. Einen sozialen Abgrund kenne ich als republikanischer Bürger aber nur zwischen gebildet und ungebildet und ich sollte meinen – – nein, Fräulein Tellgreen, ich bin nicht des Musters wegen gekommen, das erhalte ich mit gewohnter Pünktlichkeit morgen zeitig genug von Ihnen und nach dem zu urteilen, was ich dort auf dem Reißbrett sehe, wird's wieder ein Kunstwerk ersten Ranges, und als Chef der Firma werde ich von neuem den Tag preisen können, der Sie in mein Bureau geführt, um mir Ihre Arbeit zu offerieren –«
»An dem Tage war ich nicht weit mehr vom Verhungern,« warf Astrid Tellgreen ein. »Sie haben's mir wohl auch angesehen, denn wie wären Sie sonst dazu gekommen, mir einen Vorschuß auf meine erste Arbeit, die Sie bestellten, anzubieten?«
»Geschäftsusus,« meinte Herr Lenzburg leichthin.
»Mitleid,« berichtigte Astrid Tellgreen. »Aber was auch das Motiv war, es hat mich gerettet vor – etwas Schrecklichem. Damals war ich Ihnen dankbar, o so dankbar – – heute – ist's – anders –«
Die Stimme brach ihr und sie mußte sich abwenden.
Herr Lenzburg trat einen Schritt naher.
»Nein,« sagte er bewegt und weich, »ich bin nicht des Musters wegen gekommen. Aber Sie sind mir eine Antwort schuldig geblieben, denn als wir das Muster dort in meinem Bureau besprochen hatten, richtete ich eine Frage an Sie, die Sie nicht beantworteten, sondern ohne auch nur ein Wort zu erwidern liefen Sie auf und davon, und bis heute hab' ich vergeblich darauf gewartet – – «
»Eine Frage?« wiederholte sie, ihm ihr stolzes Gesicht wieder zuwendend. »Sie irren, Herr Lenzburg. Sie haben den Moment des Alleinseins mit mir benutzt, mir zu sagen, daß – daß Sie mich lieben –«
»Nun, ich meine, darin liegt doch die Frage, ob Sie diese Liebe erwidern und mir die Ehre erweisen wollen, meine Frau zu werden,« fiel Herr Lenzburg warm ein. »Astrid, hätten Sie mich, meine Worte, meine Absicht wirklich auch nur für eine Sekunde mißverstehen können?«
Sie senkte den Kopf und schlug die Augen nieder, und eine flammende Röte ergoß sich über ihr Gesicht, und in dem kleinen Dachkämmerchen ward's ein paar Atemzüge lang totenstill. Dann aber schlug Astrid Tellgreen die Augen wieder auf, und ein paar Tränen rollten ungehindert und unverborgen daraus über ihre jetzt wiedererblaßten Wangen herab.
»Ja,« sagte sie leise, »ich habe Sie mißverstanden, mißverstehen wollen meiner besseren Überzeugung zuwider. Verzeihen Sie mir, wenn Sie's können. Aber ich bin arm und schutzlos, und ein bittres Leben liegt hinter mir – «
Sie hielt ein, weil ihr die Stimme brach, und leise schluchzend senkte sie wiederum den Kopf.
»O, ich verstehe Sie, habe Sie eigentlich ja gleich verstanden und darum bin ich zu Ihnen gekommen,« rief Johannes Lenzburg warm, sein ganzes Herz lag in dem Ton seiner Stimme. »Meine Antwort, Astrid, meine Antwort will ich. Haben Sie mich lieb, so lieb, daß Sie mein Leben mit mir teilen mögen?«
Sie zögerte nicht einen Moment mit der Antwort.
»Ja,« sagte sie schlicht und ohne jede Ziererei, »ja, ich bin Ihnen sehr gut, ich habe Sie so lieb, so von ganzem Herzen lieb, wie man Sie lieben muß. Und es freut mich, daß ich es Ihnen noch sagen durfte, ehe wir uns trennen müssen – für immer.«
»Astrid!« rief er mit einem solchen Gemisch von Glück und Weh, daß es das blonde Mädchen durchschauerte.
»Für immer,« wiederholte sie tonlos.
»Aber warum?« rief er leidenschaftlich, und als sie leise den Kopf schüttelte, fügte er energisch hinzu: »Ich habe das Recht zu fragen!«
»Es ist wahr,« nickte sie mit zuckenden Lippen. »Nun ich Ihnen so viel gesagt, haben Sie das Recht nach dem Grund zu fragen. Gut denn. Sie sollen ihn hören. Ich bin eine Todgeweihte –«
»Das sind wir alle –«
»Ich bin eine Sterbende. Und so nahe ist mir der Tod, daß ich nicht glaube, diese Zeichnung dort morgen ab liefern zu können. Noch vor einer Stunde hat mich das Entsetzen geschüttelt vor dem unabweisbaren jähen Ende, jetzt sterbe ich gern, weil ich weiß, daß ein so edler Mensch wie Sie es sind, mich liebt – – Nein!« brach sie plötzlich aufschluchzend aus, »nein, es ist nicht wahr, ich sterbe nicht gern, nicht jetzt, wo das Glück mir die Hand reicht nach so vielen Jahren des Elends, der Einsamkeit! Und wenn ich denn sterben muß – mit einer Lüge, einem Selbstbetrug will ich nicht scheiden. O könnte ich leben, jetzt leben!«
Johannes Lenzburg hatte mit weitoffnen Augen zugehört.
»Das verstehe ich nicht,« sagte er langsam, säst schwerfällig. »Aber Sie werden mir's erklären –«
»Ich darf nicht,« fiel sie händeringend ein.
»Sie dürfen nicht?« wiederholte er langsam. »Doch, Sie dürfen nicht nur, Sie müssen's,« setzte er fest und überzeugungsvoll hinzu. »Ich betrachte Ihr schönes, freimütiges Geständnis, daß Sie meine Zuneigung erwidern, als ein Verlöbnis. Jawohl, als ein Verlöbnis, Astrid! Wohl schickt es sich anders, als ich mir's geträumt, denn mir scheint, daß ein dunkler Schatten mir noch verbietet, Sie an mein Herz zu schließen – – aber als Ihr Verlobter muß ich diesem Schatten gegenübertreten, um ihn dahin zu bannen, wohin er gehört und von wannen er auch wohl kommt: ins Reich der Phantasie. Sprechen Sie Astrid, erklären Sie mir die schrecklichen, wilden Worte, die Sie eben gesprochen! Sie sagten, Sie dürften das nicht. Warum? Bindet Sie ein Versprechen?«
Unfähig zu reden, nickte sie nur.
»Vielleicht gar ein Eid?« fragte er und als sie zusammenschauernd die Hände vors Gesicht schlug, fuhr er ruhig wie vorher fort: »So – also ein Eid. Ein freiwilliger Eid?«
»Nein, nein, nein!« stöhnte sie.
»Dreimal nein? Also ein aufgezwungener Eid. Vielleicht gar einer, den Sie unter dem Druck schwerer Drohungen geleistet, nicht? Ein solcher Eid bindet nicht, Astrid, denn er muß aus unlauterer Quelle entsprungen sein und nicht geleistet im Namen Gottes.«
»Nein. Gott hat damit nichts zu tun – Satan allein weiß darum,« erwiderte sie tonlos, trostlos.
»Sie sind eine Christin, Astrid?«
»Ja – gottlob!«
»Und Sie fühlen sich gebunden durch einen unheiligen Eid, den Sie der Finsternis zu leisten gezwungen waren?«
Astrid Tellgreen antwortete nicht sogleich. Stumm, mit gerungenen Händen stand sie da, und er griff nicht mit einem Wort mehr ein in den Kampf, den ihre Seele sichtbar kämpfte – er wartete scheinbar ruhig und mit der Geduld der Liebe auf den Sieg der bessern Sache.
»Sie haben recht, Johannes,« sagte sie endlich leise. »Ich selbst habe mich längst schon freigesprochen von jeder Verbindlichkeit, aber wo der Wunsch der Vater des Gedankens ist, da ist man ein schlechter, inkompetenter Richter in Gewissenssachen. Möglich sogar, daß es meine Pflicht gewesen wäre zu reden, wo ich geschwiegen habe. Auch das habe ich hundertmal erwogen, aber dann kam die elende Furcht vor den grauenvollen Mächten, die mich gebunden. Jetzt aber weiß ich keinen Weg mehr zu finden, denn wenn ich rede, reiße ich Sie mit in mein Verderben – jetzt muß ich schweigen um Ihretwillen!«
»O Astrid, liebe Astrid! Wer sollte mir etwas tun?«
»Wer? Sie, die Sie vielleicht jetzt eben schon bei nur wissen –«
»Nun, wenn sie mich schon bei Ihnen wissen, dann verschlägt's erst recht nichts mehr. Ist's das Verbrechen, das meine Mitwissenschaft fürchtet, dann mag es nur drohen. Wir sind in einem freien Lande, wo die Gerechtigkeit regiert – die wird mich schützen und Sie durch mich. Reden Sie, Astrid, reden Sie frei, denn ich kann gegen unbekannte Gefahren nicht kämpfen. Mit bekannten aber getraue ich mir's noch aufzunehmen. Sie schütteln den Kopf und weisen mir die Tür? Ja, dann wäre ich ein schöner Held, wenn ich jetzt ginge. Ich gehe nicht, gehe nicht eher von der Stelle, ehe ich nicht weiß, gegen was und gegen wen ich mein Glück zu schützen habe. Mein Glück! Läßt denn ein einziger Mensch in der Welt, läßt ein Mann sein Glück fahren nur weil er's nicht kampflos haben kann? Ja, vielleicht gibt's auch solche Männer, aber ich, Johannes Lenzburg, gehöre nicht zu ihnen.«
Und er setzte sich ruhig auf den Stuhl am Tisch. »Ich höre, Astrid,« sagte er fast heiter.
»Nun wohl,« erwiderte sie, »ich bin besiegt. Ich will reden. Und wenn ich fertig bin, werden Sie still hinausgehen und die Stunde verwünschen, in der Sie mich zuerst gesehen.«
»Das wollen wir abwarten, das heißt. Sie sollen es abwarten. Ich bin meiner sicher.«
»Wirklich?« fragte sie mit seltsamer Betonung. »Und wenn ich damit begönne. Ihnen zu sagen, daß ich eine – eine Nihilistin bin?«
»Bin ich ein Kind, das sich vom Butzemann schrecken läßt?« fragte er ruhig lächelnd zurück. »Sie haben mir vor zehn Minuten gesagt, daß Sie ›gottlob‹ eine Christin sind – beides können Sie unmöglich sein, das verträgt sich nicht. Wenigstens, was ich davon weiß. Und wär's wirklich wahr, dann sehe ich mit einem Male Licht: denn wer sich mit ›gottlob‹ dazu bekennt, eine Christin zu sein, der gehört nur gezwungen der Finsternis an, und ich weiß jetzt, vor wem ich Sie zu schützen habe. Und nun müssen Sie mir Rede stehen. Sie sind abtrünnig und fürchten die Rache jener, nicht wahr?«
»Ja,« erwiderte Astrid Tellgreen fest, aber mit einem scheuen Blick nach der Tür. »Fünf Jahre bin ich ihnen entgangen – heut' haben sie mich entdeckt. Ich bin eine Sterbende.«
»Noch nicht,« entgegnete aufstehend Herr Lenzburg sehr ernst. »Mut, Astrid, Mut! Ich habe da auch noch ein Wörtlein mitzureden. Hätten Sie doch früher gesprochen – wir haben Zeit verloren, Zeit, die vielleicht nicht mehr einzuholen ist! – Vor allem: hat ›man‹ Sie gesehen dies Haus betreten?«
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe es nicht, aber …«
»Nun, so müssen wir denken, es sei nicht der Fall, wie Sie's hoffen. Sie müssen fort, Astrid, noch in dieser Stunde – ich muß Sie in Sicherheit bringen, ehe ich handeln kann gegen jene. Dazu brauche ich Ihr volles Geständnis, aber das muß warten, bis Sie in Sicherheit sind. Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken … ja, so geht's. Fragen Sie nicht, lassen Sie mich handeln, wenn Sie Vertrauen zu mir haben!«
»O, Johannes,« kam es leis schluchzend von ihren Lippen.
»Gut,« erwiderte er ohne jede weitere Redensart. »Nun machen Sie sich rasch fertig, mit mir zu gehen. Nur den Hut und den Umhang, vielleicht einen Schleier, der Ihre leuchtenden Haare etwas deckt.«
Astrid Tellgreen tat ohne ein Wort, wie ihr geheißen war. Sie hüllte ihr Haupt in ein dichtes, schwarzes Spitzenfichu, dessen Zipfel sie in die Stirn zog, hing ihr Cape um und steckte das Pappschächtelchen in die Tasche.
»Ich bin fertig,« sagte sie.
Johannes Lenzburg öffnete die Tür, winkte Astrid zu warten und ging die knarrende Holztreppe hinab. Sie hörte ihn die vielen Stufen hinabsteigen, eine Etage nach der andern, bis ins Erdgeschoß.
»Kommen Sie,« rief er hinaus, laut und ruhig, und sie flog die Treppen hinab zu ihm, ohne auch nur einer Seele begegnet zu sein.
»Hinten hinaus, durchs Hinterhaus in das Verbindungsgäßchen,« raunte er ihr zu. »Dort warten Sie auf mich. Und – nur Mut!«
Sie nickte nur, und während er auf die Straße trat, ging sie durch die Hintertür langsam, ohne Eile in den schmalen, dumpfigen Hof, wo eine Masse Kinder spielten und eine Frau Wäsche von der Leine nahm. Die grüßte sie freundlich und fragte nach ihrem Befinden, sie sähe schlecht aus. Astrid dankte leise und ging weiter – im Hinterhausgange traf sie niemand, aber nur zögernd trat sie von da hinaus in das kaum meterbreite Verbindungsgäßchen, das sich finster, schmutzig und wenig einladend zwischen den hohen Hausmauern hinzog und in eine der engen Gassen Alt-Zürichs mündete – doch auch hier trat ihr kein Mensch entgegen. Nach einer Viertelstunde des Wartens, die ihr wie Jahre langsam und unerträglich bang dahinschlich, erschien Johannes Lenzburgs Gestalt in der engen Mündung dieses schluchtartigen Weges, und mit wenigen Schritten war sie an seiner Seite.
»Hier,« sagte er nur, auf die geschlossene Droschke deutend, die vor dem nächsten Hause hielt, und im nächsten Moment saßen sie beide in dem Wagen, der sofort davonfuhr, nachdem der Kutscher Weisung erhalten, nach dem Bahnhof Enge zu fahren. Astrid saß tief in ihre Ecke gedrückt, Lenzburg scheinbar in eine Zeitung versenkt, die er weit ausgebreitet vor sich hielt. Die Droschke fuhr ohne sonderliche Eile durch schmale, aufsteigende Gassen, kreuzte den Paradeplatz, durchfuhr den neuen Stadtteil jenseits desselben und hielt dann am Bahnhof Enge.
»Bleiben Sie sitzen,« sagte Johannes Lenzburg zu seiner todblassen Begleiterin, indem er ausstieg und die Tür der Droschke wieder schloß. Nach fünf Minuten kam er zurück.
»Nun schnell heraus und auf den Perron,« flüsterte er Astrid zu. »Ich habe die Billetts, und der Zug fährt eben ein.«
Astrid Tellgreen fragte nicht woher und wohin – stumm folgte sie ihrem Beschützer, der in dem vom Hauptbahnhof eingelaufenen Zug eine Coupétür erster Klasse öffnete und gleich, nachdem sie eingestiegen, wieder schloß, sich selbst aber vor das Fenster stellte und dadurch einen Einblick in das Coupé verhinderte. Astrid aber saß in der Ecke am Seitenfenster, verdeckt durch die Gardine, an der vorbei sie, selbst unsichtbar, den Perron überblicken konnte.
Dort spielte sich das übliche Leben ab, das Hasten und Eilen der Reisenden, das Winken, Grüßen und Schwatzen der Begleitenden und müßigen Zuschauer, das Geschäftliche des Bahn- und Zugpersonals. Das schnarrende »Ferrrr–tig« der Schaffner und das Trillerpfeifchen des Zugführers machte den wenigen Minuten des Aufenthalts fahrplanmäßig ein rasches Ende, und der Zug war schon in Bewegung, als noch zwei Herren eiligst aus dem Bahngebäude gestürzt kamen, ihre Billetts in der Hand »Halt! Halt« winkend und rufend …
»Das sind sie – ich bin verfolgt – es ist aus!« schrie Astrid Tellgreen auf.
Aber der Zug hielt natürlich nicht mehr an und war schon in einer viel zu starken Bewegung, als daß es den Herren gelungen wäre, noch einen der letzten Wagen zu erreichen und in voller Fahrt aufzuspringen. Johannes Lenzburg konstatierte das von seinem Fensterposten aus, den er nicht eher verließ, ehe er nicht noch gesehen, wie die beiden zurückgebliebenen Zuspätgekommenen heftig gestikulierend auf den achselzuckenden Bahnvorstand einredeten – dann erst wandte er sein vor Erregung blaß gewordenes Gesicht seiner Gefährtin zu, die halb ohnmächtig in der Ecke lag und ihn mit vor Furcht wilden Augen ansah.
»Sie sind gottlob nicht mehr mitgekommen,« sagte er in seiner einfachen Weise, indem er ihre beiden Hände in die seinen nahm. »Und was mehr ist, sie erreichen uns auch nicht mehr, denn mit diesem Zuge haben wir eben nur gerade Anschluß an den Nacht-Eilzug der Gotthardbahn in Luzern. Also Mut, Astrid, Mut!«
Sie tat einen tiefen Atemzug, und in ihre Wangen kehrte eine leichte Röte zurück.
»Sie werden mich trotzdem erreichen,« sagte sie resigniert.
»Unmöglich!« suchte er ihr zuzureden. »Fliegen können ›sie‹ nicht, wenn es jene beiden zurückgebliebenen Herren waren, die Sie fürchten. Es geht noch ein späterer Zug bis Luzern heute abend, aber bis ›sie‹ dort sind, eilen wir ja längst mit der Gotthardbahn davon, und wenn ›sie‹ dann auch mit dem Eilzuge am andern Morgen folgen, so fahren ›sie‹ doch sicher bis Mailand durch, während wir dann längst in Sicherheit sind in dem kleinen Tessiner Dörfchen, bei der Schwester meiner seligen Mutter, wo Sie bleiben sollen, bis – alles sicher ist für Sie und ich Sie heimhole in mein Haus!«
Astrid Tellgreen lächelte trüb. Sie fragte nicht einmal nach dem Namen des Dörfchens, in welche sie Schutz finden sollte.
»Sie werden mich finden,« sagte sie nur. »Sie sind mächtig und verfügen über alle Mittel, über die ein Kaiser kaum gebietet!«
»Nun, nun, so arg wird es wohl nicht sein,« meinte Johannes Lenzburg mit leisem Lächeln. »Aber nun muß ich auch wissen, wer sie sind.«
Doch dazu sollte er noch nicht so bald kommen, denn schon hielt der Zug wieder, und zwei Damen stiegen in das Coupé. Da flüsterte er ihr nur zu: »Besser keine Namen nennen. Voraussichtlich fahren wir von Luzern aus allein – bis dahin muß ich mich gedulden.«
Astrid nickte und lehnte sich müde zurück – ihr war es recht, daß sie sich erst sammeln durfte zu der traurigen Geschichte, die sie ihm zu erzählen hatte!
In Zug mußten sie aussteigen und auf dem andern Perron in den Luzerner Zug steigen, der schon bereit stand, doch wurde das um wenige Minuten verzögert, weil ein Bahnbeamter mit einer roten Fahne dastand und das Publikum nicht über die Schienen ließ, bis ein nur aus der Maschine und einem Wagen bestehender Extrazug dieselben in sausendem Tempo passiert hatte.
»Kommt wohl selten genug vor, daß jemand sich einen Extrazug bestellt,« sagte Herr Lenzburg zu dem Beamten mit der roten Fahne. »Das ist ein teurer Spaß.«
»Ja, sehr teuer,« bestätigte der Mann. »Du lieber Himmel, das Geld! Nun, in Zürich wohnen viele reiche Leute, die können's schon haben, wenn's ihnen in den Sinn kommt.«
»Der Zug kam aus Zürich?« fragte Astrid Tellgreen.
»Ja, Fräulein,« nickte der Mann.
»Das waren sie,« sagte Astrid heiser.
Aber nun verlor Johannes Lenzburg fast die Geduld.
»Die Furcht macht Sie unvernünftig,« meinte er kurz. »Erstens glaube ich nicht, daß es technisch möglich ist, in so kurzer Zeit einen Extrazug flott zu machen, und zweitens glaube ich nicht an das Vorhandensein solcher Mittel!«
»Ob Sie mit ersterem recht haben, wage ich nicht zu entscheiden,« erwiderte Astrid leise. »Ich hoffe aber, Sie haben recht. Das letztere aber weiß ich besser.«
Johannes Lenzburg war nicht überzeugt.
»Das müßte den beiden ja fürchterlich brennen, wenn sie ohne Bedenken solche Summen hinauswürfen, um ein Wild zu verfolgen, das ihnen doch nicht schaden kann oder nicht schaden will,« meinte er kopfschüttelnd.
»Dem Willen trauen sie nicht, dürfen sie nicht trauen,« erwiderte Astrid. »Und was das Brennen betrifft – es ›brennt‹ ihnen mehr, als der Zug dort laufen kann!«
»Er schüttelte wieder mit dem Kopf, indes er ihr ins Coupé half, aber er entschuldigte in seinem Herzen ihre Übertreibung gern mit ihrer Furcht, die ja sicher nicht unbegründet war, wenn in der Tat jene furchtbare Gesellschaft zur Vernichtung von Thron und Altar im Hintergründe von Astrid Tellgreens Leben stand. Aber dafür war man auch nicht in Rußland, und die Schweiz wußte schon die zu schützen, die Schutz von ihr heischten und seiner bedurften.
In Luzern konnte auch Astrids furchtgeschärfter Blick nichts von ihren Verfolgern entdecken, und das Gedränge auf dem Hauptbahnhof war nicht so groß zu dieser Stunde und Jahreszeit, daß man den einzelnen darin nicht hätte sehen und finden können.
»Nun also – Sie haben Gespenster gewittert, nicht einmal welche gesehen,« meinte Lenzburg befriedigt, denn auch er hatte vergebens Umschau gehalten in der kurzen Zeit, die ihnen zum Warten blieb, bis der Eilzug der Gotthardbahn in die Glashalle einfuhr und mit fünf Minuten Aufenthalt seinen Weg über die Alpen weiter verfolgte.
Sie fanden in der Tat ein Abteil erster Klasse in einem der Durchgangswagen ganz für sich allein und wenn sie die Tür nach dem langen, die Coupés verbindenden Gang schlossen und den Vorhang vor die Fenster zogen, so störte nicht einmal der Blick des schildwachtmäßig den Wagen passierenden Schaffners sie, oder der eines gelegentlich vorbeigehenden Reisenden, der nicht schlafen konnte oder wollte.
Das eben hatte Lenzburg gewollt, doch ließ er einen der Vorhänge halb geöffnet, um den Gang übersehen zu können, für den Fall, daß Astrid im Rechte war mit ihrer Furcht, was er allerdings ganz und gar nicht glaubte. Der Extrazug war wahrscheinlich direkt durchs Entlebuch nach oder über Bern gefahren, denn daß er seine von Astrid vermuteten Insassen nicht in Luzern gesehen, dessen war er ganz sicher.
»Und nun, Astrid, sprechen Sie,« sagte er, als der Zug nicht nur längst in Bewegung war, sondern auch die Station Arth berührt hatte, ohne daß noch ein Wort über ihre Lippen gekommen wäre.
Da tat sie einen tiefen Atemzug, stand auf, schraubte das Licht der Coupélampe höher, zog das bewußte Pappschächtelchen aus ihrer Tasche und entnahm diesem das russische Zeitungsblatt, das sie ihrem Gefährten reichte.
»Lesen Sie, was angestrichen ist,« sagte sie. »Es ist die Einleitung zu meiner Erzählung.«
Er faltete das Blatt auseinander.
»Das kann ich nicht lesen, das ist russisch,« erklärte er nach einem Blick darauf.
»Also muß ich's Ihnen übersetzen,« entgegnete Astrid Tellgreen resigniert.
»Sie?« staunte Lenzburg. »Ich habe Sie Ihrem Namen nach für eine Schwedin gehalten oder eine Norwegerin.«
»Deshalb könnte ich ja immer noch russisch verstehen,« erwiderte sie flüchtig lächelnd. »Aber Sie haben falsch geraten – ich bin Russin und heiße erst seit fünf Jahren Astrid Tellgreen aus eigner Machtvollkommenheit. Die übrigen zwanzig Jahre meines elenden Lebens hatte ich einen andern Namen, der zu den Toten gehört. Doch davon später. Hören Sie jetzt, was die Chronik der Stadt Petersburg ihren sensationsdurstigen Lesern am 18. Juni 1893 erzählen konnte.«
Und Astrid Tellgreen, wie wir sie wohl noch nennen müssen, las ihm den Inhalt jenes Zeitungsartikels vor, den wir schon kennen, leicht fließend im Lesen übersetzend, ohne Stocken, ohne Bewegung, als ginge die Sache sie nichts an, nur als sie nach beendeter Lektüre das Blättchen wieder zusammen faltete, bebten ihre Finger und sie beugte das Haupt tief hinab.
Lenzburg hatte zugehört ohne die Leserin zu unterbrechen, doch eine Weile, nachdem sie geendet, fragte er forschend, aber freundlich: »Und in welchem Zusammenhange stehen Sie, meine Astrid, mit dieser chronique tragique der russischen Hauptstadt?«
Da zog Astrid das Pappschächtelchen wieder hervor, öffnete den Deckel und entfernte die obere Watteschicht.
»Da,« sagte sie, es ihm hinreichend. »Da sehen Sie, ›Lucifers Träne‹ – – –«
Lenzburg fuhr auf und zurück beim Anblick des seltsamen Juwels, das auf seinem rosigen Bette lag und ein so feurig irisierendes Farbenspiel darauf entfaltete, daß seine funkelnde Fassung von Diamanten reinsten Wassers nicht imstande waren, es zu schmälern oder gar zu verdunkeln.
»Um Gottes willen, Astrid, was soll die Perle in Ihren Händen bedeuten?« fragte er mit stockendem Atem. »Sie sind doch nicht gar jene Fürstin Sonja –«
»O nein,« erwiderte sie schlicht. »Ich bin nur jene andre ›Verschwundene‹, Marfa Vucoteč, und was man ›Lucifers Träne‹ genannt, ist die geweihte Reliquie einer Heiligen, die mir ein Schutz war vor dem Bösen, der mir schrecklich nachstellt. Und kann die heilige Reliquie mich auch vor dem zeitlichen gewaltsamen Tode nicht schützen – vor dem ewigen Tode hat sie meine unsterbliche Seele gerettet. Wie das gekommen, will ich Ihnen erzählen, mein Freund, es ist eine traurige und furchtbare Geschichte!«
Johannes Lenzburg setzte sich wieder, indem er sein Gesicht mit den Händen bedeckte – die Vorahnung von dem, was er hören sollte, legte sich ihm beklemmend auf die Brust – der Wirbel der Ereignisse, seitdem er die Schwelle von Astrid Tellgreens Haus überschritten, brauste ihm durch das Hirn wie eine fremde, wilde Melodie. Er war ein Mensch mit starken Nerven, ein Mensch von ruhigem, fast nüchternem Temperament – und nun war er urplötzlich in etwas so Ungewöhnliches, so Verwirrendes hineingerissen, das haarscharf einem Sensationsroman glich, in Wirklichkeit aber eine Tragödie war, deren Ausgang er noch nicht kannte, aber doch mit einem dumpfen Gefühl der Beklemmung unbewußt zu ahnen begann.
»Warum sprechen Sie nicht, Astrid?« fragte er nach einer Weile, in der das Schweigen ihm unerträglich zu werden begann. »Nachdem Sie mir jenen Zeitungsartikel vorgelesen, mir jenes unerhört wertvolle Juwel in Ihrer Hand gezeigt, mir gesagt, daß Sie nicht die sind, deren Namen Sie führen – – nach alledem sehe ich nicht mehr die Möglichkeit, Ihnen die Erzählung Ihrer Lebensgeschichte zu ersparen, wie ich's gern gewollt hätte. Was es auch sei – reden Sie, Astrid! Der Zug ist schnell, die Zeit vergeht und wenn es Morgen ist, sind wir schon in Locarno. Unweit davon ist ein weltfernes, kleines Dörfchen, Intragna heißt's, dort wohnt die Schwester meiner Mutter, zu der ich Sie bringen will, wo Sie in völliger Sicherheit sind – – doch was haben Sie?«
Astrid Tellgreen war aufgefahren mit weitgeöffneten Augen und blassem Gesicht.
»Nichts,« sagte sie nach einer Weile. »Mir war's nur, als flüsterte jemand dicht neben mir ›Intragna‹ und als hörte ich's leise dazu lachen –« –
Johannes Lenzburg stand auf, öffnete die Tür des Coupés nach dem Gange – doch da schlürfte nur ein alter, weißbärtiger, gebückter Herr um die entferntere Ecke; sonst war keine Seele zu sehen.
»Es war eine Täuschung,« sagte er und nahm ruhig wieder Platz.
Da begann Astrid, leicht zu ihm geneigt zu erzählen: »Ich habe wirklich einen Moment erwogen, ob es recht sei, Ihnen meine Geschichte zu erzählen, weil ich Sie damit zu meinem Mitwisser mache und der Rache meiner Verfolger mit mir zusammen überantworte. Aber › sie‹ würden es doch niemals glauben, daß ich Ihnen nichts gesagt haben sollte – Sie sind mein Freund, durch Ihre Großmut meinem Schicksal verfallen. Es ist gleich, ob ich spreche oder nicht. Und ich weiß, Sie haben sich das Recht erworben, es von mir zu fordern, daß ich rede. Nun wohlan denn. Ich bin also nicht Astrid Tellgreen, sondern Marfa, des russischen Generals Graf Vucoteč einziges Kind, geboren und erzogen in glänzenden Verhältnissen, verwöhnt von dem glänzenden, liebenswürdigen Vater, der nur den einen Fehler hatte, den Glanz und Luxus und das Wohlleben mehr zu lieben als selbst die Seinen, denn als er durch Fallissement eines großen Bankhauses plötzlich sein Vermögen verlor, konnte er den Verlust nicht überwinden: er schoß sich eine Kugel durch den Kopf, dessen Fähigkeiten ihn über den Mangel des ererbten Mammons leicht hätten erhaben machen können. Meine teure Mutter – Segen sei ihrem Andenken – war aus einem andern Holz. Sie war die Letzte eines großen, aber verarmten Hauses, zart und hinfällig an Körper, aber sie hatte eine starke Seele. Ohne Klagen, ohne Jammern und Murren nahm sie ihr schweres Kreuz auf sich, verließ mit mir, die ich kaum sechzehn Jahre alt war, die glänzende Dienstwohnung meines Vaters und bezog eine kleine Mansardenwohnung, in der wir manchmal froren und manchmal auch hungerten, die aber durchwärmt war von der Sonne ihrer Liebe, ihrer Kraft und Stärke und ihrem unerschütterlichen Gottvertrauen. Nach wohlbekannten Mustern hatte die Schar unsrer früheren ›Freunde‹ uns natürlich umgehend im Stich gelassen, als wir ins Unglück kamen, aber einige blieben uns doch treu, und unter ihnen allen voran die Fürstin Sonja Sergiewskow. Sie kränkte meine arme, stolze Mutter nicht mit dem Angebot von zögernd gebrachten Almosen, sie gab uns viel, viel mehr: nämlich so oft sie's konnte sich selbst, ihre liebe, verklärende, herrliche Gegenwart und durch sie bekam meine Mutter auch die Arbeit, durch welche wir unser Leben fristeten. Denn meine Mutter war eine der geschicktesten Goldstickerinnen, die es geben konnte, sie hatte die Kunst dieser Arbeit in dem Kloster gelernt, in welchem sie erzogen worden war, und zeichnete ihre Muster immer selbst mit leichter Hand und wunderbarem Formensinn. Durch Sonja Sergiewskow erhielt meine Mutter ihre ersten Aufträge, und diese brachten andre. Unter letzteren kam auch der von Tatjana Michailowna Belgratkin, der Frau des berühmten Bakteriologen und Professors an der Universität. Sie kam selbst mit ihrem Auftrage zu uns, eine starke, beleibte Dame mit weißem, schwammigem Vollmondsgesicht und vortretenden Fischaugen – – – mir war sie vom ersten Male, da ich sie sah, entsetzlich zuwider, während meine Mutter unbegreiflicherweise sich von ihren vollendeten Formen, ihrer sanften Sprache und fast devoten Art und Weise ihrer Klientin gegenüber so bestechen ließ, daß sie nicht nur von der liebenswürdigen Frau schwärmte, sondern ihr geradezu ihr Vertrauen schenkte. Ja, meine Mutter warf mir sogar Undankbarkeit vor, weil ich Frau Belgratkin die tausend Liebenswürdigkeiten, mit denen sie mich in Gestalt von Blumen, Früchten, Bonbons und andern Süßigkeiten geradezu überschüttete, mit solcher Zurückhaltung vergalt, und in der Tat gewöhnte ich mich mit der Zeit dermaßen an Geberin und Gaben, daß beide von dem Widerwillen, den sie mir anfangs eingeflößt, erheblich verloren und ich sie hinnahm wie's tägliche Brot.
Als dann meine arme Mutter immer kränklicher wurde und zuletzt fast gar nicht mehr arbeiten konnte, brachte Frau Belgratkin eines Tages ihren Gatten mit, der den physischen Zustand meiner Mutter prüfte – – –
Merkwürdig, daß ich gegen diesen Mann keinen instinktiven Widerwillen empfand, daß ich sogar ganz bezaubert war von seinem Wesen, seinem sympathischen, feinen Gesicht, seinen großen, dunkeln Augen! Ja, es ergriff mich fast wie Zorn, daß dieser schöne, gewandte, noch so jugendlich scheinende Mann eine so garstige, dicke, alte Frau hatte! Anfangs beachtete er mich nur wenig und bestrickte mich dennoch, als er sich aber erst an mich wandte, da war ich ganz besiegt und wäre für ihn durchs Feuer gegangen. Ich habe mir das später durch eine gewisse hypnotische Faszination zu erklären gesucht, denn willenlos folgte ich dem Bann, der von ihm ausging – er war der Rattenfänger, ich das Geschöpf, das ihm folgen mußte. Ich war nicht etwa nach Backfischart verliebt in ihn – o nein! Sein Wille war nur stärker als der meine, und seine bezaubernde Persönlichkeit, die ihn zum gefeiertsten Mann der Petersburger Salons machte, half mächtig, daß man sich's gar nicht bewußt wurde, wie er einen beherrschte, sondern nur zu willig seinem Zauber unterlag.
Als ich neunzehn Jahre alt wurde, starb meine Mutter nach langen, schweren Leiden, die sie mit engelgleicher Geduld und Ergebung ertragen und aus ihrem Sterbelager übergab sie mich der Fürsorge der Belgratkins, welche sich ihr angeboten, mich als Pflegetochter in ihr Haus zu nehmen – –
Sonja Sergiewskow war tiefbetrübt, als sie davon hörte, denn gern hätte sie mich selbst als Tochter adoptiert, wie sie mir versicherte. Doch am Ende: die Belgratkins waren ja hochangesehene Leute, bei denen ich gut aufgehoben war und die Fürstin, welche mit ihren Wünschen aus zarter Rücksicht bisher geschwiegen, mit meine leidende Mutter nicht aufzuregen, deren Ende dann trotz allem so unerwartet schnell gekommen, mußte sich damit begnügen, mir das Versprechen abzunehmen, sie recht, recht oft zu besuchen, da sie selbst im Hause des Professors keinen Verkehr hatte, denselben aber um meinetwillen anzuknüpfen gedachte.
Und so zog ich denn ein in dem großen, prächtigen, gediegenen Hause, dessen Rückseite hart an den Fluß stieß und wurde dort wie eine Prinzessin aufgenommen. Indem man alle und jede Rücksicht auf meine Trauer nahm, umgab man mich mit einer Fürsorge, die rührend gewesen wäre, wenn sie nur nicht auch von Frau Belgratkin ausgegangen wäre – ich schalt mich oft selbst dafür, aber ich richtete nichts aus gegen meine Natur, die sich einmal gegen diese mir so schrecklich unsympathische Person auflehnte! Unsre sonstigen Hausgenossen waren noch der Sekretär des Professors, Herr Wassili Wassiliewitsch Bronoff und sein Assistent, Dr. Kasimir Posnowski – beides höfliche, wohlerzogene Leute, die mir im übrigen aber total gleichgültig waren. Herr Bronoff suchte sich mit mir auf den Fuß eines scherzhaften Wortgeplänkels zu stellen und mich durch paradoxe Behauptungen dazu zu reizen – mit dem kleinen polnischen Doktor wechselte ich nichts als zeremonielle Begrüßungen, aber trotzdem war er mir angenehmer, und mir wollte es oft scheinen, als ob seine guten, ehrlichen Augen mich mit einem Ausdruck unendlichen Mitleids ansahen, was ich aus meine tiefe Trauer schob.
Professor Belgratkin widmete mir viel von seiner Zeit. Er pflegte sich dann zu mir zu setzen und mit seiner tiefen, leisen, sympathischen Stimme Vorträge zu halten über Künste und Wissenschaften, über die sozialen Zeitfragen – mich zu zerstreuen. Es ist mir viel später erst klar geworden, mit welch subtiler Gewandtheit er mich immer wieder und wieder auf den einen Punkt führte – den Nihilismus, dessen brutale Nacktheit mit so schönen, bezaubernden Phrasen für den Proselyten umkleidet wird. Ich fand vieles in den Darstellungen des Professors, das mich interessierte und anzog – unsre slawischen Gehirne mit ihrer unterdrückten Denkfreiheit sind ja diesen Ideen besonders zugänglich – aber sie verfehlten den Enthusiasmus in mir zu erwecken, dessen Steigerung zum Fanatismus dann so gefährlich wird. Selbstverständlich war ich gänzlich ahnungslos über den wahren Charakter dessen, was mir so subtil und dreifach destilliert eingeflößt wurde, aber ich hatte die Gabe einer gewissen, durch meine Jugend noch unentwickelten Beobachtung, mit deren Hilfe mir doch manches in dem Hause Belgratkins auffiel. Zunächst ein ganz merkwürdiger Fuß der Vertraulichkeit, auf dem die Herrschaft mit ihren zahlreichen Dienstboten stand – es war immer wie ein gewisses Einverständnis, das zwischen diesen und jenen wie eine drahtlose Telegraphie hin und her flog. In einem Lande wie Rußland, wo die Kluft zwischen Dienstgeber und Diener dreimal so breit ist wie anderswo in Europa, mußte das selbst einem so jungen und unerfahrenen Ding, wie ich es war, auffallen. Aber ich tat, als ob ich's nicht bemerkte, denn mir war daheim gelehrt worden, daß der Takt die Basis einer guten Erziehung sei und es den Takt verletzen hieß, die Gepflogenheiten andrer Häuser zu bemerken und laut zu kommentieren. Ferner begegnete man oft dort Menschen, die durch ihr Äußeres kaum in einem solchen Hause etwas zu suchen hatten – verkommen aussehende Gestalten beider Geschlechter, die mit großer Sicherheit auftraten und mir nicht den Eindruck machten, als wären sie arme Patienten oder Bittsteller. Und dann, wenn ich längst schlafen gegangen war, dann hörte ich oft bis tief in die Nacht hinein ein leises Türengehen, Laufen, Murmeln und Tuscheln wie von vielen Stimmen, aber ich machte auch darüber keine Bemerkungen, weil es mich doch nichts anging. Daß die leisen, nächtlichen Schritte oft vor meiner Tür anhielten, wie lauschend, wollte mir manchmal unheimlich scheinen, und ich lag dann ganz still in meinem Bett und hielt den Atem an, bis der Lauscher wieder weiter huschte. Ich fühlte etwas wie Furcht, weil an meiner Türe der Schlüssel fehlte und trotz meiner Bitte nicht ersetzt wurde. Ein Riegel war gar nicht vorhanden.
So war wohl ein halbes Jahr vergangen, nicht ohne daß ich öfter bedauert hätte, nicht ein andres Heim bei der Fürstin Sonja gefunden zu haben, denn zu einem rechten Behagen wollte es mir bei Belgratkins nicht kommen – ich fühlte mich nicht glücklich in dem Hause. Sonja hielt ihr Versprechen und besuchte mich zuweilen und lud mich oft zu sich ein – ich wurde dann immer pünktlich hingebracht und wieder abgeholt und wenn ich von ihr kam, aus ihrer herzenswarmen Nähe, aus ihrem perfekten Heim, dann faßte ich oft sogar einen Widerwillen gegen das Haus, dem meine Mutter mich anvertraut.
Eines Tages, es war am 16. März unvergeßlichen Angedenkens, wurde mir gegen Abend der Besuch der Fürstin Sonja gemeldet und sie selbst folgte dem Diener auf dem Fuße in mein Zimmer. Sie trug einen herrlichen violettsamtnen, goldgestickten Abendmantel von Zobel und auf dem Kopf ein weißes, seidengefüttertes Spitzenfichu, das ihr liebes, schönes Gesicht entzückend einrahmte. Mantel und Fichu warf sie beim Eintreten ab, und ihre halbhohe Dinertoilette von schwarzen Spitzen entlockte mir einen Ausruf der Bewunderung, besonders aber, wie immer, ›Lucisers Träne‹, die als Agraffe am Ausschnitt ihres Kleides an ihrer Brust leuchtete, während ein superbes Perlenkollier in Form eines sogenannten Hundehalsbandes ihren schlanken Hals umschloß – Diamanten funkelten in ihren leicht ergrauten Haaren. Sie sah wunderschön aus und erklärte ihre Toilette damit, daß sie auf dem Wege zum Diner beim Fürsten X. sei.
»Aber ich habe noch Zeit, reichlich Zeit,« setzte sie hinzu, »denn ich muß dich sprechen, Marfa, heut' noch sprechen. Sind wir hier unbelauscht?«
»Ich denke doch,« erwiderte ich verwundert.
»Ah, das ist nicht genug – wir müssen uns dessen versichern,« sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Wohin führt diese Tür?«
»In einen Alkoven, wo meine Toilette steht und der keinen Ausgang hat,« antwortete ich unwillkürlich ebenso leise.
»Und diese zwei Türen rechts –?«
»Das sind Wandschränke. Einer beherbergt meine Garderobe, der andre ist verschlossen. Madame Belgratkin hat ihn für sich einstweilen noch reserviert, bis ich ihn brauche.«
»Du weißt, was darin ist?«
»O, allerlei Kleidungsstücke, glaube ich. Sie holte selbst einmal einen Mantel daraus – ich habe nicht näher hineingesehen.«
»Sehr gut. Also du hast keine unmittelbare Nachbarschaft. Es bliebe noch der Korridor –«
Ich ging ruhig hin, öffnete die Tür und sah hinaus – keine Seele war zu sehen.
»Nun höre mich,« sagte Sonja, indem sie sich auf das kleine Sofa setzte, das zwischen den Wandschränken stand, und mich neben sich ziehend, ihren Arm um meine Schultern legte. »Was ich dir zu sagen habe, stellt Anforderungen an deine Selbstbeherrschung und Tapferkeit, aber du bist ja deiner Eltern würdige Tochter und wirst wissen, dich zu fassen. Du mußt fort aus diesem Hause, sobald als möglich. Ich habe schlimme Dinge über die Belgratkins erfahren, allerdings nur auf dem Wege eines anonymen Briefes, aber der ist in einem so eindringlichen, ernsten und Wahrhaftigkeit verratenden Tone gefaßt, daß ich eigentlich keinen Zweifel hegen darf. Der Brief fleht mich an, dich vor zeitlichem und ewigem Verderben zu retten, denn du bist hier in ein Nihilistennest geraten, in dem die Fäden dieses Geheimbundes zusammenlaufen und du, mit deinem Namen und deinem Äußeren bist als Werkzeug für diese Verbrecher ausersehen und mit voller Absicht in ihre Hände gelockt worden. Ehe ich Schritte tun kann, diese Anklage zu erhärten, muß ich dich aber erst in Sicherheit haben. Ich komme also offiziell, dich zu mir auf ein paar Tage einzuladen – hab' ich dich erst – von morgen ab – in meinem Hause, dann kann das übrige geschehen, das dich, im Guten oder im Bösen, bei mir läßt. Zwingen können diese Leute dich nicht, zu ihnen zurückzukehren; das ist der eine Weg – im Guten, und versuchen sie es dennoch, nun, dann müßten eben andere, mächtigere Faktoren zur Hilfe herangezogen werden. Aber nichts verraten, Marfa, hörst du? Ich hätte dir die Sache ja erst bei mir sagen können, aber es war doch besser, dich vorzubereiten, um dich gerüstet zu finden, falls dir Schwierigkeiten zu einem längeren Besuche in den Weg gestellt werden sollten.«
Ich war wie niedergeschmettert.
»Wenn Mama das geahnt hätte!« war alles, was ich vorbringen konnte.
»Sie hat nach bestem Gewissen gehandelt, Marfa!« sagte Sonja einfach. »Aber noch wissen wir ja nicht, was Wahres an der ganzen Sache ist – das müssen wir erst zu ergründen suchen. Jedenfalls nimm dich zusammen und lasse dir nichts merken, nicht das geringste. Es hat dir hier im Haus noch niemand etwas getan und wird dir niemand etwas tun – wenn du verständig bist und dich beherrschen kannst. Und du wirst es können, nicht wahr?«
»O ja ja! Hab' um mich keine Sorge, Tante Sonja. Aber du – wird – wird man dir nichts tun, wenn du um meinetwillen diese gefährlichen Menschen aufreizest?«
Die Fürstin lächelte ihr schönes, mildes Lächeln: »Mir! O nein, ich glaube nicht, daß man mir etwas tun kann! Und nun will ich zu Madame Belgratkin, dich für mich auszubitten. Einmal in meinem Hause bist du so sicher wie im Kloster.«
Sie stand auf, nahm ihren Mantel über die Schultern und das Spitzentuch über den Arm. Dann beugte sie sich noch zu mir herab und küßte mich auf die Stirn und flüsterte mir ins Ohr: »Mut, Kleine! Wir sind ja nicht umsonst Soldatentöchter!«
Nun der erste Schrecken vorüber war, hatte ich Mut genug, und die Freude, ganz zu meiner herrlichen Sonja kommen zu dürfen, überwog alles andere. Ich war auch viel zu jung und unerfahren, um mir nur einen entfernten Begriff machen zu können von der Gefahr, in der ich schwebte – die Nihilisten waren für mich, was dem Kinde der Wauwau ist, an den sie nur im Finstern glauben, ein unbekannter Schrecken, ein vages Etwas zum Fürchtenmachen, das eigentlich bloß den Zaren anging und seine hohen Beamten. Natürlich paßte ich nicht in ihre Gesellschaft, aber zu fürchten hatte ich nichts von ihnen – gar nichts.
Als wir auf den Korridor hinaustraten, der ganz still und leer war und die Treppe herabstiegen nach der ersten Etage, kam Madame Belgratkin uns entgegen, ein Lächeln auf dem breiten Gesichte, die Fischaugen vorquellender denn je.
»Ich höre eben, daß Durchlaucht bei unsrer Marfa sind,« rief sie schon von weitem. »Sie kehren doch auch bei mir ein, Sonja Feodorowna? Man sieht Sie so selten bei uns –
»Gewiß, ich wollte mich eben bei Ihnen melden lassen, Tatjana Michailowna,« erwiderte Sonja mit der Liebenswürdigkeit der großen Dame, die selbst für mich unerfahrenes Ding so grell abstach gegen die aufdringliche, servile Liebenswürdigkeit der Frau Belgratkin mit ihrem dünnen, geselligen Firnis. Vollkommener Gentleman wie der Professor war – seine Frau stammte sicher nicht aus den Kreisen der Gebildeten.
»Tant mieux,« rief sie, wie ein erfreutes Kind die Hände zusammen schlagend, und mit einer angenommenen Neckischheit, die mich geradezu ekelhaft berührte, setzte sie hinzu: »Ich fing schon an, ganz eifersüchtig auf dies Kind Marfa zu werden! Es ist eine solche Ehre, eine solche Freude zu den Häusern zu gehören, in denen Sonja Feodorowna Sergiewskow verkehrt!«
»Sie schmeicheln, Tatjana Michailowna,« erwiderte Sonja leicht abweisend. »Und was die Freude betrifft – freuen Sie sich nicht zu sehr über mich, denn ich komme Ihnen Marfa auf ein paar Tage zu entführen – können Sie sich so lange von ihr trennen?«
»Wenn's zu jemand anderem wäre, nein, o nein! Aber wo könnte sie besser aufgehoben sein, als bei unsrer teuern, durchlauchtigten Sonja Feodorowna?« rief Frau Belgratkin mit einem Augenaufschlag, daß ich fast gelacht hätte. »Kommen Sie in den Salon – dort können wir alles bei einer Tasse Tee besprechen. Boris –« dies zu einem Diener, einem jungen, fast mädchenhaft aussehenden Menschen gewendet, der die Tür zum Salon zu öffnen herbeigeeilt war, »Boris – nimm Ihrer Durchlaucht den Mantel ab!«
Boris sprang herzu, nahm den Mantel und das Spitzentuch und wir traten in den Salon – Sonja voran, dann Frau Belgratkin, zuletzt ich. Und wie ich die Tür hinter mir schloß, da sah ich, daß Boris sich den Mantel der Fürstin umgehängt hatte, und vor ihm stand, ich weiß nicht, woher er gekommen, der Sekretär des Professors und legte ihm eben das Spitzentuch über den Kopf!
Ich war noch jung genug, um Geschmack an solchen Kindereien zu finden, aber da der Ulk da draußen mit den Sachen meiner Sonja getrieben wurde, so versetzte mich der Anblick samt der unziemlichen Vertraulichkeit des Sekretärs mit einem Lakaien in eine solche Empörung, daß ich fast hinausgelaufen wäre, um dem Menschen die Sachen vom Leibe zu reißen. Aber ich bezwang mich zum Glück – oder vielmehr unglücklicherweise – und nahm mir vor, Frau Belgratkin die Sache später mitzuteilen. Ein Gentleman, oder doch ein Mensch, der vorgibt, einer zu sein, der mit uns am selben Tische ißt, putzt einen Lakaien mit den Sachen eines Gastes dieses Hauses an – und welchen Gastes! Es war empörend!
Sonja hatte inzwischen Platz genommen, und ich eilte zum Samowar, um ihr ein Glas Tee einzuschenken – sie besprach indes mit Frau Belgratkin die Details meines Besuches bei ihr, und die Frau des Professors stimmte allem mit der liebenswürdigsten und servilsten Bereitwilligkeit bei. Ich servierte meiner teuern Sonja, ganz glücklich, daß alles so glatt ging, den Tee im silbergefaßten Glase, und als sie einen Schluck genommen, langte Frau Belgratkin nach einer hinter ihr stehenden silbernen Schale mit Konfekt, und präsentierte sie ihrem Besuch. In diesem Augenblicke hörte ich unten einen Wagen aus der porte cochère herausfahren und sich in schlankem Trabe entfernen und legte mir die Frage vor: »war es der Professor, der ausfuhr? Jetzt, wo die Fürstin da war, die er doch sonst nie zu verfehlen pflegte?«
»Danke vielmals – ich kann jetzt kein Konfekt nehmen,« sagte Sonja verbindlich die Schale ablehnend.
»O, nur ein Stückchen – nur ein Versuch,« nötigte Frau Belgratkin mit der Zudringlichkeit ihrer Kaste. »Es ist etwas ganz Neues – aus Persien –«
»Aber es ist mir wirklich jetzt nicht möglich,« wehrte Sonja ab.
»Gerade eben nur dies carré à pistaches – es ist deliziös, de–li–ziös!« redete Frau Belgratkin zu, auf ein kaum einen Zentimeter im Quadrat großes Stückchen deutend.
Sonja nahm es mit einem leichten Zusammenziehen ihrer Augenbrauen, hielt es einen Moment zwischen Finger und Daumen und legte es dann auf den Teller ihres Teeglases.
So, das ist die beste Zurückweisung, dachte ich nicht ohne Schadenfreude, aber ich hatte nicht mit Sonjas unverwüstlicher Gutmütigkeit gerechnet, die keinen Menschen kränken konnte. Sie nahm das Konfekt wieder von dem Teller und steckte es in den Mund und – und dann bekam ihr schönes, liebes Gesicht einen Ausdruck – ach! in meiner Sterbestunde werde ich an diesen Ausdruck noch denken! Sie faltete die Hände und mit den Worten: »Jesus – erbarm' dich!« fiel sie hinten über ihren Sessel, die Augen starr ins Leere gerichtet, die geöffneten Lippen blau angelaufen – – –
Was nun folgte, scheint mir wie ein wüster Traum. Wie zur Salzsäule erstarrt saß ich auf meinem Stuhl, sah auf meine Sonja, sah den satanischen Ausdruck des Triumphs auf dem breiten, gemeinen Gesichte der Frau Belgratkin, hörte sie kreischend, langgezogen: »Michael! Michael!« rufen und dann kam der Professor herein, gefolgt von seinem Sekretär und beide beugten sich über meine Sonja herab, als wäre sie ein Gegenstand, ein Möbel ohne Gefühl und ohne Gesicht –
»Sie ist tot,« hörte ich den Professor sagen.
»Und Boris ist längst fort mit dem Wagen,« setzte Wassili Wassiliewitsch hinzu.
Tot? Ich hörte das schreckliche Wort ohne es zu begreifen und sah zu, als ginge mich das gar nichts an, wie Frau Belgratkin in die Tasche des Kleides meiner Sonja fuhr, eine goldne Maschenbörse und ein Taschentuch herauszog und dann einen oftgefalteten Brief.
»Da ist der Wisch,« schrie sie aus. »On a de la chance!«
Und wieder sah ich, wie die schlanken, weißen Hände des Professors gierig nach dem Briefe griffen, wie sie dann das Halsband von dem königlichen Halse meiner Sonja lösten, die Brillanten aus ihren Haaren nahmen, die Ringe von ihren starren Fingern streiften, die Armbänder von ihren Armen und alles auf den Tisch warfen – ich sah's, als ginge mich das alles nichts an, gar nichts.
Und dieselben weißen, vornehmen Finger sah ich die Perle – Lucifers Träne – sorgsam aus dem Spitzengeriesel der Taille lösen, dann einen Moment hochhalten und dann warfen diese grausamen Hände mir die Perle in den Schoß. Mir!
»Da – ein Andenken an Ihre Sonja!« hörte ich des Professors Stimme sagen.
»Michael! Bist du verrückt – das ist ja eine Million wert!« kreischte Frau Belgratkin, auf mich zustürzend. Aber er hielt sie zurück.
»Halt – eine Million, nach der keins von uns die Hand ausstrecken wird und darf,« sagte er schneidend. »Mit dem Dinge in seinem Besitz ist man ein Gezeichneter – für den Galgen!«
Ich sah auf die Perle herab, die in meinem Schoß schimmerte mit geheimnisvollem Zauber, sah auf die starre Gestalt meiner Sonja – meine eiskalte Rechte griff nach dem gleißenden Schmuck und wie sie ihn berührte und umschloß, da wurde es rot und schwarz vor meinen Augen, in meinen Ohren brauste und sang es und dann hörte und sah ich nichts mehr – – –
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf meinem Bette, Dr. Posnowski hielt meinen Puls und am Fußende stand der Professor.
»Nun sehen Sie – die Jugend siegt, sie kommt wieder zu sich,« sagte er mit seiner gewohnten Liebenswürdigkeit.
»O ja – daran hab' ich nicht gezweifelt,« murmelte der Doktor. »Aber, die Jugend ist damit noch nicht überm Berg –«
»Ich weiß, ich weiß!« fiel der Professor ein. »Der Chok – der moralische Chok war vielleicht zuviel, kann fatal werden für den schwachen Geist. Ich hätte sie nicht dabei gelassen, hätte sie unter einem Vorwande entfernt – aber die Frauen, Doktor, die Frauen sind so grausame Geschöpfe! Kein Barbar hätte es zuwege gebracht, das Kind bei der – hm – der Exekution dabei zu lassen, aber die Frauen haben dafür kein Gefühl. Und Tatjana Michailowna hat schon lange keins mehr –«
»Ein Wunder ist's nicht,« brummte der Doktor.
»Wie sagten Sie? Nichts von Belang? Nun, wir werden sie schon wiederherstellen, die Kleine. Zunächst ohne die Gegenwart von Tatjana Michailowna. Wie fühlen Sie sich nun, Marfa Gawriliewna?«
Und der Professor beugte sich, mit seinem leisen Schritt um das Bett herum gehend, über mich und legte mir seine weiße, schlanke Hand auf die Stirn – dieselbe Hand, die meine Sonja beraubt! Diese Berührung brachte mich völlig zu mir zurück – ich wußte nun alles, alles – die Schreckensszene, die ich durchlebt, ansehen gemußt, die furchtbare Lage, in der ich mich befand! Mit der Rechten, die immerzu noch »Lucifers Träne« umklammert hielt, stieß ich die mordbesudelte Hand von meiner Stirn.
»Fort!« rief ich mit einer mir selbst ganz fremden Stimme, »fort!«
»Natürlich immer noch sehr erregt – oder vielmehr: die Erregung bricht aus,« sagte der Professor begütigend. »Natürlich, sehr natürlich. War vorauszusehen. Man wird die Kleine besser jetzt allein lassen, Doktor, damit sie, ohne von irgendwelchen Personen irritiert zu werden, das Erlebte erst mit sich selbst verarbeitet. Die Hängelampe lassen wir brennen – in solchen Fällen eines Nervenchoks ist Dunkelheit nicht angebracht. Nicht angebracht. In einer Stunde komme ich wieder nachsehen. Die Wärterin mag draußen im Korridor sitzen, um gleich zur Hand zu sein. Kommen Sie, Doktor!«
Wenn ich die Stunde beschreiben soll, die ich nun allein, in der Stille meines Zimmers auf meinem Bette liegend zubrachte – ich könnte es nicht. Erst das Chaos in meinem Kopfe, dann das Besinnen, dann das namenlose Elend, das Grauen, der Jammer um meine Sonja! Ich rührte mich aber nicht von der Stelle, nur damit die Wärterin nicht herein kam. Weinen konnte ich nicht – –
Dann kamen sie wieder, der Professor und der Doktor. Ich tat, als ob ich schliefe, die Augen fest geschlossen. Einer von ihnen – ich weiß jetzt, daß es der Doktor war – fühlte lange meinen Puls und dabei – fast hätte ich mich verraten – schob er etwas unter das Armband, das ich trug. Instinktiv begriff ich, daß etwas Freundliches in der Handlung lag, etwas, das dem andern verborgen sein sollte.
»Sie schläft nicht, aber sie wird schlafen, muß schlafen, um das Gehirn in Ruhe zu versetzen,« flüsterte der Professor. »Ein leichtes, gefahrloses Schlafmittel –«
»Ich habe es mitgebracht,« fiel der Doktor ein. »Natürlich muß sie schlafen. Ein Gehirnfieber ist so wie so imminent. Ich habe die Opiumlösung präpariert mit etwas Bittermandelwasser.«
»Ah gut – sehr gut. Ich hatte auch etwas mitgebracht – ein Sulfonalpulver – aber flüssiges wird sie leichter einnehmen, darin gebe ich Ihnen recht. Wird man sie aber nicht besser vorher entkleiden und völlig zu Bett bringen lassen?«
»Ach, das würde sie unnütz aufregen und aufstören, Herr Professor. Man lasse sie nur, wie sie ist. Jede Bewegung kann in diesem Falle verhängnisvoll werden.«
»Hm – ja, möglich. Sie sind von uns beiden der Praktiker, Doktor, und haben die Behandlung übernommen, also haben Sie auch die Verantwortung Ihrer Anordnungen. Die volle Verantwortung.«
Ich weiß nicht, aber es lag wie eine verhaltene Drohung in diesen schwer betonten Worten des Professors, ein Etwas, das mich erschauern machte, doch der Doktor antwortete sehr ruhig: »Gewiß. Ich bin mir dessen auch voll bewußt.«
Dann fühlte ich mich ein wenig aufgerichtet und ein Glas an meinen Lippen.
»Trinken Sie, Marfa Gawriliewna,« sagte der Doktor, und ich trank – es schmeckte süß und angenehm wie eine Orgeade. »So,« sagte er dann zufrieden. »Nun mag sie schlafen. Gegen Morgen wird man dann wieder nachsehen kommen. Die Dosis genügt, aber sie war nicht zu stark –«
»Nein, ja nicht,« fiel der Professor hastig ein. »Keine Übereilung – nichts Plötzliches. Das – das wäre sehr – hm – sehr fatal für uns.«
Ich atmete auf, als sich die Tür leise hinter den beiden geschlossen und blinzelte vorsichtig hinter halbgeschlossenen Lidern hervor – ich war allein. Vorsichtig hob ich den linken Arm ein wenig – ein Papier steckte unter dem Armband. Um es hervorziehen zu können, mußte ich aber meine Rechte frei haben und leise ließ ich die Perle, die ich noch krampfhaft umklammerte, in meine Kleidertasche gleiten – dann zog ich das zu winzigen Dimensionen zusammengefaltete Papier hervor, aber ich wagte nicht es zu entfalten, aus Furcht, ein Geräusch damit zu machen und die Wärterin, die ich leise vor meiner Tür hüsteln hörte, damit herbeizulocken. Mit wildklopfendem Herzen lag ich und lauschte und wartete auf die Wirkung des Schlaftrunkes. Aber sie kam nicht – im Gegenteil fühlte ich mich von Minute zu Minute lebendiger, klarer, kräftiger werden. Leise, leise, begann ich allmählich das Papier auseinanderzufalten – es raschelte nicht, gar nicht, es war fast, als wäre der Zettel von weichem Stoff, den ich endlich ganz entfaltet hatte. Vorsichtig richtete ich mich auf meinem rechten Arme etwas aus und beugte mich über das Blatt und mühsam las ich seinen Inhalt.
Er lautete:
»Der Schreiber des anonymen Briefes an die Fürstin, die er damit gegen seinen Willen leider geopfert, will seine Absicht, Sie zu retten, nicht fallen lassen. Sie befinden sich in drohender Lebensgefahr – nichts, als meinen Direktiven zu folgen, kann Sie noch retten. Sie haben kein Schlafmittel erhalten, sondern einen starken Stimulanten. Regen Sie sich nicht, bleiben Sie ruhig liegen bis um ein Uhr nachts. Sie haben Ihre Uhr bei sich. Um diese Stunde wird die Wärterin vor Ihrer Tür schlafen. Erheben Sie sich, ziehen Sie Ihre Schuhe aus und gehen Sie so leise wie möglich dreist aus Ihrem Zimmer und den Korridor links herab bis zu der Dienertreppe. Diese steigen Sie herab bis in den Keller. Dort erwarte ich Sie. Haben Sie Mut und vermeiden Sie das leiseste Geräusch.«
Aufatmend legte ich mich wieder zurück – unhörbar ließ ich den Zettel in meiner Tasche verschwinden, lautlos zog ich meine Uhr und sah nach der Zeit: es war elf. Schon elf – um sechs Uhr war Sonja gekommen – schon fünf Stunden waren seitdem vergangen? Und wenn nun noch jemand kam, meine Tasche zu durchsuchen, wie man die ihrige durchsucht, und man fand den Zettel – großer Gott, was dann? Oder hatte man es schon getan? Wahrscheinlich wohl, aber trotzdem warf ich mich instinktiv auf die rechte Seite, um die Durchsuchung wenigstens zu erschweren, aber auch dieses unbedeutende Geräusch wurde gehört, denn sogleich öffnete sich die Tür und ich sah durch meine Wimpern den Kopf der Wärterin – eine mir ganz unbekannte Person – in dem Spalt erscheinen. Leise schob sie sich in das Zimmer hinein und hinter ihr zu meinem Entsetzen Tatjana Michailowna. Ich schloß die Augen vollends und ließ meinen Atem so regelmäßig gehen, als mein klopfendes Herz es zuließ. Die Wärterin beugte sich über mich und faßte mich an – ich rührte mich nicht, aber murmelte einige unzusammenhängende Worte, wie ein Mensch im Schlafe wohl tut.
»Sie hat sich nur auf die Seite gelegt – schläft wie ein Sack,« flüsterte die Wärterin und verließ das Zimmer wieder mit Frau Belgratkin. Nun hieß es nur stille liegen und meine Zeit abwarten. Ach, was ging sie langsam hin, und nach Mitternacht kam der Professor herein und fühlte meinen Puls, aber ich lag ganz, ganz ruhig, denn ich wußte ja nun, daß davon Tod und Leben für mich abhing.
»Kein Fieber,« hörte ich ihn flüstern. »Ganz normaler Schlaf.«
Und dann ging er wieder. Hatte ich ihn aber wirklich getäuscht? Endlich, endlich zeigte meine Uhr auf eins. Es war ein Entschluß, mich zu erheben, aber ich tat's, ich glitt vom Bette herab, zog meine Schuhe aus, pfropfte sie in meine Tasche, ergriff ein schwarzes, warmes Schultertuch, das über einem Sessel hing zu meinem täglichen Gebrauch, hüllte mich hinein und wagte es, die Tür zu öffnen. Vor derselben saß an einem Tischchen mit brennender Lampe darauf und einer geleerten Teetasse die Wärterin und schlief – kein Zweifel, sie schlief, schwer, fast mühsam atmend mit offnem Munde in dem Tee war wohl der Schlaftrunk gewesen, den ich hatte nehmen sollen.
Wie ich den Korridor und die steinerne Dienertreppe herabgekommen in der tödlichen Angst, jemand zu begegnen, weiß ich heute noch nicht. Ich glaube, es brannten Gaslampen, tief herabgeschraubt, aber genügend hell, daß man den Weg erkennen konnte – kurz, ich hielt endlich im Kellergeschoß an, und da trat mir auch schon der Doktor entgegen.
»Pscht – kein Wort!« flüsterte er, ergriff mein Handgelenk und zog mich einen dunkeln Gang mit sich fort, bis wir an eine Tür kamen, die er aufstieß und wieder hinter uns schloß.
Wir befanden uns in einer Art Einfahrt, einem tunnelartigen Raume, und als mein Auge sich an die Dunkelheit gewöhnt, sah ich, daß er eine Art von Hafen war und auf den Fluß hinaus führte, dessen Wasser ihn halb ausfüllte. Ein paar Stufen führten hinab, wo ein Kahn angebunden lag.
»Haben Sie Ihre Schuhe mit, Gräfin?« flüsterte der Doktor. »Gut, ziehen Sie sie an – hier ist ein Pelzmantel mit Kapuze – so! Und nun hinab in den Kahn. Wir haben keine Zeit zu verlieren!«
Wortlos tat ich, wie er mich hieß, und als wir in dem Kahn saßen, beugte er sich dicht zu mir heran, indem er mir ein Portefeuille reichte.
»Es ist ein Paß darin,« flüsterte er, »zwar nicht für Sie bestimmt, aber das Signalement paßt so ziemlich und seine eigentliche Inhaberin braucht ihn nicht mehr. Ferner ein Eisenbahnbillett bis Berlin und etwas Geld. Wenig, aber gern gegeben. Sehen Sie zu, Gräfin, daß Sie damit weiter kommen – es ist alles, was ich tun kann!«
»Dank, tausend Dank!« brachte ich mühsam heraus. »Wie habe ich Ihre Güte verdient?«
»Ach was – ich hab's täppisch genug gemacht,« gab er zurück. »Das mit – der Fürstin – das hatte ich mir anders gedacht. Und Sie – Sie sind zu schade für das Leben, das man Ihnen zugedacht und zu jung und zu gut für – das Ende vom Liede. Nun, man hat eben seine schwachen Seiten – immer noch.«
»Wie soll ich Ihnen das jemals vergelten, Doktor Posnowski?«
»Ah – bah! Reden Sie nicht davon! Ich sage Ihnen ja – es ist eine Schwäche von mir – man hat immer noch so ein Kämmerlein im Herzen, das nicht ganz leer ist, wo's noch klopft und warm ist und – einen zu Torheiten treibt. Aber freilich – Sie müssen mir versprechen – schwören müssen Sie mir, daß kein Wort über Ihre Lippen kommt über das, was Sie in diesem Hause erlebt, was Sie davon wissen. Wollen Sie das schwören?«
»Ich schwöre es Ihnen,« erwiderte ich, dem Zwange ebenso gehorchend wie dem Impulse der Dankbarkeit.
»Wenn Sie Ihren Eid brechen, sind Sie des Todes und ich auch,« erwiderte er.
»Ich werde ihn nicht brechen,« erwiderte ich erschauernd.
Doktor Posnowski drückte meine Hand und küßte sie inbrünstig. Dann ergriff er das Ruder, und der Kahn trieb hinaus aus den schwarzen, leis gurgelnden, eisig kalten Fluß, aus dem die Eisstücke noch trieben – –
Schweigend ward diese nächtliche Fahrt zurückgelegt. Wir landeten in einer mir ganz unbekannten Stadtgegend und gingen, nachdem der Doktor den Kahn befestigt, durch ein Labyrinth enger Gassen und erreichten endlich den mir bekannten Zentralbahnhof.
»Es ist höchste Zeit!« flüsterte mein stummer Begleiter und wir eilten, hasteten über den Platz, hinein in die Halle, hinaus auf den Perron, und ich wurde in einen bereitstehenden, mit Reisenden überfüllten Zug hineingeschoben, ehe ich mich dessen versah und sank in einen Eckplatz hinein, erschöpft, zitternd vor Kälte, Aufregung und Angst.
»Ziehen Sie die Kapuze über Ihr Gesicht, lassen Sie sich nicht sehen und – und reisen Sie glücklich,« raunte mir der Doktor zu.
»Auf Wiedersehen!« erwiderte ich.
Er drückte noch einmal meine Hand und stand im nächsten Moment auf dem Perron, müßig das Publikum betrachtend, das hin und her hastete.
Es dauerte noch Minuten, ehe der Zug sich in Bewegung setzte und als er langsam die taghell erleuchtete Halle verließ, da sah ich mit erstarrendem Blute den Professor auf dem Perron stehen – sah ihn den Doktor begrüßen, seinen Arm unter dessen Arm schieben und langsam mit ihm dem Ausgang zuschlendern – – –
Ich vermute, das war das letztemal, daß man den Doktor Kasimir Posnowski gesehen hat. Seine gute Tat, die mir das Leben und die Seele gerettet, hat ihn, wie ich wohl annehmen darf, hinabgezogen in den Abgrund, aus dem ein Entrinnen unmöglich ist. Meinen Eid habe ich ihm gehalten bis heute.
Und nun habe ich alles gesagt. Wie ich jene Reise ins Unbekannte machte, wie ich mich diese sechs Jahre durchs Leben durchgerungen und durchgefristet habe, das gehört nicht zur Sache. Es ist merkwürdig, wie die Liebe zu dem Dasein, und wenn's noch so elend und jammervoll ist, einen alles ertragen läßt, wie die Hoffnung, das Wörtlein ›vielleicht‹ einen immer wieder belebt und trägt. Und doch – und doch weiß man, daß man den finstern Mächten, denen man entflohen ist, nicht entrinnen kann, daß der Tag kommt, an dem ihre Hand einen erreicht –«
Erschöpft hielt Astrid Tellgreen ein und lehnte sich zurück mit geschlossenen Augen. Johannes Lenzburg ergriff ihre Hand und streichelte sie leise und zärtlich, aber ohne zu sprechen, denn Ruhe, Ruhe war alles, was ihr im Augenblick not tat. Was sie ihm erzählt, war furchtbar und ernst dazu, aber er vermochte nicht einzusehen, daß es hoffnungslos, daß die Gefahr eine unmittelbare war. In seinem Bewußtsein, unter dem Schuh der Gesetze eines freien Landes zu stehen, wurde es ihm sogar schwer, an eine mittelbare Gefahr zu glauben, die er eher für eine Ausgeburt der Furcht hielt, in der Astrid so viele Jahre gelebt, daß sie ihr die Dinge vergrößerte und verschärfte wie durch die Linsen eines Fernglases. Was konnten diese Leute dort im Norden nach so vielen Jahren noch für ein Interesse daran haben, sie zu verfolgen, wenn sie doch wissen mußten, daß Astrid – oder Marfa – einen Verrat oder eine Denunziation nicht beabsichtigte? Freilich wohl im Lande selbst wäre sie ja den Schuldigen stets das Damoklesschwert geblieben, aber so fern, so herausgetreten aus dem Leben, verschollen und vergessen – – war da ein zwingender Grund vorhanden, sie zu verfolgen?
Für Johannes Lenzburg stand es fest, daß er seiner Braut erst die Ruhe, das Bewußtsein ihrer Sicherheit zurückzugeben hatte. Ihr Schicksal rührte und bewegte ihn mehr, als Worte schildern konnten – es zerriß ihm das Herz, sich vorzustellen, was dieses verwöhnte Kind des Glanzes, des Reichtums und hoher Lebensstellung alles hatte durchkämpfen müssen, wie es mit der Gefahr, den Sorgen des Lebens gerungen, oft wahrscheinlich auch mit dem Hunger – – im Besitze eines Juwels von fabelhaftem Werte! Welche Ironie lag in diesem Gedanken, welcher Jammer, auf dem »Lucifers Träne« wie siedendes Blei brannte.
Der Zug raste durch die Nacht dahin auf seinem kühnen Pfade über den Gotthard, und Astrid schien zu schlafen.
Gegen Morgen endlich hielt er in Bellinzona, wo die Passagiere die Wagen nach Locarno zu wechseln haben und Johannes Lenzburg weckte die Schläferin mit Bedauern. Sie schlug die Augen auf und folgte ihm stumm auf den Bahnsteig, wo nur wenig Publikum in dieser frühen Stunde zur Abreise versammelt war, nur wenige den Zug verließen, um den Lago Maggiore zu erreichen. Im fahlen Morgendämmern lagen die hohen Berge ringsum und die dräuenden Zwingburgen von Bellinzona, und das unirdische Zwielicht, das zwischen Tag und Nacht liegt, ehe die Natur erwacht, machte Astrid im Grunde der Seele erschauern und weckte auch in der Seele ihres Begleiters ein Gefühl von unsichtbarer, ungreifbarer Gefahr. Doch er wurde dessen rasch Herr und drängte Astrid in liebevoller Fürsorge einen Trunk heißen Kaffees auf, ehe er mit ihr den bereitstehenden Zug bestieg – dann war's nur eine kurze Zeit noch, und sie fuhren im Bahnhof von Locarno ein, als die Sonne eben die obersten Berggipfel erleuchtete, ihre ersten Strahlen herausschickte auf den blaugrünen See und wie mit einem Gruß aus der andern Welt das Kreuz küßte auf dem Glockenturm der Wallfahrtskirche »Madonna del Sasso«, die über der Stadt hoch auf dem Felsen thront wie ein Diadem. Die Glockenspiele der Kirchen mit ihren eigentümlichen, gebrochenen Akkorden tönten durch die reine, klare Morgenluft – alles versprach, ein köstlicher, warmer Tag zu werden.
Johannes Lenzburg fragte laut nach der Post nach Maggia und fand sie mit ihren schellenbehangenen vier Pferden am Platz vor dem Stationsgebäude, etwas abseits von den Hotelomnibussen wartend. Im Innern des hochbepackten Wagens saßen eine alte Bauernfrau und zwei brevierlesende Priester, doch das Kabriolett war noch frei und Lenzburg belegte die zwei Plätze für Astrid und sich selbst. Es dauerte aber noch ein Weilchen, ehe der Postillon endlich auf seinen hohen Bock kletterte, die unvermeidliche, schwarze »Brissago« qualmend, und seine Rosse im schlanken Trabe über das schauerliche Pflaster durch die Stadt laufen ließ. Man konnte erst mit Muße die Hotelomnibusse abfahren sehen und auch einen zweispännigen Mietwagen mit einem sehr alten, lahmen Herrn, den sein Kammerdiener sorgsam hinein hob und in Decken verpackte, als wäre es tiefer Winter – –
In der Stadt vor dem Postgebäude wurde zum erstenmal Halt gemacht, die Postsachen in Empfang genommen, noch ein Passagier, ein Tourist anscheinend, stieg ein, und dann ging's durch die engen Gassen schellenklingend hinaus auf die gute Landstraße, auf der sanft aufsteigend hinter Solduno dann das linke Ufer der wild brausenden und schäumenden Maggia erreicht wird, jenes malerischen Bergbaches, der im Laufe der Zeit das riesige Delta angeschwemmt hat, das weit in den See hinein reicht.
»Die Post nach Maggia war eine Finte,« erklärte Lenzburg seiner Begleiterin. »Wir wollen am Ponte Brolla den Wagen verlassen und den Rest des Weges zu Fuß gehen, wenn Sie sich kräftig genug fühlen, Astrid. Wahrscheinlich war's eine überflüssige Vorsicht, aber es wird Sie beruhigen; denn wenn man Sie wirklich verfolgt hat, so dürfte man schon längst jenseits des Sees von Lugano sein. Aber ich möchte trotzdem nichts verabsäumt haben, Sie zu beruhigen.«
»Ich danke Ihnen innigst und von ganzem Herzen,« erwiderte Astrid, ihm die kalte Hand reichend mit einem Lächeln, das ihm wehe tat. »Welche Mühe, welche Unruhe ich Ihnen mache! Und der Gedanke, daß Ihre Güte, Ihre Hingebung Ihnen gelohnt werden könnte wie dem armen Doktor –«
Sie brach ab, weil die Stimme ihr versagte und eine tödliche Blässe zog über ihr so schon farbloses Gesicht.
»Wer wird an einem so schönen Morgen Gespenster sehen,« erwiderte Johannes Lenzburg, die kleine, kalte Hand in seinen beiden, kräftigen, lebenswarmen Händen haltend. »Sind wir denn in Rußland, sind wir in der riesigen Großstadt, wo das Verbrechen tausend Schlupfwinkel und Wege hat, um ungestört, unbemerkt seinen finstern Zielen nachzugehen, oder sind wir unter lichtem Himmel in einem freien Lande, das alle die schützt, die sich ihm anvertrauen? Ich geb's zu, es schützt oft und viele Unwürdige, aber was tut das uns? Und von Mühe meinerseits dürfen Sie gar nicht reden – was hab' ich denn getan? Ich wollte, ich hätte die Kerle am Kragen, die Ihnen ein Leid antun möchten, aber die nehmen's mit einer echten, guten Schweizerfaust nicht auf. Was gilt die Wette?«
Astrid schüttelte mit dem Kopf.
»Ich kenne sie besser,« meinte sie zusammenschauernd, aber ihres Verlobten fröhliche Zuversicht schien sie doch ein wenig zu beleben. »Daß Sie mein Verlobter sind!« setzte sie staunend hinzu. »Hat man je von einer solchen Verlobung gehört, wie die unsrige ist? Eine Verlobung, umgeben von Furcht, Todesgrauen, Todesgefahr und solch wonniger, froher Hoffnung auf eine bessere Zukunft?«
»Wo diese dabei ist, was können die Schatten der Vergangenheit ihr denn tun?« fragte Johannes Lenzburg.
»Zu welch guter Stunde mich mein Herz doch zu Ihnen getrieben hat!«
Als die Post am Ponte Brolla hielt, verließen sie den Wagen, der rechts an der Maggia seine Route fortsetzte, und wandten sich links ins Melezzo-Tal hinein, dem Val Onservone zu in der Richtung aus Domodossola. Zurückblickend sahen sie die Post hinter der Biegung ins Val Maggia verschwinden, ohne daß ein andrer der Passagiere den Wagen verlassen hatte, und um sie abzulenken, machte Lenzburg seine Begleiterin auf den kühnen Bau der alten Römerbrücke aufmerksam, die ihren einen, wie aus Erz gefügten Bogen von Mauerwerk über die tiefe Felsschlucht spannt, in der weißschäumend wie kochende Milch die Maggia hindurch tost. Dann gingen sie gemächlich weiter, durch die dicht beieinander liegenden Gebirgsdörfchen Tegna und Verscio bis Cavigliano, von wo ein Fahrweg nach Intragna, dem Ziel ihrer Reise, abzweigt. Hier aber bestand Lenzburg darauf, zu rasten und einen Imbiß zu nehmen und Astrid gab seinem Zureden nach und zwang sich, ihm zuliebe in der einfachen kleinen Osteria des Dorfes ein Ei und ein Stück Brot nebst einem Schlucke des landesüblichen vino rosso zu genießen. Sie saßen in der weinumwachsenen Loggia; innen im Wirtszimmer waren Leute, wahrscheinlich Fremde, denn vor der Tür stand ein Zweispänner, dessen Pferde sich's an der Krippe wohl sein ließen. Lenzburg war's, als könnte dies der Wagen sein, der früh in Locarno den alten lahmen Herrn fortgefahren, aber sicher war er sich dessen nicht, denn von diesen Mietwagen sieht ja einer aus wie der andre. Wenn er's war, dann saß der alte Herr wohl drinnen im Wirtshaus und trank seinen Kaffee, für den's ihm wohl in Locarno noch zu früh gewesen. Vielleicht wollte er gar bis nach Craveggia, dort die Schwefelbäder zu brauchen gegen seine lahmen Glieder!
Es war nur eine kurze Rast, die Astrid und Lenzburg hier hielten, dann brachen sie auf und wandten sich dem direkten Fahrwege nach Intragna zu. Als sie schon einige Schritte gegangen waren, kam Lenzburg der Gedanke, daß er sich wohl hätte erkundigen können, wohin der Wagen wollte – wäre er frei, so hätte er ihn mieten können, um Astrid die letzte Wegstrecke zu Fuß zu ersparen. Er ging also zurück und redete den eben heraustretenden Kutscher an, aber der erwiderte, der Wagen sei besetzt und kehre mit seinen Insassen nach Locarno zurück, sobald diese von ihrem Spaziergange zurückkämen.
»Ah –« machte Lenzburg bedauernd. »Schade – na, ein andres Mal! Ich glaubte, Ihr hättet einen alten, lahmen Herrn gefahren – vom Bahnhofe in Locarno aus –«
»Lahm?« wiederholte der Kutscher. »Alt mag der eine wohl sein, aber lahm? Nein, lahm ist er nicht. Der läuft so gut wie Sie, Herr, und wie ich.«
Lenzburg ging nicht weiter auf die Frage ein – entweder er hatte sich in Locarno über die Gebrechlichkeit des Alten getäuscht, oder es war überhaupt nicht derselbe. Im Grunde war's ja auch egal, jedenfalls war der Wagen nicht zu haben und Lenzburg kehrte zu Astrid zurück und ging mit ihr weiter. Der schmale Weg durch die wildromantische Gebirgslandschaft bot so viel des Schönen und Großartigen, daß Astrids ganzer Schönheitssinn davon wach wurde und sie nicht müde wurde, die stets wechselnde Szenerie zu bewundern. Lenzburg war ganz glücklich, daß sie eine Ablenkung ihrer düstern Gedanken gefunden und machte sie auf alle möglichen Punkte aufmerksam.
»Und jetzt kommt der Hauptpunkt des ganzen Weges,« sagte er, »der berühmte Ponte sull' Isorno. Sehen Sie dort, die eiserne Brücke über dem Abhang – sie führt in einen durch den Fels gebohrten Tunnel, der mitten innen ein Knie macht und sich dann auf die untermauerte Galerie öffnet, auf der die Straße weiterläuft. Ja, unsre Wegbaumeister kennen ihr Metier,« setzte er mit dem naiven und rührenden Nationalstolz seiner Rasse auf die geistigen Errungenschaften schweizer Intelligenz hinzu.
»Wie interessant!« rief Astrid überrascht und eilte mit schnelleren Schritten dem Tunnel zu. Lenzburg blieb in seinem alten Tempo, um sich eine Zigarette anzustecken und wie er gerade einen Moment stillstand, um ein Streichholz anzuzünden, verschwand Astrid in dem Knie des Tunnels. Das Zündholz ging aus, und als er es fortwarf und ein zweites hervorzog, da tönte der kurze, scharfe Knall eines Schusses – eines Pistolenschusses, wie sein geübtes Ohr heraushörte, durch die stille Schlucht.
Einen Augenblick stand er starr mit entsetzten Augen – großer Gott – war das nicht in dem Tunnel? Zigarette und Streichhölzer fortwerfend, stürzte er mit dem Rufe: »Astrid! Astrid!« – der Vorangegangenen nach, hinein in den Tunnel und da – da lag sie mit ausgestreckten Armen auf dem Gesichte, die geliebte Gestalt, und auf einem Stein am Wege saß der alte Herr aus dem Zuge – der alte Herr aus dem Wagen, der in Cavigliano wartete, und der andre stand mitten im Wege, den rauchenden Revolver in der Hand – – –
»Astrid! Astrid!« schrie Lenzburg auf mit einem Ausdrucke des Wehs und der Qual, der einen Stein erschüttert hätte. »Bei meiner Seele!« keuchte er, »so wahr ein Gott im Himmel lebt – das soll nicht ungerochen bleiben! Ich will – «
Gleich Geßler, als Tells Geschoß ihm das Wort von den Lippen schnitt, blieb auch hier ungesprochen, was er wollte, denn ein zweiter Knall weckte das Echo in dem halbdunkeln Tunnel und mit dem stöhnenden Aufschrei: »Astrid! Astrid!« brach Johannes Lenzburg zusammen.
»Astrid – 'strid –« hallte das Echo an dem Felsen wider und tief unten im Abgrund rauschte der Isorno – – –
*
Das Rätsel, warum der in äußerlich glänzender Lage sich befindliche, sich der höchsten Achtung seiner Mitbürger erfreuende Fabrikant Johannes Lenzburg mit der bei ihm beschäftigten Zeichnerin Astrid Tellgreen, die sich gleichfalls eines tadellosen Rufes erfreute, »gemeinsam den Tod gesucht«, wie die Zeitungen berichteten, ist nie gelöst worden.
Der Revolver – ein französisches Fabrikat – in seiner Hand ließ kaum eine andre Deutung des Dramas auf dem Ponte sull' Isorno zu und über die möglichen Motive wurden die kühnsten Hypothesen aufgestellt. Die plötzliche Abreise des Paares von Zürich ohne Gepäck, ohne die notwendigsten Reiseeffekten, beschäftigte die Einbildungskraft von Reportern, Publikum und Freunden lange Zeit, aber wer war da, zu sagen, ob man richtig geraten?
Die bleichen Lippen des Mannes und des jungen Mädchens blieben stumm für immer und nur ganz flüchtig dämmerte einmal ein Schimmer dessen, was an die Wahrheit streifte, in dem langsam arbeitenden Gehirn jener Aufseherin im Landesmuseum. Aber sie vergaß es gleich darauf wieder, weil die Sache sie einmal nichts anging, zweitens weil es ja mehr junge Mädchen mit goldfarbenen Haaren gibt und drittens weil sie allen Unbequemlichkeiten aus dem Wege gehen wollte.
Und die bleichen Lippen der Opfer vom Ponte sull' Isorno blieben stumm und sie wurden als Selbstmörder in aller Stille an der Kirchhofsmauer begraben, wie das so Sitte ist und weil es die Menschen mit ihrer Klugheit hier unten ja nicht wissen konnten, daß die armen Seelen wahrscheinlich droben mit dem Halleluja der Engel eingezogen waren in das Haus ihres Schöpfers.
Bei den Leichen war nichts gefunden worden, was irgendwie einen Anhalt gegeben hätte. Johannes Lenzburg hatte seine Uhr, sein Geld, sein Portefeuille mit einigen Geschäftspapieren darin bei sich, Astrid Tellgreen hatte nur ein Taschentuch ohne Zeichen und eine sehr magre, kleine Börse in ihrer Tasche – »Lucifers Träne« war daraus verschwunden.
Ob sie in den Isorno gefallen? Kaum. Die Menschen pflegen in dem Strome der Zeit manches zu vergessen, und daher ist es ja auch möglich, daß das Meer ein zweites solches Wunder hervorbringt, das als »Dublette« von »Lucifers Träne« auf dem Markte erscheint und einen Käufer findet, der reich genug ist, die Perle zu bezahlen. Dann prangt das Juwel wieder am Halse einer schönen Frau oder im Kronschatze eines Weltreiches, und niemand ahnt etwas von der furchtbaren Geschichte, die an ihm haftet. Und dann wird die Perle vielleicht »Engelsträne« genannt, und die Engel weinen droben im Himmel wirklich darüber.
Wer weiß? Denn die bleichen Lippen der Opfer vom Ponte sull' Isorno bleiben stumm – – – – – –