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E Ein so heiteres Mittagsmahl wie heute hatte in dem »kleinen« runden Speisesaal auf Hochwald seit langer Zeit nicht stattgefunden. Der von der Seeluft geschärfte Appetit und die späte Stunde des Mahles machten es erklärlich, daß man der ausgezeichneten Kochkunst des zwar deutschen, aber darum nicht minder vortrefflichen Koches alle Ehre erwies. Auch was der wohlgefüllte Keller lieferte, war nicht zu verachten, und es war wohl niemand am Tische, der nicht das Seinige dazu beigetragen hätte, die allgemeine vortreffliche Stimmung zu erhöhen. Besondere Heiterkeit erregte es, daß der Professor Glauchau seiner »durchlauchtigsten Wirtin« mit dem Eifer eines Primaners die Cour machte, was Iris mit ihrer reizenden Unbefangenheit als einen vortrefflichen Spaß auffaßte. Hans aus dem Winkel, der berühmte Wagnersänger, erwies sich als ein geist- und lebensprühender Gesellschafter, und der Cavaliere hatte seinen reichen Schatz brillanter Konversationskünste nicht daheim in Italien vergessen. Auch Sigrid trat völlig aus sich heraus und nahm den lebhaftesten Anteil an der Unterhaltung – still und ohne Courmacherei, aber doch augenscheinlich bewundert von Spini, dessen merkwürdige, helle Augen Iris oft lange auf ihrer Schwester weilen sah.

Und trotzdem – als die Fürstin Hochwald nach dem Mahl ihrem Sohne droben einen Besuch abgestattet hatte und dann wieder den Salon betrat, wo man eben den Mokka nahm, hatte sie trotz der regen und allgemeinen Unterhaltung das Gefühl, als lagerte ein Etwas, wie eine drückende Atmosphäre über diesen Raum. »Mein Gott,« sagte sie beklommen, »wie schwül ist es hier! Ob draußen ein Gewitter droht? Wollen wir nicht lieber auf die Terrasse gehen, liebe Olga?«

Madame Chrysopras war einverstanden, und die beiden Damen gaben das Zeichen zum Aufbruch. Im Hinausgehen und beim Passieren der Halle traf sich's, daß der Fürst, Glauchau, Sigrid und Spini bei einem Tisch zusammentrafen, auf der unter anderen Gegenständen auch jene Truhe stand, welche der Fürst in Florenz bei dem »Antiquar« in der Via Porta Rossa gekauft. Des Professors geübtes »Trödlerauge«, wie Hans aus dem Winkel neckend zu sagen pflegte, blieb sogleich auf dem kunstreichen Kasten haften.

»Hören Sie, mein lieber Hochwald, wo haben Sie denn das her?« fragte er stehenbleibend. »Das Alliancewappen der Bianca Capello als Großherzogin – hm! hm! hm!«

»Schöner alter Kasten – nicht wahr?« fragte der Fürst und versuchte das Thema schnell auf einen anderen Gegenstand zu lenken. »Sehen Sie, hier ein Nürnberger Becher aus dem sechzehnten Jahrhundert –«

»Jawohl – nette Arbeit – Zeichen stimmt; echt!« machte der Professor kurzweg. »Aber der Kasten hier – haben Sie den wirklich für alt gekauft?«

Nun griff der Fürst, da er Spinis Augen auf sich gerichtet fühlte, zu einem heroischen Mittel –: er verleugnete seine ganze Reputation als Altertumskenner – eine Selbstverleugnung, die nicht jeder Sammler zum Besten seiner Mitmenschen zu üben imstande ist.

»Aber gewiß, lieber Professor! Der Kasten ist wunderschön und echt obendrein!«

»Nein, das ist er nun eben nicht!« schrie der kleine Gelehrte im vollsten Eifer. »Damit hat man Sie häßlich übers Ohr gehauen. Und Sie haben sicher dafür 'n Heidengeld blechen müssen. Ja, den Schwindel kennen wir! Die Wurmlöcher hier sind gebohrt – die Würmer machen's ja sonst sehr schön, aber hier sind sie doch etwas sehr gewaltsam. Und dann hat der Kasten noch zwei andere Achillesfersen – erstens die Beschläge. Da hat der Fabrikant sich fürs Rostenlassen nicht Zeit genug genommen und die Patina ist gemalt! Ja! Zweitens das Wappen! Das Ornament dazu und die Zeichnung davon überhaupt stammen aus einer späteren Epoche, aus der Spät-Renaissance mit einem Worte, wie sie schon auf die Neige ging und barock wurde. Da haben Sie den Witz!« –

»Aber lieber Professor,« unterbrach ihn der Fürst, »Sie wollen doch damit nicht sagen, daß –«

»Daß es, namentlich in Italien, ganze organisierte Gesellschaften zur Herstellung von Antiquitäten giebt!« rief der Professor im hellen Zorneseifer. »Ja, genau das will ich eben sagen! Ja, ja! Ich hab' da besonders in der Via Porta Rossa in Florenz einen Kerl auf dem Strich! Ich hab' den Behörden schon einen kleinen Wink gegeben, damit dem Lumpen 's Handwerk gelegt wird. Hören Sie, mein liebster Hochwald, Sie könnten mir eigentlich mit Ihrem Zeugnis zu Hilfe kommen gegen diese Räuberbande!«

»Ach liebster Professor, wozu? Wenn die italienischen Gerichtshöfe die Antiquitätenfabrikation, wie es scheint, als ein rechtskräftiges Gewerbe ansehen, dann werden wir wenig daran ändern und nur eine Menge Ärger ernten. Also lassen wir's die Leute unten selbst ausfechten und gehen wir jetzt lieber hinaus auf die Terrasse!«

Damit schritt Hochwald voran, und der Professor folgte ihm murrend. »Ja, ja,« sagte er zu Spini, »wenn der Mensch sich einmal bekauft hat, da hängt er's nicht gern an die große Glocke, daß andere klüger waren als er. Aber ich kann Ihnen sagen: – wenn ich bloß den Kerl, der den Kasten dort fabriziert hat, unter meine Fäuste kriegen könnte!« In seinem gerechten Zorne über den seinen Archäologenkenntnissen gebotenen Hohn vergaß der sonst so galante Gelehrte ganz, Sigrid beim Hinaustreten auf die Terrasse den Vortritt zu lassen, so daß letztere mit Spini erst draußen anlangte, als alles schon Platz genommen. Trotzdem schob sie ihren Korbsessel so zwischen die schon Sitzenden ein, daß sie den Cavaliere gerade sich gegenüber hatte, denn sie wollte ihn beobachten – drinnen die Scene vor dem Kasten hatte ihr ein Rätsel aufgegeben. Warum hatte Marcell Hochwald durchaus nicht auf das Gespräch eingehen wollen und es so kurz abgebrochen? Warum hatte Spini mit seinem unbeweglichen Gesichte daneben gestanden, ohne mit seinen archäologischen Kenntnissen an dem für ihn doch sicher interessanten Gespräche teilzunehmen? Warum hatte er seine an und für sich markanten Augen mit einem so seltsamen, dem Blicke eines hungrigen Panthers ähnlichem Ausdruck auf den Fürsten geheftet, und warum hatte der letztere endlich ganz vermieden, Spini in die Konversation hineinzuziehen, da er wußte, daß dieser Kenner war wie er und Glauchau? Was hatte es mit dem Kasten für eine Bewandtnis? Sollte hier der Schlüssel zu suchen sein zu der Andeutung, die Hochwald gestern über den ihm aufgedrungenen Gast hingeworfen? Sigrid beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen, denn wenn man nur recht kühn auf den Busch schlägt, dann fliegen die Vögel schon von selbst hinaus.

Auf der Terrasse war es märchenhaft schön. Es war eine jener warmen Sommernächte, wie sie auch der Norden so wonnig zu bieten hat, eine Nacht mit Sternengeflimmer und einer großen bleichen Mondsichel am schwarzblauen Horizont, die jenen matten Silberschimmer auf die stille Erde warf, wie er eben auch nur des Nordens Eigentümlichkeit ist. Die bleiche Sichel stand gerade jetzt schräg über der Terrasse mit ihren Palmen, Lorbeerbäumen und Rhododendrongebüschen in mächtigen Holzkübeln, mit ihrem blühenden Flor von Azaleen, die in allen Schattierungen vom zartesten Rosa bis zum glühenden Purpur und in schneeiger Weiße ihr kurzes, herrliches Blütendasein am Meere verträumten, das seine Wellen spielend über die weißen Marmorstufen warf mit leisem Rauschen und Murmeln, als schmeichelte es um die zarten, durchsichtigen Blütenblätter, welche die Brise hinabwehte in die kühle, tiefe Flut – –

Wie ein silberner Hauch flimmerte das blasse Mondlicht auf den Wellen, die sich im Dunkel der Nacht verloren, wo es aus einer aufsteigenden Wolkenwand wetterleuchtete mit blutrotem Schein. In einem dieser zuckenden Lichter, die für eines Augenblickes Länge über das dunkle Meer ein unheimliches, fast dämonisches Leuchten warfen, wandte Spini sein bleiches Gesicht mit den seltsamen Augen dem Professor zu.

»Der Name August Glauchau ist mir als Historiker und Archäologe wohlbekannt,« sagte er verbindlich. »Ich hatte aber nicht gewußt, daß Sie auch Heraldiker sind.«

»Hochverehrtester Herr,« rief der Professor mit Eifer, »die Heraldik ist die Hilfswissenschaft für die Geschichte, ihr Stab und ihre Stütze! Leider Gottes ist aber die sehr thörichte und von mangelhaftem Verständnis zeugende Idee, als ob die Wappenkunde nur eine kindische Spielerei für den Adel wäre, noch sehr weit verbreitet. Freilich, wenn ein Mensch glaubt, er ist ein Heraldiker, wenn er sich Petschaft- oder Siegelring-Abdrücke von sehr mangelhaft gestochenen Wappen sammelt und sie nach dem Alphabet aufklebt, so muß einem vernünftigen Menschen so 'was sehr – kindlich erscheinen. Wohingegen der Forscher der Wappenkunde und Genealogie schon manche wichtige Kunde verdankt, und der Archäologie mit der größten Sicherheit – wie ich zum Beispiel vorhin bei dem schönen Kasten mit dem Wappen der Bianca Capello – bestimmen kann, aus welcher Epoche der Heraldik die Zeichnung des Wappens rührt.«

»Es ist wahr,« sagte Spini nachdenklich, »wir legen alle noch viel zu wenig Wert auf die Wappenkunde.«

»Und dabei ist's nicht einmal eine trockene Wissenschaft,« warf Hochwald ein, »denn die Sagen, Legenden und Thatsachen, die sich um die Wappenschilde älteren Ursprungs spinnen, sind oft von wunderbarer Poesie durchwoben, oft von erschütternder Tragik. Und wer da meint, der Genealoge habe mit seinen Zahlen, Daten und Namen ein wenig anregendes, dürres Thema, der irrt erst recht, denn beim Zusammentragen dieser Ziffern und Namen entrollt sich ihm auch die Geschichte derer, deren Existenz ein Glied bildet in der langen Kette, und was der Genealoge zwischen den Zeilen liest, darum würde ihn mancher Dramatiker, mancher Romanschriftsteller beneiden.«

»Skandalgeschichten,« warf Madame Chrysopras ein. »Freilich, die Skandalmacher von dazumal waren schlechter daran, denn kein Telegraph, kein Weltpostverein verbreitete ihre Histörchen mit zauberhafter Schnelle. Und da es also die Klatschbasen nicht besprechen konnten, verlief die Sache dazumal als ›Gedicht‹ oder ›Tragödie‹, je nachdem, und der Genealoge fühlt sich tief erschüttert, wenn er's findet.«

Iris lachte unwillkürlich.

»Ach,« meinte sie dann, »es gewährt doch einen wunderbaren Reiz, in der Chronik vergangener Tage zu blättern, alte Tagebücher und Briefe zu lesen. Wenigstens hat es für mich eine große Anziehungskraft! Um übrigens auf die Wappenlegenden zurückzukommen –: ich habe mir ein Buch angelegt, in welchem ich die Sagen und Thatsachen sammele, die sich an den Ursprung oder die Umänderung von Wappenschilden knüpfen. Wir haben in der Bibliothek alte Chroniken und genealogische Werke, in denen viel merkwürdige Dinge zu lesen sind.«

»Ei freilich,« bestätigte der Professor lächelnd. »Und dabei ist's eigentlich kolossal merkwürdig, wie oft Thatsachen aus neuester Zeit mit den überlieferten Sagen übereinstimmen. Ich erinnere Sie nur an Erlkönigs Tochter, das Heroldsbild der Erlenstein, an den Kesselhaken der Decken, den Maueranker der Hatzfeldt, an die weißen Rosen von Ravensberg –«

»Ach, das müssen Sie uns erzählen,« fiel Sigrid ein. »Ich habe schon von diesen weißen Rosen gehört und ich gestehe, sie haben meine Neugierde erweckt.«

»Ach ja,« bitte, fiel auch Iris ein. »Das giebt am Ende eine hübsche Geschichte für mein Sagenbuch.«

»Na, gerade eine hübsche nun eben nicht,« erwiderte der Professor, »vielmehr eine recht schauerliche!«

»Besser, wir erzählen etwas Heiteres,« sagte Fürst Hochwald ernst.

»Ach nein, Marcell, es gruselt sich so schön bei Abend,« rief Iris voll Eifer. »Eigentlich muß man ja dazu in der dunkeln Stube am knisternden Kaminfeuer sitzen, aber das Meer und das Wetterleuchten thun's ja am Ende auch!«

»Also bitte, Herr Professor, die weißen Rosen von Ravensberg,« bat Sigrid.

»Mit Vergnügen, mein bestes Fräulein,« sagte der kleine Gelehrte, der keine Ahnung davon hatte, wer Sigrid und seine Wirtin eigentlich waren und wie die Schwestern hießen. Und dann begann er seine Geschichte: »Die Ravensberg gehören zum schwäbischen Uradel, und schon unter Barbarossa finden wir urkundlich zwei Ritter dieses Namens, Welche die Kreuzzüge mitmachten; auch war ein Ravensberg Begleiter des Königs Enzio und hat dessen Gefangenschaft geteilt. Nach einem höfischen Turnierbuche der damaligen Zeit, wie die Hofburgpfaffen sie umständlich und genau verfaßten und vielen Fleiß daran wendeten, führten die von Ravensberg damals einen ›silberweißen Schild mit drei blutroten Rosen darin, deren Samenkapsel ausgebrochen war‹. Die nächste Kunde von den Ravensberg fällt in eine hochtragische Episode der Geschichte, und mit dieser selbst ist auch die Änderung ihres Wappens verknüpft, wenn auch im anderen Sinne als die drei schwarzen Löwen von Schwaben, deren rechte Vorderpranke ›zum ewigen Andenken an das unschuldig und ungerecht vergossene Blut des letzten Hohenstaufen, Konradin, blutrot tinktiert und anklagend erhoben wurde‹. So führt Württemberg heut' noch das Wappen von Schwaben im gespaltenen goldenen Schilde neben seinen drei schwarzen Hirschstangen. Nun denn, Konradin, der Hohenstaufe, der Kaisersproß, von seinem Freunde und Waffenbruder, Friedrich von Baden, dem Erben von Österreich begleitet, zog nach Neapel, um die Krone dieses herrlichen Landes auf sein blondes Haupt zu setzen, diese Krone, nach der erst der Reichsverweser Manfred, dann Karl von Anjou ihre räuberischen Hände ausgestreckt, um sich selbst damit zu krönen. Der Usurpator Manfred büßte seine Königsgelüste auf dem Schlachtfelde von Benevent, während der Capetinger die sicilianischen Kronen festhielt und den jungen Konradin mit seinen Gefährten ins Gefängnis warf. Unter diesen Gefährten aber befand sich ein Ravensberg, der dem Gefängnis zu entrinnen wußte, indem er zu Karl von Anjou überging und die Sache seines unglücklichen Herrn nach der Katastrophe von Tagliacozzo schmählich verließ. Ja, der Chronist berichtet, jener Enzio von Ravensberg habe am 29. Oktober 1268, als auf dem Mercato zu Neapel Konradins erlauchtes Haupt auf dem Schafott fiel, ein Kommando über ein Fähnlein Landsknechte geführt, die den Platz um das Blutgerüst besetzt hielten. Das Heimweh und vielleicht auch das Gewissen trieben Enzio von Ravensberg endlich zurück nach Schwaben, doch ihm voran reiste das Gerücht seines schmählichen Verrates. Tief entrüstet über eines deutschen Mannes Treubruch, weigerte seine Sippe ihm die Gastfreundschaft, und der Kaiser verhing über den Verräter und Abtrünnigen die Acht und gebot sein Wappenschild dahin zu ändern, daß es statt der Silberfarbe des Schildes von nun ab blutrot leuchte, überzogen mit Konradin von Hohenstaufens Blut, während die roten Rosen vor Scham erbleicht fortan weiß darauf erglänzen sollten. Diesen Schild aber sollte das Geschlecht so lange führen, bis ein Ravensberg mit seinem eigenen Blute das des letzten Hohenstaufen, den es verraten, gesühnt – und erst dann, wenn eines Ravensberg Blut geflossen, sollte das Schild gereinigt wieder weiß erstrahlen, die Rosen wieder rot erglühen. Der geächtete Mann irrte freund- und ruhelos in der Welt umher, aber kein Schwert, keine Hellebarde fand sich, sein Blut fließen zu lassen. Vermählt mit einer fränkischen Dame, die ihn genug liebte, um sich über Acht und Treubruch hinwegzusetzen, starb er im Bett einen bürgerlichen Tod, das brechende Auge gerichtet auf seinen Schild mit den ›vor Scham erbleichten‹ Rosen – – ›So wollte ich,‹ rief er im Sterben, ›daß ihr weißen Rosen den Ravensberg zum Todesengel würdet und ihnen verkündetet, wenn es Zeit sei zum Sterben, damit sie sich bereiten, vor ihren Richter zu treten. Weiße Rosen – Todesrosen sollt ihr werden, bis Ravensbergblut den Schimpf tilgt von euch!‹ – – – Dies ist der Ursprung der weißen Rosen von Ravensberg,« schloß der Professor. »Aber,« setzte er zögernd hinzu, »das höchst Seltsame dabei ist, daß in der Reihe der Jahrhunderte seit dem Ausgange des dreizehnten Jahrhunderts bis auf unsere Tage kein Ravensberg anders als daheim im Bett gestorben ist. Der Name hat sich in den Kriegen aller Zeiten viele Auszeichnungen erworben – gefallen auf dem Schlachtfelde aber ist kein Ravensberg, und die weißen Rosen sind weiß geblieben seit sechs Jahrhunderten. Nur der Letzte dieses Namens –«

»Nun, nur der Letzte dieses Namens –,« fiel Sigrid gespannt ein, als der Professor plötzlich stockte.

»Es ist doch niemand hier mit den Ravensberg verwandt oder verschwägert?« fragte der Gelehrte vorsichtig.

»Niemand!« rief Sigrid mit der vollen Sicherheit ihres guten Glaubens, und dieses »niemand« beruhigte auch Madame Chrysopras, der eine vage Idee aufgestiegen war, als ob der Name irgendwie in Beziehungen zu den Erlensteins stehen müßte.

»Nun gut,« sagte der Professor. »Also der letzte Ravensberg, der Letzte eines uralten Stammes hat die weißen Rosen mit seinem Blute wieder rot gefärbt. Er starb durch einen Revolverschuß mitten ins Herz.«

»Selbstmord?« fragte Spini interessiert.

»Nein, Mord,« erwiderte Dr. Glauchau zögernd. »Seine eigene, schöne, junge Frau hat die tödliche Waffe gegen ihn gewendet.«

»O wie entsetzlich!« rief Iris erbleichend, und Madame Chrysopras war's wieder, als müßte vor vielen, vielen Jahren ein ähnlicher Fall bei den Erlensteins vorgekommen sein. War nicht damals, als sie mit dem seligen Chrysopras in der Krim lebte, wo er seiner Gesundheit wegen den größten Teil des Jahres zubrachte, eine derartige Geschichte zu ihr gedrungen?

»Ah, ich erinnere mich, den Fall in einer alten Zeitung gefunden zu haben,« rief Spini, der nun sein Steckenpferd ritt, sein Werk: Der Dämon im Weibe. »Sie werden sich erinnern, Fürst Hochwald, daß ich Ihnen davon erzählte. Aber meine zufällig gefundenen alten Zeitungen brachten nur Anfang und Mitte, nicht aber den Schluß der Gerichtsverhandlungen. Wie endeten dieselben? Welchen Spruch fällte der Gerichtshof? Ich meine, die Zeugenaussagen waren vernichtend, während die Angeklagte ohne Wanken leugnete und den Tod ihres Gatten als Selbstmord darstellte.«

»Der Gerichtshof erkannte auf ›Schuldig‹ und verurteilte die Angeklagte zum Tode,« erwiderte der Professor.

»Und natürlich wurde die Mörderin zu lebenslänglicher Haft begnadigt,« rief Sigrid. »Eine schöne Gnade – ich nenne sie eine diabolische Höllenqual. Stellen Sie sich ein solches Leben vor, gegen das der Tod eine Erlösung ist!«

»Ja aber, meine Gnädigste, von diesem Standpunkte aus dürfen wir's als Christen nicht betrachten,« entgegnete der Professor. »Das Leben ist an und für sich eine Gnade, eine Gnade von Gott, und wenn dies vor der menschlichen Gerechtigkeit verwirkte Leben kraft der königlichen Machtvollkommenheit verlängert wird, so geschieht es in der Absicht, dem Sünder Zeit zu lassen zu einer irdischen Buße. Im übrigen hat der König damals von seiner Gnade keinen Gebrauch gemacht, da die Verhöre Untiefen in dem Charakter der Frau von Ravensberg enthüllten, die der Sühne vor der Welt bedurften. Ihr Haupt fiel in dem Zellengefängnis zu X.«

Eine Pause entstand nach diesen Worten. In der Ferne überm Meer wetterleuchtete es stärker und die sich auftürmenden Wolkenmassen verhüllten schon fast die bleiche Mondsichel.

»Sie sagten, es war der letzte Ravensberg,«, begann Spini dann wieder. »Er hinterließ also keine Erben?«

»Soviel ich weiß, nur eine kleine Tochter, die schon im ersten Lebensjahre starb.«

»Und aus welcher Familie entstammte die Gerichtete?«

Der Professor wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Hm, ja,« sagte er sinnend, »sie war aus einem vornehmen nordischen Hause. Warten Sie mal, der Name muß mir doch einfallen! Eine – eine – eine –«

»Komtesse Erlenstein!« unterbrach hier Fürst Hochwald laut den Professor, indem er einen Brief aus der Brusttasche seines Rockes zog und ihn Sigrid reichte. »Ich fand ihn vorhin unter den Postsachen und vergaß, ihn dir vor Tisch zu geben.«

»Jawohl – Komtesse Erlenstein,« wiederholte der Professor laut, indes Sigrid den Poststempel des Briefes in dem matten Lichte zu erkennen suchte. Überrascht sah sie auf, als ihr Name wiederholt wurde.

»Herr Professor?« erwiderte sie fragend.

Der kleine Gelehrte war für den Moment sprachlos, denn da er ja nicht schwerfällig war im Begreifen, so ahnte ihm sofort der Zusammenhang, nun er den Mädchennamen seiner Wirtin kannte.

»Ja,« sagte er schnell gefaßt, »es war nämlich nur, weil ich sozusagen eine botanische Verwechselung gemacht hatte. Ulmenstein hatte ich mir eingebildet – das ist ein hannoversches Freiherrngeschlecht, und Erlenstein heißen Sie, meine Gnädigste? Aber ein Baum war's – das hab' ich genau gewußt!«

Man lachte über die drollig hervorgebrachte Erklärung des kleinen Herrn, und Hochwald atmete erleichtert auf über die bewiesene Geistesgegenwart. Spini aber, der ja nicht ahnen konnte, welcher Zusammenhang mit der Nennung von Sigrids Namen und des Gelehrten Erzählung bestand, verfolgte das ihm interessante Thema weiter.

»Sie wollten uns den Familiennamen der Gattenmörderin sagen,« begann er von neuem.

»Hm, ja,« schüttelte Professor Glauchau den kahlen Kopf, »er ist mir wirklich total entfallen. Ein dänisches Grafengeschlecht war's. Aber ich komme nicht auf den Namen. 's ist ja auch eigentlich ohne Belang. Vielleicht fällt er mir noch ein!«

Dabei mußte sich Spini beruhigen, während Sigrid sich den Kopf darüber zerbrach, welcher Zusammenhang mit der eben gehörten Wappensage und ihrer Familie bestehen könnte, da Iris in ihrem hypnotischen Zustande von den weißen Rosen von Ravensberg gesprochen.

Die Wolken, aus denen es gewetterleuchtet hatte, waren höher gestiegen und verhüllten jetzt die bleiche Mondsichel ganz, so daß Iris den Vorschlag machte, Lampen holen zu lassen. Davon wollte man indes nichts wissen, denn durch künstliches Licht hätte der Aufenthalt auf der Seeterrasse entschieden an Reiz eingebüßt, und so dunkel war es nicht, daß man sich nicht mehr hätte erkennen können. Das Aufzucken der roten und violetten Blitze aber zauberte eine solche magische Beleuchtung über die nachtdunkle Meeresfläche, die so ruhig dalag, als schlummere sie auch mit der übrigen Natur, daß es schade gewesen wäre um das herrliche Schauspiel. Mit dem Aufsteigen der Wolkenwand aber wurde die Dunkelheit allmählich intensiver – dennoch aber dachte noch keines aus dem Kreise auf der Terrasse daran, hineinzugehen – die Sommernacht war gar so köstlich mild, die Seeluft so erquickend, das Rauschen und Raunen der dunkeln Wasser den Nerven so wohlthuend – und sonst kein Laut aus der Außenwelt, keine Stimme, kein Lärm, alles Ruhe, großartige zauberische Ruhe – –

Spini hatte sich erhoben und war an die Seitenbrüstung der Terrasse getreten und sah zu, wie die heranrollenden, heut' so glatten Wellen sich an den jäh abfallenden, mit Strebepfeilern verstärkten Mauern des Schlosses mit leisem Plätschern brachen und ihren Schaum zurückwarfen auf das Wasser. In beträchtlicher Höhe über dem Spiegel der Flut unterbrachen unregelmäßige Schießscharten die Mauer mit schräg abfallenden armestiefen Nischen, um das Eindringen des Wassers bei hoher See zu verhüten, und erst hoch über diesen Schießscharten befanden sich die Fenster der oberen Räume, die von außen zu befestigenden Läden vor dem aufspritzenden Gischt schützten. Der Bau des Schlosses von der Seeseite hatte, namentlich in dem ungewissen Lichte der verhüllten Sommernacht, etwas Unheimlich-drohendes – einen gewissen wilden, trotzigen Charakter wie ein Nordlandsrecke aus der Vorzeit, da die Wikinger in seltsam geformten Ruderschiffen übers Meer zogen zu erbittertem Streite. Spini, der ein derartiges Gebäude hart am Felsenabhang der Nordsee noch nicht gesehen hatte, empfand den Eindruck um so stärker, und er bewunderte still dies Werk vergangener Zeiten, das Menschenwille und Menschenhände den rauhen Elementen zum Trotz hier errichtet. Dann aber zog etwas anderes seine Aufmerksamkeit an – das war ein schmaler, blutroter Lichtschein, der bald schwächer, bald stärker und dann wieder gar nicht auf den leis sich bewegenden Wellen lag – nicht stark genug, um sofort bemerkt zu werden, nur wie ein Hauch, flackernd und unsicher. Es war auch nicht zu erkennen, woher der rote Schein kam – Spini glaubte, aus einer der Schießscharten, doch da diese ihre schräge Seite von der Terrasse abkehrten, so war es gewiß nicht zu bestimmen.

»Aber Herr Marquis, was beobachten Sie nur dort im Finstern?« fragte eine lachende Stimme neben ihm. Es war Iris, die aufgestanden und neben ihn getreten war, gefolgt von den anderen, da man fand, es wäre Zeit, zur Ruhe zu gehen.

»Sehen Sie, Fürstin – dort! dort!« rief Spini, auf den strichartigen roten Schein zeigend, der eben wieder stärker auf dem Wasser erglänzte.

Iris schlug erstaunt die Hände zusammen.

»Sind Sie ein Johanniskind, daß Sie am ersten Abend hier gleich sehen, was ich noch nicht einmal erblickte?« fragte sie mit jener gedämpften Stimme, die man wohl annimmt, wenn man etwas Unheimliches sieht. »Das ist – ja, das ist der Spuk von Hochwald!«

Mit einem unterdrückten Ausruf des Staunens traten die anderen näher und sahen über die Terrasse gelehnt, auf den roten Schein hinab.

»Was und durch wen weißt du von einem Spuk von Hochwald? durch mich doch sicher nicht?« sagte der Fürst kopfschüttelnd zu seiner Frau. Ihm schien die Erscheinung sicher nichts Ungewohntes.

»Aber lieber Marcell, die Spukchronik alter Schlösser läßt man sich doch auch nicht vom Hausherrn erzählen,« erwiderte Iris mit weiser Miene. »Das besorgen die ältesten Dienstboten des Schlosses. Und aus dieser durchaus zuverlässigen Quelle hab' ich auch die Sage ›vom roten Lichte von Hochwald‹. Es ist nur in dunkeln Nächten zu sehen, immer an der Nordseite des Schlosses. Die Fischer, die nachts vom Fischfang kommen, behaupten, es käme aus einer der Schießscharten, und sie schwören, es bedeutet Sturm und Schiffbruch und sonstiges Unheil. Aber ich habe trotz aller wundervoll gruseligen Beschreibungen des ›roten Lichtes‹, zu meiner Rechtfertigung sei's gesagt, nie an seine Existenz geglaubt. Es scheint aber doch zu existieren. Was ist's damit, Marcell?«

Fürst Hochwald zuckte mit den Achseln.

»Irgend eine Naturerscheinung, ein Reflex, eine optische Täuschung. Jedenfalls etwas sehr Harmloses,« sagte er ruhig.

»Und der Ursprung?« fragte Spini. »Ich meine, welche Legende knüpft sich an dieses merkwürdige Licht?«

Es giebt keine Sage darüber, Marquis!«

»Natürlich steht jemand hinter so 'ner Schießscharte und dirigiert den Spuk mit einer roten Lampe,« meinte Boris weise.

»Das möchte ich bestreiten,« erwiderte Hochwald gleichgültig. »Diese Schießscharten münden in einen sehr breiten, von der Landseite beleuchteten Korridor des Nordbaues, der sich unterhalb der Wohnräume befindet und ehedem der Besatzung des Schlosses zu Wachtstuben diente. Da nun aber der ganze Flügel abgeschlossen und unbewohnt ist, die Schlüssel dazu sich auch noch obendrein in meiner Verwahrung befinden, so ist es ausgeschlossen, daß dort Spukgeister von Fleisch und Blut sich diesen Scherz machen, der übrigens in dieser Lage kaum einen Zweck, nicht einmal den des Unfugs hätte, denn selbst die Chancen, daß heimkehrende Fischer das Licht sehen könnten, sind doch sehr gering.«

»Und haben Sie niemals persönlich der Erscheinung nachgeforscht, wenn diese sich zeigte?«

»Gewiß – doch ohne jedes Resultat. Da nun dieses harmlose Licht niemand schrecken und ängstigen kann, so mag es immerhin ungehindert scheinen. Überdies liegt das Verhindern auch nicht in meiner Macht – wie gesagt, ein Reflex mag es sein, sonst nichts.«

»O,« rief Fuxia lebhaft, »ich finde es schrecklich, solch unerklärliche Dinge prosaisch auszulegen und aufzuklären. Ich finde es wundervoll, solch Spuk zu besitzen, denn in unseren neuen Häusern drüben in N'York sind not haunted at all, you know!«

»Nun,« meinte Herr aus dem Winkel lachend, » chacun à son goût! Ich habe sonst eine starke Abneigung und ein noch stärkeres Mißtrauen gegen Spukgeister, die Euer Durchlaucht mit ›wundervoll‹ zu bezeichnen belieben – wenn der Spuk aber so wenig persönlich bleibt wie dieser, so kann man sich ihn schon gefallen lassen!«

»Wie lange erscheint dieses Licht schon?« fragte Sigrid.

»O – seit Menschengedenken, sagt meine Quelle, die Beschließerin,« erwiderte Iris, immer noch hinsehend auf das Licht, das blutrot und flackernd auf der ruhigen See lag.

»Seit Menschengedenken!« wiederholte Hochwald sinnend und mit leis vibrierendem Tone, »was bedeutet das für die meisten? Ein leeres Wort –«

Iris sah fragend auf zu ihrem Gatten, dessen Augen mit tiefschmerzlichem Ausdrucke auf dem roten Lichtschein ruhten – das feine Ohr der Liebe hatte die Bewegung in seiner Stimme sofort herausgehört; und ihren Blick fühlend, sah er hinab auf sie und strich mit der Rechten leis über ihr lichtes Haupt – – eine stumme Frage, eine stumme Antwort und doch so beredt, daß Sigrid, die es gesehen, ihr Gesicht für einen Augenblick in den Händen verbarg, die sie auf die Brüstung der Terrasse gestützt.

»Es ist merkwürdig, daß ich niemals von dieser Erscheinung hörte, solange Hochwald noch meine Heimat war,« meinte Madame Chrysopras nachdenklich. »Zum mindesten ist mir die Geschichte total entfallen, denn es ist doch nicht anzunehmen, daß dieses Licht erst seit kurzem zu sehen ist!«

»Warum denn nicht?« fragte der Professor. »Eine zerschlagene Glasscheibe oder ein faulender Balken kann mit einem Male die wunderbarsten Lichteffekte hervorbringen.«

»Und wo bleibt da die Poesie?« scherzte Herr aus dem Winkel.

»Gott sei Dank, daß doch einer noch nach der Poesie fragt,« rief Fuxia mit einem schwärmerischen Augenaufschlag zu dem berühmten Sänger. »Ich wundere mich nur, daß sich das Volk selbst noch keine Sage um das ›rote Licht von Hochwald‹ gesponnen!«

»O, doch,« fiel Iris eifrig ein, »die Fischer und das Schloßgesinde sagen –« Sie stockte und sah errötend zu dem Fürsten auf.

»Nun, was sagte dieses Orakel?« fragte dieser, da er das Zögern seiner Frau um seiner Abneigung willen gegen derartige Hirngespinste wohl verstand.

»Die Fischer und das Schloßgesinde sagen, das rote Licht von Hochwald sei eine arme, irrende Seele, die im Grabe keine Ruhe findet,« vollendete Iris leise.

»O nein, irrende Seelen sind grünliche oder bläuliche Lichter wie kleine Flämmchen,« rief Fuxia mit der vollsten Überlegenheit einer Geisterkennerin.

»Die Leute aber sagen, dies rote Licht sei eine irrende Seele, die Blutschuld von der ewigen Seligkeit trennt,« verteidigte Iris mit unwillkürlich gedämpfter Stimme ihren Spuk.

Hochwald heftete einen unbeschreiblich wehmütigen Blick auf seine junge Frau, einen Blick voll leidenschaftlichen Mitleids, voll tiefsten Schmerzes.

»Ein seltsamer Glaube, dieser Volksglaube von den irrenden Seelen,« sagte er mit tiefer Stimme, »und doch auch wieder ein erschütternder Glaube. Freilich wohl schließt er die Erlösung der irrenden Seele nicht aus, und das ist's, was der Tragik den versöhnenden Schluß, die höchste Poesie verleiht, und den sittlichen Wert dazu, da er meist eine gute That für die Erlösung verlangt.«

In diesem Moment trat der Mond hinter den Wolken hervor und beleuchtete hell die Gruppe auf der Terrasse – das rote Licht aber war verschwunden.

»Da haben Sie den Schwindel,« meinte der Professor trocken.

»Schwindel, ja! Aber ich möchte ihm doch auf den Grund gehen,« rief Sigrid tief atmend, wie erlöst.

»Das Licht ist nicht fort, es ist noch da,« sagte Spini, scharf auf das Wasser blickend. »Wenn Sie sich die Mühe geben, werden Sie es trotz des Mondlichtes auf den Wellen sehen – dort, den rötlichen Schimmer – es ist unzweifelhaft dasselbe. Es muß aus der dritten – nein aus der vierten Schießscharte, von hier gerechnet, ausgehen.«

»O, könnte ich ihm auf die Spur kommen!« rief Sigrid, mit dem Fuße stampfend vor Ungeduld.

»Aber die Schlüssel zur Burg, wie dieser Flügel genannt wird, stehen ganz zu deiner Verfügung,« erwiderte Hochwald ruhig. »Es ist nichts dort, was dich erschrecken könnte – du magst diese nächtliche Expedition also ohne Bedenken unternehmen!«

»Ja, gehen wir, gehen wir alle!« jubelte Fuxia, in die Hände schlagend. Aber Sigrid erklärte eine solche Massenexpedition für eine Thorheit. Wer immer auch den Spuk mit dem Lichte ins Werk setze, müsse ja Reißaus nehmen, wenn eine schwatzende und lachende Gesellschaft den Ort der That beträte. Nein, wenn das Licht wieder einmal zu sehn sein würde, müsse Hochwald sein Wort halten und ihr den Schlüssel geben – sie würde dann in Begleitung eines Auserwählten – Spini erhielt dabei einen ihrer charakteristischen Seitenblicke – die Expedition ohne Geräusch antreten; ein Vorhaben, gegen das der Fürst nichts einzuwenden hatte.

Damit trennte man sich für die Nacht; der Professor aber nahm noch eine Gelegenheit wahr, seinem Gastfreunde zuzuflüstern: »Mein lieber Hochwald, ich hätte die alberne Geschichte von den weißen Rosen im Leben nicht erzählt, wenn ich gewußt hätte –«

»Aber das weiß ich ja,« unterbrach ihn Hochwald freundlich. »Es fiel mir ein gewaltiger Stein von Herzen, daß Sie begriffen, was ich wollte, denn weder meine Frau noch meine Schwägerin kennen diese unglückliche Episode ihrer Familie. Sie sind in völliger Unkenntnis derselben aufgewachsen und erzogen worden.«

»Gott erhalt's ihnen,« sagte der kleine Professor so herzlich, daß Hochwald ihm bewegt die Hände drückte.

*

Es war eine elende, selbstquälerische, peinvolle Nacht, die Sigrid nach jenem Abende auf der Terrasse verlebte. Sie lag auf dem Fußboden und raufte ihr Haar und zerschlug ihre Stirn und rang mit dem Dämon in ihrer Brust – aber sie rang nicht mehr ernsthaft. Der Kampf war nur noch eine Spiegelfechterei, eine Mensur mit Maske und Harnisch, die eine tödliche Wunde ausschließt, aber doch einen gewissen Mut verlangt. Neid und Eifersucht verzehrten ihr Herz; jedes liebevolle Wort, jede liebeatmende Sorgfalt, die Marcell Hochwald seiner Frau im Laufe des vergangenen Tages gewidmet, fielen ihr ein und krampften ihre Seele zusammen in den unheiligen Gefühlen der Mißgunst, des Neides, der Eifersucht.

»Ich wäre ihm viel mehr gewesen, als diese flachshaarige Mondscheinprinzeß,« war der immer zurückkehrende Refrain ihrer Klagen gegen das Schicksal. Und der Dämon in ihr zischte ihr dann allemal, nur immer lauter ins Ohr: »Und warum könnt' ich's nicht noch werden? Es giebt so viele Wege dazu – –« Gegen Morgen, als nach einer schwülen, gewitterbangen Nacht die Sonne über die drohenden Wetterwolken siegte, fand sie eine Stunde unerquicklichen, wüsten Schlafes mit häßlichen Träumen, und mit benommenen Kopfe und schmerzenden Gliedern erhob sie sich, ließ die frische Morgenbrise zu den bisher dicht verschlossenen Fenstern herein, und nachdem sie sich durch ein kaltes Bad erquickt, verließ sie das Schloß zu einem Gange durch den thauglitzernden Park. Es war noch sehr früh, fünf Uhr eben vorbei, und im Schlosse waren erst die Dienstboten erwacht und hatten das Schloßportal geöffnet. Doch der ungewohnte Zauber eines nordischen Sommermorgens verfehlte seine Macht an Sigrids Empfindungsvermögen, das die Qualen der vergangenen Nacht abgestumpft. Empfänglich für Naturschönheiten war sonst ein hervorstechender Zug ihrer im übrigen unempfänglichen Natur. Sie hatte zwar nie die instinktive Sehnsucht nach dem Norden empfunden, die Iris stets an den Tag gelegt, aber sie hatte sich doch die Frage vorgelegt, wie ihr dies Heimatland behagen würde. Sie wußte heut' nur, daß die kühle Sommermorgenluft ihr wohlthat und das Hämmern in ihren Schläfen dämpfte, ihre trockenen Lippen erfrischte, ihre brennenden Augen kühlte. Sie brach ein großes mit Thauperlen besätes Blatt eines Rhabarberstrauches ab und begrub ihr Gesicht darin, bis ein kalter Schauer ihren ganzen Körper durchrieselte und ihre schlaffen, stumpfen Nerven neu anregte.

»Ist das Ihr Frühstück, Signora Contessina?« fragte Spinis melodische Stimme nicht ohne Schärfe neben ihr. »Ich für meinen Teil würde in diesem barbarischen Lande mit der kalten Sonne heißen Thee dem Thau vorziehen!«

»Es ist noch etwas früh für den Thee,« entgegnete Sigrid, ihr Gesicht trocknend. »Ich habe nicht geschlafen und daher Kopfschmerzen – dies Experiment mit bethauten Blättern hat sich aber als wohlthuendes Heilmittel erwiesen.«

Spini warf einen scharfen Blick auf ihr schönes, kaltes Antlitz, dem die dunkeln Ringe unter den Augen, diese stummen Zeugen der durchwachten Nacht, einen eigenen, erhöhten Reiz verliehen.

»Welche Sympathie – auch ich fand keinen Schlaf,« sagte er lässig. »Ob ich's auf die fremde Umgebung, das rote Geisterlicht auf dem Meere neben der Terrasse oder auf die Gewitterschwüle schieben soll, weiß ich nicht – vielleicht kam alles zusammen, den Schlaf zu verscheuchen. Jetzt, freilich freue ich mich, daß es mich so zeitig hinaustrieb.«

Er stockte und bückte sich, eine Blume zu pflücken für sein Knopfloch.

»Ja,« sagte Sigrid gleichgültig, »die kühle Luft thut gut, wenn man Kopfschmerzen hat.«

»Gewiß – die Luft – und anderes,« ergänzte er. »Die Frische that mir schon wohl, und die sonnengoldglänzende, thaufunkelnde Pracht dieses Parkes hat mich heut' schon mehr entzückt, als ich sagen kann. Ich hatte bisher von dieser Frische, von diesem nordischen Naturzauber keine Ahnung. Diese Eichen und Buchen, Erlen und Föhren, dieser smaragdgrüne Rasen mit seiner Rosenpracht – ich kann jetzt vollständig die unbewußte Sehnsucht der Fürstin Iris nach ihrem nie gesehenen Vaterlande begreifen.«

»Und doch nannten Sie es eben ein barbarisches Land mit kalter Sonne,« entgegnete Sigrid trocken, indem sie ihren Weg wieder aufnahm. Er war sogleich an ihrer Seite.

»Ja, mein erstes Gefühl heut' morgen im Freien war auch nur Kälte,« beantwortete er lachend den Vorwurf der Inkonsequenz. »Aber wir Italiener haben zu viel Schönheitssinn, um ungerecht bleiben zu können. Und was die deutsche Sonne für mich an Wärme zu wenig hat, ersetzt mir Ihre Nähe, Sigrid!«

Sie blieb stehen und maß ihn mit kaltem Blick.

»Wer hat Ihnen das Recht gegeben, mich mit dem Vornamen zu nennen, Herr Marchese?« fragte sie kühl und förmlich.

»Sie selbst,« war die einfache und sehr gelassene Antwort.

»Ich? Sie träumen!« Es war unmöglich, mehr Verachtung in den Tonfall zu legen, als Sigrid es that, aber sie verfehlte heut', ihn zu reizen.

»Ja, Sie!« sagte Spini ruhig. »Madame Chrysopras sagte mir, daß Ihr Vorschlag mir die Einladung nach Hochwald verschafft, und darum nahm ich sie an. Warum und wegen wem hätte ich sonst kommen sollen? Der Fürst ist mir nicht nahe genug getreten, als daß ich mich sonst hätte von ihm einladen lassen, und die Fürstin, Ihre – Schwester, verehre ich zwar wie ein Heiligenbild, aber man pilgert doch nicht zu Heiligenbildern, wenn sie keine Wunderkraft haben. Sie thun also unrecht, Versteck mit mir zu spielen, Sigrid.«

Die junge Gräfin warf den Kopf verächtlich in den Nacken. »Madame Chrysopras ist eine Gans,« sagte sie sehr entschieden. »Aber sie braucht eben einen Elefanten für ihre Sascha –«

»Als ob Sie einen Moment daran geglaubt hätten, daß ich wegen Sascha Chrysopras nach Hochwald käme,« unterbrach er sie. »Ich halte mich einfach an das mir mitgeteilte Faktum, daß Sie die Triebfeder für diese Einladung sind. Sollte diese Ermutigung für meine, Ihnen so sehr wohlbekannten Gefühle aber nur ein Spiel sein, so warne ich Sie, Signora Contessina, denn ich bin nicht der Mann, der mit sich spielen läßt.«

»Und ich bin nicht die Frau, die man durch Drohungen zur Liebe zwingt,« schwebte es auf ihren Lippen, aber sie sprach es nicht aus. Denn wenn dieser Mann ihr Werkzeug werden sollte, so durfte sie es nicht schartig machen und stumpf.

»Ich möchte wissen, warum wir beide, wenn wir allein sind, sofort Wortgefechte liefern,« meinte sie nach einer Pause völlig ruhig und beherrscht. »Ist es doch absolut von keiner Bedeutung, ob ich Ihre Gefühle erwidere oder nicht.«

»Nun, ich dächte doch,« sagte er lächelnd.

»Aber gar nicht!« erwiderte Sigrid leicht. »Selbst angenommen, Sie wären mir mehr, als ich's scheinen lasse, so stehen doch unbesiegbare Hindernisse zwischen uns. Zunächst der von meinem Vater über mich eingesetzte Vormund.«

»Fürst Hochwald?« fragte der Cavaliere erstaunt.

»Ja,« nickte Sigrid. »Am Abend unserer Ankunft hier kam die Rede auf – nun ja, auf Sie und mich. Ich glaube, die allzeit taktlose Madame Chrysopras hat sich da mit täppischer Hand Eingriffe erlaubt – es giebt ja immer solche Leute, die sich in alles mischen müssen. Und da – –«

»Nun? Vollenden Sie!«

»Und da,« fuhr Sigrid mit abgewandtem Antlitz fort, »erklärte der Fürst, mein Schwager, Sie thäten besser, eine Werbung um mich zu unterlassen, da er mir seine Einwilligung zu einer Verbindung mit Ihnen absolut verweigern würde.«

»Ah!« – Spini war aufgefahren wie ein verwundetes Raubtier, seine Augen bekamen einen harten Ausdruck, seine aschfahl gewordenen Züge waren verzerrt und seine Hände zur Faust geballt. Aber er faßte sich schnell, als Sigrid ihm ihr Gesicht zuwandte und mit ihrem kalten Blick den Eindruck ihrer Worte prüfte.

»Welche Gründe könnte Fürst Hochwald gegen meine Werbung haben?« fragte er hochmütig. »Früher – ja, früher, vor einem Jahre noch war ich ein armer Edelmann und darum vielleicht nicht wünschenswert für eine Gräfin Erlenstein. Ich habe das sehr gut gefühlt – und geschwiegen. Heut' aber komme ich mit Mitteln, die mir ermöglichen, mit einer Frau anständig zu leben, und ich komme mit einem Titel, der dem der Erlenstein in der Hofrangordnung überlegen ist! Was also könnte der Fürst Hochwald gegen mich einzuwenden haben?«

Sigrid zuckte mit den Achseln.

»Mein Schwager hat seine Gründe nicht genannt,« antwortete sie, ohne Bewegung zu verraten. »Er sagte, er möchte nicht darüber sprechen, und Fragen sind dann überflüssig. Auch Iris weiß nichts darüber. Aber ich habe mir so einiges zusammengereimt – – mein Gott, es ist doch interessant, zu wissen, warum man jemand nicht heiraten darf, nicht wahr? Iris ist mir ja geistig überlegen, aber Kombinationsgabe hat sie niemals besessen. Und das ist nun gerade meine Stärke.«

»Nun, da wäre ich doch neugierig, zu hören,« rief Spini, mit lauernder Ironie.

Aber Sigrid ließ sich dadurch nicht aus ihrer Ruhe bringen – sie hatte ja ein Ziel. »Erinnern Sie sich der alten, oder sogenannten alten Kassette, über welche sich dieser lächerliche Leipziger Professor gestern Abend so sehr ereiferte?« fragte sie, den Blick voll auf ihn geheftet; – denn wenn man auf den Busch schlägt, muß man die Augen aufmachen, um zu sehen, was für Vögel herausfliegen werden. Und Spini zuckte sichtlich zusammen.

» Ebbene?« fragte er kurz und scharf. Sigrid lachte, ein kurzes, spöttisches Lachen – sie hatte also den Busch getroffen, und das machte sie kecker.

»Diese sächselnde Berühmtheit ist blind wie alle Stubengelehrten,« meinte sie, ohne den Blick von dem Cavaliere zu lassen. »Denn während er sich über den Urheber der gefälschten Antiquitäten in etwas reichlich drastischen Ausdrücken erging, hätte er besser gethan. Sie und den Fürsten zu beobachten. Er hätte dann auf ihren Gesichtern die nötige Gasbeleuchtung für diesen guten Witz gefunden.«

Spini aber teilte Sigrids Auffassung über »diesen guten Witz« ganz und gar nicht. Wie ein gereizter Panther sprang er auf sie zu, umfaßte sie und preßte ihr die Hand auf den spöttisch lächelnden Mund.

»Schweig, Weib!« keuchte er drohend. »Noch ein Wort mehr in diesem Tone und« – – sein Blick sagte mehr als Worte, aber Sigrid bewahrte ihre volle Fassung, trotzdem sie tödlich erschrak. Ohne den Versuch zu machen, sich aus Spinis Armen zu befreien – wozu? es war ja kein Mensch in der Nähe – sah sie auf zu ihm mit einem Blick, um den er drei Jahre lang vergebens geworben.

»Wir wissen ja, wie lächerlich peinlich die Deutschen in diesem Punkte sind,« sagte sie leise und ruhig, aber mit hochklopfendem Herzen. »Ich denke anders darüber, denke anders auch über Sie seit gestern Abend; denn vor mir entrollte sich die Existenz eines Edelmannes, des Sprossen eines hohen Hauses mit historisch berühmten Namen – die Existenz eines Edelmannes, dessen Pflicht es war, nach außen hin die Würde seines Namens zu erhalten. Aber Hunger und Mißerfolge sind schlechte Anwälte dafür, und der Zweck mußte hier die Mittel heiligen. O Ferrando, wie oft habe ich Sie verkannt – Sie, den Märtyrer Ihres hohen Standesbewußtseins – –! Doch was sage ich? Hab' ich wirklich meine Maske herber Zurückhaltung gelüftet –? Jetzt, wo ich weiß, daß ich Ihnen versagt bin? Lassen Sie mich frei, Ferrando Spini – wir beide haben ja doch weder Glück noch Stern.«

Und Spini gab sie frei, aber er sank zu ihren Füßen nieder und bedeckte ihre schönen, aber überschlanken Hände mit Küssen. Sie ließ es geschehen, aber sie preßte die schmalen Lippen fester zusammen, und ihre jungen Züge bekamen dadurch eine vorzeitige Schärfe, die nichts Gutes verhieß. Endlich sah er auf zu ihr.

»Noch ein Jahr, ein volles, langes Jahr – und Sie sind frei von jedem Zwange,« sagte er langsam. »Werden Sie dann den Mut haben, gegen den Willen der Ihrigen mein zu werden?«

»Der Mut ist vielleicht meine beste Eigenschaft,« erwiderte sie, und es fiel ihm gar nicht auf, daß sie nicht »ja« gesagt, ihm, dem Vorsichtigen, Mißtrauischen. Ihn verblendete ja eine unbezähmbare Leidenschaft für dieses kühle, blonde Mädchen, und er sah nicht das Rätsel in ihren kalten, großen Vergißmeinnichtaugen. Die kurze, nichtssagende Phrase schien ihm alles zu enthalten, wonach er so lange gedürstet, und mit einem Jubelschrei sprang er empor und schloß die schlanke Gestalt in seine Arme und küßte sie mit der Begier eines halb Verschmachteten.

»Also übers Jahr – bis dahin muß ich mein Glück verheimlichen,« sagte er dann mit erstickter Stimme. »Sigrid, meine Herrin, meine Königin! Ich bin dein – gebiete über mich!«

Aber Sigrids feiner Instinkt hatte sie längst vor diesem Manne gewarnt; es ahnte ihr, daß der geringste Anlaß aus diesem Sklaven einen unerbittlichen Tyrannen machen würde. Doch dazu sollte es ja überhaupt nicht kommen!

»Vorsicht, Ferrando, Vorsicht,« bat sie. »Was ist ein Jahr? Es ist so schnell verflogen, und jede Unvorsichtigkeit könnte uns schaden. Mein Vormund –«

»Nun ja, er ist Ihr Vormund, und wir haben mit ihm zu rechnen,« unterbrach er sie finster.

»Und mit ihm, als dem Mann meiner Schwester obendrein. Verwandtschaftliche Ketten sind nicht zu unterschätzen.«

»Sind Sie so sicher, daß diese Ketten legitim sind?«

»Legitim? Wie soll ich das verstehen?«

»Natürlich nur in dem Sinne, ob Fürstin Iris auch wirklich Ihre Schwester ist,« sagte Spini langsam und lauernd.

»Aber Sie wissen ja, daß wir Zwillinge sind – Miß Twin nennt mich Fuxia Chrysopras mit Vorliebe,« rief Sigrid erstaunt.

Spini zuckte mit den Achseln und lächelte eigen.

»Wird das Familiengeheimnis so wohl gehütet, daß nicht einmal alle Glieder des Hauses eingeweiht worden sind?« fragte er forschend.

»Ich gebe Ihnen mein Wort – was soll ich anders wissen, als das Iris und ich Zwillingsschwestern sind?« rief Sigrid mit so ehrlichem Staunen, daß Spini überzeugt war.

»Nun, also, dann bin ich durch Zufall in den Besitz dieses großen Geheimnisses gelangt,« sagte er mit unwillkürlich gedämpfter Stimme. »Es thut mir leid, gesprochen zu haben, denn wenn man Sie im Dunkel ließ, wird man seine Gründe gehabt haben.«

»Sie haben aber gesprochen und müssen jetzt vollenden,« rief Sigrid totenblaß. »Was wissen Sie? Wollen Sie meine Ruhe untergraben durch diese Andeutungen? Sie sind jetzt verpflichtet, zu sprechen! Welcher Makel hängt an mir?«

»Sigrid! Sigrid!« rief Spini erschrocken. »An Ihnen hängt kein Makel – Sie sind die echte Tochter Ihres Vaters, Sie – ja. Sie haben recht, jetzt muß ich sprechen! Also vorerst meine Quelle! Ich habe in Rom eine seltsame Bekanntschaft gemacht, einen alten Priester, der vor vielen Jahren in Kairo als Kaplan bei der italienischen Gesandtschaft fungiert hat. Der alte Herr ist jetzt an der vatikanischen Bibliothek angestellt, in der ich, wie Sie wissen, Studien machte. Dabei kamen wir ins Plaudern – Zeit und Ort seines Aufenthaltes frappierten mich, und ich fragte ihn, ob er Ihre Eltern gekannt. Ich versichere Ihnen, Sigrid, das Gedächtnis des alten Herrn war wie ein gutes Lexikon – es versagte niemals. Ob er Ihre Eltern gekannt, den chevaleresken, aber wie von tiefer Melancholie überschatteten Grafen von Erlenstein und seine sanfte, resignierte Gemahlin, die Herzensgüte selbst! Sie wurden ein halbes Jahr nach der Ankunft des Erlensteinschen Paares in Kairo geboren und von dem alten Priester, meinem Freunde, selbst getauft.«

»Ich? Und Iris –?« fragte Sigrid atemlos, als Spini stockte.

»Ein kleines Mädchen brachte das gräfliche Paar mit, ein sehr kleines Kind, das sie Iris nannten,« fuhr Spini zögernd fort. »Mein Gewährsmann meint, es mochte 6-10 Monate alt gewesen sein, ein schwächliches Wesen, dessen Lebenslicht nur künstlich unterhalten wurde. Doch auch Sie, Sigrid, kamen so schwach auf diese Welt, daß Graf Erlenstein sogleich nach dem Priester schickte. Sie taufen zu lassen. An dem Bette der Gräfin, Ihrer Mutter, fand der feierliche Akt statt, und als man Sie wieder in die Wiege legte, fingen Sie an zu weinen, und aus dem Nebenzimmer kam die nubische Amme zu Ihrer Hilfe, das andere Baby auf dem Arm. Und da hörte der Priester, wie Ihre Mutter schaudernd sagte: ›Mein Gott, mein Gott – als ob es Zwillinge wären!‹ – Und Ihr Vater antwortete: ›Laß es so sein – ob dein Blut oder nicht, deine Liebe zu mir wird der kleinen Iris die Mutterliebe nicht entziehen – ist sie doch mein Kind, das meinen Namen tragen soll‹. – Da sagte Ihre Mutter ›Amen‹. Der Priester hat nun wohl nicht mit Unrecht vermutet, daß jene Iris, die später immer als Ihre Zwillingsschwester galt, ein illegitimer, aber vielleicht legitimierter Sproß am Stammbaume der Erlenstein sei, den die blinde Liebe Ihrer Mutter zu Ihrem Vater dem eigenen Kinde gleichgestellt; denn daß Sie und die Fürstin Hochwald eines Vaters Kinder sind, scheint mir nach den zufällig gehörten Worten unzweifelhaft.«

Spini schwieg, aber auch Sigrid sprach nicht. Totenblaß sah sie starren Blickes hin über einen in Sonnengold getauchten Rasenplatz, ohne etwas von der zauberhaften Beleuchtung zu sehen.

»Sigrid – hat es Sie so sehr getroffen?« fragte der Cavaliere besorgt, als sie immer noch schwieg.

»Haben Sie mir die Wahrheit gesagt, und glauben Sie, daß es der Priester that?« gab sie statt aller Antwort zurück.

Spini zuckte mit den Achseln.

»Überlegen Sie doch –! Welches Interesse hätte er daran, mir eine Lüge über eine Familie aufzubinden, deren ich nur beiläufig als einer Bekanntschaft erwähnte, eben um ihn nicht glauben zu machen, ich wollte etwas erfahren. Das kam mir auch nicht in den Sinn – ich wollte nur hören, ob der Priester Sie gekannt. Sie! Was er erzählte, hatte auch keine Spur von Gehässigkeit – er freute sich ja noch der Bekanntschaft mit dem gräflichen Paar, und als ich ihm dann sagte, daß jene Iris sich vermählt und an wen, da bat er mich, von seinen Beobachtungen keinen Gebrauch zu machen, obwohl er annahm, daß die Sache ein offenes Familiengeheimnis sei – wie es ihrer so viele giebt.«

»Gewiß,« erwiderte Sigrid mechanisch, den Blick immer noch geradeaus wie verloren ins Weite gerichtet. »Gewiß, wie es ihrer so viele giebt. Diese Nachricht – – doch wenn wir auch nicht Zwillinge sind, Schwestern bleiben wir vielleicht doch –?«

»In dem Sinne, als Sie und die Fürstin vielleicht Töchter eines Vaters sind, ja.«

Wieder nickte Sigrid mechanisch. Dann kam ihr ein Gedanke.

»Ob Marcell es wissen mag?«

Spini zuckte mit den Achseln.

»Vielleicht! Sie wissen, der Graf, Ihr Vater, hinterließ ihm ein Schreiben, dessen Inhalt Ihnen vorenthalten wurde. Man möchte es also fast vermuten. Doch das ist ohne allen Belang und Fürst Hochwald hat sich mit dem Flecke auf seinem Stammbaum allein abzufinden. Manche finden solch einen abgeledigten schrägrechten Balken im Wappen sogar recht pikant. Hat doch auch eine Spini nicht verschmäht, einen illegitimen Medicäersproß zu heiraten – freilich tritt ja aber das Mädchen aus der Familie, die Frau hinein. Nein, meine Mitwissenschaft an diesem Familiengeheimnis dürfte dem Fürsten kein treibendes Motiv zu unserer Verbindung sein. Da wüßte ich schon ein besseres –«

Er unterbrach sich und lächelte ein eigenes, nicht sehr freundliches Lächeln.

»Was ist's? Was haben Sie?« fragte Sigrid, aufmerksam gemacht durch sein Stocken.

»Man müßte freilich erst zu erfahren suchen, ob's überhaupt kein Hirngespinst ist,« fuhr Spini sinnend fort. »Doch anderseits, wenn auch die Quelle trüb' ist, so wird ein Körnchen Wahrheit darin nicht fehlen – sie liegt vielleicht, tote immer, in der Mitte.«

Sigrid stampfte den Boden ungeduldig mit dem Fuße.

»Was sollen mir diese vagen Andeutungen?« rief sie heftig. »Was wissen Sie? Ich will's wissen, ich habe ein Recht dazu!«

»Das wäre noch die Frage,« erwiderte Spini ruhig und überlegen. »Vielleicht aber ist es gut, wenn Sie das Mittel kennen, das den Fürsten Hochwald uns gegenüber gefügig macht – nur müssen Sie mir versprechen, es nur im rechten Augenblicke anzuwenden. Doch Sie sind klug, Sigrid, und werden unsere vielleicht einzige Chance nicht verschleudern.«

Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie auf eine Bank dicht neben sich heran. Sigrid schloß die Augen und preßte die Lippen fest aufeinander, als ging es über ihre Kräfte; aber sie besiegte die Schwäche, weil sie hören wollte.

»In Rom, wo ich erfuhr, daß die Fürstin Iris nicht Ihre Zwillingsschwester ist, hab' ich noch eine andere, merkwürdige Geschichte erfahren,« begann Spini, seinen Mund dicht an Sigrids Ohr, da er nur flüsternd sprach. »Es war in einer Osteria, wo ich mit einem befreundeten Maler saß und einen fiaschetto leerte. Wir unterhielten uns über die Gesellschaft von Florenz, die er sehr wohl kannte, und dabei fiel auch Ihr Name, Sigrid, und der des Fürsten Hochwald. Unweit von uns saß ein verkommen aussehender Mensch, der den Kopf jäh nach uns umwandte, als der Name des Fürsten von uns genannt wurde. Das fiel mir auf, ich legte aber weiter kein Gewicht darauf. Als ich später allein heimging, kam der Mann aus der Osteria hinter mir her und redete mich an –: ob er in der Osteria den Namen des Fürsten Hochwald richtig verstanden habe. Ich bestätigte dies, worauf der Mensch ein paar Bemerkungen fallen ließ, die mich zu der Frage veranlaßten, was er eigentlich meine. Er faselte darauf etwas von Mitwisserschaft, und daß es bei großen Herren nicht auch immer so sei, wie man denke, und schließlich erbot er sich, mir für zehn Lira ›eine Geschichte zu erzählen, eine Geschichte –‹. Der Mensch war etwas angetrunken, trotzdem, oder vielmehr eben darum ging ich auf das Geschäft ein, gab ihm die Banknote, und wir traten in eine andere Osteria, wo ich, an einem abgelegenen Tisch mit dem Kerl sitzend, eine freilich genugsam befremdende Geschichte hörte. Der Mensch war zu dem Fürsten als Pferdebursche kommandiert, als Hochwald noch in seinem Gardekavallerieregiment stand, und zwar zu der Zeit, als er seinen Abschied nahm, um sich ganz von der Welt zurückzuziehen. Der Bursche muß sich mehrere Strafen von seinem Herrn zugezogen haben, denn er gestand mir, er habe letzterem vorsätzlich nachgeforscht, um irgend etwas von ihm zu erlauern, das ihm willkommenen Anlaß geboten hätte, sich zu rächen. Und bei diesem Vorhaben will er schließlich etwas entdeckt haben, was allerdings märchenhaft genug klingt, aber doch nicht unwahrscheinlich ist. Sein Herr, der Fürst, war nämlich urplötzlich in tiefe Melancholie verfallen, mied jene Gesellschaft und schloß sich tagelang, sich krank meldend, in seine Zimmer ein, wo ihn der belauschende Bursche unruhig und unthätig auf und ab gehen sah. Endlich nach längerer Zeit, wurde er wirklich krank, eines Tages aber verließ er trotz des Protestes seines Arztes das Bett, ging aus und kehrte spät blaß und erschöpft zurück. Noch in derselben Nacht brachten vier Männer, die der Fürst selbst empfing und ablohnte, eine große längliche Kiste in das Palais, die in ein kleines Zimmer zur ebenen Erde getragen wurde, das der Fürst eigenhändig abschloß und von welchem er den Schlüssel zu sich nahm. Später, als alles im Palais ruhte, schlich sich der Bursche in ein Nebengemach jenes Zimmers, wo die Kiste stand, um von da aus einen Versuch zu machen, seine Neugierde bezüglich des Inhaltes der Kiste zu befriedigen. Doch wie erstaunte er, als er durch einen Thürritz den Fürsten mit seinem anderen Burschen, der sein volles Vertrauen zum Neide des anderen genoß, bei der Kiste beschäftigt sah. Sie hatten den Deckel abgehoben, und der Fürst stopfte Werg in die Kiste, wie um die Zwischenräume auszufüllen, die sich zwischen den Kistenwänden und einem anderen, zweiten, flachen, schwarz gestrichenen Deckel befanden, der, soweit der Lauscher sehen konnte bei dem schwachen Licht, verzweifelte Ähnlichkeit mit einem Sargdeckel hatte. Der Gehilfe des Fürsten bohrte in eben diesen Deckel Schraubenlöcher, fand aber, daß sein Bohrer zu schwach sei, und ging leise hinaus, einen anderen zu holen. Als der Fürst allein war, hob er den schwarzen Deckel empor, und der entsetzte Lauscher sah – sah eine tote Frau, bei deren Anblick sich der Brust des Fürsten ein qualvolles Stöhnen entrang. Noch ehe der andere Bursche wieder das Zimmer betrat, hatte der Fürst den schwarzen Deckel auf sein schauerliches Geheimnis zurückgelegt und stand dann bleich und wankend neben der Kiste, während der innere Deckel von dem Burschen festgeschraubt und der Kistendeckel aufgenagelt wurde. Am andern Morgen reiste der Bursche mit der Kiste ab, wie der andere erfuhr, hierher nach Hochwald, der Fürst aber nahm seinen Abschied, und der Genosse oder zum mindesten bezahlte Hehler seines Verbrechens folgte ihm später als Kammerdiener, welchen Posten er noch bekleidet. Nun sagen Sie, Sigrid, ist das nicht eine seltsame Geschichte?«

»Seltsam, ja,« sagte sie nach einer Pause gepreßt, indem sie sich erhob.

Spini blieb noch sitzen, er überlegte eine Zeitlang schweigend. Dann meinte er: »Was mich dabei stutzig macht, ist nur, daß dieser Pferdebursche sein Geheimnis bei dem Fürsten selbst noch nicht ausgenutzt hat. Er vermied es, mir darauf eine genügende Antwort zu geben, und das macht mich gegen die Wahrheit des Gehörten mißtrauisch. Solch eine Mitwissenschaft verkauft man doch nicht für zehn Lire an den ersten besten, der die Geschichte dafür hören will. Freilich sah der Kerl hungrig und verkommen aus – er war damals als Reitknecht in Rom, von seinem Herrn wegen schlechten Betragens aber entlassen worden – und seine Antwort, er fürchte, von dem Fürsten, von dem großen Herrn unschädlich gemacht zu werden, hat auch etwas für sich. Trotzdem aber müßten wir erst wissen, was an der Sache überhaupt ist, damit wir keinen Schlag ins Wasser führen, der uns mehr schaden als nützen dürfte. Es gilt vor allem, zu erfahren, inwieweit der Kammerdiener des Fürsten zugänglich ist.«

»Und dann?« fragte Sigrid schwer atmend, mit demselben starren Blick wie vorher.

»Dann?« Spini zuckte mit den Achseln. »Sie müssen nicht so entsetzt dareinsehen, meine schöne Sigrid! Ich führe nichts gegen den Fürsten im Schilde, keine Erpressung, keine romanhaften Dinge. Ich will nur Sie allein, und der Fürst wird mir diese schöne schlanke Hand –« Sigrid verbarg sie schaudernd in den Falten ihres Kleides – »nicht mehr verweigern, wenn er weiß, daß ich seine Ehre in meinen Händen halte.«

»Und wenn er es dennoch thut?«

»Das ist kaum anzunehmen,« erwiderte Spini prompt. »Und wenn auch – wir brauchen seinen Segen nicht!«

»Nein?« fragte Sigrid spöttisch. »Wozu dann der Lärm?«

Spini erhob sich und brach ein Spireenzweiglein vom nächsten Strauch für sein Knopfloch.

»Es ist ein angenehmes Gefühl, zu wissen, daß man jemandes Existenz in Händen hat,« sagte er. »Fürst Hochwald besitzt die Mittel, mir zu schaden, er besitzt ein Gift, das mich gesellschaftlich töten kann; doch das Bewußtsein, ein Gegengift zu besitzen, macht sicher und giebt dem jetzt für mich sorglosen Leben das Behagen zurück. Ich bin kein Niemand mehr – ich habe meine gesellschaftliche Stellung zu verteidigen, und die meiner Frau erst recht. Weiter will ich nichts – es liegt überhaupt gar nicht in meinem Interesse, den Fürsten als meinen Schwager aus der Gesellschaft zu entfernen. Ich habe überhaupt nicht das Zeug zu einem Roman-Intriganten!«

Jetzt trat Sigrid dicht an ihn heran.

»Haben Sie einmal geliebt?« fragte sie rauh.

»Und das fragen Sie mich. Sie?« sagte er staunend. »Ich warb um Sie drei Jahre lang, ohne zu wanken – ist das nicht Liebe? Mehr noch – Sie haben sich mir versagt, gleichviel aus welchen Gründen, die ich erkannt und durchschaut habe – doch meine treue Liebe hat Ihr Herz gewendet, und –«

»Nun denn – haben Sie jemals gehaßt?« unterbrach sie ihn ungeduldig und heftig.

»Ja,« gestand er fest. »Einmal. Sie! damals – in Florenz, in der Kirche der Badia –«

»Narr!« zischte sie so leise, daß er's nicht hören konnte, und wandte sich zum Gehen. Spini aber hielt sie zurück und schloß ihre feine, schlanke Gestalt fest in die Arme.

»Können Sie mir's verargen, daß ich Sie damals haßte?« fragte er. »Doch das sei begraben – Petrucchio hat sein Käthchen und wird den Dämon bannen, der in ihr wohnt. In Güte, Sigrid, und in Strenge, wenn's nötig ist. Und jedermann wird den Marchese Spini um seine schöne, blonde Frau beneiden!« – –

Mit wankenden Knieen und schmerzendem Kopfe eilte Sigrid zurück. »Ich dachte nicht, daß es so schwer ist,« war ihr immer wiederkehrender Gedanke, der Gedanke an ihr Verlöbnis mit dem Manne, vor dem ihr graute, dessen Hilfe sie erkaufen wollte mit ihrer Hand und dem festen Vorsatze, ihm zu entschlüpfen, wenn sie seiner nicht mehr bedurfte. Sie diesen Menschen heiraten! Lieber ins Wasser gehen! Was wollte sie überhaupt von ihm? Es schüttelte sie förmlich vor Grauen, als sie daran dachte, daß er sie in den Armen gehalten und geküßt, sie, die stolze, hochmütige, kalte Sigrid Erlenstein, die all jene Cavaliere, die ihr bisher genaht, in solch unerreichbarer Ferne gehalten, daß sie nur gewagt hatten, sie von fern anzubeten, um schließlich anderen, freundlicheren Sternen zu huldigen. Nur einer war nicht davon abgewichen – Spini!

Schaudernd wischte Sigrid mit dem Tuche über ihr blasses Gesicht, als müßte sie etwas Schreckliches davon nehmen. Die Frage: »Erniedrigt die Liebe?« drängte sich ihr auf, und sie schrak zusammen, als das eigene Herz ihr antwortete: »Die Liebe nicht, sie erhebt – der Haß erniedrigt.« Der Haß – ja, das war's. Aber den Haß ihres gequälten und ungeschulten Herzens überwog zur Stunde noch der Ekel vor sich selbst. Das hatte sie nicht gewollt, nein, das nicht! Sie hatte mit Spini eine gewisse entente cordial eingehen wollen – er, der Vielgewandte, mit allen Hunden Gehetzte hatte ihr helfen sollen, unbewußt helfen sollen, ein Mittel zu finden, um Iris von ihrem Platze an des Gatten Seite zu verdrängen, und das für eine vage Hoffnung auf ihre Hand, eine Hoffnung, die sie nie zu erfüllen beabsichtigte. Und nun hatte sie sich so tief erniedrigt, um ihres wahnwitzigen Zieles wegen die Braut des Mannes zu werden, den Fürst Hochwald nicht für würdig hielt, seine Augen zu ihr zu erheben. Und überdies, was nützte es ihr, Iris zu verdrängen? Die Kirche, der sie angehörten, kennt keine Lösbarkeit der Ehe, und nur wenn Iris tot wäre – –

Ein Schwindel faßte Sigrids Kopf und trieb die Bäume des Parks, die smaragdgrünen Rasenflächen, die Blumenrabatten im wilden Kreise um sie herum, daß sie in die Knie sank und mit der Stirn gegen den Stamm einer Blutbuche schlug. Der hierdurch verursachte Schmerz löste den Schwindel, scheu hob sie den Blick und faßte mit zitternden Händen nach dem Stamm –

Über ihr flüsterten die dunkelroten Blätter der Buche in der frischen Sommermorgenluft und vereinten sich mit den anderen Bäumen zu einem geheimnisvoll-fröhlichen Rauschen, und dazwischen schmetterten die Vögel ihr Lied, als gälte es, um die Wette den Sommer zu besingen und die goldene Sonne, die alles rings umher in Wonne und Licht tauchte.

Sigrid aber sah das Gotteslicht nicht – sie hörte nicht den Gesang der Vögel, und nur das leise Rauschen der Bäume bildete eine seltsame Begleitung zu dem schrecklichen Gedanken –: »wenn Iris tot wäre –«

Daran hatte sie bis jetzt noch nicht gedacht, nein. Wie kam es ihr mir einem Male in den Sinn? Pfui, wie häßlich, wie schauerlich, solch einen Gedanken zu haben! War ihr nicht gelehrt worden, daß nicht nur die That, sondern auch der Gedanke den Mörder macht? Freilich, das fiel ihr nicht ein, daß auch ihr krankhafter Wunsch, das beneidete Glück ihrer Schwester zu zerstören, gegen das Gebot: »Du sollst nicht töten« sündigte. Aber Iris den Tod wünschen, ihrer Schwester – o! »Wenn Iris tot wäre –«

Ja, wenn! O, dann wäre alle Qual zu Ende. Dann würde Sigrid sich des kleinen Siegfried annehmen und würde über ihn wachen Tag und Nacht, und ihre Hingabe für das Kind würde Marcell rühren und zur Bewunderung hinreißen; am Ende würde er sie lieben, wie er Iris nie geliebt, und ihr den Platz an seiner Seite einräumen, den jene mit ihrer dunkeln Herkunft und ihrem erborgten Namen nur entehrt – –

Nein, Iris war überhaupt nicht ihre Schwester. Eine Halbschwester vielleicht, ein Unkraut, das Mitleid auf den alten, edeln Stamm aufgepfropft, ein Eindringling mit den Erlensteinschen Augen. Was also ging Iris sie an? Die wichtige Entdeckung Spinis setzte diesen Skrupel ganz in den Schatten, und wenn Iris tot wäre –. Aber wie könnte Iris sterben, so jung, so voll Lebenskraft, so gesund an Leib und Seele. Gar kein Gedanke daran! Freilich, Unglücksfälle konnten ja eintreten, das Menschenleben ist abhängig von so vielen Dingen, und oft schon hatte es sie verwundert, wenn sie in der Zeitung las, wodurch und in welcher Gestalt der Tod an die Menschen herangetreten war. Folglich war auch Iris gegen solche Unfälle nicht gefeit – aber trotzdem konnte sie anderseits auch wieder als Greisin sterben. Nein, an einen solchen Zufall war wohl zu denken, aber nicht damit zu rechnen, und der Gedanke daran hatte Sigrid auch nicht in die Kniee sinken lassen vor Schreck und Entsetzen. Des Menschen Leben steht in Gottes Hand, und wenn man stündlich daran denken wollte, was alles in der Welt uns die Unseren rauben könnte, so würden wir bald dem Wahnsinn verfallen. Sigrid war vor ihren eigenen Gedanken zusammengebrochen, vor einem formlosen, ungreifbaren Phantom, das ihren Weg gekreuzt, und darum hörte sie auch nicht den Gesang der Vögel, fühlte sie nicht die milde Sommerluft, sondern kämpfte irren Blickes mit dem schrecklichen Versucher, der ihr das Truggold ersehnten Glückes vor die geblendeten Augen hielt.

Nach einigen Minuten völliger Gelähmtheit sprang sie empor mit brennenden Wangen.

»Pfui, wie häßlich,« sagte sie sich mit einem Schütteln, als müßten damit die bösen Gedanken abfallen von ihr wie ein zerrissenes Gewand. »Häßlich und unwürdig. Und ich bin eine Erlenstein!« Es gelang ihr wirklich, ihr Denken zu meistern, und es wurde ihr darüber leicht ums Herz, leichter, als ihr's je gewesen im Lauf der Monate. Mit einem tiefen Seufzer sah sie sich um und schien jetzt erst zu gewahren, wie schön es hier war unter den hohen, flüsternden Bäumen, in dieser Atmosphäre von Rosenduft und Waldgeruch. Von ihrem Platz hatte sie über eine samtweiche Rasenfläche hinweg einen wunderschönen Ausblick nach der Schloßterrasse und über die vieltürmige, mit Erkern und spitzen Dächern besetzte Schloßfassade, die an Frankreichs schönste Baudenkmale aus Franz I. Zeit erinnerte. Das kupferne, grünspanbezogene Dach gleißte wie Smaragd in der Morgensonne und trug im Verein mit den hoch heraufrankenden Kletterrosen dazu bei, in der Phantasie der Schauenden das Bild eines Märchenschlosses hervorzuzaubern. Und dennoch erregte dieser Anblick keinen Neid in Sigrids Herzen. Sie war nicht habsüchtig und nicht in dem Maße begierig auf Besitz und Reichtum, daß deren Mangel unedle Gefühle in ihr erweckt haben würde; – dem Besitzer dieses stolzen, alten Edelsitzes schlug ihr Herz, nicht seinem Besitze. Mit ihrem geübten Blicke für das Schöne sah sie auf das sich vor ihr entrollende Panorama ohne das Entzücken und die Begeisterung von Iris, doch mit dem wohlthuenden Gefühl eines ruhigen, fast unbewußten Wohlgefallens. Mit jenem heroischen »Pfui« über sich selbst war es plötzlich ganz still in ihr geworden, und das verleitete sie zu der Annahme, sie habe sich selbst besiegt und mit der überstandenen Versuchung des Gedankens alles hinter sich geworfen, was je sie bedrückt. Das gab ihr ein wohlthätiges Gefühl von Ruhe und von einem unbestimmten Frieden – die Stille vor dem Sturm. Die köstliche Morgenfrische schien jetzt erst auf ihre erregten Nerven zu wirken, und sie machte sich keine Gedanken darüber, ob das Beruhigungsmittel heilkräftiges Quellwasser war oder betäubendes, stumpfmachendes Morphium.

Sie setzte sich im Schatten einer Eiche auf eine steinerne Bank und begann nachzudenken. Vor allem mußte sie die unwürdigen Bande mit Spini wieder lösen, mußte ihm nachweisen, daß die abenteuerliche Erzählung des abenteuerlichen Reitknechtes in Rom eine Geldpumpe war, nichts weiter. Sie mußte fast lachen, als sie daran dachte, daß der verliebte Cavaliere vertrauensselig in der ersten Stunde alles das herausgegeben und an sie abgeliefert hatte, was sie langsam im Lauf der Zeit von ihm zu erfahren getrachtet. Freilich in ganz anderer Form. Jetzt hatte sie die Waffen in der Hand, aber sie sollten nur dazu dienen, ihr die Freiheit wiederzugeben. Das andere, die Rache, die Zerstörungsarbeit, lag hinter ihr – für immer.

Und so ging sie nach dem Schlosse zurück. Als sie in eine schmale Buchenallee einbog, kam ihr ein Paar entgegen: – Fuxia und Boris, wie's ihr schien. Doch da sie nicht in der Stimmung war, zu plaudern, trat sie rasch hinter ein schützendes Gesträuch, um die beiden vorübergehen zu lassen. Es war aber nicht Boris, der seine Frau auf einer Morgenpromenade – eine für ihn unmögliche Sache – begleitete, sondern Hans aus dem Winkel, der berühmteste aller Tristans, Siegfrieds, Parzivals, Tannhäusers und Lohengrins. Die Amerikanerin, welche gleich der reizenden Yum-Yum im »Mikado« durchaus nicht an » diffidence or shyness« litt, sah mit einer bei ihrer » smartness« und » fastness« durchaus ungewöhnlichen Scheu in des Sängers gefährlich schöne Augen, die er mit seinem sorglosen, wunderbar gewinnenden Lächeln in unverhohlener Bewunderung auf ihr pikantes Gesicht heftete. Gerade vor Sigrids Versteck blieb Fuxia stehen und rief mit der ihr eigenen Energie:

»Eine große Leidenschaft! Was ist das? Es scheint, als ob die Künstler und die Dichter sie allein gepachtet hätten, oder sie ist überhaupt eine Fiktion, eine jener Lügen, die einer dem anderen nachspricht!«

»Nein, Fürstin – sie ist eine große Wahrheit!« war die Antwort. »Eine Wahrheit, die manches verklärt, was sonst häßlich wäre.«

»Ah! Also Sie glauben daran?«

»Wie sollte ich's nicht! Diese große Leidenschaft menschlich und künstlerisch darzustellen, ist ja mein Beruf.«

»O, deshalb –«

»Der wahre Künstler muß aber doch vor allem an seinen Beruf glauben, Fürstin! Mich hat nicht die Not dazu geführt, eine verliehene und vorhandene Gabe zum Broterwerb auszunützen, sondern der Beruf dazu und die Überzeugung.«

»Wie wunderbar,« sagte Fuxia naiv. »Ich hatte gemeint, es sei mein Beruf, einen hohen Titel zu gewinnen. Geglaubt habe ich aber nie an den Wert desselben.«

»Das eben macht's ja, Fürstin! Aber ich glaube an diese von Ihnen geleugnete ›große Leidenschaft‹ mit Leib und Seele –«

»Sie haben sie also kennen gelernt?«

»In der Theorie, ja! Aber auch in der Praxis scheint sie mir zu sein, seitdem die Spitze eines roten Sonnenschirmes sich mir auf die Brust gesetzt: »Stirb durch mich, du Ungeheuer –«

»O, Sie Spottvogel!«

»Spott und Wahrheit sind Verwandte, Fürstin –«

» Nonsense!« – Und damit ging das Paar weiter.

Als es um die Ecke der Allee war, wollte Sigrid ihren Weg fortsetzen, doch schon nahten zwei andere, denen zu begegnen erst recht nicht in ihrer Absicht lag: – Fürst Hochwald mit seiner Frau – und mit einem eisigen Gefühl im Herzen trat Sigrid zurück hinter die schützende Blätterwand.

Hochwald hatte den rechten Arm um Iris' zierliche Elfengestalt gelegt und schlenderte so mit ihr, echt bürgerlich glücklich die Allee hinauf, ahnungslos, daß zwei kalte, blaue Augen sich mit dem hungrigen Ausdruck des auf Beute lauernden Wolfes aus dem Dickicht auf sie hefteten. Was sie sprachen, entging Sigrid durch die Entfernung, aber es war leicht zu erraten durch den leuchtenden Blick, mit dem Iris zu dem starken Manne emporschaute, den das Glück so wunderbar verjüngt; der Ausdruck von leiser Melancholie auf seinem schönen Antlitz war verschwunden und ihm der ganze Reiz seiner sonnigen Natur zurückgegeben, dieser jedem Mißtrauen fernen, vornehmen Natur, die keinen Arg kannte und darum in anderen auch nicht suchte. Und nun beugte er sich herab und küßte den süßen Mund, der zu ihm emporlächelte, und strich wie segnend mit zärtlichem Liebesblick über das wellige, flachsblonde Haar, das sich mit dem ganzen reizenden Kopf seiner holden Besitzerin an seine Brust schmiegte. Dann schritten sie näher und näher, immer im eifrigen Gespräch, bis die verborgene Lauscherin auch die Worte verstand.

»Sigrid war aber gestern um so viel liebenswürdiger, Marcell,« hörte sie Iris sagen.

»Das macht dein Einfluß, Liebling,« war die freundliche Antwort, welche das blonde Köpfchen mit den unwiderstehlichen Erlensteinschen Augen dankbar zu ihm emporblicken machte.

»O, früher, als Mama noch lebte, war Sigrid immer so lieb und gut,« plädierte der reizende Anwalt für die Lauschende. »Sie hat nie davon gesprochen, was sie verändert hat, und ich wollte ihr Vertrauen nicht erzwingen. Das muß sich ja geben, nicht wahr? Und ich wünschte, Sigrid fände erst ein Glück wie ich. Aber sie ist ein Bild ohne Gnade, fürcht' ich.«

»Nun, vielleicht kommt doch noch der richtige Pygmalion, der diese Galathea belebt und ihr das Verlorene wiedergiebt,« sagte Fürst Hochwald lächelnd. »Vorläufig aber wird sie deinem Beispiel doch nicht widerstehen können.«

» Meinem Beispiel! Marcell, mach' mich nicht eitel,« lachte Iris glücklich. »Was findest du nur an mir? Ich hab's noch nicht ergründen können.«

»Ich finde in dir alles, was ich lieben kann und lieben muß, mein Liebling. Das ist doch die einfachste und natürlichste Erklärung.«

»Genau, wie bei mir!« rief Iris mit einem solch entzückten Staunen, als hätte sie die große Entdeckung eben erst gemacht.

Mehr hörte Sigrid nicht. Es war auch genug, um den Morphiumrausch der Selbsttäuschung zu verjagen und alle Dämonen in ihrer Seele zu erwecken, daß sie mit wildem Hohngelächter auffuhren und ihre scharfen Krallen in ihr Herz schlugen und ihr Gift träufelten in die offenen, frischgeschlagenen Wunden. Und in dieser Stunde verhüllte Sigrids guter Engel weinend sein Angesicht und wich der Gewalt, die ihm den Weg versperrte zu diesem jungen, unterliegenden Herzen. – – – – – – – – – –

Das Leben auf Hochwald gestaltete sich in den nächsten Tagen heiter und anregend genug. Das herrliche Wetter begünstigte Partien und Ausflüge zu Wasser und zu Land, bei welch letzteren der kleine Professor, wenn er nicht im Wagen saß oder sich auf seine zwei Beine verließ, ein Maultier ritt, dessen Gemütsart zwar der einer Kuh glich; das aber im übrigen von Geschwindigkeit nichts hielt und Eile mit Weile zu seiner Devise hatte. Die Reize Hochwalds zur See und auf dem Lande waren in Tagen nicht zu erschöpfen, und für die Jäger gab es überdies an Rot- und Hochwild genug, um die Birschfahrten zu einer unversiegbaren Quelle des Genusses zu machen. Professor Glauchau jagte freilich ein anderes Wild, d. h. er durchstöberte mit wachsendem Interesse das reiche Archiv des Schlosses, aus dem er manche wichtige historische Urkunde ans Licht beförderte und sich das Recht erbat, diese Schätze veröffentlichen zu dürfen. Er fand dabei oft einen Mitarbeiter an Spini, dem Sigrid mehr auswich, als derselbe für nötig fand. Vorsicht im Verkehr vor den anderen war geboten – doch es hätten sich ja »zufällige« Begegnungen im Park oder in der Bibliothek arrangieren lassen können. Hierin schien Sigrid ihm zu ängstlich, und die flüchtigen Worte, die er hin und wieder mit ihr tauschte, waren doch herzlich wenig. Noch war sein Mißtrauen nicht erwacht, noch glaubte er an keine Absicht – aber daß sie seine halben Worte und unverdächtigen Winke nicht verstand, verstimmte ihn oft so, daß er sich lieber zurückzog und sicher abgereist wäre, wenn seine blinde Leidenschaft für Sigrid ihn nicht gehalten hätte. Nebenbei verfolgte er noch andere Zwecke. Er hatte sich bestätigen lassen, daß der Kammerdiener des Fürsten Hochwald derselbe war, der ihm vor mehr als zwanzig Jahren als Bursche gedient – es mußte also derjenige sein, von dem der Ex-Reitknecht und ehemalige Pferdebursche des Fürsten gesprochen hatte. Daß nun aus einem so langjährigen treuen Diener nichts auszuholen war, mußte sich Spini in sehr richtiger Erkenntnis der Sachlage sagen – aber er wußte auch, daß jedes Menschen Charakter seine Schwächen hat, besonders, wenn nicht genug Bildung vorhanden ist, diese Schwächen zu verdecken und zu mäßigen. Rataiczaks, des Kammerdieners Schwäche aber waren gute Cigarren. Spini sah ihn oftmals rauchen, wenn er außerhalb seines Dienstes an seinem Mansardenfenster saß und aus Cigarrenkistenbrettchen Rahmen, Kassetten, ja ganze Möbel schnitzte. Die Fenster des Italieners lagen so, daß sie die Mansarde des Kammerdieners in dem vorspringenden Schloßflügel vor sich hatten, und Spini benutzte dies, um sich nach der Art der Beschäftigung Rataiczaks zu erkundigen. Auf seinen Wunsch brachte ihm letzterer von seinen Kunstwerken einiges zum Ansehen auf sein Zimmer, und Spini bot ihm dafür zum Dank einige seiner feinsten Cigarren, deren bloßer Anblick Rataiczaks Augen leuchten machte.

»Sie rauchen gern?« fragte der Marchese lächelnd.

»Gnädiger Herr, ja, serr gern,« entgegnete der Kammerdiener respektvoll und vergnügt in seinem polnischen Dialekt, den die Zeit nicht zu mildern vermocht hatte. »Ich trinke nicht, ich brauche nichts, ich hab' keine Familie – aber rauchen, rauchen mag ich gern, gutes Kraut rauchen.«

»Nun,« meinte Spini wohlwollend, »ich begreife das. Und Ihr Gehalt wird Ihnen diesen Luxus wohl erlauben. Sie sind schon lange Zeit bei dem Fürsten?«

»Zweiundzwanzig Jahre, gnädiger Herr!«

»Welche Spanne Zeit! Und Ihnen ist nie der Wunsch gekommen, den Dienst zu wechseln?« fragte Spini forschend.

»O nein,« erwiderte Rataiczak mit so viel Überzeugung, daß es unmöglich gewesen wäre, die prompte Antwort anders als freudig zu finden.

»Nun, der Fürst wird einen so treuen Diener zu schätzen wissen,« sagte Spini, was Rataiczak ganz strahlend machte vor Freude. »Apropos,« fügte er hinzu, als der Kammerdiener sich mit seinen Sachen entfernen wollte, »können Sie sich vielleicht erinnern, ob in des Fürsten Diensten jemals ein Mensch Namens Klose sich befand? Es hat sich mir in Rom ein stellenloser Reitknecht aufzudrängen gesucht, der damit prahlte, daß er als Bursche bei dem Fürsten Hochwald gedient, als dieser noch im Regiment der Leibgarde stand. Der Fürst wird sich dessen kaum mehr erinnern, vielleicht eher Sie selbst.«

Rataiczak machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Klose, Klose!« wiederholte er. »Ei freilich, gnädiger Herr! War ein Erzlump, hat Durchlaucht bestohlen, ist degradiert worden. Weiß nicht, wohin gekommen ist.«

»Es wird wohl derselbe Klose sein,« nickte Spini. »Also ein verkommener Mensch. Ich dachte es. Der Kerl war nebenbei auch nicht ganz nüchtern und schwatzte fortwährend etwas Unverständliches von einer großen Kiste, deren Inhalt er kenne, weshalb der Fürst ihm wohl helfen müsse und so weiter.«

In Rataiczaks ehernem, bronzebraunem Gesicht zuckte keine Muskel, und seine ehrlichen blauen Augen sprachen nichts als Verständnislosigkeit.

»Gnädiger Herr werden verzeihen,« sagte er, »ich habe Leute gekannt, die sich gebessert haben und später gute Menschen geworden sind. Aber das waren keine Lügner und sie waren auch nicht feig. Der Klose aber log und war feig obendrein. Da kann nichts draus geworden sein.«

»Glaub's auch nicht,« sagte Spini, der wohl einsah, daß hier nichts auszurichten war. »Ich danke Ihnen.« –

Also –: entweder war die ganze Geschichte erlogen, was nach Kloses Leumund am wahrscheinlichsten war, oder Rataiczak wußte selbst nicht, was die Kiste enthalten hatte. Vielleicht wußte er's aber dennoch und wußte auch zu schweigen. Wer konnte durch dieses Dunkel dringen? Ein Strahl des Lichtes nur, um dadurch Sigrid zu erzwingen – weiter wollte Spini nichts. Doch wo nach diesem Strahl suchen? Die übrige Gesellschaft ahnte nichts von dem Suchen und Meiden dieses Paares, dagegen sah sie, oder konnte nicht umhin zu sehen, die dicken Weihrauchwolken, die Fuxia ohne jede Zurückhaltung Hans aus dem Winkel opferte. Boris allein bemerkte von diesem Götzendienst nichts, und da Boris nichts sah, so bemühte man sich auch, nichts zu sehen, um so mehr, als der umworbene Sänger sich dabei mit bewundernswertem Takt benahm und in seinen Allüren nichts lag, was dem Hause und seinen Wirten Grund gegeben hätte, sich über den Gast zu ärgern. Dieser gab zum Dank für die ihm gewährte Gastfreundschaft gern, ohne Ziererei und ohne Prätension das Beste seiner Kunst, und wenn er am Flügel saß, sich selbst begleitend, und Bruchstücke aus Wagners Opern, seine und Liszts wunderbare Lieder sang, so konnte man sicher sein, daß Fuxia verzückt ihm direkt gegenüber lehnte und ihn dann mit den Blumen schmückte, die sie selbst trug – Huldigungen, die Hans aus dem Winkel lachend entgegennahm wie einen guten Witz und damit die Harmlosigkeit, wenigstens von seiner Seite wahrte. Fuxia ihrerseits machte absolut kein Hehl aus ihrem Götzendienst und eines Vormittags schleppte sie in ihr Zimmer einen enormen Korb voll Lorbeerzweige, aus denen sie einen Kranz wand, den als Schleife eine ihrer eigenen Schärpen schmückte: ein breites, weißes Atlasband mit schwerer Goldwirkerei darin.

»Herrje, was wird denn das?« fragte der eintretende Boris erstaunt.

»Kennst du den Lorbeer nicht und seine Bedeutung?« fragte Fuxia zurück.

»Natürlich,« entgegnete Boris wegwerfend. »Wo werde ich denn die Lorbeerblätter nicht kennen? Gewürz für Ragoutsaucen und saure Heringe. Müssen aber dazu getrocknet werden.«

Fuxia warf ihm einen vernichtenden Blick zu und flocht an ihrem Kranze weiter.

»Boris,« sagte sie nach einer Weile feierlich. »Ich weiß jetzt, was Liebe ist. Ich habe diese große Leidenschaft kennen gelernt.«

»I wo! Nee, was du sagst,« meinte er verblüfft und zog sich schleunigst mit einer wohlgefüllten Cigarettentasche und dem neuesten Figaro ins Rauchzimmer zurück. »Fuxia hat Magendrücken,« äußerte er dort auf Befragen.

Ein paar Stunden später aber überreichte Fuxia dem Sänger, der eben das Preislied aus den Meistersingern gesungen, ihren Lorbeerkranz, dessen Schleife sie mit einer Diamantagraffe geschlossen hatte – ein kostbares Schmuckstück, dessen Rückseite eine Kapsel bildete, die wiederum ihr Bild umschloß. Hans aus dem Winkel nahm den Kranz heiter und unbefangen entgegen.

»Sie ehren mich hoch, Fürstin,« sagte er, »indem Sie mich dazu ausersehen, den Meister zu krönen;« und mit diesen Worten hing er den Kranz über eine treffliche Marmorherme Wagners, die den Ehrenplatz im Musikzimmer einnahm.

»Bravo!« konnte Hochwald nicht umhin zu sagen, während Fuxia, wie Professor Glauchau sich schmunzelnd sagte: »mit der größten Feinheit einfach auf den Pfropfen gesetzt war.«

Am selben Nachmittage fand sich für Sigrid eine Gelegenheit, mit einem Teil der in ihrem Kopf reifenden Pläne hervorzutreten. Sie ging in die Bibliothek, ein Buch zu holen, und fand dort den Fürsten Hochwald vor, der eine mächtige Pergamentrolle, den Stammbaum seines Hauses, kunstvoll mit den Wappen bemalt, auf dem großen Mitteltisch ausgebreitet hatte und nach einer vom Professor Glauchau im Archiv entdeckten Urkunde Berichtigungen eintrug.

»Komm nur,« sagte er freundlich, als Sigrid in der Thür zögerte. »Du störst mich nicht. Im Gegenteil, wenn du diese widerspenstige Ecke, die sich stets aufrollt, festhalten wolltest, so wäre ich dir sehr dankbar.«

»Ich freue mich, dir nützlich sein zu dürfen,« erwiderte Sigrid, vor Freude errötend, indem sie nähertrat und ihre Hände auf das Blatt legte. Während der Fürst seine kurzen Einträge mit Zeichenfeder und Tusche sauber ausführte, las Sigrid in dem vor ihr liegenden Teile des Stammbaumes, der den fürstlichen Hauptast behandelte. Unten, ganz zuletzt, war Marcells Name und seine Familie eingetragen, doch fehlte in dem neben Iris' Namen stehenden Wappenschilde mit Helm noch das Wappenbild und auf dem Helm das Kleinod.

»So, das wäre geschehen,« sagte Hochwald nach einer kleinen Weile, indem er Feder und Tuschnäpfchen forttrug. »Mit diesen kurzen Federstrichen hat der Stammbaum eine wichtige Korrektur erfahren, für die eine urkundliche Bestätigung vorliegt, die in dem Wust des Archivs zu entdecken unserem trefflichen Professor vorbehalten war.«

»Hat ein solcher Stammbaum den Wert einer Urkunde?« fragte Sigrid, immer noch das Pergament festhaltend und den Blick darauf gesenkt.

»Wenn er, wie dieser, mit den Urkunden belegt ist, gewiß,« erwiderte Fürst Hochwald.

»So würde also eine absichtliche Namensänderung zum Beispiel als Urkundenfälschung gelten?« fuhr Sigrid fort.

»Das käme ja noch auf die Umstände an. Im Prinzip aber zweifellos.«

Da tippte Sigrid auf die Stelle, wo in zierlicher Rundschrift stand: verm. am 1. Mai 1889 mit Iris Rose Marie Gräfin von und zu Erlenstein, Tochter des Grafen Ludwig von und zu Erlenstein und Gemahlin Anna geb. Freiin von Spittelberg u. s. w. Sie schlug die Augen voll zu ihrem Schwager auf und sagte mit gedämpfter Stimme, die kaum merklich bebte:

»Wenn es dafür gilt in deinen eigenen Augen, ist es da nicht unwürdig, in diesem stolzen Stammbaum eine so große Lüge einzutragen?«

Der Fürst wandte sich jäh um und sah seine Schwägerin einen Moment starr an.

»Du wählst scharfe Ausdrücke,« sagte er dann sehr beherrscht. »Was erscheint dir hier als eine Lüge? Iris ist eine Erlenstein.«

Sigrid nickte, ohne die Augen niederzuschlagen.

»Du wirst ihre Rechte an diesem Namen zweifellos kennen,« sagte sie langsam und noch leiser als vorher. »Ich meinte das auch nicht, sondern den Namen meiner Mutter, der mir hier an dieser Stelle einen peinlichen Eindruck macht.«

»Warum? Erkläre diese rätselhaften Worte!« erwiderte Hochwald kurz.

Da trat Sigrid erblassend ein paar Schritte zurück.

»Großer Gott, was habe ich gesagt!« rief sie mit einem Entsetzen, das nicht ganz gemacht, sondern zum größeren Teile echt war. »Marcell, solltest du wirklich und wahrhaftig nicht wissen, nicht ahnen, daß Iris –«

Sie stockte – das Wort wollte doch nicht so leicht über ihre Lippen.

»Daß Iris nicht deine Schwester ist?« vollendete Hochwald sehr ruhig. »Tröste dich, du hast nichts gesagt, was mir nicht längst bekannt wäre. Dennoch aber ist diese Eintragung keine Lüge, denn die von deinen Eltern unterzeichnete, in höchster Instanz bestätigte Adoptionsurkunde ist in meinem Besitz.«

Sigrid schwieg, wie betäubt. Also war es doch wahr, was Spini ihr berichtet hatte. Doch wer war Iris dann? Sie trat wieder näher und reichte dem Fürsten ihre kalte Hand.

»Ich bin so froh, daß ich nichts gesagt, nichts verraten,« sagte sie mit etwas forcierter Herzlichkeit.

»Wie konntest du nur glauben, daß dein Vater mich im ungewissen gelassen hat,« erwiderte Hochwald etwas kühl.

»Verzeih',« bat sie errötend, »ich hatte das nicht überlegt.«

Schnell versöhnt drückte Hochwald die ihm gereichte schmale Hand und begann dann den Stammbaum wieder zusammenzurollen.

»Es war der Wunsch deines Vaters, wie vordem auch der deiner Mutter, dich nicht wissen zu lassen, daß Iris nicht deine Schwester ist,« sagte er dabei. »Wann und durch wen hast du es erfahren?«

Sigrid senkte den Kopf.

»Ich möchte niemand anklagen,« sagte sie sanft. »Genug, ich weiß es. Und –« setzte sie mühsam lächelnd hinzu, »ich bewundere die Stärke deiner Liebe, die dich über das hinweghob, was alte, edle Häuser sonst als einen Flecken auf ihrem Wappenschilde betrachten.«

Hochwald, der Sigrid natürlich für ganz unterrichtet hielt, lächelte ein wenig.

»Die Welt ist sehr thöricht, mehr noch, sie ist sehr grausam, den Stein von den Schuldigen auf die Unschuldigen zu werfen,« sagte er. »Ich hätte dich zu diesen Herz- und gedankenlosen Seelen nicht gezählt, Sigrid.«

»O, Marcell, wie kannst du denken –«

»Deine Eltern kannten die Vorurteile der Welt wohl und hatten alles gethan, ein junges, eben erst erschlossenes Leben vor dem giftigen Hauche zu hüten,« fuhr Hochwald fast traurig fort. »Das war ein Liebeswerk, wie es einzig dasteht in den Annalen des Menschengeschlechtes. Gott gebe, daß keine boshafte Zunge es je vernichte.«

»So ahnt Iris nichts?«

»Wie sollte sie? Deine Eltern haben sie treulich davor behütet, und ich habe dies Vermächtnis von ihnen übernommen.«

Hochwald schob das sorgsam gerollte Pergament in eine Blechkapsel, die er wohl verschloß; und Sigrid stand neben dem Tisch, den Blick auf dessen Platte gesenkt, deren Muster ihre spitzen, weißen Finger fast unwissentlich nachzeichneten. »Ja,« sagte sie langsam, »es ist gut, daß Iris nichts ahnt. Es müßte, namentlich in ihrer jetzigen Stellung, sehr demütigend für sie sein.«

Der Fürst wandte sich scharf um – die Röte war ihm ins Gesicht gestiegen.

»Es ist merkwürdig, wie oft die sich Nahestehenden einander verkennen,« meinte er. »Du bist nun mit Iris aufgewachsen und scheinst nicht zu wissen, daß ihre Demut sie gerade so liebenswert macht. Solchen Charakteren thut eine Demütigung vor den Menschen, denn das meinst du doch jedenfalls, kein Leid. Und überdies sehe ich gar nicht ein, was es für Iris Demütigendes haben soll. Einen unsäglichen Schmerz, einen untilgbaren Eindruck würde die Wahrheit ihr bereiten, und ich bin nicht sicher, daß sie es je überwinden würde.«

Sigrid hob die schweren Augenlider ein wenig.

»Meine Ausdrücke haben leider das Unglück, dich zu reizen,« sagte sie mit künstlicher Ruhe. »Verzeih'! Der Mensch ist aber Vorstellungen und Überlieferungen so leicht geneigt, und ich bekenne beschämt, daß ich der altmodischen Anschauung gehuldigt habe, eine Frau, deren Mutter niemand kennt und deren Geburt ein Makel anhaftet, sei für die Familie des Mannes ein Flecken, und es müsse die Frau demütigen, wenn sie erfährt, daß der Name, den sie führt, ihr nur durch Gnade verliehen ist. Aber diese Ideen scheinen, wie gesagt, vor deiner höheren Toleranz nicht standzuhalten.«

Hochwald stützte beide Hände schwer auf die Tischplatte und sah mit ungeheucheltem Staunen seine Schwägerin an.

»Das versteh' ich nicht,« rief er ungeduldig. »Was sollen diese Stiche, die doch alle ins Blaue treffen? Iris' unglückliche Mutter war deines Vaters Schwester, die leider den guten Namen ihres Gatten zu einer cause célèbre gemacht hat. Was kann das unschuldige Kind dafür, welchen Makel kann das in den Augen christlich denkender Menschen haben? Aber leider überwiegen die Kleinlichkeit und der Haß in der Welt, und die sich Christen nennen, sind es zumeist, die vor der Berührung mit einem durch das Unglück gezeichneten Menschen scheu zurückschrecken und ihm als Makel anrechnen, was seine Schuld niemals war. Ich bin tief und schmerzlich enttäuscht, Sigrid, dich die hochherzigen Anschauungen deiner Eltern nicht teilen zu sehen,« schloß er mehr traurig als empört.

Ein tiefes Rot übergoß ihr blasses Gesicht.

»Ich habe das alles nicht gewußt,« sagte sie stockend. »Man hat mir nur gesagt, Iris wäre von illegitimer Geburt –«

»So? Das sagt man?« unterbrach Hochwald sie und fuhr sichtlich erleichtert fort: »Gottlob, daß man nichts anderes sagt. Aber du hast recht, wenn Iris das erführe, so würde es sie tief demütigen – nicht ihres Stolzes und der Menschen wegen, sondern um meinetwillen, doch dann wäre ich da, sie aufzurichten, und mir ist's lieber, daß, wenn die ›falschen, falschen Zungen‹ der Welt sich bemüßigt fühlen, ihr etwas zu sagen, sie das erfährt, was du weißt, nicht wahr? Nun du aber so viel gehört, magst du besser alles wissen, um mir zu helfen, es von Iris fern zu halten. Wußtest du, daß dein Vater eine Schwester hatte?«

Sigrid nickte bejahend – sie hätte um alles jetzt nicht sprechen können.

»Nun denn – ich habe Marie Erlenstein gekannt und war oft in ihrem Hause, nachdem sie sich mit dem letzten Freiherrn von Ravensberg vermählt hatte,« fuhr Hochwald nicht ohne Anstrengung fort, während sein Blick sich in die Ferne verlor, in die Vergangenheit. »Ravensberg verfolgte die diplomatische Laufbahn, und man prophezeite ihm eine Zukunft. Er war liebenswürdig und gut und ein ruhiger, klar denkender Geist, aber vielleicht doch nicht der rechte Mann für seine wunderschöne Frau mit dem unruhigen Herzen, das sich so leicht und so schnell in die Irre führen ließ und vielleicht nur eines kräftigen Stabes bedurft hätte, um nicht zu straucheln, denn dieses arme Herz war heiß und verblendet – – genug, man fand Ravensberg eines Morgens mit einer Kugel in der Schläfe in seinem Bette – tot. Und alles glaubte an einen Selbstmord aus unbekannten Gründen. Iris war damals ein halbes Jahr alt, sie also wußte nichts von ihrem Verluste – ihre Mutter aber war schrecklich kalt und teilnahmlos dabei, allen ein Rätsel. Mit einem Male ging ein Flüstern durch die Stadt, das Marie Ravensberg als die Mörderin ihres Gatten bezeichnete. Aus der Brise wurde ein Wind, aus dem Winde ein Sturm – – Zeugen traten auf, der persönliche Diener Ravensbergs, die Zofe seiner Frau und dann noch ein zweiter Diener – ihre Aussagen waren vernichtend. Marie Ravensberg wurde verhaftet und vor das Schwurgericht gestellt, und die vereideten Zeugen sagten gegen sie aus. Einer hatte sie den kleinen Revolver selbst laden sehen, ein anderer sie beobachtet, wie sie nach dem Schuß das Zimmer ihres Gatten verlassen. Gehen wir darüber hinweg. Dennoch wäre eine Begnadigung der unseligen Frau zu erreichen gewesen, doch ihr eigenes Benehmen vor Gericht sprach das Urteil über sie – der König machte, durfte von seinem Rechte, zu begnadigen, keinen Gebrauch machen – und das Sühnopfer geschah –«

Hochwald wandte sich mit versagender Stimme ab, tief erschüttert, überwältigt. Doch auch Sigrid war bleich geworden und mußte sich auf die Tischplatte stützen, und es währte eine ganze Weile, ehe sie mühsam, leise, wie jemand, der sich im Dunkeln fürchtet, sprechen konnte.

»Willst du damit sagen, daß diese Frau – eine Erlenstein, auf – auf dem Schafott starb? daß der Scharfrichter – o Gott!« ächzte sie entsetzt, als Hochwald bejahend den Kopf senkte. Dann fuhr er fort:

»Deine Eltern haben das Kind adoptiert und es als das ihrige erzogen. Begreifst du nun, daß sie, fern dem Vaterlande, wo alles sie an das Furchtbare mahnte –«

»Und das Kind, Iris,« unterbrach ihn Sigrid erregt, »war sie nicht eine Mahnung daran, die sie stündlich vor Augen hatten? Wie konnten sie es über sich gewinnen, sie vor sich, neben ihrem eigenen Kinde zu dulden?«

Hochwald sah mitleidig zu seiner Schwägerin herab.

»Du bist naturgemäß erregt,« sagte er ruhig. »Die Größe dieses Liebesopfer wirst du erst begreifen lernen, wenn du dir dein ganzes Leben, das auch das Leben von Iris war, zurückrufst. Und doch war es deinen Eltern kein Opfer, denn es beseelte sie die edelste jener drei, ohne die der Mensch ist: ›wie tönendes Erz und eine klingende Schelle‹ – die Liebe, die alles überwindende.«

Sigrid sah fast scheu zu Hochwald auf, in dessen tiefem Tone seine Worte zur Überzeugung wurden, in dessen klarem, festem Blicke der Glaube an das, was er sagte, so schön zum Ausdruck kam. Sie begriff ihn nicht mit seinem großen Herzen, das so viel Nachsicht hatte mit den Fehlern anderer, das stets Milderungsgründe suchte und fand, wo ihr vorschnelles Urteil, ihr Stolz verurteilte. Sie bewunderte diesen großherzigen Zug, aber sie war nicht imstande, zu seiner Höhe emporzusteigen. Der Fürst nahm ihr Schweigen für die Einkehr zu der Auffassung, der er so überzeugungstreu war, und nach dem Grundsatze, daß jeder seine Eindrücke selbst verarbeiten müsse, allein mit sich selbst, schickte er sich an, die Bibliothek zu verlassen.

»Noch eins,« rief Sigrid ihm zu. »Hat mein Vater mit dir über – über seine Schwester gesprochen?«

»Gewiß,« erwiderte Hochwald freundlich. »Es that ihm wohl, denn er hatte sie sehr geliebt. Es war zwischen uns kein Rückhalt über dieses traurige Thema. Und,« setzte er eindringlich hinzu, »die Milderungsgründe, die der irdische Richter nicht finden konnte, wir haben nach ihnen gesucht und nicht ohne Erfolg. Der Zorn über das Grab hinaus kann nicht veredeln – sie hat gebüßt, die arme Verirrte, und wir Menschen sollen's uns damit genügen lassen. Der Rest ruht bei Gott.«

Er nickte ihr ernst zu und ging. Doch in der Thür kehrte er noch einmal um, trat dicht an Sigrid heran und legte ihr die Rechte auf die Schulter.

»Ich darf dir doch vertrauen, Sigrid?« fragte er mit tiefem Ernst. Sie wich seinem festen Blick aus.

»Vertrauen? Worin, Marcell?«

»Sigrid, du mußt mich doch verstehen. Ich habe dir diese traurige Geschichte erzählt, weil ich auf dich rechne, dich als meinen natürlichen Verbündeten betrachte, um Iris in dem Glauben zu erhalten, daß sie deine Schwester ist. Sie darf niemals ahnen, wessen Kind sie ist, es würde ihr Leben vergiften. Willst du die Erbin des Liebeswerkes deiner verklärten Eltern sein, oder habe ich mich in dir getäuscht?«

»Nein, nein!« rief sie angstvoll, seine gute Meinung zu erhalten. »Ich will für dich alles thun, alles verschweigen –«

»Das thut's nicht allein, Sigrid,« sagte Hochwald ernst. »Es gilt, der Ruhe ihres Lebens wegen, alles von Iris fern zu halten, was ihren Frieden gefährden könnte. Ihr seid als Schwestern aufgewachsen – die plötzliche Wissenschaft, daß ihr's nicht seid, kann deine Gefühle doch nicht für sie ändern – du hättest dann ja umsonst gelebt. Sigrid, hab' ich recht?«

»Ja,« nickte sie mit erstickter Stimme. O Gott, welchen Zauber hatte dieses Mannes Stimme für sie!

»So gieb mir deine Hand darauf und dein heiliges Wort, daß du Iris schonen wirst!«

Sie legte ihre eiskalte Rechte in die seine, aber ihre trocknen, blassen Lippen formten nur klanglose Worte. Er sah ihre tiefe Bewegung und nahm den Handschlag für die ungesprochene Rede.

»Ich danke dir, Sigrid, und vertraue dir.«

Noch ein Grüßen und er ging.

Sigrid blieb in einer unbeschreiblichen Seelenverfassung zurück. Zunächst hallte noch Hochwalds Stimme, seine einfachen, herzlichen Worte und Mahnungen in ihr wieder, dann aber brach in ihr alle Bitterkeit aus darüber, daß sie zwanzig Jahre ihres Lebens hindurch ihrer Eltern Liebe mit Iris hatte unwissentlich teilen müssen. O, hätte sie's gewußt! Sie hätte den Eindringling dahin gewiesen, wohin er gehörte: zu den Ausgestoßenen der Gesellschaft. Die Tochter einer Hingerichteten Verbrecherin, die vielleicht irgendwo auf dem Armensünderkirchhof moderte! Freilich, sie war eine Erlenstein, und Sigrid war hochmütig auf ihren Namen, ihre tadellose Abkunft. Eine Erlenstein! Ja, ja, man durfte jetzt nicht wieder die furchtbare Geschichte aufwühlen, die eben erst anfing, in Vergessenheit zu geraten. Oder doch – ha, jetzt erinnerte sich Sigrid der Geschichte von den weißen Rosen von Ravensberg, die der Professor erzählt, und es fiel ihr ein, daß auch Spini die Tragödie in einer alten Zeitung aufgestöbert. Nein, solche Geschichten, die den Namen alter Adelsgeschlechter an den Pranger stellen, werden niemals vergessen! Sigrid lachte selbsthöhnend auf, als sie daran dachte, wie ihre Bekannten sich hinter ihrem Rücken zutuscheln mochten: »Sie ist die Nichte jener Frau von Ravensberg, die damals wegen Gattenmordes hingerichtet wurde. Sie wissen doch noch –«

In der Bibliothek auf und abschreitend, erhitzte Sigrid sich an ihren eigenen Gedanken, denn zur Eifersucht, Haß, Neid und Verachtung gesellte sich nun der fünfte im Bunde, der Fanatismus: – ein schrecklicher Gesell, der schrecklichste von allen Dämonen, ausgestattet mit überirdischer Kraft, der seine Opfer über Leichen und Verbrechen dahin zu führen pflegt, von wo er selbst entsprungen: ins Irrenhaus. Sigrid kam sich mit einem Male ganz gehoben vor. Bis heute hatten Gewissensbisse immer noch die Dämonen im Schach gehalten, aber jetzt, wo es galt, den geliebten Mann aus unwürdigen Banden zu befreien, jetzt rechtfertigte der Fanatismus alles, alles, alles. Aber was nun geschehen mußte, wollte überlegt sein. Zu Hochwald gehen und ihm das Unwürdige, das Unmoralische seiner Ehe mit der Gebrandmarkten vorzustellen, hieß tauben Ohren predigen. Sie wußte das. Verblendete lassen sich die Augen nicht öffnen, wollen nicht sehen. Und doch – wenn sie jetzt hinging, sich ihm zu Füßen warf und ihn flehte – er würde sie für verrückt halten, er war ja bezaubert. Und mit einem Handstreich die Bande zerschneiden – –

Rechtzeitig sagte Sigrid sich selbst noch, daß solche Heldenthaten von den Gerichten absolut falsch aufgefaßt werden. Wer weiß, ob Marie Ravensberg nicht auch durch jenen Schuß eine Heldenthat gethan, die sie auf dem Schafott büßen mußte! Natürlich eine Heldenthat, sie war ja eine Erlenstein! Denn den Stempel der Schande hatte ihr der Scharfrichter erst aufgedrückt. Wäre die That geheim geblieben, ja dann – –

Ja, geheim muß heutzutage eine solche That bleiben, die Welt hat kein Verständnis mehr für diese Höhe der Selbstverleugnung – geheim. Und das Kainszeichen? Giebt es die That oder die öffentliche Sühne? Nein, der Henker drückt es auf – oder die That? – es kommt eben darauf an, aus welchen Motiven eine That geschieht. O, ihre, Sigrids Motive waren groß und erhaben. Den Geliebten, Marcell Hochwald, von der Tochter einer Gebrandmarkten zu befreien, seine Seele zu retten von dieser Ehe, das war etwas Großes! Und wenn sie dann zum Lohn für diese That den Befreiten selbst forderte, um ihm das Leben zu versüßen, war das zu viel?

Während Sigrid in der Bibliothek dem Fürsten gegenüberstand und dessen Worte ihre Sinne immer mehr verwirrten und eine Stimmung in ihr erzeugten, die jenes andere Gefühl in ihr, jenes Erinnern an die schönen, fernen, ungetrübten Kinder- und Jugendjahre zu ersticken drohte, eilte Iris durch das Schloß, sie zu suchen, da die Post ein Sigrid zugedachtes Geschenk gebracht, auf dessen Übergabe sich Iris freute wie ein Kind: ein kostbarer Doppelrahmen, der die künstlerisch ausgeführten Miniatur-Porträts des Grafen und der Gräfin von Erlenstein umschloß, eine sinnige Gabe für Sigrid, von einem bedeutenden Künstler nach guten Photographien der Heimgegangenen ausgeführt.

Ihren Schatz wohlverpackt im Arm, fragte Iris bei allen, die ihr begegneten, ob sie Sigrid nicht gesehen, und im oberen Korridor wurde ihr dann gesagt, die Gräfin habe die Bibliothek betreten. Nun führte nach diesem Raum aber eine Thür auf die Galerie, welche oben um die Bibliothek lief und den Zugang zu den erhöhten Bücherreihen vermittelte. Die Thür wurde nur selten benutzt. – Iris aber beschloß, diesen kürzeren Weg zu nehmen, schob die Portiere, welche den Eingang sonst verhüllte, beiseite und trat auf die Galerie, von der eine Wendeltreppe hinab in den inneren Bibliothekraum führte. Noch auf der Schwelle stehend, hörte sie die Stimmen ihres Gatten und ihrer Schwester, und es kam ihr der Gedanke, den beiden einen kleinen Schabernack zu spielen und ihnen als des Hauses Spukgeist am hellen, lichten Tage zu erscheinen. Schnell eilte sie zurück in ihr Zimmer, warf einen großen schwarzen Schleier über ihren Kopf, so daß er ihre weißgekleidete Figur fast ganz einhüllte, und während sie die Metamorphose mit sich vornahm, im voraus sich amüsierend über ihren harmlosen Streich, fiel ihr Auge auf die Nachtlampe in ihrem Zimmer, einen kleinen Kunstgegenstand von oxydiertem Silber mit einem Einsatz von Rubinglas, in welchem eine ganz kurze, sehr starke Wachskerze des Nachts brannte. Natürlich, dieser prosaische Gegenstand mußte, den Eindruck zu vollenden, als das geheimnisvolle ›rote Licht von Hochwald‹ fungieren; lachend entzündete Iris die Kerze und eilte nun als wohlausgestatteter Irrgeist zurück auf die Galerie, das Licht mit der Hand beschattend. Sie beugte sich nun zunächst vorsichtig über die Balustrade und spähte hinab, schon ein wenig herabgestimmt in ihrer Neckerei, denn es schien ihr, als klänge die Stimme ihres Gatten ernst und eindringlich, fast wie beschwörend. Es fiel ihr natürlich nicht ein, lauschen zu wollen – im Gegenteil wollte sie, für den Fall, daß sie Worte verstehen sollte, sogleich einen dumpfen Geisterruf hinabsenden, oder, falls ihr Gatte wirklich so ernst sprach, als es klang, sich still und diskret zurückziehen. Wie sie sich aber hinabbeugte, hörte sie den Fürsten, trotzdem er die Stimme dämpfte, deutlich sagen: »So gieb mir deine Hand darauf und dein heiliges Wort, daß du Iris schonen wirst!«

Erschreckt fuhr sie zurück, doch ehe sie noch bis zu der Thür gehuscht war, hörte sie auch schon ihren Gatten die Bibliothek verlassen. Nun sie nichts mehr zu erlauschen Gefahr lief, hielt sie an und dachte einen Augenblick hochklopfenden Herzens nach. Weshalb wollte Marcell sie geschont wissen? Und warum sollte Sigrid ihr heiliges Wort darauf geben? Iris wußte, daß ihr Gatte Heiliges nicht leichtfertig oder unbedacht zu nennen pflegte; sein Wort war sein sorgfältig gewahrtes Kleinod, und es stand fest und makellos wie ein Fels von Erz, aber wenn er ein Wort, ein heiliges Wort von jemand forderte, so mußte es sich für ihn auch um etwas Hochwichtiges handeln, und er erwartete dann, daß das gegebene Wort treu gehalten wurde, wie er das seine hielt. Diese Überlegung verbannte auch sofort in Iris den blitzartig aufgetauchten Gedanken, Sigrid zu fragen. Sie errötete vor Unwillen über sich selbst, daß sie einmal wegen der Befriedigung einer vielleicht nur natürlichen Neugierde daran gedacht, Sigrid in Versuchung zu führen, statt sich an ihren Gatten selbst zu wenden, und dann über diese Neugierde an sich. Denn sie besaß jenen echten und schönen Stolz, der keinen Flecken auf der Seele duldet und den bloßen Schatten davon mit Willenskraft und Selbstbeherrschung zu vertilgen sucht.

Zur Balustrade zurücktretend, sah sie Sigrid unten in heftiger Bewegung hin und her schreiten, Worte murmeln und gestikulieren.

»Ich werde ihr helfen, sich zu beruhigen,« dachte sie mitleidig. »Vielleicht muß sie lachen, wenn sie mich als Spukgeist sieht.«

Und Iris nahm ihre Lampe wieder auf und das auf der Galerie zurückgelassene Paket mit dem Miniaturen unter den Arm und begann, die Wendeltreppe hinabzusteigen, ohne das Geräusch zu vermeiden, denn Sigrid sollte aufmerksam gemacht und nicht erschreckt werden. Aber Sigrid, hörte nichts, denn ihre Seele war befangen von schwarzen Gedanken, die ihre Kreise enger und enger zogen und ihr Auge ablenkten von der Außenwelt. Eine Weile stand Iris am Fuße der Treppe und sah dem Treiben ihrer Schwester zu, immer glaubend, daß sie von ihr schon gesehen sein müßte, da Sigrid mit seltsam lodernden Blicke mehr denn einmal an ihr vorbeigegangen war.

»Da hört alles auf,« sagte Iris endlich lachend, »aber ich will ein Kompliment von dir hören über mein gespenstisches Exterieur!«

Bei dem Klange dieser Stimme stutzte Sigrid dicht vor Iris, auf deren von dem schwarzen Schleier halb verhülltes Gesicht das rote Licht der Nachtlampe einen zuckenden Schein warf. Erst sah sie leeren und ausdruckslosen Auges auf die liebliche Erscheinung, dann stieß sie einen Schrei aus, einen wahnsinnigen Schrei, so gellend, so entsetzt, daß er das Echo dieses Raumes weckte.

»Zurück!« schrie sie, »fort! hinweg – das Kainszeichen!« – Und besinnungslos stürzte sie schwer zu Boden.

Iris war tödlich erschrocken, so sehr, daß sie wie gebannt stand und sich im ersten lähmenden Schrecken nicht von der Stelle rühren konnte. Aber Fürst Hochwald hatte nebenan in seinem Arbeitszimmer den Schrei gehört und eilte schnell herbei.

»Mein Gott, Was ist hier geschehen?« fragte er, sich zu Sigrid herabbeugend.

Iris warf ihre Vermummung ab und teilt ihm in hastigen Worten mit, was geschehen; doch während beide sich noch bemühten, Sigrid emporzurichten, kam diese schon zur Besinnung. Ein Blick auf Iris machte sie erschauern; sie schloß die Augen von neuem und lehnte sich tödlich erblassend in den Arm des Fürsten zurück. Nach Anwendung einiger Stärkungsmittel war sie so weit, daß sie nach ihrem Zimmer geführt und dort zur Ruhe gebracht werden konnte. Sie lehnte dabei ziemlich heftig jede Dienstleistung von der Fürstin Iris ab, welche sich zwar schmerzlich berührt, jedoch nicht beleidigt davon fühlte.

»Du Arme, deine Nerven sind schrecklich alteriert,« sagte sie liebevoll und herzlich. »Und wie bittere Vorwürfe muß ich mir machen, dich so erschreckt zu haben! Doch nun lasse ich dich allein und zwar mit der Gabe, die Marcell und ich dir zudachten – der Anblick der teuern Gesichter wird dich besser stärken als alles andere!« – Und mit diesen Worten stellte sie ein kleines Tischchen neben Sigrids Ruhebett und darauf den schöngeschnitzten Florentiner Goldrahmen mit den Miniaturen. Beim Erblicken dieser sprechend ähnlichen Bilder brach Sigrid in einen Strom von Thränen aus – da glitt Iris leis aus dem Zimmer, denn mit solch tief bewegtem Herzen ist's besser, allein zu sein, um die Ruhe wiederzufinden nach außen und mit sich selbst.

Langsam und nachdenklich legte die junge Frau den weiten Weg von dem sogenannten »Fremdenflügel« des Schlosses bis in das Zimmer ihres Gatten zurück, der am Schreibtische saß, der Eintretenden aber sofort die Hand mit freundlichem Lächeln und lieberedendem Blicke entgegenstreckte. Sie schob ein Taburett dicht an seinen Stuhl heran, setzte sich und schmiegte das blonde Köpfchen an seinen Arm.

»Warum läßt mein Vögelchen so betrübt die Flügel hängen?« fragte Fürst Hochwald nach einer Pause.

»Ach,« sagte Iris gepreßt, »Sigrid ängstigt mich.«

» Oh, bother Sigrid, würde Fuxia sagen,« entgegnete er mit einem Anflug von Ärgerlichkeit. »Versteh' mich recht,« setzte er hinzu, als er ihren vorwurfsvollen Blick sah, »ich finde Sigrid viel netter wie früher. Nur soll sie dich nicht beunruhigen.«

»Sie thut's aber,« rief Iris schmerzlich. »Und wie sollte sie mich nicht beunruhigen, da sie doch meine Schwester ist?«

Hochwald nickte und sah still vor sich hin. Was sollte er dazu auch sagen nach allem, was er wußte?

»Wenn ich Sigrids Zerfahrenheit sehe, muß ich immer daran denken, ob meine verklärten Eltern mich nicht zur Rechenschaft ziehen würden, weil ich nicht alles gethan, sie vor sich selbst zu retten. Und doch, wie kann ich's, da sie sich mir nicht mehr vertraut und meine stumme Frage nicht versteht? Besonders Mama, der Sigrid doch am Ende wohl noch teurer war als ich, würde diese Sigrid von heut' schweren Kummer machen,« schloß sie traurig, und Hochwalds Blick mißverstehend, fügte sie hinzu: »Ich bin nicht etwa nachträglich noch eifersüchtig auf Mamas Liebe! Ich habe ja so viel davon bekommen, ebensoviel gewiß wie Sigrid. Aber mir schien es oft, als leuchteten Mamas Augen ganz anders auf, wenn sie Sigrid sahen.«

»Und jetzt leuchten die meinigen, wenn ich dich sehe,« sagte Hochwald etwas unlogisch, denn er mußte ja seine Bewunderung über dieses Feingefühl der Seele in sich verschließen. Die Liebe braucht aber keine spitzfindige Logik, deshalb küßte auch Iris gerührt die starke Hand, die so weich und liebreich über ihre Wangen strich. Und dann bekannte sie ihm, was sie in der Bibliothek gehört und wie seine an Sigrid gerichteten Worte sie befremdet. Er hörte sie ruhig an und beantwortete ihren gespannten Blick erst nach einer Pause.

»Es handelt sich hier um eine Angelegenheit, deren Kenntnis ich dir entziehen möchte,« begann er dann. »Wie Sigrid davon erfahren, ist hier gleichgültig. Ich weiß es selbst nicht. Es thut mir aber von Herzen leid, daß meine eindringliche Bitte an Sigrid, dir nichts davon zu sagen, an dein Ohr kam, denn auf die Gefahr hin, Befremden und Zweifel in dir aufkeimen zu lassen, muß ich dich bitten, mir zu vertrauen, meine Iris!«

»Ich frage nicht,« war ihre ohne Zögern gegebene Erwiderung, indem sie die klaren Augen zu ihm aufschlug. »Es giebt etwas, das ich nicht wissen darf – das ist mir genug, und ich denke, du kennst mich so weit, um sicher zu sein, daß ich diesem Etwas niemals nachforschen würde.«

»Daran erkenn' ich meine Iris, meine liebe, süße Frau,« sagte er gerührt und neigte sich, ihre reine Stirn zu küssen. »Weißt du auch, Liebling, daß nichts so wohl thut als Vertrauen?«

»Das wäre mir eine schöne Liebe, die kein Vertrauen hätte,« erwiderte sie innig. »Das wäre ja wie ein Frühling ohne Blumen, wie eine Religion ohne Gott.«

»Das ist groß gedacht, Iris. Aber der Mensch ist eben auch menschlichen Schwächen unterworfen. Wird Mutter Evas Erbteil, die Neugierde, dich nicht beunruhigen und versuchen, wird der Verdacht, was es sein möchte, das du nicht wissen sollst, niemals in dir aufsteigen?«

Sie schmiegte sich nur noch enger an ihn.

»Wie kann ich wissen, welche Versuchungen über mich kommen, Marcell? Aber steigen sie auf in mir, so verspreche ich dir heilig bei unserer Liebe, daß ich damit zu dir selbst kommen werde, damit du mir hilfst, sie zu überwinden.«

»Ja, Iris, so soll's sein,« erwiderte Hochwald bewegt. »Wie kommt es nur, daß du immer den rechten Ausweg findest?«

Sie lächelte holdselig und glücklich. »Weil meine Augen klar sind durch dich. Und,« fügte sie, sich erhebend, hinzu, »was einen möglichen Verdacht betrifft, das ist ein häßliches Wort, das wir nicht einmal denken wollen, nicht wahr? Denn mir fällt dabei Shakespeares Wort ein: ›Verdacht wohnt stets im schuldigen Gemüt.‹«

*

Die folgende Nacht brachte nach einem schwülen Abend, der nicht einmal auf der Seeterrasse einen kühlenden Hauch spenden wollte, ein heftiges Gewitter. Der Hochwalder Kreis hatte, mit Ausnahme von Sigrid, die sich für zu unwohl erklärte, um herabzukommen, auf der Terrasse gesessen bis spät in die Nacht. Auf dem spiegelglatten Wasser, zu still, um natürlich zu sein für das unruhige Element, lag seitlich der Terrasse das rätselhafte rote Licht wie ein verlorengegangener Rubin aus der Krone der Tageskönigin, und der erneute Disput über dies unerklärliche Phänomen hatte von allen Seiten so viel Mondschein- und Geistergeschichten wachgerufen, daß man endlich mit jenen gewissen süß-schaurigen Gruseln, wie es in alten Schlössern gewöhnlich den Menschen beschleicht, zur Ruhe ging.

Etwa eine Stunde später zog das Gewitter auf. Es war ein Blitzen, als öffneten sich Feuerschlünde und wollten die Welt verzehren, der Donner krachte, daß des Schlosses Grundmauern erzitterten, und der Sturm wühlte die See auf, daß der weiße Gischt der haushohen Wellen bis auf das Kupferdach des hohen Mittelflügels spritzte. Es war ein Wetter, kühne Herzen erbeben zu machen vor der Gewalt der Naturkräfte, und nur die blieben ruhig, aber wachsam, die an der Küste wohnend das furchtbare Rauschen des Meeres, das Heulen des Sturmes und das Brüllen der Brandung gewohnt waren.

Noch war das Wetter indes nicht ausgebrochen, da fand Spini, daß ihn die Gewitterschwüle nicht schlafen ließ. Er zog sich daher wieder an, öffnete die Fenster und beschloß, aus der Bibliothek ein neues Buch zu holen – leichte Lektüre, die erst heut' mit der Post gekommen war. Der Weg zu der unerschöpflich reichen Bücherei war lang und einsam – es schlief wohl schon alles. Spini durchschritt lautlos, niemand zu stören, die breiten Korridore, stieg die Haupttreppe hinab, sein Licht in der Hand, und durchkreuzte die Halle. Die Thür zur Bibliothek öffnete sich lautlos – in den weiten Raum eintretend sah Spini aber durch den breiten Ritz der nicht ganz geschlossenen Thür am anderen Ende Licht schimmern und hörte des Fürsten Stimme, wie er jemand Befehle erteilte zu diversen Aufträgen an Lieferanten. Die kurzen, respektvollen Antworten ließen Spini die Stimme des Kammerdieners Rataiczak erkennen. Das Thema drinnen war uninteressant genug für einen Lauscher, dennoch aber hörte Spini mit halbem Ohre hin, während er das gewünschte Buch auf dem Lesetische suchte.

»So! Das wäre wohl alles,« sagte der Fürst drinnen. »Donnerte es nicht eben? Höre, Rataiczak, mir scheint, es giebt heut' Nacht ein schweres Wetter. Sind alle Läden geschlossen und die Flaggenstange eingezogen?«

»Zu Befehl, Durchlaucht. Das Wetter kommt von der Landseite und war schon zu sehen, als die Herrschaft auf die Terrasse ging nach dem Essen. Wir hatten Zeit, alles zu bergen; auch die Blumen sind von der Terrasse in den Vorsaal geschafft worden.«

»So ist's gut. Kommt das Wetter herauf, so wecke die Leute – man kann niemals wissen, wohin der Blitz trifft. Und noch eins, Rataiczak –: hast du den kleinen Fensterladen gemacht – du weißt, für die Schießscharte.«

»Zu Befehl, Durchlaucht. Ich wurde heut' Abend fertig und will's heut' Nacht anbringen.«

»Ah, das ist gut. Dieses Breittreten des ›roten Lichtes‹ wurde nachgerade lästig und führt zu nichts als zum thörichtesten Aberglauben und zu den abenteuerlichsten Vermutungen. Brauchst du Hilfe unten?«

»Durchlaucht, nein. Es ist eine so leichte Arbeit. Zwei Nägel, nichts weiter, und wenn der Sturm kommt, hört keine Seele das Hämmern. Auch so nicht, Durchlaucht.«

»Nun, desto bester. Soll ich mit dir kommen?«

»Danke unterthänigst, nein. Ich fürcht' mich nicht, gnädigster Herr.«

»Nein, natürlich nicht, mein guter Junge. Vor was auch? Menschen werden dir nicht in den Weg treten, und die Toten stehen nicht auf. Ich will dich indes zu dem Wege nicht zwingen und die Sache gern allein machen. Sag' es mir frei und ohne Scheu, wenn es dir unangenehm ist.«

»Durchlaucht sind immer so gnädig und gütig. Aber ich gehe gern. Durchlaucht würde es doch wieder aufregen, mich nicht. Es ist schon besser, ich gehe – die Frau Fürstin werden sowieso schon oben ängstlich sein, wegen des Wetters.«

»Da hast du auch recht – denkst schon an alles, mein braver Rataiczak. Na denn, gute Nacht. Ich danke dir!«

Im nächsten Augenblick trat der Fürst, ein Licht in der Hand, in die Bibliothek – doch Spini hatte schon vorher seine Kerze verlöscht und war hinter einen der schweren Fenstervorhänge getreten. Eigentlich ärgerte er sich, daß er's that. Warum sollte er sich kein Buch holen – darin lag doch nichts Unerlaubtes? Daß die Handlung des instinktiven Sichverbergens aus dem Faktum entsprang, daß er dem Gespräch zwischen Herrn und Diener mit angestrengter Aufmerksamkeit gelauscht, war ihm wohl selbst nicht ganz klar – doch als der Fürst die Bibliothek passiert hatte, und Rataiczak ihm nach einer Weile folgte, sorgsam spähend, ob noch etwas Vergessenes in Ordnung zu bringen, ein Fenster zu schließen war, da erst kam ihm der Gedanke: »Es war gut, daß ich mich verbarg – ich werde diesem Mann folgen.«

In dem erlauschten Gespräch hatte ihn ja natürlich nur die Erwähnung des ›roten Lichtes‹ frappiert. Das übrige, und ob irgendwo ein Fensterladen angebracht werden mußte, konnte ihm höchst gleichgültig sein. Doch der Schluß der Unterredung machte ihn wieder stutzig. Und dann durchfuhr ihn der Gedanke: »Ah, also der Herr des Hauses kennt des ›roten Lichtes‹ Ursache und läßt uns ruhig die Köpfe darüber zerbrechen. Nun gut, auch ich will wissen, was es damit auf sich hat.«

Nun gehört ja das Nachspionieren in anderer Leute Angelegenheiten nicht zu den vornehmen Eigenschaften des Menschen. Spini war aber auch kein vornehmer Charakter. Er war ein stolzer, hochmütiger Mensch, der den äußeren Schein mit allen, oder wenigstens doch mit vielen Mitteln aufrecht erhielt, die einer strengeren Kritik nicht stand hielten und, ohne direkt mit dem Strafgesetzbuch zu kollidieren, doch das Forum des Ehrengerichtes hätten scheuen müssen. Ohne weitere Bedenken zog er seine Pantoffel aus, steckte sie in die Tasche seines Jackettes und schlich auf den bloßen Socken lautlos hinter Rataiczak drein, der den Schlüsselschrank in der Halle öffnete, einen großen, verrosteten Schlüssel vom Haken nahm und sich damit durch eine Thür entfernte, die, mit einem orientalischen Teppich verhängt, Spini bisher entgangen war. Als letzterer nach einer kleinen Pause seinerseits den Vorhang lüftete, sah er, daß der Kammerdiener die Thür offengelassen hatte und nun in einem großen, kahlen, gewölbten Vorraum eine Laterne anzündete. Dann sah er ihn ein längliches Brettchen nebst Hammer und diversen Nägeln vom Boden aufheben, eine zweite Thür aufschließen und durch dieselbe verschwinden. Vorsichtig folgte Spini und sah Rataiczak eine steile Wendeltreppe hinabsteigen, die er nun gleichfalls vorsichtig betrat, trotzdem sie von Stein und ein Geräusch darauf nicht zu befürchten war. Das war eine Treppe, wie sie eben nur in alten Schlössern zu finden ist, schlüpfrig durch die eindringende Feuchtigkeit, und von unten herauf drang ein feuchter Modergeruch, wie er sich so beklemmend auf des Menschen Nerven legt und uns erschauern läßt im Herzensgrunde. Die Treppe endete in einem breiten saalartigen Gange, der weiterhin, ein Knie bildend, sich fortsetzte. Die Decken waren spitzbogenförmig gewölbt, der Boden mit rissigen Steinfliesen belegt, und statt der Fenster dienten schräg in den gewaltigen Mauern angebrachte Schießscharten zum Einlasse von Licht und Luft. Das Rollen und Rauschen, das durch diese schmalen, länglichen Mauerluken drang, belehrte Spini, daß er sich an der Seeseite des Schlosses, in dem ältesten, unbewohnten Teile desselben befand, in jenem Teile, den man von der Seeterrasse aus übersah, und aus dem, seiner Berechnung nach, das geheimnisvolle rote Licht dringen mußte. Der breite Gang, den Rataiczak jetzt betrat, langsam und vorsichtig gefolgt von Spini, mußte ehedem, als Hochwald noch eine Feste war, zum Wachtlokal gedient haben, das bewiesen die Tische, Schemel und Holzpritschen, die an den Wänden verteilt waren, sowie auch Böcke für die unförmigen Schießapparate jener verschollenen Zeit. In den Ecken lag noch sonstiges Gerümpel, als Kisten, defekte Stühle, Latten etc., und dicht am Ausgange der Treppe stand eine große, das heißt mehr lange und flache als hohe Holzkiste, deren nachlässig daraufgelegter Deckel mit Schimmel überzogen und halb vermodert war. Einzelne mächtige, bis hoch herauf reichende Wandschränke mit halb in den Angeln hängenden Eichenthüren und demolierten Regalen wiesen noch deutlicher auf die ehemalige Bestimmung des Raumes als Wachtlokal hin; nur einer der Schränke war verschlossen, und Spini sah, wie Rataiczak diese Thür, die übrigens auch nur angelehnt war, öffnete und die drei oder vier Bretter, die den Wandschrank bildeten, herausnahm. Darauf trat er in die so gebildete Vertiefung hinein, Spini hörte einen Schlüssel oder eine Feder schwerfällig arbeiten, und dann war der Kammerdiener samt dem Lichte spurlos verschwunden.

Mit einem einzigen, lautlosen Sprunge wie ein Panther war Spini ihm nachgeeilt – zu spät; es war nichts mehr zu sehen als eine dichte, eichene Rückwand, wie bei jedem der anderen Schränke. Vorsichtig strich Spini eines der Wachsstreichhölzer, die er stets bei sich trug, an und beleuchtete diese Wand – es war kein Abzeichen an ihr zu sehen, kein Ton hindurch zu hören, besonders, da der zunehmende Sturm und das Rauschen der See jedes untergeordnete Geräusch verschlang. Ein zweites Wachshölzchen ermöglichte Spini, sich nun nach einem passenden Versteck umzusehen, und er fand es im Schutz einer übermannshohen Kiste, die geleert und ausgeräumt in einer dem mysteriösen Schranke gegenüberliegenden Mauervertiefung aufrecht lehnte. Ein mit Pappdeckel übernageltes Astloch im Boden, in welchem ein Stöpsel vermodertes Werg steckte, gab nach leichter Entfernung dieser Dinge einen vortrefflichen Beobachtungspunkt. Inzwischen war das Gewitter mehr und mehr heraufgezogen, und was von den Blitzen rot, schwefelgelb und violett durch die Luken drang, erleuchtete unheimlich genug den an und für sich schauerlichen Ort. Spini war kein Mann der bleichen Furcht, aber er war abergläubisch wie alle Italiener, und die Kälte des feuchten Fußbodens, auf dem er in dünnen Strümpfen stand, fing an, ihm durch Mark und Bein zu gehen, trotz der draußen herrschenden unerträglichen Gewitterschwüle, oder vielleicht gerade wegen derselben. Um die wachsende Beklemmung abzuschütteln, begann Spini, die fast nicht mehr erlöschenden Blitze zu benutzen, um die Mauerluken zu zählen, wie er es schon oft von der Seeterrasse aus gethan. Er zählte nur sechs – von außen waren's aber sieben, und nun erinnerte er sich auch, daß die Mauer von außen nicht glatt, sondern strebepfeilerförmig ausgeladen war, zum Schutz gegen die Wellen, und daß eben diese Ausladung gleichfalls eine Schießscharte zeigte. Zweifellos maskierte nun der Schrank, in dem Rataiczak verschwunden war, diese in Spinis Berechnung fehlende Luke, und dann mußte diese pfeilerartige Mauerausbauchung auch nicht massiv sein, sondern einen Raum bilden. Durch das wachsende Geräusch des Sturmes hindurch meinte das feine Ohr des Italieners nun ein Hämmern zu vernehmen; doch dauerte es für ihn fast eine Ewigkeit, ehe seine Hoffnung sich erfüllte und Rataiczak wieder erschien. Zu diesem Ende schoben sich die breiten, eingepfalzten Bretter der Schrankthür in der Mitte auseinander, und Rataiczaks Laterne beleuchtete für einen Moment die Scene –: im Hintergrund das von dem Kammerdiener mitgenommene Brett als Laden vor die Schießscharte gehängt; oben von der Decke herabhängend eine schöngeformte sogenannte ewige Lampe von Silber, durch deren rubinroten Glaseinsatz das Licht ruhig herabstrahlte und – Spinis Auge bohrte sich förmlich darauf – und unter der Ampel auf einer Erhöhung ein länglicher, oben breiter und unten schmäler werdender geheimnisvoller Gegenstand, den eine schwarze Samtdecke mit einem großen, silbernen Kreuz darauf bedeckte – – – ein Sarg, durch ein Bahrtuch verhüllt. Nur so viel konnte Spini sehen, dann schlossen sich die eichenen, starken Thürpaneele, und Rataiczak begann die Regale einzusetzen, die dieses unheimliche Mysterium wieder in einen harmlosen Schrank verwandelten.

Nun hatte Spini eine Versuchung – Rataiczak von hinten zu überfallen und ihn zur Herausgabe seines Geheimnisses zu zwingen – aber er verwarf diese Idee sogleich wieder, denn der »Mitschuldige, der Hehler des Fürsten«, wie er ihn nannte, war riesenstark und groß, auch hatte er einen recht unfreundlich aussehenden Hammer unterm Arm, und Spini war ohne Waffe. Zudem hätte Gewalt seiner Sache nichts genützt, und Schlimmeres, ein Verbrechen begehen, Blut vergießen, lag nicht in seinem Charakter. Über diesen Reflexionen verpaßte er aber ein anderes: nämlich hinter Rataiczaks Rücken schnell und lautlos auf dem bekannten Wege den alten Schloßflügel zu verlassen, um der Gefahr zu entrinnen, darin eingesperrt zu werden. Dazu war's leider zu spät. Der Kammerdiener wandte sich um und hielt die Laterne leuchtend über den Kopf, um einen prüfenden Blick um sich zu werfen. Dabei fiel sein Auge auf die Kiste, hinter der Spini stand; der Diener trat vor diese hin und klopfte mit dem Hammer darauf.

»Zusammenschlagen und verbrennen,« murmelte er dazu. »Holz ist sowieso schon halb vermodert. Pappe, die ich damals vors Knorrenloch genagelt, auch fort. Wahrscheinlich zerweicht. Sieht aus wie rausgefressen.«

Nach diesem Selbstgespräch wandte sich Rataiczak zum Gehen, gefolgt von Spini; doch da sich für diesen keine Gelegenheit fand, an dem Manne unbemerkt vorbeizukommen, so ward er von außen in den alten Flügel eingeschlossen, und er hörte eben noch die schwere Portiere vor der darunter verborgenen Thür in der großen Halle zuziehen. Das alles geschah so prompt, daß Spini zu einem Gewaltstreich zur Gewinnung seiner Freiheit eigentlich gar keine Zeit blieb, und jetzt sah er sich allein, eingeschlossen in dem verrufenen Teil des Schlosses während des draußen tobenden Gewitters! Freilich mußte man ihn ja am andern Morgen hören, wenn er an der verschlossenen Thür klopfte, und eine plausible Erklärung für sein Eindringen hier mußte sich ja in der Zwischenzeit bequem erfinden lassen – Gefahr war also ausgeschlossen. Dennoch war der Gedanke an die hier zu verlebenden Stunden nicht angenehm. Dieser feuchte, unheimliche Ort, diese noch unheimlichere, mysteriöse Sache unten, jenseits der Treppe – – – Spini überlief es ganz kalt, daß ihm die Zähne zusammenschlugen. Nochmals dort hinabsteigen und den Mechanismus der geheimen Thür ergründen? Wozu? Der kurze Einblick hatte ihm genug gezeigt – diese schauerliche Form unter dem schwarzen Bahrtuche! Was war klarer, als daß es das Verbrechen barg? Und warum war es nicht ins Meer versenkt worden, zum ewigen Vergessen, fern von jeder Entdeckung? Auch das war klar: der Verbrecher wagte nicht, es zu thun, wagte es nicht, gegen eine Stimme in seinem Innern, wie sie oft gegen das Gewissen rüttelt und hallt, und darum verbarg er mit Hilfe seines Helfers oder seines Hehlers lieber das entsetzliche Etwas in seinem feudalen Schloß und bedeckte es mit kostbaren Stoffen und ließ eine Sühneflamme darüber leuchten Tag und Nacht. Das also war das rote Licht von Hochwald! Nachdem Spini noch gehört, wie Rataiczaks Schritte verhallten, zog er das in der Bibliothek verlöschte Licht mitsamt dem kleinen Leuchter aus der Rocktasche, fuhr in seine Maroquinschuhe und zündete die Kerze mit einem der ihm noch übrig gebliebenen wenigen Streichhölzer an. Das Licht war dick und wenig gebrannt und konnte deshalb noch stundenlang leuchten. Spini begann zunächst damit, den Raum abzuleuchten, in dem er sich befand. Unweit der Treppe nach unten befand sich eine zweite Thür – sie war nur angelehnt und verbarg eine nach oben führende Treppe. Lieber geneigt, Entdeckungsreisen zu machen, als unten still zu sitzen bei dem draußen tobenden Wetter und der gemachten unheimlichen Entdeckung nachzudenken, bis die Tote vielleicht ihre Ruhestätte verließ und ihn zur Rache aufforderte, betrat Spini diese zweite Treppe, die von solidem Eichenholz, altersgeschwärzt, aber sonst intakt, gewunden nach oben führte und in einen saalartigen, gewölbten, aber fast leeren Raum mündete, um dessen obere Hälfte geschnitzte Holzgalerien liefen, zu denen man sowohl von unten als auch von oben gelangen konnte. Spini aber wandte sich nach der nächsten, offenstehenden Thür, zu der einige Stufen empor führten, und durchschritt dann eine Reihe hoher, meist gewölbter Gemächer mit Backsteinestrich, welche augenscheinlich die Zimmerflucht des »alten Schlosses«, der Trutzfeste an der See bildeten. Feste eichene Fensterläden schützten hier die Spitz- und Rundbogenfenster mit den kleinen, in Blei gefaßten Scheiben gegen Sturm und Wellen – durch die mächtigen, oft prächtig verzierten Kamine heulte der Wind und bewegte die größtenteils in Fetzen von den Wänden herabhängenden Leder- und Stofftapeten, daß sie ganze Wolken von Staub auf den nächtlichen Wanderer herabschütteten. Nur hin und wieder fand sich noch ein Möbel vor, uralt, wurmzerfressen und dem Zusammenstürze nahe, und aus schief hängenden Rahmen sahen wohl zuweilen ein Paar gemalte Augen verfolgend auf Spini herab. Nachdem er mehrere dieser Gemächer durchschritten, gelangte er durch Öffnen einer einfach eingeklinkten Thür in ein achteckiges Erkergemach, dessen mit goldgepreßten Ledertapeten bekleidete Wände mit Gemälden behangen waren und dessen Estrich Mosaikarbeit zeigte, während schöne alte Möbel, wahrscheinlich die Rudera aus den anderen Gemächern, hier aufgestellt waren. Spini berechnete, daß dies Zimmer die Ecke des alten Schloßflügels bilden mußte, denn man konnte vom Meer aus den Erker über dem Felsen schweben sehen, der hier das Gebäude stützte, und die eigentümliche Form dieses Erkers stimmte mit diesem ganz überein. Nach der Landseite zu aber stieß der alte Schloßteil an den Renaissanceflügel, und es fragte sich nur, ob er Verbindung mit diesem hatte. Während Spini sich diese Frage vorlegte, verlöschte ein Windstoß aus dem Kaminschlot, vor dem er stand, sein Licht, und ehe er noch nach seiner Streichholzbüchse suchen konnte, wurde sein Zweifel auf ganz eigene Art gelöst. Es öffnete sich nämlich eine nach der Landseite gelegene niedere und schmale, reich beschlagene Thür sehr leise und, wie es schien, wohlgeölt, und im Schein der Blitze sah Spini eine Gestalt hereingleiten, die ihm für den Augenblick das Blut in den Adern erstarren machte. Die Gestalt war groß und in ein weißes, schleppendes Gewand gehüllt – ein weißer Schleier verbarg sie zur Hälfte, und das Zucken der Blitze durch die bunten Scheiben des Erkers machte sie noch geisterhafter und totenähnlicher als die Finsternis. Und doch war es kein Geist, denn dem gespenstergläubigen Spini, dem die Haare zu Berge standen und die Zähne vor Entsetzen zusammenschlugen, drangen plötzlich unter dem weißen Schleier her die deutlichen Worte ans Ohr:

» What, the dickens, keeps him away?« »Was, zum Deixel, hält ihn fern?«

Spini atmete auf. Gespenster reden englisch doch nur in ihrem englischen Geburtslande oder in ihren dies Idiom sprechenden Staaten, vorausgesetzt, daß sie überhaupt reden, aber wenn sie's thun, so vermeiden sie sicher den » slang«. Und » the dickens« ist Slang, ohne alle Deutelei. » The devil« hätte ja am Ende ein Gespenst auch noch sagen können, wenn aber, im analogen Fall, ein deutscher Geist statt des »Teufels« den »Deixel« citiert, so nimmt diese Wendung dem Ausdruck entschieden das Unheimliche. Spini, der die europäischen Umgangssprachen fließend sprach, fühlte sich infolgedessen auch ungemein erleichtert, um so mehr, als ihm a tempo die rettende Idee kam, die Pforte, welche das englischen Slang sprechende Gespenst zum Eingang benutzt hatte, als Ausgang zu gewinnen. Mit ein paar langen Schritten, die einem Salto mortale glichen, suchte er die Distanz auszumessen, doch noch fehlten ihm zur Thür wenige Fuß, als das Gespenst mit einem: » Oh, my dear one!« um seinen Hals fiel, um im nächsten Moment mit dem entsetzten Ruf: » For heaven's sake – ein Schnurrbart!« um so weiter zurückzuprallen. Spini nahm sich nicht Zeit, zu untersuchen, für wen er irrtümlich gehalten worden war – die ersehnte Thür brachte ihn in einen kurzen, finsteren Gang, an dessen Ende ihn eine andere, halb angelehnte Pforte richtig zurück in den bewohnten Schloßteil beförderte. Hier blieb er einen Moment aufatmend stehen, horchte, ob das »Gespenst« ihm etwa folgte, und da alles still blieb, so strich er ein Streichholz an und sah sich um. Wie er's vermutet, so war's. Er stand in einem Seitenkorridor des Renaissanceflügels, in welchem die Gastzimmer lagen, und brauchte jetzt nur noch eine Ecke zu passieren, vorbei an einem weit auf das Meer hinausragenden Söller, der gegen die Unbill des Wetters durch Glasfenster zwischen den ihn stützenden, doppelten gotischen Säulenreihen geschützt war, und er befand sich in dem Hauptgange, wo sein Zimmer lag. Sorgsam verlöschte er sein Wachslichtchen und ging leise seinem Ziele zu, grübelnd, ob er wohl drinnen in dem geisterhaften Zimmer erkannt worden sei, wobei sich ihm unwillkürlich ein Lächeln bei Erinnerung an die drollige Situation aufzwang.

Die Glasthür zum Söller stand offen, und der Wind, der von der Seeseite kam, stieß heftig und heulend hinein in den Gang und trieb den strömenden Regen mit dem Gischt der Wellen mit sich. Der gegen das nordische Wetter sehr empfindliche Italiener bemächtigte sich bei der fatalen Wahrnehmung des eindringenden Unwetters sogleich der Thür, um sie zu schließen, und dabei zeigte ihm ein zuckender Blitz draußen auf dem Söller eine Frauengestalt, welcher der Sturm das lange offene Haar zerzauste, daß sie aussah wie eine Vision der Sturmhexe.

»Sapristi – noch ein Rendezvous?« dachte Spini verblüfft, dann aber überlegte er, daß man sich zu diesem Zweck nicht in Sturm und Regen und Gewitter, sondern unter Dach begiebt, wie es das englisch redende Gespenst vorsorglich gethan. Ein neuer Lichtschein aber belehrte ihn noch besser, denn nun eilte er selbst, des Regens nicht achtend, hinaus und stand neben der sturmumbrausten Gestalt in durchnäßtem, weißem Gewand.

»Sigrid!« rief er bebend. »Was thun Sie hier? – Sie werden sich den Tod holen!«

Sie schien ihn gar nicht zu hören. Mit starrem Blick sah sie hinaus in die empörte See, die ihren Gischt bis hinauf zu ihr spritzte; der Sturm wühlte in ihrem langen, blonden Haare, und der Regen troff nur so an ihr herab, aber sie merkte es nicht, es war, als wäre sie von Stein.

»Sigrid, kommen Sie herein,« bat Spini angsterfüllt und legte den Arm um ihren Leib, sie mit sich zu ziehen unter das schützende Dach. »Sigrid, hören Sie mich. Sie sollen mich hören! Hu –!« und er schauerte zusammen. »Welches Unwetter! Es ist ja, als ob die ganze Hölle losgelassen worden wäre!«

Da kam Leben in sie, und sie lachte hinaus in das wilde Wetter, daß es schrill und unharmonisch auf Spinis Nerven fiel.

»Ich bin auch hierhergekommen, um mit der ganzen Hölle zu ringen!« sagte sie hart, und sich mit einem jähen Ruck aus seinen Armen wendend, eilte sie hinein ins Schloß zurück, und er konnte nichts thun, als ihrer feuchten Spur folgen.

»Wann kann ich Sie ungestört sprechen, Sigrid?« fragte er, ihr nacheilend. »Ich habe Ihnen Wichtiges zu erzählen –«

»Was geht's mich an?« tönte es zurück. »Lassen Sie mich.«

»Es geht Sie an – uns beide,« flüsterte er heftig, denn schon standen Sie vor Sigrids Zimmerthür. »Sie müssen sich doch bewußt sein, was es gilt! Nicht mehr und nicht weniger als unser beider Lebensglück –«

Sigrid legte die Hand auf die Thürklinke – unnötig laut, wie es Spini deuchte, der zum Glück in dem nur durch eine Nachtampel spärlich erleuchteten großen Korridor ihr Zusammenschauern nicht sah oder doch es auf andere Ursachen schob.

»Gut denn, Sigrid! Ich erwarte morgen ein Zeichen, wann ich Sie sprechen darf. Vielleicht reizt es Sie aber heut' noch zu hören, daß wir unseren Widersacher, den Fürsten, jetzt in unseren Händen haben!«

Sigrid ließ ihre Hand jäh von der Thürklinke herabfallen.

»Was soll das heißen?« fragte sie atemlos.

Spini sah sich scheu um.

»Die Erzählung jenes Reitknechtes in Rom – Sie erinnern sich doch dessen? –«

»Ja!« stieß sie hervor, mit dem Fuße stampfend vor Ungeduld.

»Nun, sie ist wahr! Der Fürst hat sein Opfer mit Hilfe seines Helfers oder Hehlers hier im Schlosse verborgen.«

»Sie lügen!« sagte Sigrid kalt, aber mit entsetztem Blick.

»Wollen Sie Beweise?« entgegnete er heftig, aber mit gedämpfter Stimme. »Sie sollen sie haben. Meine schöne Sigrid soll mich nicht ungestraft der Lüge zeihen.«

»Vorwärts!« rief sie.

Spini machte große Augen.

»Wie, jetzt? Zu dieser Stunde? Und Sie in diesem feuchten, dünnen Gewande – –«

»Das ist meine Sache, Herr Marchese. Wo sind Ihre Beweise?«

Der Italiener wiegte den Kopf hin und her, den stechenden Blick auf dem schönen, erregten, aber totenblassen jungen Mädchen ruhen lassend – er überlegte. War der Weg, den er eben gekommen, frei? Höchst wahrscheinlich nicht, denn die Geister, die im alten Schloßflügel ihr Wesen trieben, konnten ihre Konstitution wegen nicht durchs Fenster oder durch den Kamin entkommen sein. Und ihnen begegnen? Stand Sigrids guter Ruf da nicht in Gefahr? Und wenn dem so war, mußte das nicht seiner Werbung um sie den nötigen Druck geben?

»Nun?« unterbrach Sigrid diese blitzschnellen Erwägungen voll Ungeduld.

»Aber in diesem feuchten Kleide –,« versuchte er vor sich selbst noch eine Einwendung.

»Nun?« wiederholte sie, außer sich vor innerer Erregung.

Und er gab nach. Ohne eine weitere Einwendung schritt er ihr voran, den Weg zurück, den sie gekommen; doch als sie zum Eingänge des alten Schloßflügels kamen, ohne einer Seele begegnet zu sein, stockte er.

»Ich muß Sie jetzt führen, Sigrid,« flüsterte er. »Das Licht in meiner Tasche müssen wir schonen für unsere Entdeckung. Graut Ihnen davor?« fragte er, als Sigrid hörbar zusammenschauerte.

»Vorwärts!« antwortete sie mit ganz fremder Stimme, und er legte den linken Arm um ihre schlanke Figur – wie sie glaubte, um sie sicher zu führen, und doch that er's nur in der ihr unbekannten Absicht, andere sehen zu lassen, wie er mit ihr stand, um andere über die Absicht dieses nächtlichen Ganges zu täuschen! Schweigend durchschritten sie so den kurzen dunkeln Durchgang, der den Renaissanceflügel von dem alten Schlosse schied und in jenes Erkergemach führte, dem er vorhin so eiligst zu entrinnen getrachtet.

Sein scharfer Blick entdeckte in dem dunkeln Zimmer sogleich die weiße Silhouette am Erkerfenster, die sich scheu in die Ecke drückte, doch es war unmöglich, zu erkennen, ob noch ein zweiter Schatten vorhanden war, jener Schatten, für den man ihn gehalten.

»Welche furchtbar beklemmende Atmosphäre – wie in einer Gruft,« sagte Sigrid benommen und matt.

»In jenen Zimmern dort ist's besser,« erwiderte er laut. »Komm, folge mir, Sigrid, mein Lieb!«

Das von dem Getose des Sturmes und der See, von ihren Gedanken und der Moderluft dieser Zimmer befangene junge Mädchen folgte ihm willenlos und ohne die vertrauliche Anrede zu rügen. Es sah schlimm aus in ihrem Kopfe, in ihrem Herzen und ihrer Seele, und was da drinnen tobte und flüsterte, machte ihr Ohr taub für die Geräusche der Außenwelt. Darum achtete sie auch nicht auf Spinis Worte und hörte nicht das leise, höhnische Kichern, das zwar nicht geisterhaft, sondern recht menschlich durch den öden Raum schallte, wie der Ruf des Spottvogels aus weiter Ferne. Spini aber hörte es und antwortete durch ein lautloses Lächeln, das viel Triumph ausdrückte.

Er zog Sigrid durch mehrere der dunkeln Zimmer, hielt dann an und entzündete das Licht wieder, das er noch in der Rocktasche hatte, wo er es nach dem Verlöschen im Erkerzimmer geborgen. Er erschrak, als der erste Schein der Kerze ihm Sigrids Angesicht zeigte, das weiß und verfallen von den inneren Kämpfen vor ihm auftauchte.

»Wo sind wir?« fragte sie um sich schauend.

»Im alten Schloßflügel,« erwiderte er, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Wir sind auf dem Wege, zwei Geheimnisse zu ergründen – das dunkle Geheimnis aus dem Leben des tadellosen Ehrenmannes Marcell Hochwald und – das Geheimnis des roten Lichtes. Und doch sind die zwei nur – eins.«

Ein Schauer rann durch Sigrids Glieder, daß sie für einen Moment wankte – nicht vor der Entdeckung des Furchtbaren, das ihrer wartete, denn ihr Mut verließ sie so leicht nicht – nein, das Alleinsein vielmehr mit diesem Manne, den sie haßte, verachtete und verabscheute, den sie zu verraten und abzuschütteln trachtete, sobald als nur möglich – die Erkenntnis dieser Thatsache machte ihr plötzlich den Atem stocken. Wie, wenn er ihre wahren Gefühle erkannt und sie nur hierher gelockt hätte, sich an ihr zu rächen? Und sie hielt ihn zu allem fähig, glaubte ihn in der Wahl seiner Mittel nicht wählerisch. Eine eisige Kälte huschte durch ihre Glieder, und in das Wirrsal ihres Geistes, in das sie sich im Laufe des vergangenen Tages tiefer und tiefer eingearbeitet, brachte diese Kälte der nackten Furcht plötzlich eine grelle Klarheit.

Sigrid wußte jetzt auf einmal, was sie wollte. Vorher, als nach dem endlos langen Tage endlich die Nacht gekommen war, hatte sie halb vergessen, was ununterbrochen den Kreislauf in ihrem Gehirn gemacht: nämlich, daß sie Marcell Hochwald aus den Fesseln seiner unwürdigen Ehe mit der Tochter der Gerichteten erlösen und ihn über diese elende Epoche seines Lebens trösten müsse. Und diese Wahnvorstellung sang und klang in ihrem Kopfe, bis sie in ein vages Etwas verschwamm, dessen sie sich deutlich nicht mehr erinnern konnte. Da hatte der erste Donnerschlag und der prasselnde Regen sie aufgescheucht aus einem schlaflosen Schlummer. Mechanisch, unwissend dessen, was sie that, war sie hinausgeeilt auf den Söller in Sturm, Blitz und Regen – aber das Tosen der Elemente hatte sie noch unruhiger gemacht, noch elender und hilfloser vor den Dämonen, die sich ihrer bemächtigten. Und nun auf einmal diese Klarheit, geboren aus Furcht vor den seltsamen, fascinierenden Augen, die sie forschend anblickten!

»Sigrid, Sie sind krank!« unterbrach Spini die bange Pause.

Das brachte sie wieder zu sich. Nein, ihm nur nicht zeigen, daß sie ihn fürchtete! In seiner Gewalt war sie ja doch nun einmal, und wenn er in ihren Gedanken las, dann war alles vorbei – alles! und ihre Zukunft lag im Staube! Ihre Zukunft? Ja, sie wußte plötzlich, was ihre Zukunft war: ein wonnevolles Leben an der Seite des Mannes, den sie mit einer unbesiegbaren, täglich wachsenden Leidenschaft liebte, und darum vielleicht noch mehr liebte, als sie wußte, daß sein Herz nicht ihr gehörte. Aber es würde ihr gehören, wenn sie seinem Kinde erst die Mutter ersetzte, wenn er ihre Hingabe sah, wenn – Iris nicht mehr da war.

Bei diesem Gedanken schüttelte ein solcher Frostschauer ihren Körper, daß ihr die Zähne zusammenschlugen. »Lassen Sie mich umkehren.« stieß sie leise hervor, »ich glaube, ich bin krank –«

»Das glaube ich auch, Sigrid – sagte ich's Ihnen nicht gleich, es sei thöricht, in diesem dünnen, durchnäßten Kleide den Gang in die kalten, gruftartigen Räume zu machen?« erwiderte Spini vorwurfsvoll und drückte sie fester an sich.

Sie schauerte noch heftiger zusammen, doch duldete sie seine Zärtlichkeit, um sich nicht dem zu verraten, den sie verriet. »Führen Sie mich zurück zu meinem Zimmer,« murmelte sie matt und lehnte den Kopf an seine Brust. Sie täuschte damit den stets Mißtrauischen auch völlig über die Motive ihres Rückzuges.

Als sie zurück kamen in den Erker, sah Spini mit einem Blick, daß er leer war – die weiße Gestalt schien des Wartens müde geworden zu sein.

»Hier ist's wohnlicher – wollen Sie nicht etwas rasten?« fragte Spini, auf einen Lehnstuhl deutend, der neben der schwarzen, gähnenden Kaminhöhle stand.

»Ich – ich möchte lieber zurück in mein Zimmer – mir ist nicht gut,« erwiderte Sigrid, und ihr weißes Gesicht mit den fieberhaft glänzenden Augen strafte sie sicher nicht Lügen.

Schweigend führte er sie weiter und verlöschte sein Licht, als der schwache Schimmer der tiefgeschraubten Korridorlampe wieder vor ihnen auftauchte. Sigrid benutzte den Moment, sich seinen stützenden Armen zu entziehen. »Bleiben Sie hier, bis ich in meinem Zimmer bin,« flüsterte sie mit dem alten, harten Ton.

»Sigrid –«

»Bedenken Sie, wenn jemand uns sähe,« fiel sie ihm lebhafter ins Wort.

»Gesetzt, es hätte uns schon jemand gesehen!« wandte er ein, den Blick voll auf sie geheftet.

Sie wurde noch blasser als zuvor, und aus ihren Augen blitzte es drohend.

»Wozu quälen Sie mich immer mit solchen unmöglichen Möglichkeiten?« flüsterte sie heiser. »Hat jemand uns gesehen, dann war's unser letzter Gang, Signore Spini!«

»Sicherlich – denn der nächste führte uns in die Kirche,« erwiderte er mit einer Überlegenheit, die kälter und niederschmetternder nicht sein konnte.

Aber Sigrid hatte ihren ganzen Mut wiedergefunden, nun sie sich nicht mehr bedingungslos in der Gewalt dieses Menschen wußte. Sie warf den Kopf zurück und sah ihn fest an.

»Wie sicher Sie Ihrer Sache sind!« meinte sie hohnvoll.

»Ganz sicher!« sagte er, tief zu ihr herabgebeugt, die merkwürdigen Augen fest auf sie gerichtet.

»Warum?« fuhr sie zurück. »Ich habe nichts versprochen –«

»Sigrid,« sagte er drohend, »haben Sie mich je, auch nur eine Viertelstunde lang, für einen Menschen gehalten, der mit sich spielen läßt?«

Das warnte sie beizeiten.

»Mir ist kalt,« sagte sie zusammenschauernd.

»Ja, ja – Sie sind krank. Sie fiebern,« rief er, schnell beschwichtigt durch ihren sanften Ton. »Gute Nacht denn, Sigrid!«

»Gute Nacht,« wiederholte sie mit niedergeschlagenen Augen. »Und, nicht wahr – das, von dem Sie vorhin sprachen – die – die – grausige Entdeckung, die Sie unten gemacht haben wollen – das ist doch nur eine Täuschung –«

»Sie ist's nicht! Wie könnte das noch eine Täuschung sein, wenn meine eigenen Augen doch in jene geheimnisvolle Gruft gesehen haben?« flüsterte er eifrig. »Und warum, wenn sie kein Verbrechen verheimlicht, warum wird sie den Augen der Welt verborgen, warum ist ein Versteck dazu ausersehen, von dessen Vorhandensein anscheinend nur der Fürst und sein sauberer Kammerdiener wissen?«

Und mit hastigen Worten berichtete Spini, was er am Abend zuvor den Fürsten mit Rataiczak hatte reden hören. »Zweifeln Sie noch, Sigrid?« schloß er.

»Man müßte der Sache doch auf den Grund kommen,« erwiderte sie zögernd. »Was Sie gesehen haben, schien Ihnen doch eben nur ein Sarg zu sein –«

»Nun, wir waren auf dem halben Wege, uns Gewißheit zu verschaffen –«

»Thun Sie's allein, wenn's heut' noch sein muß,« erwiderte sie matt und zerstreut. »Oder besser – Sie lassen's ganz,« fügte sie hinzu. »Was geht's uns an?«

»Nun, bei Gott, ich dächte doch –« fuhr er lauter auf als nötig war, doch sie hielt ihm erschrocken die Hand vor den Mund.

»Ja, ja,« flüsterte sie, »ich weiß nicht, was ich rede – – es ist so spät schon – – sagten wir einander nicht schon gute Nacht? Doch, doch – wir thaten es. Wollen Sie warten bis morgen? Morgen gehen wir bei Tage zusammen hinab, nicht wahr? Wir verabreden die Stunde noch vor dem Lunch, ja?«

»Ja,« erwiderte er auf die fieberhaft schnell hervorgesprudelten Worte sehr bedächtig. »Vielleicht erfahre ich auch vorher selbst mehr. Und bin ich meiner Sache erst sicher, dann, Sigrid, zögere ich keine Stunde länger, dann soll das Geheimnis mir dienen, Ihre Hand zu erringen – mag es dann wieder in sein Dunkel zurücksinken.«

»Zurücksinken,« wiederholte sie nickend, mit seltsamem Blick.

»Jawohl. Mein Ehrgeiz geht nicht dahin, einen Edelmann vors Gericht zu bringen.«

»Ein seltener Edelmut,« sagte Sigrid, aber er konnte nicht heraushören, ob sie's bewundernd oder spöttisch meinte. Er zuckte die Achseln.

» Anch' io sono gentilhuomo,« sagte er. »Ich kenne nur den einen Lebenszweck: Sie zu erringen, Sigrid. Dafür giebt es kein ›zurück‹ für mich mehr. Und auch für Sie nicht,« fügte er bedeutungsvoll hinzu.

»Nein?« sagte sie mit einem ihrer charakteristischen Seitenblicke unter den gesenkten, hellen Wimpern her, ein Blick, der in Spini von Anbeginn Leidenschaft, Zorn – kurz, die heterogensten Empfindungen hervorgerufen.

»Absolut: nein!« sagte er mit einem Ernst und mit einem Blick, bei dem es Sigrid eiskalt überlief.

»Also gute Nacht,« nickte sie schnell gefaßt und ging langsam, von ihm bis zur Thür beobachtet, in ihr Zimmer zurück. Drinnen aber schob sie mit einem erneuten Anfall wahnsinniger Furcht leise, ganz leise den Riegel vor und drehte den Schlüssel doppelt um – dann lauschte sie mit allen Sinnen aufs äußerste angespannt hinaus – – – stand er nicht jenseits der Thür und bohrte seine furchtbaren Augen durch dieselbe bis in die Tiefen ihrer Seele? Doch nein, draußen verhallte ein leiser, kaum hörbarer Schritt – langsam wich die Furcht von ihr, und sie wandte sich in ihr Zimmer zurück. Und damit kamen die alten Gedanken wieder über sie, überwältigend, alleinbeherrschend, kreisend um den einen, peinvoll flammenden Mittelpunkt: »Und wenn Iris nicht mehr da ist –« – – – – – – – –

Der nächste Tag war sonnenlos, unfreundlich, stürmisch und kühl, die Folge des nächtlichen Gewitters, und die See ging auch ziemlich hoch und machte sich recht deutlich hörbar. Die regnerisch trübe Stimmung lag auch über der Mehrzahl der auf Hochwald beim Lunch versammelten Gäste. Madame Chrysopras erklärte, von dem Sturm eine Migräne davongetragen zu haben, die sie » hors d'elle même« brächte, Boris erschien mit gerunzelter Stirn wie die verkörperte Sorge, und Fuxia sah aus, als wenn sie geweint hätte. Auch Hans Aus dem Winkels sonst so liebenswürdig leichte Art schien heut' wie erzwungen, Sigrid hatte sich entschuldigen lassen, und Spinis dunkles Gesicht schien in der regnerischen Beleuchtung wie mit einer grünlichen Patina überzogen – auch er war wortkarg und schien zerstreut. Selbst über dem sonnigen Wesen von Iris schwebte ein leichter Schleier, denn der kleine Siegfried war heut' Nacht unruhig gewesen, und wenn's der herbeigeholte Hausarzt auch für ganz ungefährlich erklärt hatte und der Kleine jetzt den nächtlichen Schlaf mit rosigen Wangen und geballten Fäustchen aufs beste nachholte, so zitterten die an seinem Bettchen unter Blitz, Donner und Sturm verbrachten Stunden doch noch in Iris nach. Nur Fürst Hochwald, der seefeste und sturmgewohnte, schien ganz in seinem Gleichgewicht, und geradezu aufgeräumt war der Professor, der in seinem gottgesegneten Schlafe von dem Unwetter überhaupt nichts gehört und bei seiner Arbeit im Archiv während der Morgenstunden Dokumente entdeckt hatte, die sein Herz mit Entzücken erfüllten.

»Hören Sie, mein liebster Hochwald, nun bringen Sie mich überhaupt nicht eher aus der Bude, bis ich diese Dokumente studiert und kopiert habe – und sollte ich noch um Nachurlaub einkommen,« hatte er dem Fürsten im höchsten Enthusiasmus versichert.

»Desto besser, liebster Professor – dabei gewinnen wir ja nur,« sagte Hochwald, aufrichtig erfreut.

Ohne von der fast allgemeinen gedrückten Stimmung etwas zu bemerken oder Notiz davon zu nehmen, plauderte der gute Professor während des Lunch in der Freude seines Herzens im schönsten Sächsisch über die heterogensten Dinge und verschwand nach aufgehobener Tafel wieder im Archiv mit einem drolligen Dankgebet für das schlechte Wetter, das einem doch erlaubte, mal einen Tag in Arbeit zu schwelgen ohne die pflichtgemäßen Spaziergänge, der Sommerfrische Zweck.

Da auf Hochwald persönliche Freiheit nach englischem Muster herrschte, das heißt jeder thun und treiben konnte, was er wollte, so zerstob auch jetzt wieder die ganze Gesellschaft. Iris legte sich auf ihres Gatten Bitte etwas zur Ruhe nieder, und Sascha bat ihren Onkel um eine kleine Sitzung zur Farbenskizze seines Porträts.

Da das Licht in Fürst Hochwalds Zimmer hierfür günstig war, so installierten sich Onkel und Nichte dort, und Sascha begann mit Eifer die ihr liebe Arbeit. Sie sprachen dabei von diesem und jenem, von Iris und dem Kleinen, und dann meinte Sascha: »Hast du's nicht auch bemerkt, Onkel, welche merkwürdig gedrückte Stimmung über der ganzen Tafelrunde lag? Es können doch unmöglich alle Migräne von dem Sturm gekriegt haben!«

»Es wäre wenigstens merkwürdig genug, Sascha. Ich meine aber, du selbst bist wie immer,« erwiderte Hochwald.

»Ich hoff' es,« meinte Sascha mit einem kleinen Seufzer. »Und doch, Onkel, bereite ich mich auch auf einen Sturm im Wasserglase vor und gestehe, daß er mich etwas nervös macht.«

»Ah – du hast deinen Entschluß gefaßt?«

»Ja.« Es leuchtete auf dabei in ihren kleinen Augen. »Ich muß vorwärts, Onkel – die Dilettantengrenzen werden mir zu enge, ich fühle die Kraft in mir zur Künstlerschaft. Und wenn ich doch weiß, daß ich zur Höhe kann, soll ich dann in der Tiefe bleiben und mein Pfund vergraben? Das hieße ich unverantwortlich handeln an mir selbst!«

»Und ich stimme dir vollkommen bei,« rief Hochwald mit jenem warmen Ton der Überzeugung, der so unmittelbar zum Herzen spricht.

Sascha nickte.

»Ich weiß es, Onkel, und rechne auch auf deine Hilfe,« sagte sie dankbar. »Nun, also, um den Sturm gehörig und wirksam einzuleiten, habe ich mich mit Professor Ludwig in München in Verbindung gesetzt. Du weißt, wie ich seine Porträts bewundere, denn in ihnen verbindet sich die höchste Meisterschaft mit einer Auffassung, die frei von allem Hergebrachten den geistigen Ausdruck so wunderbar wiedergiebt. Bei diesem Meister zu studieren war immer mein Ziel, und trotzdem er Schüler nur in den seltensten Fällen, Schülerinnen aber nie annimmt, wagte ich's doch, ihm mehrere Proben meines Könnens zuzusenden. Vor einer Woche etwa hatte ich die Antwort, adressiert an Herrn A. Chrysopras, worin der Meister mir einfach schrieb, ich möge kommen, denn in seinem Atelier stünden so viel Staffeleien für mich bereit, wie ich haben wollte. Nun denke dir meine Freude, Onkel – nein, male dir meine Seligkeit aus! Und doch mußte ich noch zitternden Herzens zurückschreiben und bekennen, daß ich kein ›Herr‹ sei, daß der Anfangsbuchstabe ›A‹ Alexandra bedeute. Heut' früh kam die Antwort – Onkel, mir klopfte so das Herz, daß ich die Buchstaben gar nicht erkennen konnte. Und dann las ich – ohne Überschrift und sonstige Ceremonien: ›Es bleibt dabei. Angesichts der Proben in meiner Hand brauche ich mich nicht zu schämen, auch mal einem Grundsatz ungetreu zu werden – – eine solche Charakterschwankung kann mich nur ehren. Also: kommen Sie. Ludwig.‹ Was sagst du dazu?«

»Ich bin stolz auf dich, Sascha,« sagte Hochwald und stand auf, seine Nichte auf die Stirn zu küssen. »Den Sturm nehme ich allein auf mich – er kann übrigens nicht schlimm werden angesichts dieses Sieges. Die paar unceremoniellen Zeilen auf dem groben Wisch da sind dein Freibrief zur Unsterblichkeit, Sascha!«

»O, Onkel,« rief Sascha und drückte dem Fürsten mit einem überglücklichen Blick, der sie förmlich verklärte, beide Hände. »Siehst du, das schoß mir auch durch den Sinn, als ich den Brief gelesen, und ich sank auf die Kniee und bat Gott, mich nicht zu verlassen, nicht plötzlich meine Kraft zu lähmen und mich zu Rückschritten zu zwingen, wo doch alle Thore weit für mich geöffnet sind. Aber dennoch – du mußt nicht glauben, daß das Eindruck machen wird auf Mama!«

Fürst Hochwald lächelte zuversichtlich.

»Verlaß dich nur auf mich, Sascha – ich werde den Eindruck schon mit Hochdruck betreiben,« sagte er heiter.

»Betone nur, daß ich ja doch keine Aussicht hätte, verheiratet zu werden,« rief sie im gleichen Ton, »mal' mich ihr noch häßlicher, als sie mich sowieso schon findet – und ich's ja auch bin,« setzte sie mit der nur ihr eigenen, jeder Bitterkeit entbehrenden Art hinzu. »Das zieht vielleicht –«

»Sascha, wer dich kennt, findet dich aber gar nicht häßlich,« fiel ihr Hochwald mit großer Herzlichkeit ins Wort.

»Guter Onkel,« sagte sie gerührt. »Ich glaub' dir aufs Wort, aber siehst du – Liebe kann ich doch niemals inspirieren, das heißt jene Liebe, wie du sie zu Iris hegst – –«

Und sie seufzte tief, tief auf.

»Doch gleichviel,« fuhr sie dann mit mattem Lächeln fort, »ich bin ja durch meine Kunst so reich begnadigt, daß es mich für die Mißhandlung der Natur auch reich entschädigen müßte, wenn – ja, wenn eben das dumme Herz nicht so laut dazwischen schreien und auch Rechte haben wollte.« – Sie sagte das so leise, daß es kaum zu verstehen war.

»O Sascha, Sascha,« sagte der Fürst fast ebenso leise, schmerzlich bewegt. »Ich wollte, ich könnte mit deinem edeln, vortrefflichen Herzen trauern. Aber – aber –«

»Ja, ja, Onkel, ich weiß – ich weiß,« fiel sie ihm abwehrend hastig ins Wort, fliegende Röte auf den Wangen.

Erst nach einer geraumen Zeit, während der auch Hochwald zartfühlend schwieg, nahm sie wieder das Wort: »Ich kann Mama aber den Sturm wirklich nicht ersparen – es drängt und treibt zu mächtig in mir. Die arme Mama! Sie wird's natürlich als Sorge behandeln und sich Kummer machen, aber ich fürchte, ich fürchte, beides wird sie mit Boris und seiner Frau noch früher erleben. Da ist nicht alles, wie's sein soll, und ich fühle manchmal den ehrlichen Wunsch in mir, die süße Fuxia rechtschaffen zu beuteln.«

»Hm – auch darin hast du meine Sympathien,« sagte Hochwald. »Aber hast du sonst noch, außerhalb der berechtigten Eigentümlichkeiten der holden Fuxia, Grund, anzunehmen, daß im Hause Ukatschin-Chrysopras nicht alles in Ordnung ist?«

Sascha zögerte einen Moment.

»Nun,« meinte sie dann aufsehend, »die Art und Weise, wie sie Herrn Aus dem Winkel die Cour macht – Onkel, das gehört doch eigentlich nicht in dieses Haus. Das ist eine – eine Rücksichtslosigkeit gegen dich und Iris, und ich habe gute Lust, Boris das unumwunden zu sagen.«

Hochwald überlegte.

»Das wäre vielleicht der beste Weg – gefährlich sind solche Einmischungen immer,« erwiderte er dann. »Noch haben wir ja allen Grund, anzunehmen, daß Fuxia ihre Verehrung nicht der Person des Künstlers maßlos widmet, noch ist die Sache, wenn Aus dem Winkel sie ebenso auffaßt, harmlos, wenn auch für vernünftige Leute ärgerlich anzusehen, die in einer anderen Kultursphäre aufgewachsen sind –«

»Nein, Onkel,« fiel Sascha ihm ins Wort, »nein! Harmlos ist die Sache nicht, behaupte ich. Mein Gott, es ist ein heikles Ding, eine undankbare und unsympathische Sache, den Angeber zu spielen, aber unter uns – ich habe gestern Abend gesehen, wie Fuxia nach dem Diner Herrn Aus dem Winkel ein Billet zusteckte. Na, das geht doch über die Verehrung der Kunst! Er hat ja als Künstler und wohlerzogener Mensch sein Gesicht natürlich in der Gewalt, aber mir wollte es scheinen, als ob er etwas verblüfft ausgesehen hätte –«

»Alle Wetter, ja – das ist wirklich stark, Sascha!« rief der Fürst. »Da müssen wir doch ernstlich überlegen, was zu thun ist. Sollen wir's Boris sagen? Es wird wohl nichts anderes übrigbleiben. Oder Fuxia selbst verwarnen? Ich glaube, sie hat vor mir noch so eine Art von Respekt, wenigstens habe ich das Gefühl, als traute sie mir nicht recht zu, daß ich ihre Extravaganzen bewundere. Im übrigen aber –«

Er kam nicht weiter, denn es klopfte, und auf das »Herein« Hochwalds erschien niemand anders als Boris selbst, das Gesicht immer noch mürrisch und die Stirn gerunzelt.

»Was? Du hier, Sascha?« sagte er sichtlich unangenehm überrascht.

»Eine Thatsache, die dich sehr zu freuen scheint,« war die prompte Erwiderung.

»Na, also ein anderes Mal,« meinte Boris wütend und wollte wieder hinaus.

»Hast du mit mir sprechen wollen?« fragte Fürst Hochwald.

»Ja – nee – das heißt –,« stotterte Boris und wurde ganz rot dabei.

»Na, dann heraus mit der Sprache, alter Junge,« ermunterte der Fürst. »Du wirst dich doch vor Sascha nicht genieren?«

»Ich gehe ja schon,« rief letztere lachend, indem sie aufstand. »Wenn Boris seinen Kabinettsvortrag beendet hat, rufst du mich wohl, Onkel – ich gehe indessen in die Bibliothek. Dann mußt du mir schon noch zehn Minuten für diese Skizze opfern –« Damit winkte sie Hochwald mit den Augen bedeutungsvoll zu und verschwand durch die zur Bibliothek führende Thür.

»Nun stehe ich dir ganz zur Verfügung,« sagte der Fürst, als Sascha hinaus war. »Du machst ja ein Gesicht wie acht Tage Regenwetter! – Was giebt's? respektive: was hat's gegeben?«

»Ach, nischt –,« rief Boris, unbehaglich hin und her tretend wie ein Mensch, der nicht recht weiß, wie er anfangen soll.

»Na, dazu brauchtest du doch die arme Sascha nicht hinauszubugsieren,« meinte Hochwald lächelnd.

»Die arme Sascha! Die dumme Sascha!« erboste sich Boris plötzlich in sehr überflüssiger Weise. »Wenn die Gans nicht hier saß, hätte sie mich auch nicht aus dem Text bringen können.«

»Sie verschwand aber wirklich sehr schnell und diskret,« verteidigte Hochwald seine Nichte mit Humor.

»Ich hätte sie auch sonst auf den Trab gebracht,« murrte Boris in übelster Laune weiter, unter der sich aber eine gehörige Dosis Verlegenheit recht durchsichtig verbarg.

Fürst Hochwald mußte sich einen Moment abwenden, um nicht zu lachen.

»Wenn Sascha das Verbrechen, dir in den Weg gekommen zu sein, in deinen Augen genügend gesühnt hat, dann komme nur immerhin zur Sache, lieber Junge,« sagte er dann zuredend.

»Die verflixten Schuhbänder!« schimpfte Boris jetzt los, indem er entrüstet auf seinen linken Fuß zeigte, an dessen beängstigend zugespitzter Beschuhung aus kariertem Stoff mit sandalenartigem Lederschmuck sich wirklich das seidene Band gelöst hatte. »Immer geht der Jux auf und schlumpert einem um die Füße, und wenn man drauf tritt, fällt man rettungslos in den ,… Warum hat noch kein solches Rindvieh von Schuster einen Patentverschluß erfunden für Strand-, Tennis- und andere Schuhe? Ja, allen möglichen Blödsinn kleistern die Kerls auf die Schuhe – – aber daß die Bänder aufgehen können, das fällt keinem in seinem beschränkten Schafskopf ein! Keinem!«

Hochwald rang während dieses überlauten Ausbruches mit allen Mächten, aber er gewann es über sich, scheinbar ganz ernst und bei der Sache bleibend zu antworten.

»Du wirst eben die Bänder doppelt knüpfen müssen, lieber Boris. Und wenn du meinst, dies Thema erledigt zu haben –«

»Doppelt knüpfen!« Boris warf über eine solche Ignoranz einen flehenden Blick gen Himmel. »Lieber Onkel, dann kriegt man die Dinger nicht mehr auf. Doppel knüpfen! Jawohl! Und wenn man sie dann wutentbrannt aufschneiden will, dann ist keine Schere und kein Taschenmesser zu finden, und der Kerl, mein Diener, thut dann noch, als ob ich sie gefressen hätte.« – Mit diesen Worten zog Boris den Rock aus, warf ihn auf einen Sessel und setzte sich dann mit einer kühnen Bewegung – einer Meisterleistung in ihrer Art, auf den Teppich, den Fürsten den Rücken mit einem seidenen Westenrückenteil zeigend. In dieser Stellung begann er dann das aufgelöste Schuhband wieder zu knüpfen. »Na ja, das Zeugs da kann ja nicht halten,« schimpfte er dazu weiter. »Glatt wie Seife – muß ja aufgehen. Uff! Das kann mich schon geradezu wütend machen. Apropos Onkel, was ich sagen wollte – ich möchte die Schuster alle hängen – ich wollte dich nämlich um was bitten –«

»Schön, lieber Boris, das freut mich. Aber willst du nicht lieber wieder aufstehen –?«

»Da ist das Gelumpe wieder auf!« verneinte Boris die Frage energisch und erhitzt. »Es ist, um ein Nilpferd zu küssen! Onkel, kannst du mir dreitausend Mark pumpen?«

So, nun war's glücklich heraus und Boris sprang mit gleichen Beinen wieder in die Höhe, ganz rot im Gesicht, wie wir zu seinem Ruhme gern verkünden wollen.

Fürst Hochwald war vor dieser Frage freilich sichtlich zurückgeprallt.

»Aber natürlich, mit Vergnügen, lieber Junge,« rief er indes schnell gefaßt. »Verzeih',« setzte er nun lachend hinzu, »daß ich ein erstauntes Gesicht gemacht habe – aber der Reiz der Neuheit, von einem Millionär angeborgt zu werden, wirkte für den Moment überwältigend, besonders da heut' früh erst ein Brief an Fuxia durch meine Hände ging, der mit zehntausend Mark beschwert war.«

In Boris' Zügen kämpfte es wie bei einem Kinde, das mit Zorn und Weinen ringt.

»Millionär! – Jawohl! Appelkuchen,« murrte er.

Fürst Hochwald wurde sofort ernst.

»Es steht doch nicht flau mit Fuxias Vermögen?« fragte er.

»I wo,« machte Boris wegwerfend. »Der Mammon ist ganz all right. Aber siehst du, Onkel, wenn du deinem Dackel 'ne Wurst so hoch hängst, daß er beim höchsten Sprung, den er danach machen kann, die Wurst nur riecht, aber nicht mehr ganz mit der Nase 'rankommt – da hast du mein Verhältnis zu Fuxias Vermögen. Riesiger Mammon, sag' ich dir! Der ist die Wurst – ich bin der Dackel. Und wenn Fuxia heut' zehntausend Millionen mit der Post gekriegt hätte – – ich würde nicht zehn Pfennige davon sehen. Nu eben!«

Hochwald schüttelte ernst mit dem Kopfe.

»Aber Boris, wie hat das nur so kommen können?« fragte er nach einer Pause, während der Boris sich die kurzen Haarstoppeln auf seinem Kopfe mit zwei Taschenbürsten bearbeitete.

Boris zuckte mit den Achseln.

»I kolossal einfach,« sagte er, im Grunde seelenfroh, daß er das Herz einmal ausschütten konnte. »Als wir uns nach der Trauung ins Coupé setzten und nach Rom abreisten, da sagte sie: ›Um allen Irrtümern vorzubeugen, dear old boy – mein Vermögen werde ich auch in Zukunft allein verwalten. Zu so was muß man a sharp one sein – there.‹ Hübscher speech, was? Nun hatte ich aber noch 'n paar alte Bären, Onkel – du weißt schon –«

»Ja, ja. Warum bist du nicht vorher damit zu mir gekommen?«

»I, nu siehste, Onkel – – du hast mir ungebeten immer so viel geschenkt – – da hab' ich mich halt geniert,« gestand Boris, indem er die Bürsten wieder ins Etui steckte.

»Das macht dir Ehre, Boris, aber ich bedaure es doch,« sagte Hochwald herzlich. »Nun, und dann?«

»Na also, ich sagte es Fuxia. Nicht wahr, Onkel, es war doch ganz natürlich, daß ich's Fuxia sagte? Na ja – – Fuxia sagte, ich sollte mir meine Schulden nur hübsch von meiner Mama bezahlen lassen – ihr Geld wäre sauer verdient und nicht dazu da, um verschleudert zu werden. Bon! Na also, von der Sache haben wir nie wieder geredet. Es ist wahr, Fuxia trägt die Kosten unseres Haushaltes ganz, und ich darf mich darin als ihr freundlichst per Trauung eingeladener Gast betrachten, den man nicht gut an die Luft setzen kann, trotzdem ich ihr in diesem Punkte die merkwürdigsten Dinge zutraue. Taschengeld kriege ich auch nicht.«

Hochwald war empört.

»O über diese unseligen Geldheiraten!« rief er. »Doch da nützt freilich keine Rede mehr. Aber ich spreche dich nicht frei, Boris! Du bist der Mann, und deine Sache ist es, dir in deinem Hause Autorität zu verschaffen!«

»Heirate du doch mal Fuxia, Onkel, dann wirst du ja sehen, wer die Autorität haben kann,« schlug Boris dem Fürsten ganz gemütlich vor; in Wahrheit stand sein Zorn aber im Stadium der Weißglut.

Hochwald ignorierte die freundliche Aufforderung.

»Es ist nicht zum glauben!« sagte er. »Und das läßt du dir gefallen? Hast du denn Fuxia noch niemals dargelegt, wie unwürdig dies Verhältnis ist?«

»Ob ich's gerade unwürdig genannt habe, weiß ich nicht, aber ›scheußlich‹ hab' ich sicher gesagt,« erwiderte Boris triumphierend. »In Wahrheit, ich war wütend und wenn ich wütend bin, Onkel, dann bin ich mitunter in meinen Ausdrücken sehr deutlich, 's war unsere erste Scene, Onkel! Hast du schon mal eine mit Tante Iris gehabt?«

Der Fürst mußte unwillkürlich lächeln. Iris und eine Scene in diesem Genre! Er ignorierte übrigens auch diese Frage. »Und?« sagte er, Boris zum Weitererzählen auffordernd.

»Und? Ach, du meinst, was sie geantwortet hat? Sie sagte: › By Jingo, the boy is bold!‹ Sie hat wirklich › by Jingo‹ gesagt, Onkel! Und wie ich da nun gehörig lossauste, da sprach sie sogar deutsch und sagte: ›Halt's Maul‹. Sie spricht immer deutsch, wenn sie sackgrob sein will. Na, Onkel, da dacht' ich: der Klügere giebt nach, und hab's gehalten, denn schließlich – man ist doch 'n anständiger Kerl, und betteln gehn mag ich nicht, auch nicht bei meiner Frau.«

Hochwald schwieg – er dachte nach, während Boris wieder über seinen Schuhbändern zu fummeln anfing. Endlich begann der Fürst wieder:

»Also die Sache, die du wünschtest, werde ich sofort ordnen, darüber brauchen wir kein Wort zu verlieren. Wegen deiner eigenen Abhängigkeit zu Fuxia –«

»I wo denn, Onkel – gar nicht abhängig,« fiel Boris ein. »Ich hab' mein Gehalt und meine Zulage von Mama und meine Schulden – sie hat ihre Millionen, so sind wir beide versorgt. Ich habe gewissermaßen einen Tisch in ihrem gastfreien Hause – das macht doch noch nicht abhängig.«

»In meinen Augen doch,« erwiderte Hochwald ruhig. »Über diesen Punkt werde ich mit Fuxia sprechen – das darf so nicht fortgehen!«

»Du, Onkel?« Boris schlug beide Hände zusammen. »Na, da wünsch' ich dir Glück. Nutzen kann's nicht und schaden wird dir's hoffentlich nicht.

»Nicht im mindesten,« war die mit großer Sicherheit gegebene Antwort.

»Na, Onkel, sag' das nicht. Wenn sie nun auch mit dir deutsch spricht!«

»Unbesorgt – ich werde deutsch mit ihr sprechen, dessen sei sicher,« meinte Hochwald unwillkürlich lächelnd. »Ich also spreche in dieser Sache mit Fuxia, du mußt es in einer anderen gleichfalls thun!«

»Ich?«

»Ja du, Boris. Deine Frau ist nämlich in Bezug auf ihre Verehrung Aus dem Winkels als Künstler etwas zu enthusiastisch und demonstrativ. Hast du's nicht auch bemerkt?«

»Offen gesagt, Onkel – es hat mich schon schwer geärgert.«

»Nun – so mache dem ein Ende.«

»Ja, wie soll ich denn das machen?« rief Boris hilflos.

»Verbiete es ihr. Fuxias Benehmen ist im höchsten Grade unschicklich, und das darf in meinem Hause so nicht fortgehen!«

»Weißt du was, Onkel? Sag du's ihr – das ist dann so in einem,« schlug Boris vor.

»Nein!« sagte Hochwald mit einer solchen Entschiedenheit, daß Boris alles weitere betrübt verschluckte. »Das sind Sachen, in die hat ein Dritter sich nicht zu mischen. Ich erwarte also, daß du Fuxia sobald als möglich dieses Treiben verbietest. Es ist lächerlich und unwürdig – unschicklich in jeder Beziehung.«

Boris zog resigniert seinen Rock wieder an.

» Bon,« sagte er, »soll geschehen. Aber ich könnte ebensogut einem Brett predigen – das schert sich gerade so viel um meine Verbote wie Fuxia.«

»Nun, so spiele einen Trumpf aus, Boris,« erwiderte Hochwald. »Sage Fuxia, du wüßtest, daß sie Aus dem Winkel gestern Abend nach dem Diner ein Billet heimlich zugesteckt hat.«

Boris fuhr wie gestochen zurück und wurde dunkelrot.

»Das – das ist nicht wahr!« rief er.

»Doch. Deine Schwester hat es selbst gesehen.«

»Und was hat in dem Briefe gestanden?«

»Ja, lieber Junge, da fragst du mich zu viel. Und gesetzt auch, es stände nichts anderes darin als ein Gedicht an den großen Sänger, so bleibt die Art der Beförderung doch sehr tadelnswert.«

»Natürlich!« Boris fing an, mit großen Schritten im Zimmer herumzulaufen. Plötzlich blieb er stehen.

»Ich werde den Kerl, den Winkel, sofort fordern,« sagte er mit enormer Entschiedenheit.

»Warum?« fragte Hochwald ruhig. »Winkel hat sich bis jetzt vor aller Augen ganz korrekt benommen. Aber schließlich ist er doch eben auch nur ein Mensch, und die Huldigung einer so schönen jungen Frau muß ihm ja schmeicheln. Also geh' du nur zu Fuxia und lasse Herrn Aus dem Winkel vorläufig ganz aus dem Spiele.«

» Bon,« rief Boris wiederum sehr energisch. »Also wart' ein bissel, Onkel, ich komme gleich wieder!«

Und mit diesen Worten raste er hinaus, als fürchtete er, daß sein Heldenmut sich sonst verflüchtigen möchte wie die Kohlensäure aus einer offenen Sektflasche.

Kaum war er hinaus, da erschien Saschas Kopf in der Bibliothekthür.

»Nun?« fragte sie.

Hochwald zuckte mit den Achseln.

»Die Ehe deines Bruders war, so fürchte ich, ein arger Rechenfehler,« sagte er mit einem Seufzer.

»Freilich,« erwiderte Sascha, ihren Platz wieder einnehmend. »Aber das konnte anders ja auch nicht sein. Passen diese zwei zusammen? Anscheinend nicht, aber vielleicht wär's doch gegangen, wenn Boris einen Funken von Energie hätte.«

»Laß gut sein, Sascha. Dafür kann er nicht, einmal durch seinen Charakter, dann durch seine Erziehung. Aber ein anständiger Junge ist er doch von Grund aus.« – – –

Inzwischen stürmte Boris durch das Schloß und platzte mit einer derartigen Vehemenz in das Zimmer seiner Frau, daß die schöne Fuxia, welche in einem Schaukelstuhl Siesta hielt, einen Schreckensschrei ausstieß.

» Dear me,« rief sie, »was ist denn passiert? Du machst ja einen Lärm, Boris, daß man meinen sollte, cowboys machen einen Überfall!«

»Ach, cowboy, selbst cowboy,« wetterte Boris los. »Soll denn da ein Mensch nicht rasend werden? Erst muß man's mit ansehen, wie du dem Brüllmenschen, dem Winkel, nachläufst und ihn mit den Augen verschlingst, als ob du überhaupt nichts zu essen kriegtest – na, bon, meinetwegen schon, obwohl das unpassend ist, im höchsten Grade unpassend, sagt Onkel Hochwald –«

»Onkel Hochwald soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern,« warf die schöne Fuxia trocken ein.

»Er thut's aber nicht, er kümmert sich auch um dich,« schrie Boris hin und her rasend.

»Und mit welchem Recht, please?« fragte sie, die Nase rümpfend.

»Na, das ist doch klar wie Morchelsauce – weil er mein Onkel ist!« bewies Boris seine Behauptung.

»Deiner – aber nicht meiner,« war die treffende Entgegnung.

»Das ist ganz Wurscht – du bist meine Frau und ich bin sein Neffe, um den er sich zu kümmern hat,« schrie Boris erbost. »Und weil er sich um mich eben kümmert, da leidet er dein dummes Gethue mit dem Winkel in seinem Hause nicht. Verstanden? Und ich leide's auch nicht!«

» Indeed!« machte Fuxia sehr ruhig. »O, und wenn du fertig bist, Boris, so mach' das Fenster dort zu, please.«

Boris schlug das Fenster zu, daß es klirrte.

» Thanks,« sagte Fuxia liebenswürdig.

»Ach, Unsinn,« brummte Boris, » thanks! Ich danke dir gar nicht und verbitte mir die Sache.«

Fuxia gab ihrem Stuhle einen sanften Schwung und lächelte, was Boris zum Glück wieder derart erboste, daß er sich von neuem wie ein Berserker in die fast verlorene Schlacht zurückstürzte.

»Verbitte!« schrie er, daß ihm die Stimme überschnappte und er eine Weile husten mußte. Danach fuhr er ganz gemütlich fort: »Weißt du, Fuxia, die Leute machen sich ja bloß lustig und lachen sich die Hucke voll, wenn sie sehen, daß du dem Menschen, dem Winkel, heimlich Briefe zusteckst!«

Ruck! hielt der Schaukelstuhl in seiner Bewegung inne, und Fuxia richtete sich auf, wie eine Cobra, die den Feind wittert.

»Wer hat das gesehen?« fragte sie scharf.

»Nu, wer wird's denn gesehen haben?« wiederholte Boris, auf dem besten Wege, Saschas Namen zu nennen. Aber es fiel ihm zum Glück ein, daß es zur Erhaltung des allgemeinen Familienfriedens weiser sei, zu schweigen.

»Wer hat das gesehen?« wiederholte Fuxia, jedes Wort gewissermaßen unterstreichend.

»Na, jemand der nicht kurzsichtig ist,« gab Boris zurück, und dann gab er sich einen Ruck, um sich noch einmal in Harnisch zu bringen, trotzdem das jetzt, angesichts dieser funkelnden Augen, seine Gefahren hatte. »Kurz und gut,« sagte er mit erhöhter Stimme, »kurz und gut – ich verbitte mir solche Dummheiten, und wenn die Geschichte nicht von dieser Minute ab anders wird, dann lasse ich mich von dir scheiden – ohne Gnade!«

» Oh, welcome!« lachte sie höhnisch auf.

Boris fand nun den Moment zum Rückzug geeignet. Würdevoll schritt er bis zur Thüre, und die Klinke in der Hand, drehte er sich noch einmal um.

»Wahrhaftig, Fuxia, 's geht nicht,« sagte er überzeugt. »Man betrachtet das als schrecklich schlechten Ton hier in unseren Kreisen, in Europa, wenn man jemanden mit seinen Schwärmereien so anbetet, daß der andere gar nicht weiß, wohin er sich davor retten soll, und –«

» Oh, very well! Schönen Dank für freundliche Belehrung,« sagte Fuxia mit provozierender Ruhe. »Aber wenn junge, wohlerzogene und vornehme Mädchen zu nächtlichen Rendezvous gehen, wie die stolze Sigrid und der weise Cavaliere Spini in letzter Nacht – das ist wohl jedenfalls sehr guter Ton – nicht, my sweet, Boris?«

»Ach, woher denn!« rief Boris verblüfft.

»Mit eigenen Augen gesehen!« nickte Fuxia zurück.

»Wahrhaftig – ohne Spaß?«

» Exactly so

»Donnerwetter – was wird Onkel Marcell dazu sagen? Na, da kenne ich einen, der an die Luft gesetzt wird – mit tödlicher Sicherheit kenn' ich den. Und ich werde ihm keine Thräne nachheulen, dem ekligen Kerl mit seinen Stachelbeeraugen, nicht mal 'ne Krokodilsthräne, so wahr ich mehr Chrysopras heiße wie Ukatschin!«

Diese Versicherung gab Boris schon jenseits der Thür und indem er nach des Fürsten Zimmer zurückging.

Dort packte Sascha gerade ihre Malutensilien zusammen.

»Nun?« fragte Hochwald nicht ohne Besorgnis, da Boris immer noch ein ganz verblüfftes Gesicht machte.

Doch der Gefragte machte nur eine wegwerfende Handbewegung.

»Alles besorgt,« versicherte er. »Habe Fuxia gründlich meine Meinung gesagt –«

»Wirklich gründlich?« warf Sascha zweifelnd ein.

»Na, ich dächte! Ich habe geschrieen, daß es mich noch im Halse kratzt. Sie hat's übrigens riesig kühl aufgenommen.«

»Natürlich! Wenn der eine schreit, wird der andere meistens leise,« sagte Sascha trocken. »Es fragt sich nur, ob sie begriffen hat, warum du geschrieen hast.«

»Nun, ich denke doch,« meinte Boris mit Selbstgefühl. »Wenn ich gereizt werde, bin ich schrecklich – und ich war gereizt!«

»Aber machtest doch ein so – wie soll ich sagen, so konsterniertes Gesicht, wie du hereinkamst,« sagte Hochwald kopfschüttelnd.

Auf Boris' triumphierenden Zügen erschien wieder der eben citierte Ausdruck.

»Ja, weißt du, Onkel,« sagte er betreten, »das ist auch 'ne tolle Geschichte. Und das Gesicht hab' ich wohl gemacht, weil ich mit mir nicht einig bin, ob ich dir's sagen soll oder nicht –«

Und Boris erzählte, was Fuxia ihm über Sigrid und Spini gesagt.

»Natürlich mußtest du mir das sagen,« rief Hochwald, dessen Stirn sich finster zusammengezogen hatte. »Das war deine Schuldigkeit, da du doch weißt, daß ich Pflichten, des Vormundes Pflichten Sigrid gegenüber habe. Das Weitere überlasse mir. Soweit meine vormundliche Macht reicht, werde ich sie auszunützen wissen.«

Da legte sich eine kalte, bebende Hand auf seinen Arm, und der Fürst sah in Saschas blasses, schmerzverzogenes Gesicht. »Reize ihn nicht, Onkel – er ist gefährlich,« bat sie leise.

Hochwald nahm die schöne, schlanke Hand der Häßlichen liebreich in die seine und küßte sie fast ehrfurchtsvoll – sie, die diese Nachricht bis ins Herz getroffen, die das kärglich blühende Hoffnungspflänzlein darin mit einem eisigen Hauch zerknickte, sie gewann es über sich, vor dem zu warnen, den sie in unerklärlicher Liebe so lange, so hoffnungslos geliebt.

»Sei ruhig, meine gute Sascha,« sagte der Fürst freundlich. »Ich fürchte ihn nicht, aber ich danke dir trotzdem. Nun laß mich zunächst zu deiner Mutter gehen – das wird viel Worte geben, aber ich fühle mich Sieger im voraus. Also Mut, Liebe! Und du, Boris, bedanke dich bei deiner guten Schwester, denn für den Fall meine Mission bei deiner Frau scheitern sollte – und ich fühle mich hierin nicht im voraus so unbedingt als Sieger – so will Sascha ihr Vermögen mit dir teilen, um dich auf eigene Füße zu stellen.«

»Sascha!?« rief Boris und wurde dunkelrot. »Nee, das nehm' ich nicht an!«

»Ach, Unsinn,« sagte Sascha mit mattem Lächeln. »Nimm's immerzu, denn wenn ich das erreiche, was mir so lockend noch vorschwebt, dann bin ich reicher als deine reiche Fuxia. Und von der sollst du nicht abhängig sein.«

»Sascha – ich weiß auf Ehre nicht, was ich da sagen soll –« rief Boris gerührt.

»Sag' ihr nur, das sie eine Perle ist,« nickte Hochwald und ließ die Geschwister allein, die sich alsbald eifrig redend in die Bibliothek zurückzogen.

Aber Hochwald ging nicht sofort zu seiner Schwester – er sah erst nach Iris; da er sie wach fand, machte er sie kurz mit allem bekannt, was geschehen. Sie kamen überein, Sigrid vollständig aus dem Spiel zu lassen, um durch Vorstellungen ihren Widerspruchsgeist nicht zu reizen. Daß Spini fort müsse, war beiden klar – der ungebetene und unwillkommene Gast mußte Weichen. Doch auch Iris war gleich Sascha um das »Wie« verlegen.

»Ich möchte ihn um alles in der Welt nicht reizen,« sagte sie warnend. »In Rom galt er als ein ganz gefährlicher und gefürchteter Duellant, wie Papa uns sagte.«

»Er wird mich nicht fordern – und ohne weiteres mich über den Haufen zu schießen, dazu scheint er mir doch zu gewitzigt,« beruhigte Hochwald unbesorgt ihre Befürchtungen. »Das fehlte gerade noch, daß man sich in seinem eigenen Hause alles von einem Gaste, einem Fremden gefallen lassen müßte, nur, weil er zufällig ein guter Schütze ist!«

Danach machte der Fürst sich auf, um zu seiner Schwester zu gehen, deren Vorurteile ihm wenig Sorge machten. Als er die Treppe zum Fremdenflügel hinaufstieg, kam Hans Aus dem Winkel gerade herab, einen Brief in der Hand.

»O, Durchlaucht, ich war gerade auf dem Wege zu Ihnen,« rief er. »Ich habe eine Aufforderung erhalten, morgen Abend in Hamburg den ›Siegried‹ zu singen und kann da wohl nicht gut ablehnen. Dürfte ich Durchlaucht daher heute noch – zum Nachtzuge – um einen Wagen zur Station bitten? Der Zug geht um neun Uhr fünfundvierzig.«

Hochwald sah den Sänger scharf an.

»Der Wagen wird pünktlich zur Stelle sein,« sagte er. »Es thut mir aber leid, daß Ihr Besuch bei uns so jäh abbricht.«

»Durchlaucht sind sehr, sehr gütig – ich bin aufrichtig gerührt davon,« versicherte Aus dem Winkel ehrlich und ohne Redensarten. »Wie soll ich Ihnen je die mir erwiesene Gastfreundschaft, so spontan geboten, danken?«

»Aber der Dank bleibt stets auf unserer Seite, Herr Aus dem Winkel! Was Sie uns in den wenigen Tagen gegeben haben: Ihr eigenes, liebenswürdiges Ich und das Schönste Ihrer Kunst, wird in den Fremdenbüchern von Hochwald lange noch unvergessen nachklingen,« sagte der Fürst in seiner gewinnenden und unwiderstehlichen Weise, weil so ruhig und von Herzen kommend. »Ich hoffe nur,« fuhr er, Aus dem Winkel voll ansehend, fort, »daß dieser Hamburger Ruf Sie wirklich so reizt, um Sie fortzutreiben, denn ich entsinne mich, daß Sie vorgestern zwei ähnliche Aufforderungen von sehr hervorragenden Bühnen erhielten, die Sie gar nicht verlockten.«

Aus dem Winkel erwiderte den Blick seines Gastfreundes mit vollem Verständnis.

»Durchlaucht,« sagte er dann ernst, »es giebt Fälle, wo einen auch ein Ruf nach Posemuckel reizen muß, ihn: zu gehorchen. Sie haben mir, ohne mich zu kennen, die Ehre erwiesen, Ihr Gast sein zu dürfen – nun, das schlecht zu vergelten, hätte ich mir selbst nie verzeihen dürfen. Darum will ich morgen Abend in Hamburg meinen Nothung schmieden und den Drachen töten. Beim Waldweben werde ich dann des Rauschens der Hochwälder Eichen gedenken.«

»So wünsch' ich Ihnen ein gutes Schmieden,« erwiderte Hochwald bedeutungsvoll. »Denn Fafner, der Lindwurm, ward von dem hörnernen Siegfried leichter getötet als der Drache in unserer Brust, der nur zu gern begehrt, was ihm nicht gehört!«

Es zuckte über Winkels schönes, bartloses Gesicht, und aus seinen Augen brach ein helles Leuchten; – wie Siegfried der Held stand er unbewegt vor dem Fürsten.

»O, danke,« sagte er fröhlich, wie's seine Art war. »Der Nothung wird schon halten, Durchlaucht, besonders, da der Drache sich sehr ruhig verhalten hat – höchstens, daß er sich im Spiegel schmunzelnd beschaute. Aber damit der alte Kerl mir nicht etwa eitel wird, darum: auf nach Hamburg!«

Fürst Hochwald drückte dem Sänger warm die Hand.

»Sie sind ein lieber, braver Mensch,« sagte er herzlich. »Mir scheint, wir passen gut zu einander. Und nicht wahr. Sie kommen wieder zu uns? Ja? Das ist prächtig. Es duftet nämlich nicht immer so stark nach Weihrauch hier – von dem Artikel werden Sie ja in Ihrem Beruf so übergenug haben, daß die frische Luft hier, wo Sie Mensch mit Menschen sein dürfen. Ihnen Erholung bringen wird. Nun, wir sehen uns ja noch beim Diner – trotzdem aber schon im voraus: Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!« wiederholte Hans Aus dem Winkel fröhlich.

Und Hochwald dachte im Weitergehen, daß sein teurer Neffe Boris zu dem Geschlechte jener Vierfüßler gehören müsse, die vom Dache geworfen, doch sicher und unversehrt auf ihre Füße fallen. Wie, wenn der Sänger nicht der brave Mensch von Ehre war, der der eigenen Eitelkeit entfloh, statt ihr zu opfern? Dann wäre die russische Gesellschaft wahrscheinlich um einen Skandal reicher gewesen. Und das sprach eigentlich für Boris, daß er Glück hatte bei guten Menschen. – – – – – – – – – – –

Madame Chrysopras hatte ein gutes Schläfchen gemacht, und so fand Hochwald sie in sehr guter Laune. Zwar, es gab viele Worte, wie er vorausgesehen, aber im ganzen doch nicht so heftigen Widerstand, daß er unbesiegbar erschienen wäre. Als letztes Geschütz führte Madame Chrysopras ins Feld, daß die langen Haare und glattrasierten Gesichter der Künstler unausstehlich seien, wogegen Hochwald vorschlug, daß Sascha ihre Haare ja kurz schneiden lassen und das Rasieren als unnötig ganz übergehen könnte. Darüber mußte Madame Chrysopras lachen, und das entschied den Sieg, so daß sie seufzend aber nicht unbefriedigt die Waffen streckte, denn die Meinung ihres Bruders war ein Gewicht, gegen das sie nur aus Pflichtgefühl ihre nichtigen und hohlen Einwände in die Wagschale warf. Das Ende vom Liede war, daß Sascha herbeigerufen, unter ein paar Thränen umarmt und zum Geradehalten ermahnt wurde, und daß ihre Abreise nach München für den folgenden Tag festgesetzt ward.

Madame Chrysopras stürzte dann, gefolgt von Sascha, zu Sigrid ins Zimmer, umarmte auch diese stürmisch, die kalt und blaß mit fieberglänzenden Augen in einer Sofaecke kauerte und offenbar gar nicht hinhörte, als Madame Chrysopras ihr das große Ereignis mitteilte und sie bat, ihr von nun an die Tochter zu ersetzen, dabei schwatzte sie das Blaue vom Himmel herunter, indem sie erzählte, sie müsse erst ein Paar Besuche in England machen und schlüge dann vor, mit Sigrid in Köln zusammenzutreffen, wohin Marcell und Iris sie sicher begleiten würden zu einem kleinen Rendezvous, ehe sie wieder ihr Winterquartier in Florenz aufschlügen.

»Ja, ja,« war alles, was Sigrid murmelte.

»Es wird dann still auf Hochwald werden,« sagte Sascha, als ihre Mutter Atem schöpfen mußte. »Onkel Marcell sagte mir eben, daß Herr Aus dem Winkel heut' Abend nach Hamburg abreist – er soll dort den Siegfried singen –; morgen gehe auch ich, Mama packt schon in Gedanken, der erratisch veranlagten Fuxia traue ich auch kein langes Bleiben zu, wo keine Courmacher sind und –« sie stockte, indem sie Sigrid scharf ansah, »und – ich glaube, auch der Marchese wird bald weiterziehen –«

»Bald?« fragte Sigrid, mit einem Ruck ihre Apathie von sich werfend und sich gerade aufrichtend – sie war mit einem Male ganz Aufmerksamkeit.

Die arme Sascha, die in ihrer Gutmütigkeit Sigrid den kleinen Wink nicht glaubte vorenthalten zu dürfen, fühlte ihr verschmähtes Herz sich zusammenziehen.

»Ja, bald,« wiederholte sie leiser – sie wußte, daß Fürst Hochwald wahrscheinlich eben jetzt eine Unterredung mit dem Cavaliere hatte.

»Woher weißt du das?« fragte Sigrid lebhaft, aber ersichtlich ohne Schmerz.

»O – ich glaubte so verstanden zu haben,« wich Sascha nun den durchdringenden Fragen der kalten, glitzernden blauen Augen aus. Und schnell setzte sie hinzu: »Nur der gute Professor bleibt als eiserner Bestand zurück, wie es scheint.«

»Das alte garstige Fossil mit dem Froschgesicht – ich hasse ihn!« sagte Sigrid heftig mit so finsterer Miene, daß Sascha und ihre Mutter sich erstaunt ansahen. »Ich begreife nicht, wie Marcell sich ein solches Scheusal hierher ziehen kann.«

»Der arme Professor!« rief Sascha spöttisch. »Und wir haben ihn doch sonst alle so gern.«

»Hat denn der Cavaliere etwas von seiner Abreise gesprochen?« begann Sigrid wieder, die das Thema von dem Professor mit einer Handbewegung, wie eine lästige Fliege, von sich wies. Was ging der Professor sie an? Und doch – der eben erklärte Haß war ein feiner Instinkt, der in ihrer Seele wurzelte, ohne daß sie sich die Mühe nahm, nach dem Grunde zu suchen.

Sascha wurde der peinlichen Antwort enthoben dadurch, daß Iris den Kopf zur Thür hereinsteckte. Auch sie wußte, daß jetzt ihr Gatte und Spini zusammentreffen mußten, und sie kam nicht ohne Absicht.

»Ah – also hier tagt der Kongreß?« rief sie und trat in das Zimmer. »Sascha, ich gratuliere dir von Herzen – und auch dir, Olga, zu dieser Tochter. ›Wer ist ihre Mutter?‹ werden die Leute fragen, wenn sie sich um ihre Bilder drängen werden.«

»Aber Iris,« lachte Sascha belustigt.

» Mais – ich – dein Mann hat mich überrumpelt,« erklärte Madame Chrysopras, ihrer reizenden Schwägerin lächelnd zunickend. »Was will man thun? Ich hoffe, hoffe nur eins – daß Sascha sich stets korrekt anziehen wird.«

»Hoffen wir das Beste,« lachte Iris hell und wirbelte Sascha ein paarmal tanzend im Zimmer herum – eine Freudenbezeigung, vor der Sigrid mit verächtlich herabgezogenen Mundwinkeln die Augen schloß.

Iris sah es, faßte es aber anders auf.

»Ach du Arme – fühlst du dich immer noch so angegriffen?« rief sie teilnahmsvoll und setzte sich neben Sigrid auf das Sofa, indem sie den Arm um sie schlang. Aber Sigrid sprang in die Höhe und wand sich aus dem liebreichen Arm, als wär er eine giftige Schlange.

»Laßt mich doch nur in Ruhe,« rief sie gereizt. »Wie kann man sich denn erholen, wenn alle Augenblicke jemand kommt und schwatzt,« setzte sie hinzu. Aber dabei schüttelte sie sich wie im Fieber oder vor Entsetzen.

Sascha sah's und bekam einen roten Kopf vor Ärger.

»Sigrid, du übertreibst,« sagte sie trocken. »Nimm dich etwas zusammen – wo soll denn das hinaus? Es ist ja richtig, daß Iris ›nur‹ deine Schwester ist, aber auch einer solchen gegenüber hat doch jede Rücksichtslosigkeit ihr Ziel!«

»Ach laß nur, Sascha – ich nehm's ja nicht übel,« versicherte Iris lächelnd, obgleich ihr bei dem rüden Abschütteln die Thränen in die klaren Augen getreten waren. »Weshalb ich kam, war das: wir wollen alle eine kleine Spazierfahrt in den Wald machen. Ja? Das wird uns gut thun? Der Himmel klärt sich entschieden auf – es giebt eine köstliche Fahrt. Ich habe schon das Anspannen bestellt und werde euch selbst fahren mit meinen mausgrauen Juckern. Also macht euch fertig! Sigrid, ich bürste rasch dein Haar – wir sind zum Ankleiden zum Diner dann rechtzeitig zurück.«

»Ich bleibe hier,« erklärte Sigrid kurz.

»O bewahre – nichts besser für deine Nerven als eine Fahrt in dieser köstlich abgekühlten Luft. Marcell meint es auch. Also sei gut, Schatz, und mach' dich fertig,« bat Iris mit überredender Freundlichkeit.

»Ich bleibe hier,« war Sigrids harte Antwort.

Doch Iris gab ihr Mühen noch nicht auf.

»Sei vernünftig, Liebe! Du machst dich krank und mich ganz unglücklich, denn ich muß doch dann glauben, daß meine verfehlte Erscheinung gestern in der Bibliothek schuld ist an deinem Zustand.«

»Ich bleibe hier,« wiederholte Sigrid unfreundlich.

»Ach nein, komm mit,« sagte Iris sanft. »Denke, was würden unsere lieben Eltern sagen –«

»Laß meine Eltern aus dem Spiel,« rief Sigrid finster und heftig. »Du – du hast keinen Teil an ihnen.«

»Nun, ich dächte doch, da es auch meine Eltern sind,« erwiderte Iris ernst, aber mit unverminderter Freundlichkeit. »Und nun laß es genug sein und komm!«

»Ich bleibe hier,« sagte Sigrid zum viertenmal.

»Herrgott, laß doch den eigensinnigen Dickkopf muckschen, solange sie will – sie ist die Verlierende, nicht wir,« rief Sascha aufgebracht und zog Iris mit sich fort. »Komm, Mama! – Sigrid, wenn ich dich wichsen könnte, das thät' ich mit Herzenswonne! Deine Schwester so zu quälen! Das sollte Onkel Marcell wissen! Aber ich werd's ihm schon sagen, darauf kannst du dich verlassen.«

»Sascha! Es war ein Schrei der Wut, mit dem Sigrid über die Breite des Zimmers hinüberflog und Sascha am Arm packte mit knirschenden Zähnen und glitzernden Augen. Aber im selben Augenblicke besann sie sich auch schon wieder. »Das wirst du nicht thun – verklatschen nennt man das, glaub' ich.«

»Ich werde thun, was mir recht dünkt – wie du's nennst, ist mir einerlei,« gab Sascha sehr energisch zurück. »Meinst du denn, daß Onkel Marcell dulden wird, daß du seine Frau hier mit dem Rechte der Schwester maltraitierst? Nein, mein Schatz, das wird er nicht!«

»Sascha!« bat Iris leise.

»Ach was! Mich bringt solch dummes Gethue zu sehr auf,« rief Sascha. »Laß sie sitzen, Iris. Ihr ist nicht zu helfen, und wenn sie erst sieht, daß man sich nicht mehr um ihre Launen kümmert, dann wird sie schon wieder vernünftig werden!«

»Vielleicht eine ganz rationelle Kur,« bestätigte Madame Chrysopras überzeugt, und beide Damm zogen die immer noch widerstrebende Iris hinaus und ließen Sigrid ohne weitere Zeremonien zurück.

Diese blieb wie angewurzelt stehen, wo sie vorher gestanden, und der Blick, den sie dabei auf die sich schließende Thür heftete, hatte etwas unruhig Flackerndes, Unstetes. Erst als sie drunten den Wagen über den Kies rollen hörte, schreckte sie auf, wie aus einem Traum.

»Was soll ich jetzt thun?« murmelte sie, sich mit der Hand über die Stirn streichend. »Mich wieder hinsetzen und denken? O, es dreht sich in meinen Gedanken doch alles nur um den einen Pol, unablässig, in einem wüsten Reigen. Lesen? Zwischen jeder Zeile steht es blutrot neben den schwarzen Buchstaben – ich weiß doch nicht, was ich lese. Schlafen? Ach, wie gern möchte ich schlafen, ich bin so müde, so überwacht. Aber dann kommt die fremde Frau und murmelt ununterbrochen in mein Ohr – ich will nicht hören was sie sagt. Es ist auch immer dasselbe. – Spini reist ab? Ich wollte, er wäre schon fort. Ich will ihn nicht mehr sehen – er zieht mir mit seinen schrecklichen Augen den geheimsten Gedanken ans Licht. Doch, ich will ihn sehen, ich muß wissen, ob –«

Sie brach ab und begann ihr wirres Haar zu frisieren und nahm ein weißes Wollkleid aus dem Kleiderschrank, ja, sie nahm sogar aus einer Blumenvase zwei köstliche Lafrancerosen und band ein Brustbouquet davon.

»Wenn ich erreichen will, was ich möchte, muß ich schön sein,« sagte sie und gab den Rosen noch ein paar dunkelgefärbte Blätter als Folie. – – – – – – – –

Indessen hatte Fürst Hochwald den Marchese Spini wirklich bitten lassen, sich zu ihm in sein Arbeitszimmer zu bemühen. Der Italiener war erst nicht zu finden gewesen, sein Zimmer war abgeschlossen. Trotzdem trat er nach Verlauf einiger Zeit daraus hervor, wie immer eine Cigarette zwischen den Zähnen. Er habe geschlafen, erklärte er dem Kammerdiener, diesem vorausschreitend.

»Verzeihen, gnädiger Herr,« sagte Rataiczak, »haben großmächtiges Spinnengewebe hinten am Rockschoß.«

» Dio mio –! Wo hab' ich denn das erwischt?« fragte Spini kopfschüttelnd. »Ich bin doch nicht aus dem Zimmer gekommen.«

»Ha – Zimmermädel räumen schlecht auf, wenn nicht immer eins hinterher ist, »meinte Rataiczak, das fragliche Objekt entfernend und mit einer kleinen Taschenbürste nachbürstend.

» Grazie tante,« nickte Spini herablassend und ging seiner Wege.

»Ein Spinnennetz mit fingerdickem Staub drin!« dachte der Kammerdiener, ihm nachsehend. »Das giebt's ja nicht mal in den unbewohnten Gesellschaftsräumen, die nur alle heiligen Festzeiten mal gesäubert werden. Aufgepaßt, Rataiczak, der hat geschnüffelt und gelöchert!« –

Spini wurde von dem Fürsten stehend empfangen, und ohne den Eintretenden zum Niedersetzen aufzufordern, begann der Fürst auch die Unterredung.

»Herr Marchese,« sagte er ruhig und fast geschäftsmäßig, »man hat mir hinterbracht, daß Sie in der vergangenen Nacht in dem alten Burgflügel mit meiner Schwägerin, der Gräfin Sigrid Erlenstein eine Zusammenkunft hatten. Ob dieselbe nun die Bezeichnung Rendezvous verdient oder nicht – darauf kommt es hier nicht an. Sie haben jedenfalls durch diese Unvorsichtigkeit den Ruf der meinen Schutz unterstellten jungen Dame gefährdet – so daß ich zu meinem größten Bedauern veranlaßt bin. Sie zu bitten, derartige – Zusammenkünfte nicht nur nicht zu wiederholen, sondern auch, um den Ruf meiner Schwägerin nicht direkt in den Staub zu treten, Hochwald zu verlassen.«

Spini hatte mit einem halben, überlegenen Lächeln zugehört – bei den letzten Worten fuhr er zurück.

»Verstehe ich recht? Sie – werfen mich hinaus?« zischte er.

»Nein, ich bitte Sie, abzureisen,« war die sehr ruhige Erwiderung. »Wenn Sie mit meiner Schwägerin so weit im Einverständnis sind, daß dieselbe es für gut findet, zu so ungewöhnlichen Tageszeiten und an so ungewöhnlichen Orten mit Ihnen zusammenzutreffen, so muß Ihnen ja daran liegen, daß kein Verdacht Sie treffen kann. Und das ist nur zu erreichen, wenn Sie und Sigrid getrennt voneinander sind. Da Sigrid mir nun durch Bande des Blutes näher steht und ich ihr mein Haus deshalb nicht schließen darf, so erfordert es Ihre Pflicht als Kavalier, zu weichen.«

Spini stand mit gesenktem Kopf und strich langsam und bedächtig seinen Schnurrbart.

»Sie mögen von diesem Standpunkt aus recht haben, Fürst,« sagte er dann lauernd. »Aber für mich ist es dann von Wert, daß ich Hochwald nur als der erklärte Verlobte der Gräfin Sigrid verlasse.«

Er bohrte, während er sprach, den Blick förmlich in seinen Widersacher, doch Hochwald stand ruhig und unbewegt.

»Sigrid wird im nächsten Mai majorenn,« erwiderte er nach einer Pause. »Ich habe dann – wenn man die moralischen Rechte abrechnet – legal keine Gewalt mehr über ihre Entschlüsse. Sie werden darum bester auf diesen Zeitpunkt einer öffentlichen Verlobung mit ihr warten.«

Spini richtete sich hoch auf.

»Soll das heißen, daß Sie als Vormund mir die Hand der Gräfin Sigrid verweigern?« fragte er schneidend.

Hochwald machte eine Handbewegung und neigte bejahend den Kopf.

»So ist es,« sagte er fest.

Mit flammendem Blicke trat Spini um einen Schritt näher.

»Und Ihre Gründe, Fürst Hochwald?« zischte er.

»Zunächst: Sigrid weiß nicht, was sie will. Sie befindet sich in einem Zustande von Zerfahrenheit, der launisch heut' das, morgen jenes will,« entgegnete Hochwald, ohne das drohende Gebaren seines Gastes auch nur zu beachten. »Ich fürchte, der Mann, dem sie sich jetzt verlobte, würde in dieser Beziehung bald bittere Erfahrungen machen –«

»Nicht ich!« fiel Spini ein.

»Gut; wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind, so wird die kurze Wartezeit von kaum einem Jahre für Sie nicht von Belang sein,« entgegnete der Fürst ruhig.

»Ich fürchte eine Unbeständigkeit nicht, weil Gräfin Sigrid sehr gut weiß, daß ich nicht der Mann dazu bin, um mit mir spielen zu lassen,« erwiderte Spini mit starker Betonung. »Sie aber spielen mit mir, Fürst Hochwald. Sie vertrösten mich auf die Zeit, wo Gräfin Sigrid frei über ihre Hand bestimmen kann, aber Sie umgehen die Antwort, warum Sie als Vormund mir die Hand Ihrer Mündel verweigern.«

Fürst Hochwald zögerte mit der Antwort.

»Nun? Ist etwa ein Spini, der Marchese della Pescaja nicht gut genug für eine Gräfin Erlenstein?« fragte Spini lauernd.

»An Ihrer Stelle, Marchese hätte ich die Antwort nicht so herausgefordert,« erwiderte jetzt der Fürst ohne eine Spur von Erregung. »Aber da Sie sie haben wollen: nicht der Marchese Spini della Pescaja ist es, den ich als Bewerber um die Hand einer deutschen Edeldame ablehnen muß – es ist vielmehr der Compagnon des Antiquitätenhändlers aus der Via Porta Rossa –«

»Ah –!« es war wie ein heiseres Brüllen, das sich der Kehle Spinis entrang.

»Verstehen Sie mich recht!« fuhr Hochwald ruhig fort. »Daß Sie in jener Zeit arm waren und vom Erwerb Ihrer Kunst lebten, das hätte Sie in meinen Augen hoch erhoben. Aber daß Sie Ihre Kunst in den Dienst der – der Täuschung stellten, das bedaure ich tief.«

»O, ich wußt' es, daß Sie mein wohlgehütetes Geheimnis erraten hatten – ausspioniert hatten –«

»Marchese – ich bitte Sie, Ihre Ausdrücke zu wählen, wie ich die meinen gewählt habe,« rief Hochwald befehlend.

»Ah,« keuchte Spini, »weil Sie Täuschung sagten und Fälschung meinten? Warum luden Sie mich ein in Ihr Haus, wenn Sie mich doch als Ihresgleichen nicht mehr anerkannten?«

»Nicht ich that es – meine Schwester und Sigrid ließen mir keine Wahl,« sagte Fürst Hochwald gelassen.

»O – Beleidigung über Beleidigung!« rief Spini; »Sie aber werden mir Rechenschaft geben über Ihr Verhalten, Fürst Hochwald!«

»Ich thue seit einer halben Stunde nichts anderes,« war die vollkommen ruhige Antwort.

»Ich meine – mit der Pistole in der Hand,« flüsterte Spini nähertretend.

»Das wäre sehr thöricht von mir,« entgegnete Hochwald achselzuckend. »Wenn jeder Vormund, der einem Freier einen Korb giebt, deshalb gleich vor die Pistole müßte, so wäre damit der Übervölkerung der Erde allerdings bedeutend abgeholfen. Wie gesagt, Marchese – meine persönlichen Gründe, die Sigrid nicht kennt, nur ich allein, sollen Sie nicht hindern, meine Schwägerin nach Ablauf eines Jahres dennoch zu heiraten, falls sie meinen Rat dann entbehren zu dürfen glaubt –«

»Ha – ich sehe! Euer Durchlaucht sind auch feige –« fiel Spini hohnvoll ein.

Hochwald wollte auffahren, aber er besann sich eines Besseren.

»Marchese – ich bitte Sie nochmals, Ihre Worte zu wählen,« sagte er ruhig, aber mit solcher Betonung, daß Spini wieder um einen Schritt zurücktrat. »Sie haben sich schon zweier Ausdrücke bedient, die man unter Kavalieren nicht gebraucht; – ich nehme an, daß sie Ihnen in Ihrer bei aller Geläufigkeit doch unvollkommenen Kenntnis der deutschen Sprache entschlüpft sind, ohne ihre Bedeutung voll zu verstehen – vom ehrengerichtlichen Standpunkt aus! Sollten Sie sich dessen aber bewußt gewesen sein, so will ich die hier anwesenden Herren rufen lassen, vor denen Sie mir dann jene epitheta ornans wiederholen mögen. Danach stehe ich natürlich zu Ihrer Verfügung.«

Spini biß sich auf die Lippen – ein solch berüchtigter Duellant er auch war, so lag ihm doch an einem Zweikampf mit dem Fürsten im Grunde nichts – – die Schüsse, die dort, gleichviel mit welchem Resultat, gewechselt wurden, konnten auch das Band zwischen ihm und Sigrid treffen und unheilbar zerschneiden, und wenn Spini einen schwachen Punkt in sich fühlte, so war's eben Sigrid allein und durch sie eine Anzahl von Konnexionen, die den Namen Spini della Pescaja wieder auf die alte Höhe heben helfen mußten – –

Auf diese Art war also dem Fürsten nicht beizukommen – aber waren seine Waffen nicht zweischneidig? Mit blitzschneller Überlegung wandte er den Spieß. – »Diese Finessen der deutschen Sprache sind mir allerdings unverständlich,« sagte er hochmütig. »Aber so viel verstehe ich doch, daß Sie, Fürst, auf Ihrer Weigerung beharren. Nun wohl – vielleicht macht es Sie nachgiebiger, wenn ich Ihnen sage, daß ich –« hier dämpfte Spini seine Stimme und heftete seine Augen gierig auf den Fürsten, »das Geheimnis des roten Lichtes von Hochwald kenne.

Doch der gewünschte Effekt blieb aus – der Fürst stand unbewegt an derselben Stelle wie zum Beginn der Unterredung, und das leise, schmerzliche Zucken um seinen Mund war so beherrscht, daß es selbst Spini entging.

»Nun – und?« fragte Hochwald nach einer Pause mit unverändertem Ton.

»Ah – Sie verstehen mich nicht!« rief Spini immer noch flüsternd, indem er dicht an den Fürsten herantrat. »Ich – ich kenne das Geheimnis des roten Lichtes – ich kenne die verborgene Gruft und weiß, daß es Ihr Opfer bestrahlt, weiß, daß es von Rataiczak, Ihrem Helfershelfer unterhalten wird als ein Sühnopfer –«

Gespannt hielt er ein – aber Hochwald zuckte nicht.

»Nun – und?« fragte er wieder.

»Aber mein Gott – begreifen Sie denn nicht?« brauste Spini auf. »Ich, ich habe die Existenz dieser Gruft entdeckt! Eben komme ich daher – hier, riechen Sie meine Kleider, sie duften noch nach dem Moder des alten Burgflügels –«

»Und mit welchem Rechte haben Sie – in würdiger Vergeltung meiner Gastfreundschaft – diesen alten Schloßflügel durchspioniert? Gestatten Sie mir nun diesen Ausdruck, mit dem Sie mich vorhin beehrten,« fiel Hochwald laut, unbewegt ein.

Spini nahm von der letzteren Bemerkung keine Notiz – er war viel zu sehr beschäftigt mit seinen anderen Gedanken. »Warum? Mein Herr Fürst, Durchlaucht, es lag mir daran, eine Waffe gegen Sie in der Hand zu haben,« sagte er eifrig. »Ich werde Hochwald heut' noch verlassen, gut, ich thue es um Sigrids willen, aber ich verlasse Ihr Haus nur als erklärter Verlobter Ihrer Mündel, oder –«

»Nun – oder?« wiederholte Fürst Hochwald vollständig ungerührt.

»Oder ich mache die Polizei auf jenes gespenstische rote Licht aufmerksam,« sagte Spini triumphierend.

»Ah – Sie wollen mich denunzieren, wenn ich recht verstehe,« entgegnete der Fürst gelassen.

»Das will ich!« fiel Spini hastig ein. »Das heißt, ich will es nur für den Fall, daß Sie mir Sigrids Hand dennoch verweigern sollten.«

»Das letztere mit der größten Entschiedenheit und endgültig,« erwiderte Hochwald mit eiserner Ruhe, aber es begann heiß in ihm aufzusteigen.

»Gut! Sie haben die Folgen zu tragen,« knirschte Spini.

»Folgen, die Sie veranlassen könnten?« fragte Hochwald ironisch.

»Ja, ich,« sagte Spini hochmütig. »Ich bin nicht gewohnt, ins Blaue zu schießen, Herr Fürst, und wohin ich ziele, treffe ich auch. Ich weiß, daß eine gewisse Kiste – sie steht auch noch unten – seit fast zwanzig Jahren – nach zwanzig Jahren verjährt ja wohl bei Ihnen zu Lande die gerichtliche Verfolgung eines Verbrechens dieser Art, aber noch ist die Zeit nicht um! – Also: ich weiß, daß vor fast zwanzig Jahren die besagte große Kiste hier ankam unter Rataiczaks Aussicht – ich weiß auch, welch unheimlichen Inhalt sie hatte, denn der Bursche, den Sie damals entließen, hat den Inhalt gesehen! Ja, es ist nichts so fein gesponnen, Herr Fürst! Und auf diesen unheimlichen Inhalt der gewissen großen Kiste leuchtet das rote Licht hinab – es leuchtet, weil der dunkle Drang zu einer Sühne Sie's entzünden ließ.«

»Verzeihung, Herr Marchese – kein dunkler Drang, sondern vollkommenes Zielbewußtsein ließ mich das rote Licht entzünden,« unterbrach Hochwald immer noch ruhig, aber schneidenden Tons den Italiener. »Im übrigen werden Sie den Gerichten nichts Neues erzählen, denn das rote Licht brennt seit fast zwanzig Jahren, wie Sie sehr richtig betonten, mit polizeilicher Erlaubnis.«

Spini fuhr zurück, aber sein Mund lächelte hohnvoll.

» Ebbene – warum dann so geheimnisvoll?« fragte er gellend.

»Darüber Auskunft zu erteilen, bin ich Ihnen gegenüber nicht verpflichtet, und ich verbitte mir dergleichen indiskrete und taktlose Einmischungen in meine Angelegenheiten,« erwiderte Hochwald plötzlich aufflammend, mit einer Entschiedenheit und einer Energie, daß Spini unwillkürlich noch einen Schritt zurücktrat. »Ich meine. Sie haben das Maß, welches ich Ihnen als Gastfreund zumessen muß und will, in einer Weise überschritten, daß ich nun gesonnen bin, mein Hausrecht geltend zu machen. Ich empfehle mich Ihnen, Herr Marchese.«

Der Ton Hochwalds, der hochaufgerichtet mit zornsprühenden Augen vor dem Italiener stand, ließ keinen Zweifel – er verfehlte auch seine Wirkung nicht. Spini wich unwillkürlich bis zur Thür zurück, da der Fürst vorwärts kam. Seine Hand tastete rückwärts nach dem Schloß, und indem er eine ironische Verbeugung machte, war er mit einem drohenden: »Sie haben es gewollt – Sie sollen von mir hören!« verschwunden.

Blaß und zitternd vor Zorn eilte er durch das Schloß nach seinem Zimmer, um zu packen. In der Halle stieß er auf Rataiczak, und da ein Blitzableiter für ihn momentan das willkommenste war, was ihm begegnen konnte, so blieb er vor dem Kammerdiener stehen, schüttelte ihm die Faust dicht unter der Nase, ohne daß der brave Polacke gezuckt hätte, und zischte ihm, die Weißen Zähne zeigend, wie ein gereizter Panther zu: » Servo del boja – porcaccio tedesco!« – womit er weiter seines Weges ging. Leider waren beide Liebesnamen aber unnütz verschossenes Pulver, denn der gute Rataiczak verstand kein Italienisch.

»Hat dich mein Herr geschüttelt?« dachte er, dem Italiener erstaunt nachsehend. »Is gut so – da wächst auch kein Gras mehr!«

Oben im Korridor traf Spini auf Sigrid, welche aus ihrem Zimmer trat im weißen Kleide, die Lafrancerosen an der Brust – blaß zwar und mit blauen Ringen unter den unnatürlich glänzenden Augen, aber lächelnd und mit einem sehr gut gemachten kleinen Schrei der Überraschung, den sie ausstieß, als sie Spini erblickte.

Der Italiener ergriff die ihm entgegengestreckten überschlanken weißen Hände mit einer wahren Inbrunst.

»Jetzt gilt es zu scheiden,« rief er mit halb erstickter Stimme.

»Scheiden?« wiederholte Sigrid, und das Lächeln verschwand willig genug von ihrem Munde – in ihren Augen war's ja nie gewesen. »Sie wollen reisen? Und warum so plötzlich?«

»Weil Seine Gnaden, der durchlauchtigste Fürst mich hinausgejagt haben –« wallte er wutbebend wieder auf.

Sigrid schlug die Augen nieder, weil es in ihnen wie Triumph aufgeflammt war.

»Hinausgejagt! O, o, o! Sie übertreiben!« meinte sie, ungläubig den Kopf schüttelnd. »Was hat es denn gegeben, daß Sie sich in solchen Hyperbeln ausdrücken?«

Spini fand es für gut, den ursprünglichen Grund seiner Unterredung mit dem Fürsten zu unterdrücken.

»Ich übertreibe nicht,« versicherte er. »Ich habe um Ihre Hand geworben –«

»Welche Unvorsichtigkeit,« unterbrach ihn Sigrid heftig.

»Mein gutes Recht,« erwiderte er ebenso. »Mein mir von Ihnen selbst verliehenes Recht. Ich fand die Gelegenheit geboten, Gebrauch davon zu machen. Ich wurde abgewiesen, und da man mir auch die Rechtfertigung kurzer Hand verweigerte, so werde ich mein Ziel auf anderem Wege zu erreichen suchen.«

»Auf welchem Wege?« fragte Sigrid dringend, angstvoll fast, indem sie sich mit beiden Armen in Spinis rechten Arm hängte und ihr Gesicht an seine Schulter preßte – ein Zeichen bräutlicher Innigkeit, das sie mit innerem Widerstreben gab und erst, nachdem sie sich umgesehen, ob auch niemand kam; – aber der lange Korridor lag still und dämmerig da, wie ausgestorben.

»Ich werde Seine Durchlaucht den Gerichten übergeben auf Grund jener Geschichte seines Reitknechtes, deren Bestätigung ich vor einer Stunde erst gefunden habe,« sagte Spini haßerfüllt. »Und damit werden wir quitt sein, Herr Fürst,« setzte er, die Faust schüttelnd, hinzu. »Was er mir vorwirft, ist – hm – ist ein Abweichen vom Pfade, ist ein krummer Weg vielleicht, den er mir schwer beweisen dürfte – was aber seinen Namen befleckt, ist ein unerhörtes Verbrechen, dessen Beweis dort unten zu finden ist.«

Sigrid war leichenblaß geworden, und sie klammerte sich fester an den Arm des Italieners, weil alles mit ihr sich zu drehen schien. »Und was sagte er zu Ihrer Drohung?« brachte sie dann mit trockenen Lippen hervor.

»Pah – er leugnete nicht einmal die Existenz jenes Geheimnisses dort unten, daß er als ein ganz legitimes, von den Gesetzen sanktioniertes behandelte,« sagte Spini verächtlich, und voll Hohn setzte er hinzu: »Aber wir kennen das! Verbrecherkühnheit – Galgenfrechheit. Mich hat er nicht mit dieser sogenannten Sicherheit getäuscht!«

»Um Gottes willen, Ferrando – unternehmen Sie nichts gegen meinen Schwager in dieser Sache, es fällt auf Sie zurück,« rief Sigrid im Flüsterton dicht an seinem Ohr in dem rapiden Italienisch, das ihr zur zweiten Muttersprache geworden war. »Ich kenne meinen Schwager – er lügt nicht. Und wenn er mit Sicherheit über dieses furchtbare Etwas dort unten spricht, dann ist auch wirklich nichts dahinter, das ihn treffen könnte. Ich beschwöre Sie, lassen Sie ab von dieser gefährlichen Idee des Denunzierens!«

Spini sah das blasse Gesicht an seiner Schulter durchbohrend an.

»Sie sind ja mit einem Male ein sehr beredter Anwalt des Fürsten,« flüsterte er mißtrauisch. »Ich erinnere mich doch einer gewissen Unterredung mit Ihnen in der Kirche der Badia.«

»Als ob ich mich ihrer nicht auch erinnerte,« fiel sie ihm ins Wort. »Ja, wäre ich überzeugt von der Wirkung Ihres Mittels – – ich bin aber überzeugt, nach allem, was Sie selbst mir sagten, daß es uns vernichtet, nicht ihn. Lassen Sie die Sache wenigstens ruhen, bis ich Ihnen Nachricht gebe. Ich will, ich werde dem Geheimnis auf den Grund kommen. Thun Sie nichts Rasches, Unüberlegtes! Ich werde Ihnen schreiben, Ferrando! Nicht wahr. Sie versprechen mir, nichts in der Sache zu thun – keine halben Worte vor den Menschen, keine Denunzierung vor den Gerichten, keine Drohbriefe – bis ich hier alles geklärt habe. Ist's so recht?«

Und sie lächelte ihm zu, wilde Angst im Herzen, und schmiegte sich an ihn – und er, der Mißtrauische, der Kenner und Gelehrte des »Dämons im Weibe«, er ließ sich bethören wie ein Schulbube, dem man eine Zuckertüte vorhält!

»Ich weiß nicht –« begann er unsicher, und damit hat man ja meist schon verspielt. Aber ihn berauschte das schöne blonde Mädchen, um das er so lange vergeblich geworben, das sich endlich, endlich an ihn schmiegte, ohne eine Spur jener alten, harten Abweisung, die ihn so oft schon bis zum Wahnsinn gekränkt und aufgebracht.

Und er gab nach, er versprach ihr, nichts zu thun ohne gegenseitige Verabredung.

»Und mit welchem Trost reise ich ab?« fragte er, sie fest an sich drückend, zuletzt.

Da nestelte sie eine Rose von ihrer Brust los und gab sie ihm und duldete es ohne Widerstand, daß er heiße Küsse dafür auf ihren blassen Mund drückte. Das vollendete den Sieg über den Thoren, der so weise zu sein glaubte.

»Was willst du zunächst unternehmen?« fragte er, an ihrer Thür stehen bleibend.

»Es ist mir noch nicht ganz klar,« wich sie aus, denn sie wollte ihn gar nicht zum Vertrauten.

»Willst du der Fürstin Andeutungen machen?« fragte er wieder zweifelnd.

Da flammte es rot auf in Sigrids Augen.

»Iris?« hohnlachte sie mit einer solchen Gewalt des Hasses, daß es Spini erschreckte. Doch sie gewahrte, daß sie zu viel verraten. »Ist's nicht besser, wir lassen das alberne Ding aus dem Spiel?« fragte sie mit schwankender Stimme, »ich habe noch nicht an sie gedacht –«

»Das ist nicht wahr,« flüsterte er mit einem durchbohrenden Blick, vor dem sie die Augen senkte und die Lippen fest aufeinander preßte. »Sigrid, beherrsche dich! Hilf mir wühlen, graben, suchen, daß wir ihn von seiner unfehlbaren Höhe stürzen, aber sie lasse unbehelligt. Ist's nicht genug, wenn wir ihren Gott stürzen? Aber um unserer selbst willen darfst du der Fürstin Iris kein Haar krümmen!«

»Nein.« Sigrids Augen bekamen mit einem Male wieder jenen starren und doch dabei flackernden Blick, den Iris mit Sorge an ihr wahrgenommen. »Wie kann ich ihr etwas thun, wenn doch die Frau immerfort kommt und in mich hineinredet und mir verbietet, ihr etwas anzuhaben?« sagte sie mit einer Stimme, als spräche sie im Traum.

»Welche Frau?« fragte Spini erstaunt.

»Die Frau, die ihre Haare in der Hand trägt,« erwiderte Sigrid widerwillig. »Ich sah sie schon ein paarmal, aber nur im Traume, doch seit der letzten Nacht kommt sie auch so. Sie sagt, ich dürfte Iris nichts thun. Ich will ihr ja auch nichts thun – warum geht sie denn nicht? Sie steht neben Ihnen –«

Spini warf einen scheuen Blick um sich – sein leicht entflammter Gespensterglaube, ein Merkmal seines Volkes, war erregt, und ihm graute so, daß ihm die Zähne zusammenschlugen.

»Ist's dieselbe Frau, welche die Fürstin damals, am Vorabend ihrer Hochzeit, in ihrem hypnotischen Zustande neben dem Fürsten sah?« fragte er scheu.

»Ja, ja –! Ich will sie aber nicht mehr sehen – sie sieht fast aus wie ich selbst,« sagte Sigrid ungeduldig.

»Seltsam! Seltsam!« wiegte Spini das Haupt.

»Ja, seltsam,« nickte Sigrid mechanisch. Dann raffte sie sich mit Anstrengung zu ihrer alten Haltung empor. »Adieu jetzt – auf Wiedersehen,« sagte sie.

Spini wollte den Abschied gern noch verlängern, aber es kamen Schritte die Treppe herauf, die Sigrid veranlaßten, schnell und leise in ihr Zimmer zu verschwinden. Das gleiche that Spini, der mit zwei, drei lautlosen Sprüngen wie ein Panther seine Zimmerthür erreichte und hinter derselben verschwand.

Sigrid aber schob in ihrem Zimmer den Riegel vor und riß die Rose von ihrer Brust, deren Gefährtin sie Spini geschenkt als »Liebeszeichen«, und warf die köstliche Blüte mit Zeichen des Ekels zu Boden und trat darauf; – dann aber wusch sie ihr Gesicht und ihre Hände und wusch und wusch mit einer Hast und mit einer Ausdauer, bis ihre zarte, weiße Haut sich rot färbte.

»Ob's je abgehen wird?« murmelte sie, sich im Spiegel ansehend. »Jeder Kuß dieses gräßlichen Menschen ist ein Fleck, der sich tief eingefressen hat. Und ich ließ mich küssen für dich, Marcell! Er wird dir nichts thun, wird dich nicht denunzieren. Das hab' ich damit erkauft. Pfui – wie teuer! Was frag' ich, Marcell, ob du schuldig bist oder nicht? Ich liebe dich – habe dich eher geliebt als das thörichte Ding mit dem Kainszeichen –! Ob das Kind auch das Kainszeichen hat? Ich muß doch sehen gehen –« – Und ohne sich weiter zu besinnen, hastete Sigrid aus ihrer Stube hinaus in den anderen Flügel, wo in seinem Kinderzimmer der kleine Siegfried von seiner Wärterin umhergetragen wurde. Er hatte den elfenbeinernen Griff einer silbernen Klapper im rosigen Mündchen und sah ausgeschlafen und höchst zufrieden mit Welt und Menschen aus.

»Guck, die Tante kommt, mein Prinzchen!« rief die behäbige Bäuerin erstaunt, denn Sigrid, die kleine Kinder eigentlich nicht mochte, nahte sich ihrem Neffen auch nur draußen und dann ohne sonderliches Interesse. Aber die Klapper war trotzdem ihr Geschenk.

»Tante! Ich bin nicht seine Tante,« protestierte sie mit finsterem Blick gegen die Bezeichnung auf Italienisch, immer noch in Gedanken beschäftigt mit ihrem Gespräch mit Spini, das sie in dieser Sprache geführt.

Die Wärterin lachte verlegen, denn sie hatte natürlich nicht verstanden.

»Ist er nicht ein strammer, kleiner Kerl, mein Prinz,« fragte sie mit Stolz, ihren Pflegling Hochhaltend. »Gnädige Komtessse müßten ihn im Bade sehen – gerade wie einer der Cherubs am Altar unsrer lieben Frau in der Schloßkirche! Und so weiß und rosa wie ein Badepüppchen von Porzellan! Ganz wie die gnädige Frau Fürstin! Die ist auch so weiß, noch weißer wie gnädige Komtesse.«

Sigrid achtete gar nicht auf das Geschwätz der Person, sie sah nur das Kind an, das mit großen, dunkelblauen Augen zu ihr herüber sah – mit den Augen von Iris.

»Ich kann's nicht deutlich erkennen, ob er gezeichnet ist,« murmelte Sigrid vor sich hin. »Aber warum sollte er's nicht sein? Er ist ja ihr Kind, der Enkel der Gerichteten!«

Und leis' erschauernd wandte sie sich wieder um, sehr zum Staunen der Wärterin, die natürlich Sigrids seltsames Gebaren nicht begriff.

Da wurde die Thür geöffnet und Iris trat herein, frisch und rosig von der Ausfahrt, die Verkörperung der Jugend, der Anmut und des inneren Glückes.

»Du hier, Sigrid?« rief sie erstaunt. »Aber das ist eine Ehre für Siegfried,« setzte sie fröhlich und gutmütig hinzu! – kein Erinnern an die Scene in Sigrids Zimmer trübte mehr ihren Ton – es war alles vergessen und vergeben.

»Ja, ich – ich kam sehen, wie er aussieht –«, erwiderte Sigrid stockend und verlegen. »Er hatte eine schlechte Nacht, nicht?«

»Ja, wir hatten alle eine schlechte Nacht,« entgegnete Iris mit ihrer herzgewinnenden Freundlichkeit. »Aber wie gut du jetzt aussiehst, Sigrid – ganz rosig angehaucht. Hast du indes etwas geschlafen?«

Sigrid fuhr mit der Hand über ihr mißhandeltes Gesicht, das davon noch höher gefärbt ward.

»Nein,« sagte sie kurz, aber sie nahm sich mit großer Gewalt zusammen. Marcell würde es nie dulden, wenn sie Iris unfreundlich behandelte – sie hatte sich das klar gemacht. Und wer weiß, was dann geschah, wer weiß, ob er nicht eine Trennung über sie verhängen würde – er war ja so blind und eingenommen diesem Geschöpfe gegenüber, das vor der Welt als ihre Schwester galt! Und sie gewann es thatsächlich über sich, Iris die Hand hinzuhalten, mit gesenktem Blick, damit ihre Augen nicht verrieten, was sie dachte – eine kalte, steife Hand zwar – aber die großmütige Iris nahm diese stumme Abbitte, wie sie's in ihrem Herzen nannte, ohne Prüfung und ohne Bedingung entgegen und drückte die kalte Hand und streichelte sie schmeichelnd, Sigrid mit reizendem Lächeln dabei ansehend.

»Schade, daß du nicht mit warst,« rief sie dann, ihren Kleinen in die Arme nehmend – ein Bild, das eines Malers Auge schönheitstrunken machen konnte.

»Wie eine Immakulata mit dem göttlichen Kinde, ehe sie noch von den sieben Schwertern etwas ahnte,« dachte Sigrid unwillkürlich, und ein zehrendes Neidgefühl kroch in ihr Herz. »Maria – immer sie, Martha – immer ich. Eine schöne Immakulata mit dem flammenden Zeichen auf der Stirn! Ob er denn das nicht sieht? Kann er denn so blind sein?«

Ein lauthallender, dröhnender Ton unterbrach ihre Gedanken.

»Der Tamtam!« rief Iris. »In einer Viertelstunde muß ich fertig sein zum Diner – pah! In zehn Minuten mach ich's, nicht wahr, Siegfried, kleiner Held? Du bist doch schon fertig, Sigrid? Das Kleid steht dir so gut, aber nimm noch ein paar Rosen – auf meinem Toilettentisch steht sicher schon eine Auswahl für mich, komm, suche dir davon aus. O, eine Nadel? Ich gebe dir eine. Weißt du, die mit dem Türkis, die dir so gut gefiel, die schenke ich dir, denn ich bin so froh, weil du wieder gut und lieb bist. Freilich, auf Fuxia werden wir wohl heute warten müssen – es tropfte so von den Bäumen, und das hat ihr den ganzen Puder im Gesicht verwaschen – Sascha und ich haben so lachen müssen. Aber bis das Mehl wieder so schön verteilt ist, wird's noch lange dauern!«

Und während sie plauderte, steckte Iris selbst eine köstliche Paul Neuron-Rose mit der Türkisagraffe an Sigrids Brust fest und gab ihr dann den Kuß, den sie hätte bekommen müssen. Daß kein Dank, kein freundliches Wort ihr den Liebesdienst und das kostbare Geschenk lohnte, fiel ihr in ihrer Harmlosigkeit und Herzensgüte gar nicht auf – sie merkte auch nichts von dem Schauer, der Sigrid durchbebte, als sie ihr den schwesterlichen Kuß auf die Wange drückte.

Wie Iris vorausgesagt, mußte man lange auf Fuxia warten. Man setzte sich schließlich zu Tische, da die Gäste, welche mit dem Nachtzuge abreisen wollten, sonst gar nichts mehr oder nur wenig bekommen hätten, und man war auch schon beim Braten angelangt, als Fuxia endlich erschien und atemlos ihren Platz einnahm. Sie trug eine mit der Hand farbig gestickte Robe von roher chinesischer Seide, und ihr Gesicht war tadellos adjustiert – gleichmäßig lag der feine Perlpuder darüber, Wimpern und Brauen waren dunkler denn je gefärbt, der bläuliche Ring unter den Augen machte ihr Dubarry-Gesichtchen interesianter denn je, und ihr duftiges, zum Tizian-Blond gezwungenes Haar zeigte heut' einen goldigen Schimmer.

»Warum wird denn heut' so zeitig gegessen?« fragte sie naiv, indem sie ihre Serviette entfaltete.

»Wir haben eine halbe Stunde nach dem zweiten Tamtamzeichen auf dich gewartet, chère enfant,« bemerkte Madame Chrysopras mit mildem Vorwurf.

»Der Koch wollte nicht länger für die Güte der Speisen einstehen,« krähte Boris schlechtgelaunt. »Ich war selbst unten in der Küche. Wütend wäre ich an des Chefs Stelle geworden, Fuxia – – eine halbe Stunde! Und dazu Sachen in der Pfanne, die keine Minute Verzögerung vertragen. Das Hummerfrikasiee war auch zu trocken, Tante Iris!«

»Fandest du?« fragte Iris lächelnd. »Aber du selbst hast dem Chef doch das Rezept gegeben –.«

»Natürlich! Aber in dem Rezepte steht: muß sofort serviert werden,« murrte Boris. »Der Fasan ist natürlich nicht mehr so saftig, wie er sein sollte.«

» Goodnes! And I am the culprit!« rief Fuxia mit drolliger Zerknirschung.

»Ja, in kulinarischer Beziehung versteht Boris keinen Spaß,« warf Fürst Hochwald ein. »Verzeih' übrigens, Fuxia, daß wir ohne dich zu Tisch gingen –«

»Aber ich bitte dich! Freiheit, Freiheit allerwegen!« unterbrach Fuxia.

»Aber da der Marchese und Herr Aus dem Winkel nachher abreisen wollen, so durften wir sie doch nicht hungrig ziehen lassen,« vollendete der Fürst.

Fuxia horchte hoch auf.

» Well – warum höre ich jetzt erst davon?« fragte sie scharf.

»Weil es sich eben erst in der letzten Stunde entschieden hat, jedenfalls,« übernahm Sascha die Antwort. »Du machtest Toilette und bist dabei hermetisch von der Mitwelt abgeschlossen. Wer hätte es dir sagen sollen?«

»Nun, meine Kammerjungfer natürlich,« sagte Fuxia gereizt.

»Ah – – man hatte wohl vergessen, ihr die gebührende Anzeige zu machen,« replizierte Sascha lachend.

»O – eine gute Kammerjungfer muß alles wissen,« rief Fuxia heftig und in vollstem Ernst. »Aber Louison ist such a noodle – is she not, Boris?«

»'n unverschämtes Frauenzimmer ist sie,« brummte Boris, auf die Trüffelfüllung des Fasans näher eingehend.

» Well, Herr Aus dem Winkel – und warum reisen Sie ab?« rief Fuxia erregt dem Sänger zu.

»Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, Fürstin,« zog Aus dem Winkel sich mit einem Citat aus der Schlinge.

»Was heißt das?« fragte Fuxia verwundert.

Niemand antwortete.

»Und warum fragen Sie mich nicht, weshalb auch ich reise?« unterbrach Spini, der die ganze Zeit steif und still gesessen und das Mahl nur aus Rücksicht auf das Dekorum mitmachte, die allgemeine Pause.

» Oh yes – warum reisen Sie auch?« fragte Fuxia gleichgültig.

»Dem Zwang gehorchend,« erwiderte Spini beißend.

Fuxia sah ihn einen Moment verständnislos an – dann aber blitzte es auf in ihren Augen.

»O, ich verstehe,« sagte sie unschuldig. »Sie wollen einen Arzt konsultieren, weil Sie sich heut' Nacht in Strümpfen auf dem Estrich des alten Burgflügels erkältet haben!«

Wieder eine Pause, während welcher nur Spini eigentümlich lächelte, indes Sigrid mit großen Augen und blaß bis an die Lippen auf Fuxia starrte.

»Ich dachte es gleich, daß sie sich erkälten würden,« fuhr die letztere mit boshaftem Triumph fort. »Unbeschuhte Füße und ein dünnes Musselinpeignoir – das ist doch keine Toilette für solch eine Sturmnacht!«

»In der That nicht,« gab Spini unbewegt zu. »Sie hätten eben so menschenfreundlich sein und warnen sollen.«

» That's a difficult task in such a Situation,« lachte Fuxia, durch Spinis Bemerkung keinesfalls aus dem Sattel gehoben. » And pray – was fanden Sie in den gespenstischen Zimmern? Eulen, Fledermäuse und Ratten? Eine hübsche Gesellschaft für derartige Expeditionen!«

»Nun, immerhin eine bessere, als Sie fanden, Fürstin,« höhnte Spini im liebenswürdigsten Tone, seinen letzten Pfeil gewissermaßen auf den Bogen legend.

»Wieso?« forderte Fuxia ihren Gegner keck heraus.

»O – was Sie nicht suchten,« schoß Spini den Pfeil ab. »Einen Schnurrbart und – ein Nichts?«

Eine freie Tochter des freien Amerika aber läßt sich nicht so leicht verblüffen. Sie zuckte gleichmütig mit den Achseln und aß lächelnd ihr Kompott – wie tief der Pfeil gedrungen war, konnte niemand sehen, am wenigsten Boris, der hilflos auf seine Frau, auf den Marchese und auf Sigrid starrte, deren Gesicht wie aus Stein gemeißelt schien.

»Ei, nun, was soll denn das heißen? Giebt's hier auch eine Theaterrequisitenkammer, wo man Schnurrbärte finden kann?« fragte der Professor erstaunt.

Fürst Hochwald, der einsah, daß Spini in letzter Stunde noch Zwietracht und Streit provozieren wollte, hob sein Glas, das Rataiczak eben mit Sekt gefüllt hatte. »Auf das Wohl meiner Gäste,« rief er, und das allgemeine Anstoßen machte dem drohenden Thema ein Ende; denn sobald das Klingen der Gläser verhallt war, brachte Hochwald ein Gespräch über politische Tagesereignisse in Fluß, so daß bald eine allgemeine Debatte entstand, an der sich Madame Chrysopras, Sascha und hin und wieder auch Iris beteiligten, während Fuxia die kühnsten politischen Ansichten dreingab. Stumm waren nur Sigrid und Spini und in gewissem Sinne auch der durch das vorige Thema ganz »paff« gewordene Boris, der politische Tischgespräche haßte und lieber der gefrorenen Ananasbombe seine vollste Aufmerksamkeit schenkte. Nach der Tafel benutzte Fuxia die erste Gelegenheit, sich Hans Aus dem Winkel zu nähern und hastig und leise mit ihm zu sprechen. Aber so scharf Boris auch beobachtete – das ihm zugewendete Gesicht des Sängers drückte nichts aus als perfekte Höflichkeit, und das heitere Lachen, das ihm so gut stand, huschte manchmal über sein schönes braunes Gesicht.

Nur einen Moment konnte Sigrid Spinis habhaft werden, als man in den Salon zurückging.

»Hat – hat die Fürstin Ukatschin uns letzte Nacht gesehen?« fragte sie mit drohendem Blick.

Er zuckte die Achseln.

» Chi lo sà?« sagte er leicht.

»Aber die Andeutungen, die sie machte –«

»Ein Probepfeil, cara mia.«

»Sonst nichts?«

» Non sò

Sigrid zerriß vor Ungeduld ihr Taschentuch.

»Wozu dann das Wortgefecht?« fragte sie heftig.

»O – weil sie weiß, daß sie in meiner Hand ist,« lächelte Spini und ging, um seine Sachen fertig zu packen.

Aber Sigrid war nicht beruhigt. Fuxia fragen? Sie hatte sich mit der Frau ihres einstigen Anbeters auf keinen sonderlich freundlichen Fuß gestellt, auch kannte sie Fuxias vage, wortspielende Bescheide. Sie ging also nach momentanem Zögern direkt auf Fürst Hochwald zu, der an einem Nebentische stand und Cognac in eine Reiseflasche füllte.

»Warum reist der Cavaliere so plötzlich ab?« fragte sie leise.

»Sollte er dir's nicht gesagt haben?« erwiderte Hochwald ungläubig.

Sigrid machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Du hast ihm meine Hand verweigert?«

»Richtig.«

»Warum?«

»Aus Gründen, die ich für mich behalten möchte. Er kennt sie.«

»Und darum reist er ab?«

»Es wird ihm am liebsten sein, wenn man hier glaubt, es geschähe des erhaltenen Korbes wegen.«

»Marcell – warum antwortest du mir nicht offen?« rief Sigrid leise und heftig. »Bin ich nicht die Nächste dazu, deine Gründe zu wissen? Was wirfst du Spini vor? Unehrenhaftes?«

»Sagte ich dir nicht schon, ich wünschte meine Gründe für mich zu behalten?«

Sigrid sah ein, daß sie hier nichts erreichen konnte.

»Nun, das müßte mir wohl genügen,« sagte sie. »Jedenfalls,« setzte sie hinzu, indem sie den Fürsten mit einem halben Lächeln ansah, »jedenfalls bin ich dir dankbar für die Entfernung des lästigen Freiers.«

Hochwald sah seine Schwägerin überrascht an.

»Sigrid, ist das nicht etwas – – overdone, wie Fuxia sagen würde?« erwiderte er ernst.

»Hab' ich je meine Gefühle für Spini in den Mantel des Wohlwollens gehüllt?« fragte sie hochmütig zurück.

Hochwald schüttelte verneinend den Kopf – hier stimmte sein Rechenexempel nicht.

»Und doch gabst du ihm in letzter Nacht ein Rendezvous?« fragte er leise.

»Ich? Wer sagt das? Etwa Spini selbst?« fuhr sie auf.

»Ruhig, Sigrid – kein Aufsehen. Man hat euch gesehen!«

»O,« sagte sie verächtlich, »das thut mir leid. Trotzdem hat man falsch gesehen. Ich war recht krank letzte Nacht – der Schreck in der Bibliothek, weißt du, und der Sturm zitterten mir in allen Nerven. Ich ging nachts herum im Korridor und bis ins alte Schloß – ich wäre im Zimmer erstickt. Dort traf mich Spini – wo er indes herumspioniert hat, weiß ich nicht. Er stützte mich auch, weil ich halb ohnmächtig war, und wollte mir im alten Flügel etwas zeigen – aber ich wollte nichts sehen, und er führte mich in mein Zimmer zurück. Das ist alles.«

»Hoffen wir, daß es alles ist,« erwiderte Hochwald trocken. Aber er glaubte Sigrid nicht, und sie fühlte das.

»Es ist gut, daß er abreist,« wiederholte sie kühl. »Ich spreche nicht allein um meinetwillen, denn er scheint mir hier im Schlosse bekannter zu sein, als vielleicht auch für dich wünschenswert ist.«

»Aha!« machte Hochwald sarkastisch. »Aber,« setzte er nicht ohne eine gewisse Schärfe hinzu, »Du magst recht haben – es ist ein widerwärtiges Gefühl, Gäste bei sich dulden zu müssen, von denen man weiß, daß sie einem das Haus durchspionieren und dann das Gefundene für ihre eigenen Zwecke zu verwerten trachten.«

»O – wenn aber nichts zu finden ist –«

»Sei ganz ruhig. Derartige dunkle Ehrenmänner verstehen es allzeit, das Skelett im Hause zu finden,« erwiderte Hochwald trocken.

»Aber –« und Sigrid trat einen Schritt näher, mit glänzenden Augen und der Röte innerer, unnatürlicher Erregung aus den durchsichtig blassen Wangen,« aber er wird keinen Gebrauch machen von dem, was er ausspioniert hat, Marcell! Dafür habe ich gesorgt, ich!«

Hochwald sah seine Schwägerin erstaunt an. »Unnütze Liebesmüh', liebe Sigrid,« meinte er achselzuckend. »Laß doch dem Manne sein Vergnügen! Das wirst du und ich nicht ändern.«

»Spini ist aber ein gefährlicher Mensch –«

»Ja doch! Gericht, Polizei, was? Wenn er sich dort auslachen lassen will, so wirst du das auch nicht verhindern können. Vielleicht ist's ihm sogar ganz gesund.«

Und damit nickte Hochwald seiner Schwägerin zu und brachte Aus dem Winkel die umsponnene Reiseflasche. Fast gleichzeitig meldete ein Diener den Wagen, und da Spinis Zug in der Richtung Frankfurt nur um ein geringes früher abfuhr als Aus dem Winkels Zug nach Hamburg, so benutzten beide den gleichen Wagen. Der Abschied von dem Sänger war allerseits herzlich – der von Spini entbehrte durchaus nicht der landesüblichen und vom guten Tone verlangten Höflichkeit, bei der nichts fehlte als der Händedruck, der eine der hübschesten Sitten ist, die das fin de siècle mitgebracht. Nur Madame Chrysopras war harmlos geblieben und lud Spini zu all ihren zukünftigen »Abenden« in Florenz ein, und als er dann vor Sascha stand, konnte sie nicht anders, als ihm eine kalte, bebende Hand reichen – zum letztenmal wahrscheinlich.

Nur Fuxia fehlte bei dem Abschied der beiden Herren; als der Wagen dann fortgerollt war, beschloß man, den immerhin noch ziemlich hohen Seegang von der Terrasse aus zu beobachten, wo Windschirme vor Zug schützten. Boris lief inzwischen, fortwährend: »Fuxie! Fuxie!« krähend, umher, seine Frau zu suchen, und fand sie endlich in einem der Zimmer, die an den Salon stießen, auf einem Bärenfell liegend und ohne Rücksicht auf ihr Gesicht ins Taschentuch schluchzend.

»Herrje, Fuxia! Was machst du denn da?« fragte Boris erstaunt.

»Mir bricht das Herz!« stöhnte sie, und emporspringend schüttelte sie Boris beide weiße Fäustchen dicht unter seiner Nase. »Und du bist schuld daran« schrie sie ihn an.

Boris trat um einen Schritt zurück und brach dann in ein unaufhaltsames Gelächter aus.

»Nee, Fuxie, wie siehst du denn aus?« piepste er. »Ganz scheckig! Nee, das ist ja zum Schießen – hahahahahahaha!«

Die Thränenbäche in Fuxias Augen versiegten plötzlich – mit einem Satze, wie die Katze auf die Maus, stürzte sie auf den nächsten Spiegel zu – –

»Wie 'ne tättowierte Indianersquaw!« gröhlte Boris, sich biegend, hinter ihr – und er hatte nicht unrecht. Eine Idee rosa Schminke, eine größere Menge Karminrot auf den Lippen, das tiefe Braun der Augenbrauen und Wimpern, der interessante bläuliche Ring um die Augen und endlich der feine Perlpuder hatten sich vermittelst der Thränen unter Assistenz der Zotteln des Bärenfells zu einer interessanten Marmorierung vereinigt, die den pikanten Zügen der Fürstin Ukatschin-Chrysopras eine gewisse Wildheit verlieh. Ein paar Augenblicke starrte die schöne Fuxia das grausige Spiegelbild an, hinter dem der in Lachkrämpfen sich windende Boris erschien, und dann drehte sie sich schnell wie der Blitz um – ihre kleine, höchst kräftige Rechte hob sich – ein merkwürdig klatschendes Geräusch und mit halbverhülltem Gesicht stürzte Fuxia an dem eben eintretenden Fürsten vorbei, der Stille ihrer Gemächer zu.

»Was war denn das?« fragte Hochwald erstaunt. »Ich hörte dich doch eben noch so lachen –«

»Jawohl, und dafür hat sie mir eine gestochen,« beklagte sich Boris wütend, indem er sich die linke Wange rieb.

Hochwald schüttelte den Kopf.

»Kinder, das geht so nicht weiter,« meinte er halb ernst, halb belustigt. »Sie schließt dich von ihrem Besitz aus, sie giebt dir Ohrfeigen –«

»Bitte! 's war die erste,« verteidigte Boris seine Frau.

»Das muß anders werden,« vollendete der Fürst.

»Jawohl! das muß anders werden,« regte sich Boris auf. »Von morgen ab, Onkel, gilt mein Wille und mein Wort allein im Hause! Willste wetten?« – – – –

Und so war es, und zwar aus dem sehr einfachen Grunde, weil im Hause Ukatschin-Chrysopras Boris am nächsten Morgen Alleinherrscher war und niemand ihm seinen Willen streitig machte. Denn als er ziemlich spät aufwachte, fand er merkwürdigerweise Fuxia nicht mehr schlafend, sondern überhaupt nicht mehr auf ihrem nächtlichen Lager, dagegen lag auf seinem Toilettenkasten ein Brief aus grasegrünem, dickstem Billetpapier mit Johanniskäfern in der Ecke, und in diesem Briefe stand mit violetter Tinte in Fuxias klarer, geschäftsmännischer Schrift also zu lesen:

 

» Dearest Boris!

Dem Zuge meines Herzens folgend verlasse ich dich. Die Liebe ist keine Fiktion, wie ich immer glaubte, sie besteht – und sie ist in mein Herz eingezogen. Our marriage was an entire mistake. Deshalb verlasse ich dich und folge dem Manne meiner Liebe. Ich werde dir später schreiben, ob und wenn wir unsere appearance before the Divorce-Court machen werden. Ihr habt doch einen Divorce-Court in Rußland? Wenn nicht, dann lassen wir uns in Amerika scheiden, dort geht es ganz leicht. Du bist aber wirklich quite a dear boy, also mache keinen fuss um die ganze Geschichte, like a good soul. Meine Sachen in Rom kannst du mir nachschicken – nimm einen ordentlichen Packer dazu. Die Adresse schreibe ich noch. Und vergiß nicht, das Silber aus der Bank zu holen und mit Sicherheit – wie sagt man? an mich abzuschicken. Meine Juwelen habe ich bei mir. Als ein Andenken an mich schenke ich dir die beiden Orloff-Traber – – doch nein, schicke sie mir lieber, ich kann sie brauchen mit meinen Reitpferden. Du kannst die Jucker behalten, besser noch die Graditzer Stute für den Turf. Schicke mir doch lieber den ganzen Marstall, weißt du. Vergiß auch die Wagen nicht. Und gedenke in Freundschaft deiner

Fuxia.

P. S. Das Inventarverzeichnis meiner Sachen besitze ich, kann also das Ankommende ganz kontrollieren. Willst du eine Kopie für die Verpackung?

P. S. 2. Please, finde dich mit Ruhe in die Sache. Aufregung etc. is quite useless und will only spoil your complexion.« – – – – –

 

Nachdem Boris diesen Brief gelesen, stand er einen Moment starr – dann vergaß er, daß er rote Saffianschlappen an den Füßen hatte, daß sein Kostüm das denkbar einfachste war, wie man es so zu Beginn der Morgentoilette zu tragen pflegt, er vergaß sogar, daß er sich in einem bewohnten Hause befand, und stürzte, wie er war, das grasgrüne Billet mit dem roten Johanniskäfer in der hocherhobenen Rechten, durch das ganze Schloß, vorbei an mehreren Bediensteten, die ihm entsetzt nachstarrten, direkt in das Arbeitszimmer des Fürsten, in welchem dieser mit Sascha Auszüge aus dem Kursbuche für ihre Reise machte, während Iris und Madame Chrysopras auf einem kleinen Sofa saßen und des Hauses Hochwald lustig krähenden Erbprinzen in seinem Stimmübungen bewunderten.

»Boris!« kreischte Madame Chrysopras auf, als ihr »Süßer« in dem oben angedeuteten Kostüm wie ein Besessener in das Zimmer platzte. »Boris! Um Gottes willen! Diese Toilette –«

»Soll ich mir dazu noch den Frack anziehen?« schrie Boris erbittert und durchaus unlogisch los.

»Was ist denn passiert?« erklang die ruhige Stimme Hochwalds, während Sascha und Iris sprachlos die merkwürdige Erscheinung anstarrten. Der kleine Siegfried hingegen schien den zappelnden Onkel mit den roten Schlappen, den weißen Unterinexpressibels und dem rosa Batisthemd mit moosgrünem Pastillenmuster für eine Art großen Hampelmann zu halten und machte verlangende Bewegungen nach ihm.

»Was wird denn passiert sein?« schrie Boris und schnappte nach Luft. »Fuxia –!«

»Mein Gott, ist sie krank?« rief Iris dazwischen.

»I wo! Durchgebrannt ist sie – ausgerissen wie Schafleder,« entgegnete Boris hohnlachend und warf Hochwald den grasgrünen Brief zu, sich selbst aber ließ er in den nächsten Sessel fallen.

Hochwald las den Brief laut vor.

» Quelle scandale!« jammerte Madame Chrysopras. »Was werden die Leute sagen! O über dieses gräßliche unerzogene amerikanische Geschöpf mit den schlechten Manieren! Wie soll man das vertuschen?«

Sascha trat blitzenden Auges vor ihren Bruder hin.

»Boris,« sagte sie mit großer Energie. »Boris, wenn du ein Mann bist und kein Waschlappen, so reist du ihr nach, gießt ihr ein paar Kannen kaltes Wasser über den Kopf, daß sie zur Besinnung kommt, und geigst ihr dann den Text, daß ihr Hören und Sehen vergeht, verstanden?«

»Ich schließe mich Saschas Meinung voll an,« nahm Fürst Hochwald das Wort. »Ich meine, Fuxia kann zur Besinnung gebracht werden. Und das zu thun, ist zweifellos deine Pflicht, Boris.«

Boris murmelte etwas vor sich hin – aber er hatte Respekt vor Hochwald und dessen Meinungen.

»Siehste, Onkel, der Brief da – der kann mich rasend machen,« brach er dann los. »Der Brief ist der unverschämteste Wisch, den ich je gesehen – für den Brief –«

»Für den Brief kannst du ihr eine dritte Kanne Wasser über den Kopf gießen,« fiel Sascha trocken ein.

»Was werden die Menschen sagen! Was werden die Menschen sagen!« jammerte Madame Chrysopras.

»Entschließe dich, Boris,« sagte Hochwald ruhig. »Meines Erachtens mußt du ihr nachreisen und sie zurückbringen, hierher oder in dein Haus. Es ist vielleicht ganz der rechte Moment, sie mit unbeugsamer Energie auf den richtigen Weg zu lenken und ihr die Tollheiten ein für allemal auszutreiben. Versuchen mußt du es!«

Boris drehte sich unruhig und unentschlossen hin und her und balancierte seine roten Schlappen auf den Zehenspitzen – ein Vorgang, dem der kleine Siegfried die vollste Aufmerksamkeit widmete.

»Soll ich dich begleiten?« fragte Hochwald, der einen Blick mit Iris gewechselt hatte.

»Ach, Onkel, du bist zu nett! – auf Ehre!« rief Boris gerührt und fiel, aufspringend, dem Fürsten mit Vehemenz um den Hals. »Freilich, wenn du mitfährst – – ich könnte ja ganz gut mit Fuxia auskommen, wenn – – – wann sollen wir denn fahren, Onkel? Und wohin denn?«

Sascha hatte während dieses Ergußes das Kursbuch schon in der Hand.

»Expreß nach Hamburg: 10 Uhr 45,« sagte sie trocken. »Fuxia wird mit dem Zuge 6 Uhr 30 gefahren sein. Bummelzug. Kommt nicht viel früher an als ihr.«

»Woher weißt du denn, daß sie nach Hamburg gefahren ist?« fragte Boris ganz erstaunt.

Doch der Fürst schob ihn sanft zur Thür.

»Abgemacht – wir fahren um 10 Uhr 45,« sagte er. »Nun geh' aber und zieh' dich an, damit du auch fertig bist, Boris! Oder soll ich dir einen Mantel holen, damit, wenn du jemand begegnen solltest –«

»I wo, Onkel! Ich laufe schnell –«

»Aber das hindert doch nicht, daß dich jemand sieht. Daß meine Frau dein Deshabillé bewundern durfte, finde ich schon reichlich – hm – aber du könntest doch Sigrid begegnen –«

»Wird auch nicht davon sterben,« versicherte Boris und schoß mit derselben Vehemenz von dannen, mit der er erschienen war.

»Nein, dieser Skandal!« seufzte Madame Chrysopras und rang die Hände. »Glaubst du denn, Marcell, daß diese Reise etwas nutzen kann?«

»Wenn Boris seiner Frau imponiert, sicherlich!« war die Antwort.

Sascha ballte beide Fäuste.

»O, wäre ich nur an seiner Stelle – wie würde ich ihr Mores lehren,« rief sie empört.

»Nun, den Löwenanteil nehme ich auf mich,« erwiderte Fürst Hochwald kühl. »Ich habe nicht die Absicht, Madame Fuxia meine Meinung vorzuenthalten oder ihr dieselbe sub rosa zu geben. Vielleicht kommt sie dann doch zu der Überzeugung, daß deutsche Deutlichkeit und amerikanische free-spokedness sich durchaus nicht voreinander zu schämen brauchen.« – – – – – – – –

*

Als eine halbe Stunde später der Wagen zur Station schon vor der Schloßrampe hielt, und Sascha, die nur wenige Stunden später abreisen sollte, Abschied nahm von Marcell Hochwald und ihm nochmals mit warmem Händedruck dankte für alles, was er für sie gethan, nahm sie Gelegenheit, ihm hastig zuzuflüstern:

»Onkel, bleib' nicht zu lange fort.«

»Warum? Natürlich kaum länger als nötig sein wird –«

»Nämlich Iris – das heißt eigentlich Sigrid. Ihr nie sehr hervorragend liebenswürdiger Charakter hat sich in letzter Zeit geradezu zur Unausstehlichkeit entwickelt, und ich glaube, sie quält Iris recht damit –«

»Aber Iris hat ein so glückliches Temperament, daß sie es zu einem Krach nicht kommen lassen wird,« meinte Hochwald nachdenklich.

»Natürlich nicht. Und Sigrid benutzt das, um auf Iris sozusagen zu trampeln,« erwiderte Sascha eifrig.

»O – dazu gehören doch wohl drei: Einer, der's thut, einer, der sich's gefallen läßt und der dritte, der's erlaubt. Und der bin ich nicht,« meinte der Fürst halb lächelnd, halb beunruhigt.

»Aber wenn du fort bist –! Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit, sagt bei uns ein Sprichwort.«

Hochwald schüttelte mit dem Kopfe.

»Na, Boris, bist du endlich fertig?« rief er dem Neffen zu, der in einem mit marineblauem Foulard leicht gefütterten Staubmantel mit weit abstehendem Capuchon von roher Seide eben in der Vorhalle erschien. »Der Zug wartet nämlich nicht auf uns. Das ist so eine seiner Eigentümlichkeiten. Also vorwärts! Adieu allerseits, auf baldiges Wiedersehen! Adieu Iris« – und ein ganz bürgerlicher Kuß begleitete dies Lebewohl – »grüß mir unsern Jungen! Adieu Olga, adieu Sigrid! Und Ihnen, liebstes Professorchen, übergebe ich meine Penaten und meines Herdes Flamme –«

»Gut – ich werde darüber Wachen. Machen Sie nur, daß Sie weg kommen – Gott Strambach! Mir brennt das Eisenbahnfieber für Sie schon die Adern durch!« versicherte Professor Glauchau nervös. Hochwald hakte seinen Arm in den des Gelehrten, um sich von ihm bis zum Wagen begleiten zu lassen.

»Behüten Sie mir meine Frau,« flüsterte er ihm zu, »leisten Sie ihr ein wenig Gesellschaft, ja? Sehen Sie, meine Schwägerin ist sehr nervös und quält damit meine Frau oft sehr – doch wenn Sie dabei sind, wird sie sich mehr zusammennehmen.«

»Wird alles besorgt,« versicherte der Professor. Und damit rollte der Wagen auch schon von der Rampe und zum Thore hinaus, und Iris stand in dem Portal und wußte nicht, warum ihr das Herz auf einmal so schwer wurde.

»Nanu, meine liebste Fürstin,« rief der Professor sie an, »thun Sie mir den einzigen Gefallen und sehen Sie nicht so schwermütig darein. Der Herr Gemahl wird ja nicht lange bleiben –«

»Ich weiß, ich weiß – es ist ja auch zu thöricht,« suchte die Fürstin Iris zu scherzen. »Aber ich kann nichts dafür, Herr Professor – mir ist so beklommen zu Mut –«

»Nu eben!« nickte Professor Glauchau verständnisvoll. »Sozusagen die erste Trennung? was?«

»Ja. Aber das kann's ja nicht sein. Vielleicht ist Marcell morgen Abend schon wieder da – – hat er Ihnen gesagt, warum er reist?«

Der Professor schneuzte sich mit einer wahren Tischdecke von einem rotseidenen Taschentuche.

»Das heißt, der Fürst hat mir 'n kleines Exempel aufgegeben. Sagen wir –: wieviel ist zweimal zwei? Ich denke, 's macht vier. Wenn nicht 'n Wunder geschieht, ist die Reise 'nausgeschmissenes Geld. Und wenn's auch 'was nützt – ich hätt' sie laufen lassen!«

»Aber Professor!« ereiferte sich Iris. »Freilich Sie als verstockter und durchaus unverbesserlicher Junggeselle –«

»Allemal!« schmunzelte der kleine Gelehrte.

Madame Chrysopras, die Sigrid indes in einer Ecke ihr Herz ausgeschüttet, kam näher: »Iris – ich fürchte, ich bekomme wieder meine Migräne. Solche Emotionen sind Gift für mich. Ich werde mich daher zurückziehen – Saschas Abschied wird mir wohl dann den Rest geben. Läßt du mir oben servieren?«

»Selbstverständlich, wenn du es wünschest,« versicherte Iris. »Ich will Sascha dann selbst zur Station fahren – wer kommt mit?«

»Ich möchte Sascha vorher Lebewohl sagen,« fiel Sigrid ein. »Mir ist ja heut' viel wohler, aber ich denke, ein paar Stunden vollständiger Ruhe allein im Freien werden mir gut thun!«

» And a good horsewhipping too, würde Fuxia sagen,« murmelte Sascha, doch so deutlich, daß sowohl Iris wie Sigrid es hören konnten.

Letztere zuckte mit den Achseln, nahm einen leichten Plaid und Sonnenschirm vom Ständer und ging hinaus in den Park. Iris mit Sascha und Madame Chrysopras stiegen wieder hinauf, während der Professor sich nach der Bibliothek wandte.

»Wenn die Leute doch nur graderaus sagen wollten. Was eigentlich los ist,« brummte er vor sich hin. »Was hat nur diese schöne, murksige Sigrid gegen meine Feen-Fürstin? Warum muß ich mir 'n Kopf zerbrechen, um das 'rauszukriegcn? Aufpassen woll'n wir schon! – Nette Leute, diese Hochwalds. Warum die aber der angestrichenen Dankeemillionärin nachpreschen, das ist mir ein Rätsel. Die brauchen die doch nicht –? Hm! Hm!«

Nach weiteren fünf Minuten hatte der gute Professor zwar über den Büchern die Welt vergessen, aber doch nicht ganz seinen Auftrag. – – – – – – – – – –

Ein paar Stunden später reiste auch Sascha ab, begleitet von Thränenströmen ihrer Mutter, der es zu dämmern begann, was sie an der Tochter besaß, deren Häßlichkeit ihr ein täglich neuer Stich ins Herz war. Und als der Zug schon im Fahren war, rief sie ihr unter wildem Taschentuchschwenken noch nach: »Sascha – Sascha de grâce – halt dich gerade!« – Die Haltung war ja das einzige, was cette pauvre enfant an Äußerlichkeit besaß, da sie leider ja dem seligen Chrysopras ähnlich war.

Heimfahrend von der Station wunderte sich Iris im stillen, wie Marcell Hochwald, der in allem so tief angelegt war und jede Seichtheit mied, eine so oberflächliche Schwester haben konnte. »Was werden die Menschen sagen« – das war die moralische Richtschnur ihres Lebens, und wenn es Mode geworden wäre, auf den Händen zu laufen statt auf den Füßen, so hätte sie es sicher auch gethan, weil eben tout le monde es that. Natürlich verstand sie die starke Individualität ihrer Tochter nicht und nannte exaltiert, was sie nicht begriff.

»Daß Geschwister so verschieden sein können,« dachte Iris, ihre Jucker den weichen Waldweg traben lassend. Und das brachte sie auf ihre Beziehungen zu Sigrid. Waren nicht so schroffe Gegensätze auch zwischen ihr und ihrer Schwester aufgetreten, seit –

Seit Marcell in ihr Leben getreten und sein Herz ihr zugewendet hatte.

Es fiel mit einem Male wie Schuppen von Iris' Augen: das ganze sonderbare, kränkende, verletzende Benehmen Sigrids ihr gegenüber war Eifersucht!

Und so überwältigt war sie von diesem plötzlichen, grellen Lichtstrahl, daß sie die Pferde mit einem Ruck in die Zügel zum Stehen brachte und es gar nicht merkte.

»Mein Gott, Iris, warum halten wir hier mitten im Walde? Was ist geschehen?« rief Madame Chrysopras.

»O nichts,« murmelte Iris wahrheitsgetreu und ließ die Mausgrauen wieder antraben. »Ich war so in Gedanken, Olga, und das machten die Faulpelze sich zu nutze!«

Die »Faulpelze« gingen übrigens so scharf auf die Zügel, daß Iris alle Not hatte, sie im Tempo zu halten, und das entschuldigte auch ihre Abneigung einer Unterhaltung mit Madame Chrysopras, die unaufhörlich in einem babylonischen Gemisch von Italienisch, Französisch und Englisch, »damit es der hinten aufsitzende Groom nicht verstand«, über ihre Familienleiden dabbelte und kauderwelschte und Iris dadurch vollkommene Freiheit ließ, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, indem ein gelegentliches »Ah« und »O« vollkommen genügte, um die Sprecherin im Text unbeirrt fortfahren zu lassen.

Iris war immer noch wie geblendet von ihrer plötzlichen Erkenntnis.

Daß sie auch darauf nie gekommen war! Und doch war das ganz natürlich, da ihr Charakter ebensowenig wie der Hochwalds das Gefühl der Eifersucht kannte. Ein ganzes Vertrauen kennt keine Eifersucht, denn wo diese sich einschleicht, da ist eben kein ganzes Vertrauen, sondern nur jenes mißtrauische halbe, das gierig nach Beute sucht, sich und andere damit zu quälen. Eifersucht ist Kleinlichkeit und entspringt vielen Motiven. Oder nannte man Sigrids Eifersucht besser Neid, weil sie's vielleicht nicht ertragen konnte, daß Hochwalds Herz nicht ihr gehörte? Das war's nun, was Iris nicht entscheiden konnte. Aber Neid!!! Der Neid ist ein unedler Trieb, der im Hause des Grafen Erlenstein sicher nicht gesäet worden war, ja mehr noch, er ist eine Todsünde. Und doch – wenn Sigrid eifersüchtig war auf sie, weil Marcell Hochwald sie erwählt hatte, so mußte sie ihr ja auch ihr Glück beneiden!

O, welche grauen, verzweifelten, garstigen Gedanken mitten im Sonnenschein, im Rauschen des Eichenwaldes, den eine erfrischende Brise von der See her durchzog! Und doch, blieb ihr eine andere Lösung des Rätsels, das Sigrid ihr aufgab durch ihr seltsames Gebaren?

»Olga, könntest du Sigrid nicht zureden, dich nach England zu begleiten?« wandte sie sich an ihre Schwägerin, denn es wurde ihr ganz klar, daß ein Zusammenleben mit ihrer Schwester unter diesen Umständen unmöglich war, bis der Riß geheilt und vernarbt war durch den unfehlbarsten Arzt, die Zeit.

»Zureden?« entsetzte sich Madame Chrysopras. »Liebe Iris, ich habe seit gestern nichts anderes gethan, denn der Gedanke, allein zu reisen, nun Sascha mir durch den Überfalls Marcells genommen ist, macht mich ganz krank. Zureden! Ich habe sie heute früh fast auf Knieen gebeten, aber du weißt ja, wie eigensinnig sie ist. Früher, als dein Vater noch lebte, wagte sie das nicht – wer hätte gedacht, daß sie sich so schroff entwickeln würde, nun die feste Hand fehlt, die sie im Zügel hielt!«

»Ja,« sagte Iris. »Ich glaube aber auch, es muß die Seeluft sie so nervös machen, und darum wäre es vielleicht bester, sie ginge mit dir. Manche vertragen die Seeluft gar nicht. Aber es scheint mir von unserer, speciell von meiner Seite so unfreundlich, ihr zuzureden, uns zu verlassen.«

»O freilich! Du bist so zartfühlend, chérie,« erwiderte Madame Chrysopras aus aufrichtigen Herzen. »Manchmal, weißt du, ist Sigrid auch keine angenehme oder bequeme compagne! Sie hat Launen – well, sie ist mir manchmal ein Rätsel gewesen, aber trotzdem nehme ich sie gern mit, sie sieht so vornehm aus – und after all, wir vertragen uns molto benissimo! Um von Rätseln zu sprechen –: was hat es denn mit dem Marchese gegeben? Warum diese eilige Abreise? Marcell schien nicht in high terms mit ihm zu sein beim Abschiede – er hat ihm nicht die Hand gegeben. Ich hab's gesehen! Marcell hat ihn hoffentlich nicht in seiner Eitelkeit verletzt – und der Marchese ist ein so berüchtigter Duellant.«

»O –« Iris wippte mit der Peitsche – die Antwort wurde ihr schwer. Dann sprach auch sie italienisch weiter. »Der Marchese hat sich einen Korb geholt, glaube ich –«

»Wie?« kreischte Madame Chrysopras entsetzt. »Doch nicht bei Sascha? Oh! This most troublesome and wilful girl –«

»Nicht doch, Olga!« suchte Iris ihre aufgeregte Schwägerin zu beruhigen.

»Ah,« sagte diese aufatmend. »Also bei Sigrid? Und nachdem er fast drei Jahre im Joch gegangen ist an ihrem Siegeswagen?«

»Ich weiß nichts davon, Olga – – ich habe, offen gesagt, noch nicht die rechte Courage gehabt, mit Sigrid selbst darüber zu sprechen. Aber Marcell ist doch ihr Vormund und hat als solcher den Korb erteilt –«

»Ah –!« machte Madame Chrysopras sichtlich erleichtert. » That solves the mystery!«

Iris nickte. Was sie gesagt, war alles, was sie selbst wußte – durch Marcell, der ihr naturgemäß den Nest seiner Unterredung mit Spini nicht mitgeteilt, damit kein Wölkchen seinen »Sonnenschein« trübte.

Der Tag verging, ohne daß Iris mit Sigrid zusammenkam, außer beim Lunch und beim Fünfuhrthee, und da war letztere schweigsam, weil der Professor zugegen war und Iris ganz durch seine lebendigen Darstellungen geschichtlicher Ereignisse fesselte, bei deren Vortrag er, wie schon gesagt, völlig seinen Dialekt ablegte. Iris, deren regen Geist und Wissensdurst jedes geistige Gebiet zur Quelle des Genusses wurde, die alles mit vollem Verständnis und einer seltenen Fassungsgabe in sich aufnahm, hing mit leuchtenden Augen an den Lippen des kleinen Professors, der sich, wenn er über Geschichte sprach, zu einer Größe erhob, die das Lächerliche seiner Person und seines Alltagsmenschen ganz in den Hintergrund schob. Das war beim Thee, den sie zu dritt auf der Parkterrasse nahmen, da Madame Chrysopras ihre »Migräne pflegte,« das heißt auf der Chaiselongue lag, Cigaretten rauchte, Fondants und Pralinees naschte, starken Thee trank und den neuesten Moderoman las.

Ein Pastell von Marie Antoinette, das dem Professor in einem der Zimmer aufgefallen war, hatte ihn auf die französische Revolution gebracht und deren Ursachen, und er sprach mit tiefem sittlichem Ernst von dem moralischen Verfall einer Dynastie, welche sich mit Stolz die Ludwigs des Heiligen nannte. Und während er sprach und Iris mit seinen Ausführungen fesselte, fühlte diese plötzlich etwas in sich wie einen dumpfen Schmerz, etwas, das ihr Pein bereitete und doch nichts Körperliches war. Gezwungen wendete sie den Kopf und sah, daß Sigrid sie betrachtete, mit einer seltsamen Spannung in den Zügen und einem fascinierenden Ausdruck des Blickes, unter dessen Bann es ihr klar wurde, daß das dumpfe, schmerzliche, unkörperliche Empfinden in ihr von dort entsprang.

Sigrid senkte den Blick, als Iris sie ansah, und letztere fühlte etwas wie eine Last von sich genommen und wandte sich mit gespannter Aufmerksamkeit wieder dem Professor zu. Bald aber kehrte das unbehagliche Gefühl wieder, und dies gab ihr die Gewißheit, daß Sigrid sie von neuem beobachtete. Aber sie bezwang sich und lehnte sich auf gegen den magnetischen Einfluß jener glitzernden, hellen Augen, in denen ein so eigner Ausdruck gewissermaßen verborgen lauerte, ein Ausdruck, für den Iris keine Deutung fand.

Doch auch der Professor sah diesen Blick – er fiel ihm plötzlich auf, mitten in seinem Vortrag, und brachte ihm zum jähen Abbrechen desselben – warum hätte er selbst nicht sagen können.

»Da haben wir's,« sagte er nervös. »Schon wieder ist mir die Zunge mit dem Stoff durchgegangen. Und was für einen Stoff! Netter Stoff für so'n paar junge und schöne Damen –«

»Nein, Herr Professor, das müssen Sie nicht sagen,« protestierte Iris ernsthaft. »Kann man nicht auch Geschmack finden an solchen gewaltigen Dingen und Vorgängen, wenn man jung ist? Nein, Sie sollen uns nicht in die Kategorie der jungen Damen stellen, die nur Sinn haben für die Oberflächlichkeiten und unfähig sind, einzudringen in die Tiefen –«

»Gott segne Sie, allerliebste Durchlauchtige,« sagte der Professor fast zärtlich. »Sie sind eben auch anders wie die andern, und das hat er halt auch gemerkt, Ihr werter Gatte. Aber ich hab' das Pech gehabt, die Komtesse sträflich zu langweilen.«

Sigrid wandte den Blick, um ihn leicht über den Professor gleiten zu lassen.

»Gar nicht – im Gegenteil,« sagte sie ohne Ausdruck. »Sie sprachen, glaube ich, von dem moralischen Verfall der französischen Dynastie. Vererbungstheorie, nicht?«

»Nein – das können Sie wohl schwerlich so nennen, wenn's auch heutzutage zu den Schlagwörtern gehört,« erwiderte der Professor nachdenklich. »Vererbung mag ja auch dabei eine Rolle spielen, doch allein kann man sie dafür nicht verantwortlich machen.

»Aber die Neigung zum Bösen ist doch vererblich?« warf Sigrid kühl und uninteressiert dazwischen.

»Man sagt's, aber ich glaub's nicht,« meinte der Professor trocken.

»Nein?« Sigrid richtete sich in ihrem Stuhle auf und zerbrach ein Biskuit zwischen den Fingern, »zum Beispiel aber: Kinder von Verbrechern, sagen wir von Mördern – sind sie nicht immer der Gefahr ausgesetzt, das Gleiche zu thun, was ihre Eltern thaten?«

»Thun Sie mir den einzigen Gefallen!« rief der Gelehrte abwehrend. »Natürlich, wenn die Kinder das Beispiel vor den Augen haben, wenn sie, sozusagen, zum Verbrechen erzogen werden, ja, dann mag's sein, daß Generationen von Verbrechern entstehen. Aber den Einfluß beizeiten entrückt, unter dem Segen einer guten Erziehung aufwachsend, kann der Sohn vom Schinderhannes ein moralisches Muster werden.«

»Und sein Enkel?«

»Mein gutestes Komteßchen – machen Sie doch den Großvater nicht dafür verantwortlich, was der Enkel thut. Das Gute und das Böse schlummern tief in unsrer Brust – was die Erziehung aus uns macht, das werden wir.«

»Gesetzt aber, eine Frau, aufgewachsen unter der größten Sorgfalt wie eine Treibhauspflanze, begeht plötzlich ein Verbrechen – sie tötet den Gatten. Woher kommt das, woran die Erziehung keinen Teil hat?«

Professor Glauchau warf einen scharfen Blick durch seine runden Brillengläser auf Sigrid, die mit plötzlich ersichtlich gespannter Aufmerksamkeit zu ihm herübersah. »Haben Sie einen besonderen Fall vor Augen?« fragte er langsam.

»Einen besonderen? Nicht doch – man liest dergleichen doch oft in den Zeitungen,« erwiderte Sigrid ruhig, aber mit einem ihrer flackernden Blicke auf Iris, die sich passiv verhielt. »Ich las einmal von einer schönen, jungen, vornehmen Frau, die ihren Gatten tötete und hingerichtet wurde – – sie hinterließ ein Kind –«

»Nun?« fragte der Professor ruhig, weil Sigrid plötzlich wie atemlos stockte.

»O, nur –: wie kommt diese Frau dazu, ein Verbrechen zu begehen?« vollendete sie.

»Seelenstörung. Wo wir mit Vererbung nicht kommen können, finde ich keinen anderen Namen.«

»Aber das Kind!« rief Sigrid fast schrill. »Wird es den Spuren der Mutter nicht folgen, ist es nicht gezeichnet mit dem Kainszeichen –?«

»Mag sein für die, welche im alten Bunde leben, wo der Gott der Rache noch über den Welten schwebt. Ich aber für meine Person gehöre dem neuen Bunde an, der das Evangelium der Liebe predigt.«

Der kleine Professor sah gar nicht lächerlich aus, als er das sagte. Und doch traf ihn nur ein verächtlicher Blick aus Sigrids Augen, und ein Lächeln verzog ihre feinen Lippen, das deutlich genug auch ohne Worte: »Alter Narr,« sprach. Dr. Glauchau übersetzte sich's auch ganz in das richtige Deutsch, aber nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, traf's ihn nicht sonderlich tief.

Sigrid zog die weiße Stirn in Falten und sah finster vor sich hin – dann, mit einer raschen Bewegung, stand sie auf.

»Komm, Iris, wir wollen einen Spaziergang machen,« sagte sie fast befehlend.

Aber Iris, die sich gestern noch über dieses Entgegenkommen innig gefreut hätte, erhob sich nur widerwillig von ihrem Stuhle.

»Ich weiß nicht – mir sind meine Glieder so schwer – und 's ist doch keine Gewitterluft,« sagte sie mit einem verunglückten Lächeln. »Könnten wir nicht hier sitzen bleiben?«

»Unsinn,« rief Sigrid scharf. »Ein tüchtiger Spaziergang wird dir und mir gut thun. Komm nur mit!«

»Darf ich mich den Damen vielleicht anschließen?« fragte der Professor galant.

»Ja, ach ja – bitte, kommen Sie! Wie reizend von Ihnen,« rief Iris fast fieberisch erregt und erleichtert, als wäre ihr eine Centnerlast vom Herzen gefallen. Und ohne Umstände holte sie selbst des Professors Hut herbei, stülpte ihn lachend recht unternehmend auf den blitzblanken kahlen Schädel und hing sich in seinen Arm.

»Also vorwärts!« kommandierte sie.

Aber Sigrid rührte sich nicht. Die Lippen zusammengepreßt, ein drohendes Feuer in den Augen stand sie da und sah Iris an.

»Nun, kommst du nicht?« fragte letztere zögernd.

»Nein – mir fällt ein, ich habe Briefe zu schreiben,« war die für den Professor eigentlich tief verletzende Antwort. Und es wollte dem kleinen Gelehrten auch »über die Hutschnur« gehen – er wurde purpurrot im sowieso schon blühenden Gesicht und trat einen Schritt zurück – aber ein leiser Druck von Iris' Hand auf seinem Arm, ein angstvoll-stehender Blick von ihr dämpften den aufsteigenden Zorn im Keime. Er zog sehr kaltblütig mit der Linken den Hut vor Sigrid.

»Wünsche viel Vergnügen,« sagte er wieder ganz gut gelaunt und ging mit Iris stolz von dannen.

»Hören Sie, diese junge Dame, Ihre gräfliche Schwester, scheint aber stellenweise der Leibhaftige zu reiten,« meinte er mehr gemütlich als höflich im Weitergehen zu Iris. »Wenn sie sich dermaleinst verloben sollte, so sind Sie wohl so freundlich und schreiben mir's, denn ich bekenne offen, 's interessiert mich, zu wissen, wer so fürchterlich verwegen sein könnte, dieses Käthchens Petrucchio zu werden.«

»Sie muß krank sein,« entschuldigte Iris sanft. »Sie ist so überreizt – ihre Nerven –«

»Nehmen Sie mir's nicht übel, Durchlauchtchen,« widersprach ihr Begleiter – »Nerven! Na ja – entweder sie ist wirklich krank, dann aber Douchen, viel kaltes Wasser und so weiter; – oder – es ist nichts wie Laune, und dann wünsch' ich ihr einen Freier wie Wilhelm den Eroberer, da er sich von der schönen aber spröden Mathilde von Flandern endlich seine Antwort auf seinen wiederholten Antrag holte.«

»Und was that Wilhelm der Eroberer?«

»I nu, sehen Sie – die schöne Mathilde that so als ob se thäte und zog'n sozusagen mit der Antwort an der Nase rum. Das boste nun den tapfern König, der nicht umsonst der Sohn Roberts des Teufels von der Normandie war – und wie nun alles Schönthun nichts half, da legte er sich in'n Hinterhalt, lauerte der flandrischen Prinzeß auf, als sie mal spazieren ritt mit'n paar Damen und Edelknaben, raffaunte hinterm Busche vor, riß sie, mir nichts, dir nichts vom Pferde und wichste sie mit seiner eignen, königlichen Reitpeitsche und mit seinen eignen, königlichen Fäusten, bis sie windelweich wurde und ganz artig ›ja‹ sagte. Die Alten wurden freilich, wie sie's hörten, erst eklig und fuchswild, aber die Hochzeit fand unter großem Pomp statt, und die Geschichte weiß nur zu erzählen, daß die schöne Mathilde eine sehr gute Frau und Königin gewesen ist.«

»Ach, lieber Professor,« seufzte Iris, »gehören Sie auch zu denen, die von jenen Tagen, da das möglich war, als von der ›guten alten Zeit‹ sprechen?«

Der Professor lachte.

»Gut mag sie ja gewesen sein – sichrer dürfen wir heutzutage auf alle Fälle leben,« meinte er heiter. – – – – – –

Sigrid hatte es mit ihrem »Briefschreiben« durchaus nicht eilig. Sie blieb auf der Terrasse zurück und sah finster dem ungleichen Paare nach, bis es unter den Bäumen verschwand. Dann setzte sie sich wieder in ihren Stuhl und brütete vor sich hin und merkte nicht, daß Diener diskret das Theezeug vom Tisch räumten; und so still saß sie, daß die Spatzen kamen, die Biskuitkrümchen zu ihren Füßen aufzupicken.

Erst der Ton des Tamtam, der durch die offene Vorhalle ins Freie dröhnte, schreckte sie auf.

»So muß es gehen, ohne daß jemand nachweisen kann, ich hätte es gesagt,« murmelte sie, als sie mit unsicheren Schritten wie einer, der im Schlafe wandelt, ins Haus ging, um das Kleid zu des Tages Hauptmahlzeit zu wechseln.

Letztere war eigentlich heut' keine Haupt- und Staatsaktion, da nur für Iris, Sigrid und den Professor serviert wurde. Madame Chrysopras hatte noch Migräne, die sie freilich nicht hinderte, dem ihr apart, sehr verführerisch servierten Diner neben ihrer Chaiselongue alle Ehre anzuthun.

Der »Chef« in der Küche atmete wahrscheinlich auch heut' auf, denn er wurde nicht von Boris tyrannisiert, der ihm seine Rezepte vordeklamierte und ihm gastronomische Vorträge hielt. Denn Boris hielt sich für einen Gourmet – das war sein Steckenpferd.

Die Unterhaltung bei Tisch zwischen den dreien war nicht übermäßig lebhaft. Iris fühlte sich durch Sigrids Gegenwart beklemmt und nervös – sie verstand den Blick nicht, den Sigrid oft auf sie heftete, sie wußte nicht, was sie darin lesen sollte, und das steigerte ihre innere Unruhe. Da auch der Profeffor müde zu sein schien, betrachtete es Iris schließlich als willkommenen Zwischenfall, als sie eine Depesche erhielt, welche von einer großen Zweigstation die Meldung brachte, daß eine Gleisversperrung die Reisenden um ein Beträchtliches an Zeit in Rückstand gebracht hätte und es nun ganz ungewiß ließe, wann sie zurückkehrten. Jedenfalls sei das Gepäck der Ukatschin-Chrysopras bereitzuhalten zum Nachsenden. So sehr Iris die Verzögerung natürlich bedauerte, so hätte sie sich doch fraglos darein gefunden, wenn – – Sigrid nicht dagewesen wäre. Sie erschrak fast vor diesem Gedanken. War es schon so weit zwischen ihr und ihrer Schwester gekommen? Woher kam das entsetzlich lähmende Gefühl, das sie unter Sigrids Hellen, glitzernden Augen beschlich, das der Furcht, der feigen, elenden Furcht auf ein Haar glich?

»Ich wollte, Marcell wäre da, um mir zu beweisen und zu sagen, wie thöricht, wie kindisch ich bin,« dachte sie mit einer gewaltsamen Anstrengung, Herr zu werden über dieses lähmende Gefühl.

»Wollen Sie Musik hören, Professor?« fragte sie, dem Gelehrten zulächelnd, nach beendetem Mahle.

»Allemal!« erwiderte dieser, Iris' Hand küssend – ein Verfahren, das ihm entschiedenes Vergnügen machte, da er dann das feine, wundervoll geformte, weiße Händchen in seiner dicken, roten Faust mit den kurzen runden Fingern bewundern konnte.

»Nun so komm, Sigrid – wir wollen Dr. Glauchaus Ohren einmal gründlich mit Chopin berauschen,« sagte Iris, sich mit Anstrengung an die Schwester wendend.

»Ich habe nicht den Schwung für Chopin,« erwiderte Sigrid bitter. »Du hast es selbst oft gesagt –«

»Aber Sigrid –«

»Nun nein, vielleicht nicht mit Worten. Aber dein Bogen zitterte oft vor Ungeduld und dein Fuß tippte den Boden in Verzweiflung, wenn ich nicht mit dahinstürmen konnte, wie du gewollt,« entgegnete Sigrid. »O, man merkt so etwas schon.«

»Das thut mir leid,« sagte Iris schlicht. »Also lassen wir Chopin. Auf jeden Fall gehen wir ins Musikzimmer, dort werden wir schon finden, was wir zusammen spielen können.«

Im Musikzimmer standen die zugleich als Fenster dienenden Thüren nach der Parkseite weit offen, und die warme, duftgetränkte Abendluft strömte herein in den vornehm-einfachen und doch so behaglichen Raum mit seinen lauschigen Ecken für die Hörer.

Iris nahm ihre Geige aus dein Kasten und strich leicht mit dem Bogen darüber hin – dann legte sie ein Notenblatt auf das Pult des offenen, kostbaren Steinway-Flügels, der hier nicht als glänzend poliertes, schwarzes Polisander-Ungeheuer den Raum »aus der Stimmung« brachte, sondern im zarten, weiß-goldnen Rokokogewande mit zartgemalten Lünetten sich harmonisch in das Ganze einfügte.

Sigrid setzte sich ohne Widerspruch an den Flügel und begann das Vorspiel – es war das »Ave Maria« von Gounod, dem die Meditation von Bach als Begleitung unterlegt ist.

Der Professor versank leise in einem der tiefen, mit seegrünem Damast bezogenen Sessel, in denen es sich so schön zuhört, wenn süße Weisen erklingen, Iris aber hob die kleine, braune Geige zur Brust und trat an eines der Fenster, an dem Ranken blühender Kletterrosen herabhingen und durch dessen offene Flügel des Sommerabends ganzer köstlich-berauschender Duft von den Blumenbeeten her hereinströmte. Von Westen her leuchtete das Abendrot noch zwischen den Bäumen durch und vergoldete die Wipfel, die sich leicht neigten in der sanften Brise. Und in diesen lautlosen Abendfrieden hinein klang das »Ave Maria« – leise ansetzend, anschwellend im heißen Flehen des staubbedrückten Menschenherzens, verklingend im gläubigen Hoffen. Und wie die weiße Gestalt so stand in dem Rahmen der Thür, auf dem wunderbaren grünen, abendrotverklärten Grunde, das um ihr lichtes, duftiges Blondhaar einen Schein wob wie eine Aureole, die Geige an die zarte Wange gelehnt und das »Ave Maria« hinausbetend in die warme Sommerluft, da glich sie einem jener verklärten Geister, wie die Hände der alten, frommen Meister sie auf Goldgrund zu malen liebten. »Gott verhüte, daß ihr die Schwingen auch noch wachsen, auf denen sie der Welt entfliehen könnte,« dachte der einsame Hörer mit Rührung, als er Bild und Ton zugleich in sich aufnahm. Sigrid spielte die Begleitung von ihres Vaters Lieblingsstück längst auswendig – ihre Augen weilten daher nicht auf den Roten, sondern auch auf der weißen Gestalt in der rosenumrankten offenen Thür – und auch sie fühlte, daß die Töne, die Iris der Geige entlockte, ein Gebet waren – das Gebet eines Herzens, das nichts wußte von Neid und Haß, von Schuld und Fehle. Aber es rührte sie nicht.

»Es muß ja einmal doch kommen,« dachte sie mitten in die ergreifenden Klänge hinein. »Sie wird ihn eines Tages elend machen, wie sie seinen Namen schon befleckt hat durch ihre bloße Gegenwart, durch das Kainszeichen auf ihrer Stirn. Aber ich, ich werde ihn vor diesem Schicksal erretten!

Sigrids Hände verirrten sich auf den Tasten – es gab einen Mißklang, und ehe noch Iris überrascht den Kopf wenden konnte, aufgestört aus ihrer weltentrückten Stimmung, da rasten Sigrids Finger schon über die Klaviatur und spielten, nein paukten einen Gassenhauer herunter, wie man ihn manchmal beim Vorübergehen aus einem Wirtshaus letzten Ranges klingen hört. – Und dazu lachte Sigrid, daß sie sich schüttelte, lachte wie eine Mänade, daß ihr die Thränen aus den Augen liefen.

»Sigrid, Sigrid!« kam es entsetzt von Iris' Lippen – »ich glaube, sie ist wahnsinnig,« sie flüsterte es nur, so erschrocken war sie.

Da sprang Sigrid von ihrem Sessel auf.

»Famos, was?« rief sie. »Das ist Musik für unseren Professor!«

Und wieder lachte Sigrid wie eine Tolle, während Professor Glauchau sich indigniert erhob. Da aber erschien um den lieblichen Mund von Iris ein seltsam fester entschlossener Zug. Sacht legte sie ihre Geige auf den Flügel, trat rasch neben Sigrid hin und faßte sie fest am Handgelenk.

»Ich verbiete dir, in meinem Hause meine Gäste zu beleidigen,« sagte sie leise, aber mit einer Entschiedenheit, unter der sie förmlich wuchs. Und dann, sich zu dem Professor wendend: »Ich meine, wir gehen noch etwas ins Freie, ja? Und verzeihen Sie, daß –«

»Aber Durchlauchtchen – Sie werden doch nicht?« unterbrach sie der rasch versöhnte Professor fast verlegen. »Natürlich schnappen wir noch 'n bißchen Abendluft und legen uns dann beizeiten in die Bocht. Schlafen stärkt die Nerven!« Sigrid war blaß geworden, ihr Lachen versiegt. Haßerfüllt blitzte ihr Auge Iris an, aber sie bezwang sich.

»Nein aber, wie kann man denn keinen Spaß verstehen?« fragte sie, die Hände zusammenschlagend.

»Ein schlechter Spaß, Sigrid – ein trauriger Spaß,« erwiderte Iris ernst.

Sigrid zuckte mit den Achseln, schlenderte aber mit, als Iris sich mit dem Professor den Dünen zuwendete. Erst schweigsam, mischte sie sich doch später mit in die Unterhaltung, eifrig beflissen, den Eindruck ihres Ausbruches von vorhin möglichst zu verwischen. Dr. Glauchau suchte auch die harmlose Stimmung zu erhalten, aber Iris war sichtlich noch nicht wieder ganz in ihrem schönen Gleichgewicht; nach einer halben Stunde waren die drei wieder am Schlosse angelangt und der Professor beurlaubte sich für heut' von den Damen.

»Nun aber kein Gesichtchen mehr gemacht, allerliebste Durchlauchtige,« bat er drollig. »Und wie gesagt –« dies mit einem Seitenblick auf Sigrid – »es lebe Wilhelm der Eroberer!«

»Was meint er denn wieder damit?« fragte Sigrid nachlässig, als sie mit Iris die Treppe hinaufstieg.

»Ach – ein Scherz,« entgegnete Iris, sich nach rechts wendend, wo die Treppe nach dem Renaissanceflügel abzweigte.

»O – kommst du noch etwas auf mein Zimmer? Ich wollte dich noch auf ein Stündchen in deines begleiten,« rief Sigrid überrascht.

»Ich gehe zu Tante Olga,« war die scheinbar kühle Antwort, in Wahrheit aber klopfte Iris das Herz aus Furcht vor einem Alleinsein mit Sigrid.

»Dort wirst du nicht lange bleiben,« sagte letztere mit verächtlichem Zucken des Mundes. »Es ist auch mehr, als Menschen ertragen können, wenn man zuhören soll, wie Tante Olga über Sascha, Boris und Fuxia jammert. Und außerdem noch über ihre Migräne. Ich schenke mir's für heut'. Also auf später, Iris!«

Und damit glitt sie die Treppe wieder hinab ins Freie.

Iris dachte wirklich einen Moment an Flucht, das heißt daran, sich schleunigst in ihrem Zimmer einzuschließen, aber dann schämte sie sich ihrer Thorheit und ihrer Schwäche. Was konnte ihr Sigrid denn anhaben? Nichts. Aber sie wollte doch ersichtlich mit ihr allein sein! Ja – nun wußte Iris plötzlich, daß sie sich davor fürchtete, vor dem fürchtete, was Sigrid sprechen würde.

Zögernd ging sie hinein zu Madame Chrysopras, die bei rosa verhüllter Lampe, die Hände über dem Magen gefaltet, in ihrer Balkonthür saß und verdaute – sehr aufgelegt zu einem kleinen Schläfchen; denn das Glas Madeira, sowie von altem Rheinwein und noch älterem Burgunder je ein Glas und endlich die halbe, köstlich gekühlte Flasche Pommery Greno, die man ihr diskret serviert hatte, konnten ihre Wirkung nicht verleugnen, die Gott Morpheus sehr in die Hände arbeitete.

»Euer Koch hat es wunderbar heraus, das Trüffelpüree zu machen,« sagte sie schläfrig. »Auch die Charlotte ruffe war vortrefflich. Ich möchte das Rezept haben. Was war denn das für eine komische Musik unten? Hast du nicht auf der Geige gespielt? Aber dann dieses gräßliche Stück – –«

»Iris erzählte Madame Chrysopras von Hochwalds Telegramm, und nach kurzem Hin und Her erklärte die Generalin unter zunehmenden Gähnkrämpfen, sie müsse jetzt zu Bett. Iris wendete sich nun nach ihren eigenen Zimmern, stattete dem schlafenden Kinde noch einen Besuch ab und schlüpfte dann in ihr zum Schlafzimmer führendes Ankleidezimmer, wo sie sachte den Riegel vorschob. Dann erst atmete sie auf – sie fühlte sich sicher. Sicher vor was? Vor Sigrid? In ihrem eigenen Hause?

»Ich wollte, Marcell wäre erst wieder zurück,« dachte sie, indem sie ihr Kleid ablegte und ihr Haar aufzulösen begann. Mit einem Mal war's ihr, als hörte sie draußen leise, ganz leise Schritte, und sie sah, wie die Thürklinke sich bewegte, als ob jemand von außen sie probierte. Und dann noch einmal –

Jetzt hörte sie die Stimme ihrer Kammerfrau, die unerwartet aus ihrem genau gegenüberliegenden Zimmer getreten sein mußte. »Ah – gnädige Komtesse hier? Verzeihung, ich wollte nur wissen, wer hier ging –«

»Ich wollte für die Fürstin etwas aus ihrem Ankleidezimmer holen,« sagte Sigrids Stimme. »Warum ist es verschlossen?«

»Durchlaucht sind schon zu Bett und wollten nicht mehr gestört sein.«

»Schon zu Bett? So früh? Sie war ja eben noch auf!«

Eine kleine Pause. Dann sprach Sigrid wieder.

»Meine Schwester kann unmöglich schon schlafen – führen Sie mich an ihr Bett!«

»Verzeihung, Komtesse – das kann ich nicht. Erstens ist zugeschlossen –«

»Das Schlafzimmer hat doch noch andere Eingänge – durch den Korridor, durch des Fürsten Ankleidezimmer –«

»Durchlaucht schließen nachts immer ab.«

»Ich möchte aber die Fürstin heut' noch sprechen,« rief Sigrid ungeduldig.

»Ich habe bestimmte Befehle, Komtesse –«

»Es ist gut!« sagte Sigrid kurz, und Iris, die sich innen nicht gerührt hatte, atmete auf, als sie hörte, wie ihre Schwester sich entfernte.

Nicht lange darauf hörte sie sich von draußen angerufen, denn die Fenster standen auf und das Licht brannte noch.

»Iris! Iris!«

Es blieb ihr endlich nichts übrig, als ans Fenster zu treten.

»Was giebt es, Sigrid?«

»Es ist so schön draußen – komm doch herunter.«

»Ich bin schon ausgezogen –«

»Schon? Dann komme ich zu dir hinauf –«

»Danke, Sigrid! Heut' nicht. Ich bin schrecklich müde.«

»Ich muß dich sprechen, Iris!«

»Wirklich, heut' nicht mehr! Bitte! Und überdies – Marcel! sagte mir, er hätte sich mit dir ausgesprochen.«

Sigrid lachte – ein mißtöniges, unlustiges Lachen, das Iris auf die Nerven ging.

»Ach, du meinst wegen des edeln Ritters aus der Maremma?« rief sie hinauf. »Ich wünsche ihm glückliche Reise. Wenn es nun aber wegen Marcell selbst wäre, wenn es sich nun um ihn handelte – bist du auch dann zu müde zum Hören?«

»Ja,« sagte Iris kurz und schloß das Fenster. Was hatte Sigrid sich um Marcell zu kümmern? Der bloße Gedanke empörte sie. Und es ihr sozusagen von der Straße her zuzurufen – sie wollte und mochte nicht hören, was Sigrid zu sagen hatte. Marcell würde ihr schon selbst sagen, was sie wissen mußte.

Beunruhigt, geängstigt durch Sigrids auffallendes, fremdartiges Wesen schlief sie lange nicht ein, und es kam ihr während der größeren Hälfte der Nacht manchmal vor, als hörte sie leise Schritte auf dem Korridor, die an der Schlafzimmerthür anhielten. Es war ihr auch, als würden nacheinander sämtliche in das Schlafzimmer mündende Thüren auf ihren Verschluß geprüft, und jedesmal, wenn sie das leise Auf- und Niedergehen der gut geölten Thürklinken hörte, saß sie mit hochklopfendem Herzen im Bette auf »Sigrid – es ist Sigrid! Warum kommt sie in der Stille der Nacht? Was will sie?«

Als der Tag schon graute, schlief Iris endlich ein und träumte, träumte, bis die helle Sonne in das Zimmer schien und sie mit einer schrecklichen Müdigkeit in den Gliedern erwachte. Es war der alte Traum gewesen, den sie so oft geträumt: die schöne, blasse Frau, die ihre Haare in der Hand trug, die Frau im schwarzen Kleide mit dem roten Bande um den Hals, sie ließ nicht ab, ihr zuzuflüstern: »Höre nicht auf sie. Sie will dir Schreckliches sagen, will dich unglücklich machen. Weiche ihr aus. Entsagen ist so schwer, so schrecklich. Laß dich schützen von ihm – höre nicht auf sie, sonst finde ich keinen Frieden ewiglich und du auch nicht.«

Und sie hörte die Worte und hörte die Stimme, bis sie erwachte. »Ob Träume etwas bedeuten?« dachte sie, müde in den Sonnenstrahl blickend, der vor ihr über die Dielen huschte. »Immer und immer die Frau mit den Haaren in den Händen und den dunkelroten Rosen. Ich möchte wissen, ob Marcell weiß, was es mit den Haaren für eine Bewandtnis hat.«

Indes war Sigrid unten am Frühstückstisch ziemlich früh erschienen, etwas überwacht aussehend mit fieberrot brennenden Wangen und seltsamen rastlosen Bewegungen der Hände. Der Professor hatte schon vor ihr gefrühstückt, Madame Chrysopras that es meist auf ihrem Zimmer, und obgleich jetzt Sigrid wartete und wartete und immer wieder fragte, so hieß es doch, die Frau Fürstin schliefe noch.

Dann kam Rataiczak mit den Postsachen und legte auf den Platz, vor dem Iris zu sitzen pflegte, zwei Briefe. Als er hinaus war, inspizierte Sigrid die beiden Couverts: das eine trug Hochwalds Handschrift und schien unterwegs aufgegeben. »Liebesversicherungen für sie,« murmelte Sigrid mit verzerrten Zügen. Aber als sie den andern Brief aufnahm – der Poststempel war Zürich, – da kam es seltsam über sie. Mit spitzen Fingern legte sie den Brief wieder hin an seinen Platz und ging, nein jagte ein paarmal in dem geräumigen Zimmer auf und nieder. Atemlos blieb sie wieder vor den Briefen stehen.

»Die Handschrift ist verstellt, aber Spini hat's geschrieben,« murmelte sie. »Was kann er anderes an sie schreiben wollen als das – das Bewußte? Aus Rache natürlich! Wenn er wüßte, welche Last er mir damit abnimmt – der Schatten eines Verdachtes vor Marcell wäre damit geschwunden. Es wäre ja auch so geglückt, aber wenn er mir das abnähme – – ich brauchte dann keine Furcht zu haben vor Marcells Blick. Nur für den Anfang freilich, später müßte er mir's ja danken. Wenn ich sie nur beobachten könnte – sie flieht mich und wird nicht standhalten. Wenn – –«

Im selben Augenblick hörte sie die Stimme von Iris, welche der Wärterin Anweisung gab, wohin sie mit dem Kinde zu gehen habe. Sigrid warf einen raschen Blick um sich und war im nächsten Augenblick hinter einem vierteiligen japanischen Schirm verschwunden, der so gestellt war, daß er vor dem runden, großen Tisch, an dem für gewöhnlich gefrühstückt wurde, dem Platze der Hausfrau gegenüber stand. Zwischen den Scharnieren des zweiten Flügels durch konnte man den besagten Platz genau übersehen, wie Sigrid sich in der Hast überzeugte. Aber wie, wenn Iris hinter den Schirm sah, was dann? Blitzschnell überlegte sie – sie würde schnell in dem Schaukelstuhl, der hinter dem Paravent stand, Platz nehmen und sich schlafend stellen – – –

Zu weiterem Überlegen blieb ihr keine Zeit, denn schon wurde die Thür geöffnet und Iris erschien, das Zimmer mit einem Blicke überfliegend. Dann nahm sie auf ihrem Stuhle Platz, schraubte die Flamme des silbernen Theekessels etwas höher, goß den Theeextrakt in ihre Tasse, füllte diese aus dem Kessel auf, zog das zierlich durchbrochene Porzellankörbchen mit dem Gebäck näher und wählte rasch ein Stück – dann erst fiel ihr Blick auf die Briefe.

»Ich hätte sie geahnt, geahnt,« dachte Sigrid, die mit gierigen Augen durch den schmalen Ritz das Thun von Iris beobachtete.

Letztere öffnete natürlich erst den Brief ihres Gatten, und während sie las, überflog ein glückliches Lächeln ihre reizenden Züge, ein Lächeln, das der Lauscherin das Herz zusammenkrampfte in wahnsinniger Eifersucht, in einem schrecklichen, zu allem fähigen Neide. Und als sie gar sah, wie Iris vor dem Zusammenfalten den Brief zärtlich küßte und kosend an die weiche Wange drückte mit einer ganzen Welt von Glück in den schönen, klaren, unschuldigen Augen, da hätte sie fast die Herrschaft über sich verloren – – Aber sie zwang den Schrei rasender Wut zurück und blieb, wo sie war.

»Das besiegelt dein Geschick, Elende!« keuchte sie, daß es Iris hätte hören müssen, wären ihre Gedanken weniger mit dem Inhalt des Briefes, den sie nun mit dem gleichen verklärten Gesicht zu sich steckte, beschäftigt gewesen. – Über die Adresse des anderen Briefes gebeugt, schüttelte Iris ein wenig den Kopf, als wüßte sie nicht, wer ihn geschrieben haben könnte, dann öffnete sie ihn ohne sonderliches Interesse und fing an zu lesen, stutzte, wendete den Bogen um, schüttelte wieder mit dem Kopf und begann dann von vorn zu lesen und las, ohne sich zu rühren, bis zu Ende und saß dann – Sigrid dünkte es eine Ewigkeit – mit aufgestützter Hand, regungslos, als wäre sie eingeschlafen.

Endlich, endlich stand sie auf, und Sigrid sah mit einer Freude, die aus der Hölle zu kommen schien, daß aus den reizenden Zügen jede Spur von Lächeln geschwunden, daß das schöne Gesicht der jungen Frau blaß war bis an die Lippen und ihre Augen mit dem Ausdruck eines verfolgten Wildes durch das Zimmer irrten. Und um den lieblichen Mund lag ein Zug von Schmerz und Qual, der einen Stein hätte erbarmen können – –

Mit bebenden Fingern faltete Iris auch diesen Brief zusammen und verließ langsam, als hätte sie Lasten zu schleppen, das kaum berührte Frühstück stehen lassend, das Zimmer.

Nun trat auch Sigrid wieder vor – höher brannten ihre fieberheißen Wangen, aus ihren glitzernden Augen blitzte es unheimlich, und die mit Gewalt zurückgedrängte Bewegung brach in einem heiseren, leisen Schrei über ihre Lippen.

»Er hat's für mich gethan!« schrie sie in ihr Taschentuch hinein – sie mußte schreien, sie mußte, es hätte sie sonst getötet. »Er hat's für mich gethan – sie ist getroffen, tödlich ist sie getroffen. Ich hab's gesehen. Nun wird nicht mehr so glücklich gelächelt – nie mehr. Nie! Nie! Nie!«

Es war, als würde Sigrid von Krämpfen geschüttelt – sie wankte und stürzte in die Kniee, Schaum trat auf ihre Lippen, sie röchelte wie im Sterben. Und doch raffte sie sich wieder auf, und mit schwer atmmder Brust, mit wankenden Knieen tappte sie mit ausgestreckten Armen wie eine Blinde zu der Thür, die nach dem Garten zu geöffnet stand, taumelte hinaus in das helle Sonnenlicht und verschwand dann hinter dem Taxusgebüsch zur Rechten.

Als sie nach ein paar Stunden wieder dem Schloß zuschritt, ging sie sicher und aufgerichtet wie immer – die Fieberröte war verschwunden, und nur ihr Mund war fester geschlossen als sonst –

»Wo ist die Fürstin?« fragte sie den Kammerdiener, der gerade aus der Thür des Speisesaales trat.

»Durchlaucht wollten ruhen nach einer schlechten Nacht und befinden sich seit dem Frühstück in ihrem Boudoir,« erwiderte Rataiczak respektvoll.

Sigrid nickte und ging weiter.

»Ob ich schon Zeit verloren habe?« dachte sie. »Thörin, die ich bin, mich so von einem Gedanken überwältigen zu lasten!«

Beim Lunch trafen die vier Bewohner von Hochwald zusammen – – Iris war blaß und ernst und wurde von Madame Chrysopras und dem Professor ernstlich zu einer gründlichen Ruhe vermahnt. Wiederum traf während der Mahlzeit ein Telegramm von Marcell ein, das Iris schweigend ihrer Schwägerin reichte. Es lautete:

 

»Endlich angelangt. Winkel heut' Nacht nach der Vorstellung abgereist. Wir beim Betreten von Grand Hotel mit Fuxia zusammengeprallt, deren Abreise gestoppt. Boris einen Sieg erfochten. Ich Parlamentär. Komme jedenfalls morgen Abend wieder. Gruß

Marcell.«

 

» Boris! J'en suis stupéfaite!« murmelte Madame Chrysopras, Iris das Telegramm zurückreichend, mit einem hilflosen Blick, den Iris sonst nicht ohne Lächeln gesehen hätte. Heut' aber schien ihr Mund das Lächeln verlernt zu haben und die Sonne war aus ihrem Blick gewichen.

Als man sich erhob, knackte der kleine Professor unentschlossen mit den Gelenken seiner dicken, kurzen Finger – eine schreckliche Gewohnheit, es ist wahr – aber Iris, vor der er stand merkte es kaum.

»Machen wir heut' wieder so'n kleines Promenadchen?« fragte er sie.

»Vielleicht ja, nachher,« erwiderte sie mechanisch. Und dann ging der kleine Kreis auseinander.

Es war ein heißer Tag, die Mittagsschwüle brütete über See, Schloß und Garten, und wenn die bunte Sonnenbrut der Insekten nicht durch die heiße Luft geschwirrt hätte, so wäre es totenstill gewesen innen und ringsum, denn auch der kleine Siegfried schlief, und die duftigen Spitzenvorhänge um sein Bettchen wehrten den Brummfliegen, ihn zu stören.

Und durch das märchenstille Schloß glitt leise, steten Schrittes eine graue Gestalt – Sigrid Erlenstein. Die schläfrige Mittagsstimmung schien nicht auf ihr zu liegen, denn ihre Augen glänzten in einem seltsamen Feuer, und ihre Wangen waren blaß; als sie vor der Thür von Iris' Boudoir stand, da schien's sogar ein Frösteln zu sein, das sie überlief.

Sie klopfte, und ohne eine Einladung zum Eintreten abzuwarten, betrat sie das Zimmer, Iris' ureigenstes buen retiro, in dem Liebe alles das zusammengetragen, was Reichtum und ein feiner Kunstsinn erlangen können, um aus vier Wänden ein kleines Zauberland zu schaffen. Rosa und Silber bildete hier die Grundfarbe – rosa Atlastapeten mit Silbermuster in geschnitzten, versilberten Paneelrahmen im reichsten Rokokogeschmack bekleideten die Wände, derselbe kostbare Stoff überzog die Möbel – er hing als Portiere vor den Thüren und als Vorhang vor den Fenstern über den kostbaren Spitzenstores – Möbel aller Art, vom zierlichsten Schreibpult zum Raritätenschrank, vom leichten Korbstuhl zum Etagerentisch, vom Bücherständer zur Chiffonniere, alles mit reichem, versilbertem Schnitzwerk versehen und rosa lackiert, sie schienen nur da, um Kostbarkeiten aller Art, rosengefüllte Schalen, Photographieständer – wer weiß, was alles, zu tragen. Kurz, es war ein Raum, so recht ein Hintergrund für Iris' aparte, lichte Schönheit.

Sigrid betrat nicht gern dieses Boudoir, trotzdem darin ein vortreffliches Bild des Fürsten oberhalb des Kamins dominierte und sie hier mit hungrigen Augen die Züge studieren konnte, die ihre ganze Seele beherrschten. Aber es mahnte hier jedes Stück an seine »abgöttische« Liebe zu Iris, wie sie's in der Bitternis ihres Herzens nannte, und der häßliche, gelbe, gemeine Neid krallte sich darin fest und machte sie wahnsinnig in ihrem Haß gegen das arme, liebreiche Wesen, das sie neunzehn Jahre lang Schwester genannt.

Iris saß in einem tiefen Sessel, den Kopf zurückgelehnt, in den Händen ein Papier, auf das sie fest die Wage drückte. Als Sigrid eintrat, hob sie müde den Kopf.

»Du bist's? Ich wollte eben zu dir,« sagte sie sanft.

Ein Blitz des Triumphs schoß aus Sigrids Augen.

»Ja?« fragte sie mit angehaltenem Atem.

Iris schwieg für eine kurze Weile – um ihren Mund zuckte es wie im Schmerz, und ihre Augen blickten trocken, aber thränenschwer und wie verloren vor sich hin. Doch als Sigrid sich seitwärts von ihr, den Rücken gegen die Fenster, durch welche die zum Schutz gegen das Sonnenlicht halb geschlossenen Jalousien nur einen rosigen Dämmerschein einließen, in einen Sessel gleiten ließ, machte Iris eine Anstrengung, sich zum Sprechen zu überwinden.

»Ich habe heut' einen Brief bekommen – anonym,« begann sie leise. »Marcell sagt – und unser Vater sagte es auch, anonyme Briefe seien eine Feigheit und man müßte sie unbeachtet lassen. Freilich ist es feig, aus dem Hinterhalte heraus jemand anzugreifen, jemand zu treffen. Und ich bin getroffen worden und weiß nicht, was werden soll, wenn das wahr ist, was diese feige Hand mir geschrieben. Vielleicht weißt du, ob es wahr ist, Sigrid.«

»Du erschreckst mich, Iris. Was ist es?« war die heuchlerische Antwort, die Sigrid mit wildklopfendem Herzen gab. »Ich stehe an der Schwelle der Pforte zum Paradiese!« jauchzte es darin.

»Ich – ich kann nicht davon sprechen,« sagte Iris mit Qual. »Du sollst den Brief lesen.«

»Diesen?« und Sigrid griff nach dem Blatt Papier, das Iris in der Hand hielt.

»O nein,« rief Iris, ihre Hände zurückziehend. »Diesen nicht – es sind ein paar Zeilen von Marcell und ich habe sie nicht von mir gelassen – sie sind mir ein Talisman des Trostes. Brautbriefe besitzen wir ja nicht – es ist überhaupt der einzige Brief, den ich von ihm habe – –«

Und sie zog aus der Tasche ihres Kleides den anderen, den Uriasbrief und reichte ihn Sigrid, die ihn entfaltete und hastig las:

 

»Madame, es ist an der Zeit, Sie aufzuklären über Familienverhältnisse, die Ihnen zu sein scheinen sehr fremd noch. Oder sollten Sie dennoch wissen, daß Sie nur durch Adoption Anspruch haben auf den Namen Erlenstein? Sie sind die Tochter einer Frau, die wegen Gattenmord auf dem Schafott geendet. Wer Ihr Vater war, warum Graf Erlenstein hat adoptiert Sie – es werden sein keine Rätsel für Ihre Familie. Fragen Sie die, welche die Schmach, sich Ihre Schwester zu nennen, trägt mit Seelengröße.

Ein Wissender.

P. S. Ihr Gatte, Madame, kann werfen keinen Stein auf Sie. Er hält verborgen im tiefen Verließ seines Hauses, beleuchtet von dem roten Licht, die Zeugen seines Verbrechens. Fragen Sie ihn und er wird erbleichen.« –

*

Sigrid hätte den Inhalt des Briefes nach der ersten Zeile auswendig hersagen können, denn die etwas mühsamen deutschen Lettern und die Stilwendungen, die den Ausländer verrieten, sagten ihr zu genau, wer der Absender war. Sie kannte außerdem Spinis Handschrift im Deutschen – die Schwierigkeiten, sich in dieser Sprache deutlich auszudrücken, hatten es nicht erlaubt, sie ganz zu verstellen, und für Sigrid sah der Teufelsfuß aus jedem der sorglich gemalten Worte hervor. Aber sie hütete sich wohl, das zu sagen. Sie hatte ihn auch nicht eingeweiht in das, was sie von Hochwald über Iris' Herkunft wußte, sondern ihn dabei gelassen, was er selbst sich zusammenkombiniert hatte aus den harmlosen Erzählungen jenes greisen Geistlichen. Und wenn sie noch einen Zweifel gehabt hätte über den Urheber des Briefes, der melodramatische Schluß hätte ihn ihr doch verraten. »Fragen Sie ihn und er wird erbleichen!« – Es war, wie aus dem »Geschundenen Raubritter«.

»Nun?« fragte Iris nach einer Pause angstvoll.

Aber Sigrids Augen waren noch immer mit der Nachschrift beschäftigt, die ihr verriet, was das andere vielleicht noch hätte in Zweifel lassen können.

»Wirst du Marcell fragen wegen des roten Lichtes?« war ihre Antwort.

»O Sigrid!« rief Iris vorwurfsvoll. »Ich müßte mich schämen! Eine so elende Lüge unter seinen Augen nachzusprechen!«

»Wenn die Zweifel dir kommen –«

»Zweifel an Marcell? Du weißt nicht, was du sagst, Sigrid! Dieses Postskriptums wegen hätte ich den Brief ohne weiteres vernichten müssen – es wäre nur das andere, das, was mich betrifft –«

Sie hielt angstvoll ein und sah Sigrid an, die vor sich hin blickte.

»Sigrid, ist es wahr, was dieser elende, verächtliche Friedensstörer und Denunziant über – über mich schreibt?«

»Ja!« sagte Sigrid laut, hart, ohne Iris anzusehen.

Diese fiel stöhnend in ihren Sessel zurück.

»Seit wann, von wem weißt du es, wenn ich es doch nicht weiß?« rief sie vernichtet.

»Was geht's dich an? Ich habe es lange und schwer genug getragen,« war Sigrids kalte, abweisende Antwort, unter der Iris erschauerte.

»Das ist hart von dir, Sigrid,« sagte sie vorwurfsvoll, »doppelt hart, weil unsere – deine Eltern niemals zeigten, wie schwer sie's getragen, und mir nichts gaben als Liebe.«

»Leider – es war die Liebe, die sie mir entzogen.«

Empört sprang Iris auf.

»Wie magst du ihnen im Grabe noch vorwerfen, was ihnen vor Gott vielleicht die Krone gegeben?« rief sie mit bebender Stimme.

Sigrid zuckte zusammen, aber sie preßte die Lippen aufeinander und schwieg. Iris indes bezwang sich und sagte sanft wie immer:

»Ich will darüber nicht mit dir rechten, denn was ich von deinen Eltern empfing, ist mir so heilig, ist so unverlöschlich in mein Herz gegraben, daß es mir wehe thut, in profaner Weise darüber zu sprechen. Was sie an mir gethan, ist so groß, so herrlich, daß es vor Gottes Angesicht leuchten muß wie die Sonne; das sehe ich jetzt erst ein, nun eine freche, fühllose Hand die Binde von meinen Augen genommen hat. Da es aber geschehen ist, möchte ich mehr wissen. Wer waren meine Eltern, Sigrid?«

Sigrid antwortete nicht gleich. Iris' Worte hatten in ihrem Herzen eine Saite berührt und sie dumpf erklingen lasten, aber sie fühlte nur das Schwirren, nicht den Ton, denn der drang nicht mehr durch den Panzer von Haß und Neid, der es umgab. Und gleichzeitig überlegte sie, ob sie Iris die Wahrheit sagen oder sie glauben machen sollte, daß an ihrer Geburt ein Makel haftete.

Und sie brachte es über sich und zuckte als Antwort nur mit den Achseln.

Iris wendete sich erschüttert ab und trat an das Fenster – Sigrid aber besann sich inzwischen.

»Mein Vater hatte eine Schwester,« sagte sie über die Schulter weg.

Iris wandte sich um.

»Sie war deine Mutter. Sie wurde zum Tode verurteilt und starb auf dem Schafott, weil sie ihren Gatten getötet,« vollendete Sigrid hart, teilnahmlos, und mit vernichtender Bitterkeit setzte sie hinzu: »Und das Kind der Mörderin, das Kuckucksei nahmen meine Eltern bei sich auf und drangen es ihrem eigenen Sprossen, mir als Schwester auf! Bis an mein Lebensende werde ich diese Ungerechtigkeit nicht vergessen, nicht verzeihen!«

Aber Iris hörte nicht mehr auf die Worte – nur die Erklärung tönte in ihr fort. Sie trat an ihr Schreibpult und entnahm einer Schublade desselben das weiße Maroquinetui, das Graf Erlenstein ihr einst gegeben; und während sie schweigend die beiden Porträts in demselben betrachtete, fielen schwere, heiße Tropfen aus ihren Augen – Vorboten des Thränenstromes, der ihr Leid hätte erweichen und lindern müssen, wenn – wenn Sigrid es geduldet hätte. Diese aber stand auf aus ihrem Sessel und machte ein paar Schritte nach der Stelle zu, wo Iris stand.

»Nun?« herrschte sie, gereizt durch das Schweigen der letzteren.

Iris hob die Augen nicht empor – sie fürchtete, ihre Fassung zu verlieren und vor Sigrid ihrem Leid zu erliegen.

»Möchtest du mich jetzt allein lassen?« fragte sie leise, bittend. »Ich muß mich fassen, muß mich sammeln und suchen, das Schwere zu tragen –«

»Und dann?« fragte Sigrid hart. »Dann darf ich wohl wiederkommen, um mich nach Details ausfragen zu lassen, wie? Die Mühe kannst du dir sparen, denn ich kenne sie nicht, mag sie nicht kennen. Aber vielleicht – der Fall Ravensberg soll ja damals eine cause célèbre gewesen sein – vielleicht kann Marcell dir mehr davon erzählen!«

»Marcell –« Wie ein Todesschrei kam es von Iris' Lippen.

»Ja, Marcell! Er muß sich darauf noch besinnen,« fuhr Sigrid erbarmungslos fort. »Wie wird es ihn überraschen, zu hören, daß die Tochter dieser Schauerheldin – seine Frau ist!«

Erblassend faßte Iris nach einer Stuhllehne, um nicht zu fallen – die Thränen in ihren Augen versiegten, und mit einem gehetzten und entsetzten Ausdruck sahen sie auf Sigrid hin und irrten dann auf das Porträt Hochwalds über dem Kamin.

»Marcell!« wiederholte sie leise, wie verlöschend, in namenlosem Jammer; dann preßte sie beide Hände auf ihr Herz, und unendliches Leid malte sich auf ihrem reizenden, süßen Gesicht.

»Ja, Marcell!« rief Sigrid laut und schneidend, mit bebenden Nüstern. »Wie wird es ihn treffen, wie wird er über diesen Fleck auf seinem Wappenschilde hinwegkommen! Und ob er's glauben wird, glauben kann, daß du ihn mit deiner Person nicht absichtlich betrogen?« Sigrid war selbst erstaunt, wie alle diese Lügen so leicht über ihre Lippen kamen, und sie redete sich ganz überzeugt in dieselben hinein. »Und das Grauen, das ihn an deiner Seite überschleichen wird, wenn er sich von dir nicht trennt. Aber er muß sich von dir trennen, er kann diesen Schandfleck doch nicht durch das ganze Leben mit sich schleppen. Schlimm genug, daß auch sein Kind gezeichnet ist mit dem Zeichen Kains und er es immer vor Augen haben muß. O, du mußt froh sein, wenn er dich einfach fortschickt. Ganz froh! Und dann – wer weiß – könnte es dich nicht einmal gelüsten, dem Beispiel deiner gerichteten Mutter zu folgen?« Schneller und schneller hatte Sigrid gesprochen – ihre Augen funkelten, ihre Hände bebten, sie verlor die Herrschaft über sich selbst mit jedem Worte, und ihr Blick bohrte sich in das schmerzerfüllte, blasse Antlitz ihr gegenüber. Ein leiser Schmerzenslaut kam über Iris' Lippen.

»Sigrid, warum quälst du mich?« fragte sie so sanft, daß es andere hätte zur Besinnung bringen müssen. Aber gerade der gerechte, zum Himmel schreiende Vorwurf in diesen schlichten sanften Worten brachte Sigrid um den letzten Rest ihrer Besinnung. Wie eine Tigerin stürzte sie sich auf Iris und schüttelte sie wild an beiden Schultern hin und her.

»Warum ich dich quäle?« schrie sie zähneknirschend, hellen Wahnsinn in den Augen. »Weil es mir ein Genuß ist, dich zu quälen, du Stein auf meinem Wege, du Schandfleck unseres, seines Hauses! Warum ich dich quäle? Warum hasse ich dich, wie ich nie dachte einen Menschen hassen zu können? Weil du mir die Hälfte von der Liebe meiner Mutter gestohlen hast, genau die Hälfte, denn sie war gerecht bis zur Kleinlichkeit! Weil du mir drei Viertel von der Liebe meines Vaters gestohlen hast, denn er liebte dich mehr wie mich, trotzdem es Unnatur war. Und ich hasse dich bis in den Tod, weil ich immer und immer die Martha war, du aber die Maria, die den besten Teil erwählt, und weil du mir die ganze Liebe des Mannes gestohlen hast, den ich liebte vom ersten Augenblicke an!«

Und damit stieß sie Iris von sich, daß diese wankte und unfehlbar gefallen wäre, hätte ein Möbel nicht ihren Sturz aufgehalten.

Ein, zwei, drei Minuten lang war es totenstill in dem rosigen Raum, so still, daß das Ticken der kleinen Rokokouhr auf dem Schreibpult wie Hammerschläge dröhnte. Dann streckte Iris den Arm aus und deutete nach der Thür.

»Geh'!« sagte sie sanft, aber mit einer Entschiedenheit, die Sigrid auf der Stelle zu sich brachte.

»Iris –« begann sie heftig, mit fliegendem Atem und trockenen Lippen, aber Iris wiederholte ihre Bewegung.

»Geh'!« sagte sie nochmals, um mit Überwindung setzte sie hinzu: »Es wird besser sein, wir sehen uns nicht eher wieder, bis Marcell entschieden hat, was ich dir zu antworten habe. Ich selbst – ich möchte nicht ungerecht sein, aber im Augenblick könnte ich es werden. Geh'!«

Sigrid erschrak bis ins Innerste.

»Du wirst Marcell nichts sagen!« fuhr sie auf.

»Ich werde. Geh'! Laß es mich nicht noch einmal wiederholen,« erwiderte Iris, kalt, blaß, leise und mit sich ringend, um ruhig zu sprechen.

Sigrid stand wie angewurzelt.

»Das entscheidet die Sache anders,« sagte sie vor sich hin mit einer Ruhe, die etwas Furchtbares hatte. Und dabei fixierte sie Iris mit einem Blick, daß Funken aus ihren Augen zu sprühen schienen, und die letztere, zu tief getroffen durch ihr eigenes Leid und durch den wahnwitzigen Ausbruch Sigrids, und zu stolz, um noch Worte zu verlieren, hielt den Blick aus und deutete nur noch einmal stumm nach der Thür. – –

Und dann begann diese vor ihren Augen in Nebel zu zerfließen – Nebel wogten und zogen durch den rosigen Raum, Sigrids Gestalt zerfloß und löste sich auf in nichts, und nur ihre Augen, ihre hellen, kalten, glitzernden Augen blieben in der Leere hängen und bohrten ihren Blick in sie hinein, und sie mußte und mußte diese Augen ansehen und kostete es ihr Leben –

Eine tödliche Angst ergriff sie – sie wollte fort und konnte den Fuß nicht von der Stelle bringen, sie wollte die Hand ausstrecken nach dem elektrischen Knopf und läuten, aber die Arme hingen schwer an ihr herab, so schwer, daß sie sie nicht heben konnte – sie wollte rufen, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Ein Sausen und Rauschen dröhnte vor ihren Ohren, ihre Gedanken drehten sich in schneller und schneller werdendem Reigen rings um sie herum und schwanden, schwanden in unabsehbare Ferne – jetzt zog auch ein Nebel über die schrecklichen Augen in der Leere dort – und mit einem schweren, dumpfen Fall sank Iris neben dem Sofa zu Boden.

Sofort war Sigrid an ihrer Seite und zerrte sie so empor, daß ihr Kopf auf die Sofakante zu liegen kam. Dann machte sie zum Überfluß noch einige streichende Bewegungen mit den Händen über Iris' Gesicht.

»Schläfst du?« fragte sie.

»Ich schlafe,« war die ruhige Antwort.

Sigrid holte das weiße Maroquin-Etui und legte es in Iris' Hände.

»Was siehst du?«

»Ich sehe die Frau, die ihre Haare in der Hand trägt,« sagte Iris ohne Zögern. »Sie streckt die Hände bittend nach mir aus – sie ist schrecklich erregt und schüttelt drohend die Faust nach dir. O und dort – dort steht – ich kenne ihn nicht – dort steht ein Mann. Er hat die linke Hand an seiner Schläfe und sieht mich an – mit meinen eigenen Augen. Doch, ich kenne ihn! Sein Bild ist in dem weißen Etui –«

Sigrid nahm Iris das Etui wieder aus der Hand.

»Ich sehe nichts mehr,« seufzte Iris schläfrig.

»Ist auch nicht nötig,« murmelte Sigrid. »Ich wollte ja nur wissen, ob die Hypnose stark genug ist. Iris höre mich.«

»Ich höre.«

Sigrid kniete neben der willenlosen Gestalt nieder und legte ihr die Rechte auf die Schulter, leise nur, und doch zuckte Iris zusammen wie unter einem Schmerz.

»Iris,« begann Sigrid, die das Zeichen sehr wohl bemerkt, »du wirst mit Ausnahme dessen, daß ich dir die Wahrheit von dem Inhalte des Briefes bestätigte, alles vergessen, was ich heut', in diesem Zimmer zu dir sagte. Hast du mich verstanden?«

»Ja,« sagte Iris.

»Ich befehle es dir!«

»Ja.«

»Wirst du gehorchen?«

»Ja.«

»Ferner befehle ich dir, das Leben nach dieser Eröffnung unerträglich zu finden. Du darfst nicht weiterleben und der Schandfleck sein in deines Gatten Leben. Verstehst du mich?«

Iris warf den Kopf auf der Sofakante hin und her – ihr Atem ging schwer – fast war's ein Röcheln.

»Erbarmen – ich kann nicht ich bin so glücklich,« murmelte sie.

Fester preßte Sigrid jetzt ihre Hand auf die Schulter der Schlafenden, daß diese aufschrie vor Pein.

»Du wirst thun, was ich dir befehle. Wirst du?«

»Nein – nein!« bäumte sich Iris auf in nutzlosem, schwachem Widerstand. Nun legte Sigrid auch ihre Linke auf Iris rechte Schulter und konzentrierte ihren Willen dermaßen in ihrem Blick, daß sie selbst fast zusammenbrach unter der psychischen Anstrengung.

»Du wirst thun, was ich dir befehle!«

»Ja,« ächzte Iris wie im Sterben.

»Du wirst ferner –« begann Sigrid wieder, aber sie war am Ende ihrer eigenen Kräfte. Kalter Schweiß rann herunter auf ihrer Stirn, ein Krampf schüttelte ihre Glieder, Schaum trat auf ihre Lippen – sie fiel rückwärts zu Boden und die Sinne schwanden ihr.

Als sie wieder zu sich kam und sich verwirrt emporraffte, mußte sie sich erst besinnen, wo sie war. Scheu sah sie um sich –

»Marcell!« schrie sie auf und hob den Arm gegen ihre Stirn, als müßte sie sich vor einem Schlage schützen. Aber als alles still blieb, sah sie furchtsam um sich – nein, es war nur Marcells Bild, das sie erschreckt hatte. Ja, sie war in Iris' Boudoir. Und Iris? Dort lag sie zu Füßen des Sofas, den Kopf gegen die Kante gelehnt, blaß wie eine Lilie – war sie tot?

Entsetzt sprang Sigrid auf, entsetzt, trotzdem sie ihr eben noch befohlen, nicht mehr zu leben! Nein, sie lebte, man hörte den schwachen Atem deutlich in der Stille – sie schlief nur den tiefen, tiefen, künstlichen Schlaf durch fremden Willen.

Sigrids Blick fiel auf die kleine Standuhr auf dem Schreibtisch – sie hatte gefürchtet, es möchte Abend sein, und doch war es noch keine Stunde, daß sie zu Iris ins Zimmer getreten! Desto besser. Zweifelnd betrachtete sie die Schläferin – sollte sie jetzt ihr Experiment zu Ende führen? Scheu sah sie um sich. Nein, sie fürchtete sich vor den gemalten Augen dort, fürchtete sich vor Hochwalds Augen, fürchtete, der Mund dort auf dem Bilde möchte sich öffnen und zu ihr sprechen – was? Vernichtende Worte.

»Ich werde sie aufwecken,« dachte sie mit einem Seitenblick auf das Bild und kniete nieder vor Iris und legte wieder die Hand auf ihre Schulter.

Aber Iris –

Iris durfte nicht leben. Iris, der Schandfleck ihres und seines Namens! Was sollte sie mit Iris machen? Eine Mörderin wollte sie nicht werden! Niemals. Wie hätte sie ihre Hände so besudeln können. Hatte das nicht Iris' Mutter gethan, und wie hatte es geendet? – Wenn sie Iris aber den Gedanken eingab, sich selbst zu vernichten, wer konnte dann sagen, daß sie es war, die sie getötet? Iris durfte es nur nicht wissen, daß der Gedanke nicht aus ihr selbst entsprungen war – richtig, das war's, das blieb ihr nur noch zu thun übrig!

»Iris, hörst du mich?« rief Sigrid.

»Ja.«

»Ich befehle dir, zu vergessen, daß ich es war, die dir geheißen, dein Leben von heut' ab unvereinbar zu finden mit dem Glücke und der Ehre deines Mannes. Wirst du vergessen?«

»Ich werde,« seufzte Iris, und sie sah dabei aus wie eine halbwelke Blume.

Sigrid aber war längst jenseits jener Grenzen, auf denen eine Umkehr noch möglich ist, auf denen das Erbarmen noch steht und das menschliche Herz noch zu bewegen vermag.

»Erwache!« befahl sie und hauchte Iris an. Aber so rasch ging es nicht, sie mußte es wiederholt thun, ehe Iris die Augen aufschlug und ihre Sinne zu sammeln begann. Jetzt stand Sigrid auf und glitt leise aus dem Zimmer zurück in das ihrige und legte sich dort nieder und schlief ein inmitten eines sich wie wahnsinnig jagenden Gedankenreigens, in dessen Mitte sie stand im Triumph an Fürst Hochwalds Seite.

»Er wird mich lieben!« Das war der Refrain ihrer Gedankendithyramben, und dabei kam ihr nicht zum Bewußtsein, daß ihre Seele schon befleckt war von dem Blute Iris' – denn was bedurfte es noch der That? Der Wille hatte sie gezeichnet mit dem Zeichen Kains. –

Und Iris?

Sie blieb auf der Stelle, an der sie gelegen, als sie erwachte, und langsam nur war sie imstande, ihre Gedanken zu sammeln. Was war geschehen, seit sie vorhin ihr Zimmer betreten? Sigrid war bei ihr gewesen, und sie hatte ihr den anonymen Brief zum Lesen gegeben, und Sigrid hatte gesagt, es wäre alles wahr, was darin stand, und dann – – dann war Sigrid wieder fortgegangen. Jawohl! Sie war wieder fortgegangen. Iris konnte sich nicht mehr genau erinnern, ob und was sie sonst noch zusammen gesprochen hatten. Nichts, jedenfalls. Und wenn auch, was konnte es Wichtiges sein gegen die furchtbare Gewißheit, daß es wahr war, was jener feige Schreiber aus dem Hinterhalt vorgab.

Wahr! Sie, das verwöhnte Kind des Glückes, das glückselige Weib des edelsten Mannes, die hochbeglückte Mutter eines holden Kindes – – sie, die Tochter einer Verbrecherin, die unter dem Beil des Henkers gebüßt hatte.

Das war ein Gedanke, so furchtbar, so entsetzlich, so abenteuerlich, daß er fast undenkbar war. Und doch war es Wahrheit?

Schwerfällig, mit schmerzenden Gliedern erhob sich Iris, und ihr erster Blick fiel auf den Brief. Sie nahm ihn auf und steckte ihn in die Tasche ihres Kleides, und mit einem schmerzlichen Stöhnen öffnete sie das weiße Etui noch einmal und betrachtete die beiden Bilder. Das wunderschöne Frauenbild mit dem Kranze weißer Rosen in den Locken war also ihre Mutter – ach, als dieses Bild entstand, trug sie wohl noch der Unschuld weiße Rosen, und kein Fleck trübte ihre reine Seele. Was hatte sie zur Verbrecherin gemacht? Ein Wahn? Unendliches Mitleid stieg in Iris' Herzen auf für die arme, verlorene Seele, und dieses Mitleid, des Kindes Thränen, die heiß und schnell auf das Glas über dem Bilde tropften, sie drängten auch das lähmende Grauen, das sie beim Anblick dieses Bildes stets so unerklärlich beschlichen, zurück – vielleicht fingen Engel diese Thränen auf und trugen sie vor Gottes Thron, um damit das Blut abzuwaschen, das an den Händen der Unglücklichen klebte, die hier auf Erden Wohl gesühnt, ob aber auch im Himmel?

Doch die Thränen erleichterten Iris nicht, sie machten ihr das Herz schwer zum Brechen, denn nun kam der Gedanke: wie wird Marcell es tragen? Zwar, diese Frage beantwortete sie sich selbst –: er würde ihr nicht merken, sie nicht entgelten lassen, was er bei dieser Eröffnung, in diesem Bewußtsein empfand. Denn es ihm zu verschweigen, das fiel ihr gar nicht ein, weil es ein Unrecht gewesen wäre. Aber was mußte in seiner Seele vorgehen, wie würde er gepeinigt werden in dem furchtbaren Gedanken, daß sie, seine Frau, die Mutter seines Sohnes und Erben, das Kind einer Frau war, die das Gesetz verurteilt, die auf dem Schafott geendet, deren Name infam geworden und durch den Schmutz gezogen worden war von den bösen, bösen falschen Zungen, von den Federn reklamesüchtiger Zeitungsreporter.

O, diese Qualen, das auszudenken!

Und er, Marcell, mußte diese Kette mit sich schleppen bis an sein Ende, und auch von seinem Sohne würde man sich, wo man ihn sah, zuflüstern: »Seine Mutter war die Tochter jener Marie Ravensberg – – Sie wissen ja schon!«

Und die Welt würde auch ihn noch zeichnen mit dem Kainszeichen.

Wenn sie nun aber nicht mehr wäre, würde dann der Fleck getilgt sein aus seinem, aus Marcells Leben?

»Ja,« sagte es laut in ihr, »du darfst nicht mehr leben, wenn du ihn lieb hast. Du mußt ihn befreien von dem Schandfleck, du mußt in den Tod gehen und damit die Schmach abwaschen von seinem Namen und aus seinem Leben.«

Iris erschrak heftig vor ihren eigenen Gedanken, die ihrer Natur so fremd waren, die so wenig paßten auf den Charakter ihres Gatten. Sie hatte das dumpfe Gefühl als käme dieser Gedanke gar nicht aus ihr, als hätte jemand neben ihr gesprochen, dicht an ihrem Ohre – gesprochen mit einer Stimme, die ihr bekannt vorkam – – –

Oder hatte sie es doch selbst gedacht?

Verwirrt schloß sie die Augen – und da, da war es wieder. Sie eilte an das Fenster, zog die Jalousie empor und öffnete den Flügel und ließ die heiße Sommerluft hineinströmen in das Zimmer – mit ihr kam eine Welle von Blumenduft, aber es nutzte nichts: der Gedanke war da, und so oft sie ihn durch einen anderen vertreiben wollte, er kam wieder und wieder und wieder.

Erfaßt von einer übermenschlichen Furcht eilte sie in das Zimmer ihres Kindes und beugte sich über das schlafende Wunder von Lieblichkeit und sog den leisen Atem ein, als müßte der engelhafte Hauch sie retten – – umsonst, es sang und klang auch hier in ihren Ohren: »Das Leben ist unmöglich geworden für dich – du mußt sterben, um eine Schande von ihm zu nehmen, die er nicht ertragen könnte und dürfte!«

Ein furchtbares ©rauen beschlich Iris – die Schatten des Todes sammelten sich um sie und sie fühlte ihren kalten Hauch – willenlos fühlte sie die nahende Gewißheit, und daneben klopfte ihr Herz, und jeder Schlag rief: »Leben! Leben! Ich will ja nicht sterben!«

Und die Stunden schlichen dahin unter dem Kampf dieser zwei Mächte. Ihr junges, gesundes, reines Herz, in dem kein Atom eines Zweifels lebte an den Gefühlen ihres Gatten, das ihn so gut kannte wie sich selbst, das nur betrübt war bis zum Tode über das Leid, das sie ihm bereiten mußte ohne eigene Schuld – es rang mit ihrem Kopfe, der die Verzweiflung und die Selbstvernichtung forderte, nicht aus sich selbst heraus, sondern durch einen unerklärlichen Zwang, gegen den die gesunde Natur der jungen Frau sich auflehnte, trotzdem sie wußte, daß sie unterlag.

Und das Herz wurde immer stiller und schwächer unter dem dominierenden Gedanken: »Du mußt sterben, du darfst nicht mehr leben.«

Kein Wunder, daß sie zum erstenmal ihre Pflichten als Hausfrau vergaß und, als das Kind erwacht war und wieder hinausgefahren wurde ins Freie, zurückkehrte in ihr Zimmer und dumpf vor sich hinbrütend die Theestunde versäumte! Madame Chrysopras hatte ihren Platz an der Theemaschine eingenommen und das duftende Getränk an Sigrid und den Professor verteilt.

»Iris wird doch nicht krank sein?« bemerkte Madame Olga leicht besorgt. »Sie war beim Lunch so verändert.«

Sigrid zuckte mit den Achseln, sagte aber nichts.

»Ja, du warst doch nachmittags bei ihr – ist dir nichts aufgefallen, als ob sie leidend wäre?« fragte Madame Chrysopras harmlos.

»Ich – nachmittags bei ihr?« wiederholte Sigrid gleichsam erstaunt.

»Oder nicht?« meinte die ältere Dame. »Ja, ich weiß nicht – ich fragte beim Herunterkommen Rataiczak, ob die Fürstin noch in ihrem Zimmer wäre, und er meinte, er wüßte nicht – Komtesse wäre über eine Stunde im Boudoir von Durchlaucht gewesen –«

»Ich finde, dieser Rataiczak steckt seine Nase in Sachen, die ihn nichts angehen. Das ist ja die reine Spionage!« rief Sigrid gereizt.

»O bewahre!« rief Madame Chrysopras abwehrend, »Rataiczak ist über zwanzig Jahre bei meinem Bruder und hält sich für verpflichtet, zu wissen, was im Hause vorgeht, um immer zur Stelle zu sein. Solche Dienstboten sind heutzutage Seltenheiten, liebster Professor! Mich wundert ja auch nur, Sigrid, daß du einen so lang ausgedehnten Besuch bei deiner Schwester nach zwei Stunden schon total vergessen hattest,« setzte sie harmlos hinzu.

Sigrid zuckte wieder mit den Achseln.

»Ja, total,« gestand sie, »Gott, es ist ja auch kein Wunder – bei dieser Hitze. Und besonders, wenn man nichts Interessantes zusammen zu reden hat.«

»Hm!« machte Madame Chrysopras ganz überzeugt, mit unterdrücktem Gähnen.

Sigrid, auf deren Wangen rote Flecken brannten und deren Atem, trotz des studiert schleppenden Tonfalles ihrer Worte schnell kam und ging, nahm einen Cake aus der silbernen Schale auf dem Theetisch und sah dabei auf.

»Mein Gott, Herr Professor, warum sehen Sie mich denn immerfort an?« rief sie irritiert und böse.

Dr. Glauchau nahm nun gleichfalls eine Cake.

»'s könnte ja erstens ein Zeichen von Wohlgefallen sein,« meinte er freundlich lächelnd. »Und zweitens – kennen Sie das Sprichwort: ›Sieht doch die Katz' den Kaiser an?‹«

Sigrid kräuselte verächtlich ihre Lippen und schoß einen noch verächtlicheren Blick auf den kleinen Gelehrten, der sie mit schiefem Kopf liebreich weiter betrachtete.

»Warum tragen Sie runde Brillengläser?« fragte sie unvermittelt. »Konvexe, runde Brillengläser? Das sieht ja aus wie Froschaugen!«

»'s hat auch einmal ein Student sehr geschickt mein Porträt auf die schwarze Tafel gezeichnet und in rückwärtsiger Darwinscher Theorie einen Frosch aus mir in verschiedenen Stadien gebildet, 's war famos gezeichnet, meine Damen, und 's hat mir riesigen Spaß gemacht – andern auch, und das arme Bürschel kriegte trotzdem drei Tage Karzer.«

Der gute Professor sprach leicht plaudernd, aber dabei hatte er entschieden Gewissensbisse, weil er sich nicht mehr um Iris gekümmert. Er verzehrte seinen Cake und verließ dann die Damen, um das Versäumte nachzuholen.

»Woll'n wir wetten, der schöne blonde Satan, Sigrid, hat was auf dem Gewissen!« grübelte er im Gehen. »Warum hat sie's leugnen wollen, daß sie bei ihrer Schwester gewesen? Warum hat sie den armen Rataiczak 'nen Spion geschimpft? Warum log sie, daß sie den Besuch totaliter vergessen hätte? Was hat sie überhaupt, daß sie so 'n Haß hat auf mein herziges Durchlauchtchen? – Durchlaucht oben, mein bester Rataiczak?« setzte er laut hinzu, da er den Kammerdiener auf der Treppe traf.

»Befehl, Herr Professor,« erwiderte dieser; dem Professor fiel es dabei auf, daß der Mann einen gewissen perplexen Ausdruck zur Schau trug.

»Nun, was giebt's? Durchlaucht ist doch nicht krank?« fragte er ernst.

»Ich weiß nicht, Herr Professor,« meinte Rataiczak unsicher. »Durchlaucht sind blaß – haben den Thee, den ich vorhin hinauftrug, nicht angerührt. Durchlaucht sagen sonst immer ›danke‹ und dazu ›lieber Rataiczak‹ mit einem so freundlichen Lächeln. Für den geringsten Dienst, wahrhaftig, Herr Professor!«

»Kann mir's denken, 's sieht ihr ähnlich,« nickte der. »Nun und –«

»Durchlaucht merkten es gar nicht, daß ich den Thee brachte, hörten gar nicht, wie ich nach Befehlen fragte. Und – sind Herr Professor nicht auch ein Doktor!«

»Richtig. Warum?«.

»Nun, weil Durchlaucht ein Gesicht machten als hätten sie irgendwo Schmerzen –«

»Lieber Rataiczak, ich bin leider kein Menschendoktor,« erwiderte Glauchau ernst und sympathisch, »aber zum Rechten will ich doch mal sehen.«

Er nickte und wollte weiter, aber Rataiczak öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen, schwieg jedoch unentschieden.

»Haben Sie noch etwas mein Lieber?« fragte der Professor, dem schwerlich etwas entging. »Wollten Sie vielleicht sagen, daß Durchlaucht schon beim Gabelfrühstück nicht wohl war? Ich hab's auch bemerkt,« setzte er ermutigend hinzu.

»Jawohl, Herr Professor und vielleicht, wenn Durchlaucht nachher etwas geruht hätten, aber Komtesse Sigrid waren dann so lange bei Durchlaucht – – ich dachte immer: Du gehst jetzt rein und fragst wegen des Ausfahrens oder sonst was, denn Komtesse Sigrid sprachen so laut und hart und so befehlend. Ich hab' nicht etwa gehorcht, Herr Professor – man hört auch sowieso nichts in diesen teppichbelegten Stuben.«

»Na und – Sie gingen hinein, mein liebster Rataiczak?«

Der Kammerdiener räusperte sich.

»Ich hab's nicht gewagt,« gestand er. »Komtesse Sigrid haben ja so etwas – so etwas Hochfahrendes gegen unsereins, und das geht mir immer so hart herunter, Herr Professor, weil die durchlauchtigen Herrschaften beide so freundlich sind und unsereinen wie einen Menschen behandeln und nicht wie einen Knotenstock –«

»So so! Hm! Hm! Na, und –«

»Und wie ich noch so mit mir tischkerierte, da kamen Komtesse Sigrid heraus und ich stand, so zehn Schritt von der Thür, stramm vor ihr wie beim Militär – dicht neben der großen Standuhr, aber Komtesse muß mich gar nicht gesehen haben, denn sie zuckte nicht, wie sie an mir vorbeiging – ganz blaß, und der Mund, als wollte sie lachen, aber es war doch bloß Zähnefletschen, und die Augen – so funkelnd, so gierige Augen. Sie muß sehr böse auf Durchlaucht gewesen sein!«

»So so! Hm! Hm!« machte wieder der Professor. »Na, wie gesagt, ich will mal selbst sehen. Vielleicht lassen Sie indes die Mausgrauen anschirren, nicht wahr? Ich hoffe, Durchlaucht fährt mich 'n bißchen spazieren!«

Rataiczak verbeugte sich sichtlich erleichtert, und der Professor klopfte gleich darauf an der Thür zu Iris' Boudoir.

Keine Antwort. Der Professor klopfte noch einmal und trat dann ohne weiteres hinein. Iris saß in einem der tiefen Sessel, den unberührten Theetisch zur Seite, die Augen ins Leere gerichtet mit einem gespannten Ausdruck in den schmerzlich verzogenen Zügen, als lauschte sie auf etwas, auf jemandes Stimme.

»Mit Verlaub, Durchlauchtige,« sagte der Professor fröhlich, indem er die Thür hinter sich schloß, unnötig laut zwar, wodurch er aber erreichte, daß Iris auffuhr aus ihrer Lethargie.

»O – soll ich etwas?« fragte sie, sich nur mit Mühe sammelnd.

»Ei nun, ich dächte ja,« meinte Dr. Glauchau. »Wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, geht eben der Berg zum Propheten. Ich meine in diesem besonderen Fall: wenn Durchlaucht nicht kommen, uns Thee zu kredenzen, so komm ich mir halt welchen holen. Darf ich?«

»O ja –« Iris raffte sich mit Anstrengung auf und begann ziellos auf dem Theetisch zu hantieren.

»Das heißt – wenn Durchlauchtchen sich etwa nicht ganz wohl fühlen sollten –« begann Dr. Glauchau zu protestieren, und da keine Antwort kam, setzte er sich ohne weiteres Iris gegenüber, ihr blasses Gesicht durch die runden Brillengläser studierend. »Na,« meinte er nach einer Weile, sich umsehend, »wenn ich mal 's Interieur von einem sogenannten Feenpalast zu schildern haben sollte, so werd' ich dieses schöne Stübchen beschreiben. Rosa und Silber – kann man sich was Zarteres denken. Und ich mitten drin! 's verschönt mich sicherlich zusehends – ich komme mir schon selbst ganz rosenrot vor!«

Ein leises Lächeln wie ein blasser Schatten huschte unwillkürlich über Iris' Mund, aber der scharf aufpassende Professor sah es doch.

»Nein, ungelogen, man fühlt hier ordentlich, daß einem Schwingen wachsen,« fuhr er fort, »'s juckt mir schon in'n Schulterblättern – kein prosaisches Jucken, bewahre, sondern sozusagen, als ob die Flederwische sich durchs Jackett bohren wollten, was mir nebenbei unangenehm wäre, weil ich dem Schneider den neuen Anzug noch gar nicht bezahlt habe –«

»Nein?« fragte Iris teilnahmslos.

»Nein, er kam natürlich erst in dem Moment an, wo ich abreiste, nämlich der Schneider mit dem Anzug, und da sagte ich, warten Sie gütigst, bis ich wieder da bin. Ja, sagte er und ging ab, aber ich hab's ihm schon per Postkarte geschrieben, daß die Hosen zu kurz sind. Dergleichen Unvollkommenheiten verschwinden sozusagen hier in diesem rosigen Raum. Das war wohl auch eine Idee von meinem lieben Fürsten Hochwald?«

»Ja,« sagte Iris innig. »Auf was das Auge hier fällt, ist ein Liebeszeichen von ihm –«

Die Stimme brach ihr und sie wandte sich hastig ab.

»Ich kann's ihm nicht verdenken,« meinte der Professor mit Überzeugung. »Sehen Sie, liebste Fürstin, mein werter Freund, Ihr Gatte, hat sozusagen erst nach Johanni gethan, was ich ganz verpaßt habe: gefreit und geheiratet. Er war also ein reifer Mann auf der Mittagshöhe des Lebens. Wenn so'n Mann aber freit, dann ist in seinen Gefühlen eine Stärke und eine Kraft, die man beim jungen Manne vergebens sucht. Und wenn so ein reifer Mann findet, was mein teurer Freund Hochwald in Ihnen gefunden hat, da ist er glücklich zu preisen. Nun müssen Sie ihm aber auch nicht den Kummer machen und so blaß aussehen.«

»Es ist nichts. Ich habe eine schlechte Nachricht bekommen –« stammelte Iris mit thränenschwerer Stimme.

»Die kriegt jeder mal, dazu sind sie auf der Welt,« erwiderte der Professor gemütlich. »Außerdem sieht man's auf 'ne Meile weit, daß 'was los ist. Den Hals wird's ja nicht kosten, Durchlauchtchen, und wenn der Herzallerliebste wieder da ist, wird er's schon wieder grade und glatt machen.«

Iris sah schnell auf.

»O das meine ich auch,« rief sie hoffnungsvoll, um sofort wieder in ihre Apathie zurückzusinken. »Es darf aber nicht sein,« flüsterte sie.

Professor Glauchau hatte, wenn er wollte, das Gehör eines Fuchses. Seine Studenten behaupteten immer, er höre die Mücken niesen.

»Ich kann nämlich nicht anders,« fuhr er fort, ohne weiter auf Iris' Bemerkung zu achten, »als Ihnen eine sogenannte Standpauke halten, Durchlauchtigste. Wenn man sich sozusagen in den Nerven erschüttert fühlt, da kann man sich meinetwegen hinsetzen und sich krank daran grübeln. Wenn man aber wie Sie einen Mann hat und ein Kind wie'n Cherub, dann wartet man hübsch, bis der Mann kommt, um ihm die Sache vorzutragen, und wenn's einem so nahe geht, daß man blaß aussieht wie Kümmelquark auf'm Wochenmarkt, da legt man sich hin und ruht sich aus, statt stundenlang mit der Komtesse Schwester zu schwatzen!«

Iris horchte auf – und das hatte Dr. Glauchau ja bezweckt.

»Stundenlang?« lächelte sie matt. »Sigrid war keine zehn Minuten heut' auf meinem Zimmer.«

»Nun ja, die Zeit verfliegt, ohne daß man's merkt, im Hin- und Herreden,« meinte er.

Iris schüttelte mit dem Kopfe.

»Sie irren, liebster Professor. Sigrid kam zufällig zu mir, ich legte ihr eine Frage vor, die sie mir, mich dünkt, recht kurz beantwortete, und dann ging sie gleich wieder, wie mir scheint!«

»Wie's Ihnen scheint,« wiederholte Dr. Glauchau mit freundlichem Nicken. »Sagt' ich's nicht? So im angenehmen Parlieren verstreicht die Zeit, man weiß nicht, wohin!«

»Im angenehmen – gewiß,« sagte Iris träumerisch.

»Ja, war sie denn wieder so bockbeinig?« meinte der Professor teilnahmsvoll. »Hören Sie, Durchlauchtchen, das ist doch eine recht unangenehme Eigenschaft von Ihrer Komtesse Schwester! Hm! Hm! Leute, die hier bei der Thür vorübergingen, meinten auch, sie hätte wieder recht gezankt!«

»Sigrid?« fragte Iris erstaunt. »Davon müßte ich doch etwas wissen!«

Der Professor und die junge Frau sahen sich sekundenlang in die Augen, doch während die des ersteren hinter den Brillengläsern an Schärfe nichts verloren, sondern eher sich verstärkten, zog es nach dieser kurzen Pause wieder wie ein Schleier über die blauen, sonst so klaren und fröhlichen Augen von Iris, und ihr Blick, obwohl geradeaus sehend, schien sich nach innen zu richten; einem scharfen Beobachter konnte es nicht entgehen, daß ihre Züge dabei eine Spannung annahmen, als lauschte sie angestrengt auf Worte, die sie nur widerwillig, aber einem Zwang gehorchend, anhörte.

»Spricht jemand mit Ihnen, liebe Fürstin?« fragte der Professor nach einer Pause.

Iris nickte.

»Ja, ja,« antwortete sie flüsternd mit starrem, konzentriertem Blick. »Ich kenne die Stimme und weiß doch nicht, wem sie gehört. Ich besinne mich und zermartere mir den Kopf – ich kann aber den Namen nicht finden.«

»Ja, ja, so geht's,« bestätigte Dr. Glauchau, als wären diese seelischen Zustände ganz gewöhnlich. Und im selben Tone fuhr er fort: »Und was sagt denn die Stimme?«

Wieder zog der Ausdruck von Pein über Iris' schönes Gesicht.

»Ich darf es nicht sagen,« stöhnte sie mit erlöschender Stimme.

Der Professor erhob sich und nahm die beiden feinen, durchsichtigen Hände von Iris in seine beiden braunen, kurzen und dicken Fäuste.

»Durchlaucht, ich habe nämlich eine recht große, unbescheidene Bitte,« sagte er mit schiefem Kopf, wie eine bettelnde Bulldogge.

»Ja?« fragte Iris mit einem Versuch zum Lächeln.

»Sehen Sie, Durchlauchtchen – mir brummt auch der Schädel von der Hitze – laufen mag ich nicht, weil ich dazu viel zu faul bin – aber wenn Sie die große Freundlichkeit haben und uns beide 'n bißchen spazieren fahren würden, das sollte uns beiden 's Oberstübchen erfrischen. Nun, wie wär's?«

»Ja, ach ja, gern!« rief Iris aufspringend, mit tiefem Atemzuge. »Das ist ein guter Gedanke – das muß mir wohlthun und wird das Denken, das schreckliche, im Kreise sich drehende Denken verjagen. Ich werde gleich das Anspannen bestellen –«

»Ich habe mir schon die Freiheit genommen,« schmunzelte Professor Glauchau. Und dann fahren wir in den Wald und atmen Ozon und Sauerstoff, nicht wahr?«

Iris nickte und legte ihren Arm ohne weiteres in den des Professors, der sie hinabführte in die Halle, wo sie von dem Kleiderständer einen leichten Hut nahm und aufsetzte und ein paar wildlederne Handschuh über die Hände streifte. Rataiczak, der längst auf den Wink gewartet, gab das Zeichen zum Vorfahren des leichten, zweisitzigen Wagens, bespannt mit den »Mausgrauen«, und während Iris auf ihrem hohen Sitz schon die Zügel ergriff und der Professor das schwierige Geschäft unternahm, auf der anderen Seite hinaufzuklettern, erschien Sigrid in der Thür.

»Du willst ausfahren?« fragte sie kurz.

Iris nickte und beruhigte dabei die Pferde, die ungeduldig den Boden scharrten.

»Welche Thorheit, wo du dich nicht wohl fühlst,« rief Sigrid heftig. »Sei vernünftig, Iris, und geh' wieder auf dein Zimmer!«

»I woher denn?« rief der Professor, der mit blau-rotem Gesicht den hohen Sitz endlich mit seinen kurzen Beinchen erklettert hatte. »Herz, Leber und Lunge dürsten bei uns nach Waldozon. Nicht wahr, Durchlaucht?«

Aber Iris antwortete nicht, und Sigrid trat dicht an den Wagen heran.

»Komm herunter, Iris,« sagte sie befehlend und richtete den Blick fest auf ihre Schwester, aus deren Gesicht jeder Blutstropfen wich. »Du bist krank und darfst das Haus nicht verlassen. Du wirst dich gleich hinlegen, und ich werde dafür sorgen, daß niemand dich stört! Komm!«

»Ja,« erwiderte Iris mit fremder Stimme und ließ die Zügel fallen. Doch schnell wie der Blitz hatte der Professor sie ergriffen, und ein sehr unsportmäßiger, aber den Pferden ganz verständlicher Pfiff setzte diese sofort in Bewegung – dahin flog der leichte Wagen über den Kiesweg des Parkes nach der Richtung des Waldes zu.

Iris machte eine Bewegung, als wollte sie im vollen Fahren herausspringen, aber Professor Glauchau preßte ihr die Zügel in die Hände.

»Nun kutschieren Sie wieder,« meinte er trocken. »Immer lassen Sie die beiden Tiere laufen, was 's Zeug hält, das wird ihnen kolossal gut thun! Wahrhaftig, Sie sehen ja blaß wie'n Tischtuch! Hören Sie, das scheint mir doch 'n sehr unheiliger Einfluß zu sein, den diese werte Komtesse Schwester auf Sie ausübt –«

Iris begann tiefer zu atmen, und die Pferde, die keine Zügel fühlten, liefen in einem Pace dahin, den sie voll Übermut in einen langen Sprung verstärkten. Doch die rasche Bewegung brachte Iris zu sich – ein feines Rot erschien auf ihren Wangen; mit fester Hand faßte sie die Zügel und zwang damit die Mausgrauen zu einer vernünftigen Gangart.

»Hier ist's schön,« sagte sie tief atmend, als sie in den Wald einbogen.

»Ei nun, ich dächte wohl,« bestätigte der Professor, den Hut abnehmend. »Und nun mal raus mit der Katze aus'm Sack, Durchlauchtchen,« rief er ermunternd. »Was ist los? Wo drückt der Schuh?«

Aber Iris schüttelte mit dem Kopf.

»Lassen Sie mich,« bat sie freundlich. »Ich weiß. Sie meinen's gut, aber ich – ich darf's nicht sagen. Es ist eine schlechte Nachricht, die ich erhielt, und –«

»Und Komtesse Sigrid hat noch geholfen, die Hölle zu heizen,« fiel der Professor trocken ein.

Iris sah ihn überrascht an.

»Aber nein – was haben Sie nur mit Sigrid?« fragte sie. »Ich sagte Ihnen doch schon, daß sie keine zehn Minuten bei mir war, daß wir nur kurz – ich weiß nicht, wie kurz, das Thema berührten, das mich beschäftigt.«

»Und die Stimme, auf die Sie zu hören meinten?« warf er kurz und scharf hin.

»Die Stimme? Was hat Sigrid mit der Stimme zu thun?« murmelte Iris apathisch.

»Nun, ich meinte bloß – vielleicht ist's die Stimme der Komtesse Sigrid,« sagte der Professor betont.

Überrascht sah Iris auf – dann schüttelte sie mit dem Kopf.

»O nein, erwiderte sie mechanisch. »Wie könnte Sigrids Stimme so schreckliche Dinge reden –«

Der Professor schwieg und sie fuhren, ohne zu sprechen, weiter dahin.

An einem Kreuzwege endlich, als Iris geradeaus blieb, rief er endlich: »Links, Durchlaucht, links!«

»Aber da geht's ja zur Bahnstation?« sagte sie verwundert.

»Eben ja – ich hätte dort gern auf dem Postamt 'was gefragt –«

»O, dann natürlich!« Und Iris lenkte die Pferde links in den Weg.

Vor dem Bahnhofsgebäude, das zugleich auch Post- und Telegraphenstation war, stieg der Professor aus und verschwand schleunigst darin – aber er ließ den Postschalter unbehelligt, trat vielmehr in das Telegraphenbureau, wo er ohne weiteres an dem Tische Platz nahm, ein Depeschenformular ergriff und nach kurzem Besinnen niederschrieb:

»Fürst Hochwald, Hamburg, Grand Hotel. Bitte sofort zurückkehren. Fürstin infolge einer Nachricht psychisch stark erschüttert.

Glauchau.«

Nachdem er das Telegramm aufgegeben, kehrte der Professor zu dem Wagen zurück und fuhr mit seiner holden Wirtin wieder heim nach Hochwald. Er plauderte dabei wohl allerlei, doch schien nichts davon Iris besonders zu fesseln. Je näher sie dem Schlosse kamen, desto teilnahmloser wurde sie, und ihre Antworten entbehrten des Zusammenhanges. Als sie vor dem Portal vorfuhren, gab Rataiczak gerade auf dem Tamtam das Zeichen zur Tafel – zum drittenmal, wie Madame Chrysopras sagte, die vor dem Schlosse den kleinen Siegfried in seinem Wagen umherfuhr.

Iris machte keine Anstalten, die Toilette zu wechseln – sie strich nur leicht über das lichte Haar ihres Erstgeborenen, der ihr trotz beginnender Müdigkeit in seiner unartikulierten Sprache zujubelte, aber trotz des einfachen, dunkelblauen Cretonne-Kleides, das sie seit früh trug, sah sie weitaus schöner aus als Sigrid, die nun auch heraustrat in gewählter, weißer Robe, einen Halbmond von Rubinen in dem hochaufgesteckten, üppigen Haare, darin die Steine blutrot funkelten mit einem dämonischen Glanze, vor dem Iris leicht zusammenschauerte.

Sie blieb still und apathisch und sprach während des Mahles keine zehn Worte, scharf beobachtet von Sigrid, die sie kaum aus den Augen ließ, trotzdem sie sehen mußte, wie Iris in sichtlichem Unbehagen unter diesem Blicke litt. Madame Chrysopras bemerkte natürlich davon nichts – sie verordnete Iris gegen ihre »Migräne«, wie sie's nannte, in unparteiischer Reihenfolge homöopathisch Akonit, Pulsatilla und Belladonna, allopathisch eine Unmasie »Antis« und »Ins« – wie Antipyrin, Lethophenin, Antinervin, Phenacetin u. s. w., und seufzte nebenbei über die Hitze. Der Professor aß und trank wie ein Scheunendrescher, erzählte dazu mögliche und unmögliche Geschichten, kam vom türkischen Kaiser auf den Nachtwächter und schien ganz versenkt in seine Aufgabe, als Gast dem Wirte Ehre einzulegen durch einen herrlichen Appetit und kurzweilige Unterhaltung. Und dennoch sah er die Unruhe, unter der Iris litt, er sah den seelischen Schmerz in ihren Zügen und sah den kalten, glitzernden Blick in Sigrids Augen, sah die rotfunkelnden Rubinen in ihren Haaren, deren Glanz Iris zu fascinieren schien, und sagte sich selbst unablässig vor: »Gottlob, daß ich telegraphiert habe. Morgen früh muß er ja da sein. Wenn wir nur erst die Nacht hinter uns hätten!«

Ja, die Nacht! Unsäglich fürchtete sich Iris vor dem nahenden Dunkel der Nacht, so sehr fürchtete sie sich, daß sie des Kindes Bettchen in ihr Schlafzimmer tragen ließ und sich mit dem schlafenden Liebling einschloß, als es keinen Vorwand mehr gab, mit der unter Gähnkrämpfen sich verzehrenden Madame Chrysopras aufzubleiben. Sorglich untersuchte sie dann jeden Winkel, immer in der Befürchtung, Sigrids Kopf vor sich auftauchen zu sehen, und sie atmete auf, als sie sicher war, allein zu sein und wohl verwahrt gegen jeden Eindringling, allein mit dem schlafenden Kinde, dessen Atemzüge so ruhig gingen, so friedlich – –

Stöhnend sank Iris neben dem kleinen Bettchen nieder, und nun brach für die Arme eine Nacht herein, deren grausame Seelenqualen keine Feder zu schildern vermag.

Die junge Frau rang und rang mit der Stimme in ihrem Innern, die ihr befahl, das Leben als unerträglich und unverträglich mit ihren Pflichten gegen ihren Gatten zu finden, sie rang mit dem fremden Willen, der mächtiger war als ihr eigener, die langen, bangen Nachtstunden hindurch mit einer Heldenkraft, die niemand ihrer zarten Erscheinung zugemutet hätte – und sie unterlag doch.

»Nur er, er allein könnte mich retten,« schluchzte sie in die Kissen hinein, »nur er allein könnte diesen furchtbaren Bann von mir nehmen, nur er allein könnte der mörderischen Stimme in mir gebieten – – und er ist nicht da!«

Und in all diesen Seelenqualen hatte sie das Gefühl, das ihr mit eisiger Furcht bis ans Herz kroch, als ob hinter der Thür dort ein paar glitzernde Augen durch das Schlüsselloch spähten, und manchmal glaubte sie auch ein leises Rauschen draußen zu hören, wie von einem Gewande – –

Und als der Morgen anfing zu grauen, da stieg ihre Angst, und ihr Herz klopfte wild und stürmisch und lehnte sich auf gegen den fremden Willen – es war das letzte, ohnmächtige Zucken der Todgeweihten. Eine grauenhafte, furchtbare Leere umfing sie – o, hätte nur ein Geschöpf zu ihr gesprochen, nur eins! Selbst das oft gesehene Traumbild der gerichteten Mutter mit den langen, aschblonden Haaren in den Händen, mit dem stummen Munde und den redenden Augen wäre ihr willkommen gewesen – aber sie, deren Geist ihr so oft nahe gewesen, auch sie hatte sie verlassen, verlassen wie Gott selbst, zu dem sie wie gewohnt rufen und beten wollte und doch die Worte nicht fand, seit jene Stimme ihr zu sterben gebot.

Das erste Grauen des Morgens wich einer opalgleichen Dämmerung – die ersten Stimmen, vereinzelte, verfrühte Vogelstimmen tönten durch den thaufrischen Tagesanbruch – in der Ferne krähte ein Hahn, und kreischend strich ein Zug schneeweißer Möven vom Walde seewärts. Und von dem Zuge löste sich einer der Vögel los und irrte über das Grün des Rasens vor dem Schlosse dicht über der Erde hin, rastlos, ruhelos und hob sich dann wieder mit schrillem Ton bis an das Fenster, hinter dem Iris stand, ließ sich einen Augenblick auf dem Sims nieder, sah Iris mit runden, merkwürdigen Augen an, breitete die weißen Schwingen aus und flog dem Meere zu – –

Da wandte sich Iris ab und nickte nach der Thür hin, hinter der es wie ein Bann auf sie lauerte.

»Ja,« sagte sie laut, aber mit veränderter Stimme, träumerisch wie eine Schlafwandelnde. »Ja, es ist die höchste Zeit. Laß ab – ich will es heut' thun – jetzt gleich. Laß ab. Laß mir den Frieden nur in dieser Stunde – es ist genug!«

Und mit den unsicheren Schritten einer Blinden, die müden Augen weit geöffnet, trat sie an das Bett des Kindes und nahm es, umhüllt mit der seidengefütterten Spitzendecke heraus in ihre Arme, ohne daß das kleine Geschöpf davon erwacht wäre. Und mit dem Kinde im Arme schritt sie zu der gefürchteten Thür und riegelte sie auf und trat hinaus auf den Gang. Aber sie war schon jenseits irdischer Eindrücke, sonst hätte sie sehen müssen, wie eine graue Gestalt hinweghuschte bis in die nächste Fensternische, und sich dort hinter dem Vorhang verbarg – – – Iris sah nichts mehr. Stetig schritt sie weiter, und stieg die Treppe hinab, und schloß die Thür auf nach der Seeterrasse; als sie hinaustrat, fühlte sie nicht einmal die frische, scharfe Morgenbrise, die das Meer ihr entgegensandte und unter der das schlafende Kind zusammenschauerte. Sie fühlte nicht die beißende, kräftige Luft, die ihr das wirre Haar aus der Stirn blies, sie sah nicht, wie ein purpurroter Schein im Oft die nahende Sonne ankündigte, sie hörte nicht mehr das Geschrei der über den leichten Wellen kreisenden Möwen, hörte nicht das Knirschen von Rädern auf den Kiesgängen der Gartenseite – – –

»Sechs Stufen über dem Wasser während der Flut – vier Stufen darunter,« murmelte sie mit irrem Blick, indem sie das eiserne Gitter öffnete, das die Treppe von der Terrasse schied. »Eins, zwei, drei – vier – fünf –«

Iris schauerte zusammen, denn schon trat ihr Fuß im leichten Schlafschuh ins Wasser – die Flut mußte hochgestiegen sein heut'.

»Sechs.« Bis an die Knöchel stand sie nun im Wasser. »Noch vier Stufen und dann der letzte Schritt in den Tod und in die Ewigkeit.«

Sie nahm das ahnungslose Kind fester in die Arme.

»Eins. Zwei.« Die leicht bewegte Flut stieg ihr fast schon bis an die Kniee und begann das leichte, weiße Morgenkleid, das sie gestern Abend angelegt, vollzusaugen und mit herabzuziehen. Iris schauerte es bis in die tiefste Seele hinein – mit großen, entsetzten Augen sah sie vor sich auf die endlose Wasserfläche, auf ihre geliebte Nordsee, die ihr zum Grabe werden sollte, auf der es flimmerte und zuckte von den ersten Strahlen des himmlischen Lichtes, von der Sonne, die sich siegreich im Osten erhob, von der herrlichen, strahlenden Sonne, die sie nicht mehr sehen durfte.

»Warum, warum müssen wir denn sterben, Siegfried?« schluchzte sie aus, und mit verändertem Tone zählte sie weiter: »Drei!«

Doch ehe noch ihr Fuß die Stufe, die vorletzte, die sie von Zeit und Ewigkeit trennte, ertastet hatte, umschlangen zwei riesenstarke Arme sie und das Kind und hoben sie empor – –

Ein blendendes Licht durchflutete das All – die Sonne war emporgestiegen und leuchtete wie aus Milliarden Reflektoren auf der Wasserfläche – ein Singen und Brausen tönte vor Iris' Ohren, ein Stürmen fast, durch das sie ihren Namen von lieber, lieber Stimme zu hören meinte, dann ein Schrei wie aus Kindermund – und dann versank alles vor ihr in tiefe, tiefe Nacht, daß sie die schmerzenden Augen schließen mußte – – –

Und als sie den Blick wieder aufschlug, da lag sie auf dem Gartensofa in dem Saal vor der Seeterrasse und Marcell Hochwald hielt sie fest umschlungen, und vor ihr stand der Professor Glauchau im grüngelb gestreiften Schwimmanzuge und wiegte den kleinen Siegfried in seinen Armen wie eine gelernte Kinderfrau, und Rataiczak, dem dicke, schwere Thränen über das Gesicht liefen, versuchte ihr eine starke, scharfe Flüssigkeit einzuflößen.

»Nur noch eine Stufe – die letzte!« schrie Iris auf. »Muß ich denn sterben, Marcell?«

»Nein, mein Liebling,« beschwichtigte Hochwald, kaum seiner Stimme mächtig. »Herr Gott,« schrie auch er auf, »wenn ich eine Sekunde zu spät kam – wenn Sie nicht erwachten, Glauchau!«

»Ja, ja,« sagte der, das Kind schaukelnd, mit merkwürdig stoßender Stimme.

»Und ich habe geschlafen! Habe nicht gewacht!« jammerte Rataiczak.

Fürst Hochwald faßte sich mit höchster Willenskraft.

»Sie lebt,« sagte er schlicht. »Laßt sie uns hinaufschaffen, ehe jemand etwas merkt. Wozu das Aufsehen? Rataiczak hilf – Professor, Sie tragen das Kind. Vorwärts!«

Ohne Lärm, rasch und stetig bewegte sich die seltsame Prozession den Weg zurück, den Iris vor kaum zwanzig Minuten hinabgeschritten war. Keine Seele war wach im Schloß – nur einer hatte das Vorfahren des Mietwagens gehört – Rataiczak. Der Professor hatte nicht mehr schlafen können; – im Vertrauen darauf, niemand zu begegnen, wollte er ein Bad nehmen an der Seeterrasse und hatte verwundert die Thür dahin offen gefunden. Und dann hatte er Iris gesehen, wie sie die Treppe hinabzuschreiten begann, und zugleich hörte er die Thür öffnen für Fürst Hochwald – – Auch Professoren verlieren manchmal den Kopf, und so kam's, daß, statt Iris aufzuhalten, Dr. Glauchau erst dem Fürsten entgegenlief und ihn zur Seeterrasse zog – fast zu spät.

»Ich werd's nie vergessen,« dachte er erschüttert, als er mit dem Kinde im Arm hinter Hochwald herschritt, der Iris fest in den Armen trug, unterstützt von Rataiczak. Sie legten Iris in ihrem bis an die Kniee triefend nassen Kleide zunächst auf ein Ruhebett, und Hochwald versuchte, ihr das leichte Gewand abzustreifen, aber Iris schlang ihre Arme um seinen Hals und schrie auf und bat himmelhoch, sie nicht zu verlassen.

»Wenn du bei mir bist, ist die Stimme nicht da,« schluchzte sie, und obwohl Hochwald den Sinn nicht faßte, that er doch nur zu gern, um was sie ihn bat.

Nun half freilich nichts – Rataiczak mußte die Kammerfrau wecken, die übrigens sogleich auf dem Posten war, Iris von den nassen Kleidern befreite und sie zu Bett brachte, an dem Marcell Platz nahm, Iris' Hand in der seinen. Nach einigem unruhigen fieberhaften Hin- und Herwerfen schlief sie ein aus reiner Erschöpfung, und nun wagte er's, sich leise zu entfernen, um mit dem Professor zu sprechen, der im Nebenzimmer immer noch das Kind auf den Armen wiegte und sich in der mehrenden Helle des Tages der Mangelhaftigkeit seines Anzuges immer genierter bewußt wurde, trotzdem aber, aller Decenz trotzend, seinen Posten nicht verließ. Doch kaum hatte Hochwald Iris' Hand losgelassen, als letztere auch schon auffuhr und zum Bett hinaus wollte, so daß der Fürst alle Mühe hatte, sie festzuhalten.

»Bleib' bei mir, o bleib' bei mir,« flehte sie. »Wenn du mich nicht hältst, muß ich in den Tod –«

»Nicht doch, Iris, mein Liebling, nicht doch – weißt du denn nicht, wie notwendig du bist für mein Glück? Laß doch diesen furchtbaren Gedanken –«

»Halte meine Hand!« stöhnte sie. »Dein Wille ist stärker als der andere, der mich sterben heißt. Und wenn du nicht bei mir bleibst, muß ich ja doch fort in den kalten, schrecklichen, unbarmherzigen Tod!«

»Großer Gott, was ist hier vorgegangen?« dachte Hochwald erschüttert – er begann an ein seelisches Leiden zu glauben, an eine geistige Umnachtung seines Weibes.

Doch er that, um was sie bat – er setzte sich am Bettrand nieder und hielt ihre beiden Hände fest in den seinen, und wieder fiel sie in den Schlaf der Erschöpfung.

Die Kammerfrau hatte inzwischen die Wärterin geholt und mit ihr des Kindes Wiege in das Kinderzimmer zurückgeschafft, und dort schlief nun der kleine Siegfried so ruhig weiter, als wäre das nasse Grab ihm heute nicht schon um ein Haar breit nahe gewesen. Die Kammerfrau aber schloß die Jalousien des Schlafzimmers und räumte leise etwas auf, denn Iris hatte sie gestern Abend gar nicht hereingelassen zum Auskleiden; dabei nahm sie auch aus der Tasche des blauen Cretonnekleides ein Taschentuch, einen zierlichen Schlüsselbund und einen Brief, legte alles auf den Nachttisch und entfernte sich dann leise, während Marcell den Schlaf seiner Frau bewachte und sich die erschütternden Eindrücke der letzten halben Stunde zurechtzulegen, zu erklären suchte. Da fiel sein Blick auf den Brief, den die Kammerfrau auf den Nachttisch gelegt, und leise seine Rechte losmachend von den Händen, die die seinen umklammerten, nahm er das vielfach zerknüllte Papier und las mühsam in dem grünlichen Dämmerlicht den Uriasbrief, den Sigrid als von Spini stammend erkannt hatte.

Das also war's!

Hochwald konnte nicht anders – er mußte die Schlafende in seine Arme nehmen, und indem er heiße Küsse ihr auf Mund, Stirn und Wangen drückte, rannen ihm die Thränen aus den Augen auf ihr süßes Gesicht hinab, Thränen, deren er sich nicht schämte, denen er nicht einmal zu wehren dachte, Thränen, unter denen ein Ausdruck des Friedens über das holde Gesicht der Schläferin kam, unter betten die Spannung ihrer Züge sich zu lösen schien –

Aber unter den Thränen dieses tiefsten, erschütterndsten Mitleids stieg in Marcell Hochwalds Herzen ein heiliger, flammender Zorn auf gegen das Geschöpf, das mit frecher Hand den Schleier riß von dem unschuldsvollen Dasein dieses jungen Weibes, das Liebe behütet hatte vor der bitteren Frucht der Erkenntnis bis zu dieser Stunde. Wer hatte so roh, so fühllos sein können? Jene melodramatische Anklage gegen ihn selbst – – sie zerfiel vor dem anderen in nichts, er dachte kaum ihrer – aber die Hand, die von den tadellosen, glänzenden Schwingen dieser Seele den Blütenstaub streifen konnte – verdiente sie anders, als im höllischen Feuer zu dorren? Und sein Herz bebte in Entrüstung über dieses Bubenstück, daß er als Ursache von Iris' fast unerklärlichen Thun erkennen mußte, denn was hätte sie, die Reine, sittlich und religiös Makellose, zu der sündigen, furchtbaren That der Selbstvernichtung treiben können, das Kind, ihr eigenes Fleisch und Blut, diesen Teil von ihm und ihr, mit sich nehmend zu einer Reise, die nach christlicher Anschauung zu ewiger Verdammnis führt!

Und während Hochwald nachdachte in Schmerz und Zorn über das grelle Licht, das ihm jener Brief in das Dunkel von Iris' That geworfen, ging leis die Thür auf und der Professor erschien in derselben, nun angekleidet, und trug mit ängstlicher Vorsicht ein kleines, wohlbesetztes Frühstücksbrett, mit dem er sich, vorläufig wortlos, auf einem niederen Schemel vor Hochwald hinsetzte.

»Schläft unser liebes, schönes Engelchen?« tuschelte er mit angehaltenem Atem. »Wir wollen sie dann ja nicht stören, mein lieber Fürst! Aber hier bring' ich Ihnen 'was zum Frühstücken. Langen Sie feste zu – Sie sind die ganze Nacht gefahren – mit dem Schlaf wird's auch mau gewesen sein nach meiner Depesche. – Und dann der Schreck – ich bin noch ganz hin davon. Hier, trinken Sie 'ne Tasse warmen Kaffee – er wird Ihnen gut thun. Der gute Rataiczak wußte nicht, wie er's Ihnen bringen sollte und da hab' ich's nun selbst übernommen. Essen muß der Mensch, wenn er pflegen soll und obenauf bleiben, also zugelangt, liebster Hochwald! Wenn's nicht wie ein schlechter Witz klänge, thät' ich sagen: ›Thun Sie, als ob Sie zu Hause wären‹. Denn ich an Ihrer Stelle ließe die werte Gemahlin auch nicht allein. Nicht fünf Minuten!«

Während der Professor tuschelte, nahm Hochwald, immer die Rechte um Iris' Hände geschlungen, mit der Linken hastig das Frühstück zu sich, indem er des Professors Vorsorge dankend anerkannte.

»Warum?« fragte er auf Glauchaus letzte Bemerkung.

»Nun ich meine nur so. Sie schien mir gestern schon höchst bedeutend aus'm Gleichgewicht,« meinte der kleine Gelehrte.

»Ich kenne die Ursache, Professor,« flüsterte Hochwald zurück. »Ein anonymer Brief, der leider eine meiner Frau sorglichst verborgene Wahrheit enthielt – verborgen, um den Frieden ihrer Seele nicht zu stören. Ein Bubenstück!«

»Dacht' ich mir's doch!« entfuhr es dem Professor lauter als er gewollt. »Und der werte Autor?«

Fürst Hochwald zuckte mit den Achseln.

»Ich möchte fast auf Spini schließen,« sagte er zögernd.

Der Professor saß eine Weile nachdenklich da.

»Lieber Fürst, möchten wir nicht doch am Ende womöglich den Arzt konsultieren?« tuschelte er dann schüchtern. »Ich meine nicht, wegen dem bissel Wasser – aber 's könnte doch 'n Gehirnfieber auf die Aufregung werden –«

Hochwald erschrak – daran hatte er nicht gedacht.

»Ich danke Ihnen, Professor. Natürlich müssen wir gleich schicken. Würden Sie das Nötige an Rataiczak für mich befehlen?«

»'s wird eben angespannt,« erwiderte der Professor stolz. »Und wenn Sie nichts dagegen haben, fahr' ich gleich mit – hier hab' ich doch keine Ruhe zum Arbeiten – nein –! Und dann, ich kann dem Sanitätsrat unterwegs gleich mitteilen, was ich beobachtet habe – ist's Ihnen recht so?«

»Ob mir's recht ist!« sagte Hochwald dankbar. »Fahren Sie immerhin. Sie lieber, treuer Freund!«

Und Dr. Glauchau entfernte sich leise. Aber er kam noch einmal zurück und räusperte sich.

»Ich habe nämlich sozusagen noch ein Postskriptum,« flüsterte er. »Es ist nämlich – das heißt, 's ist meine Meinung – 's wäre gut. Sie ließen die Komtesse Erlenstein nicht erst weiter groß mit Ihrer durchlauchtigen Frau Gemahlin allein. Besagte junge Dame hat wirklich ein ganz infernalisches Temperament, sozusagen. Ein Temperament, was einen in der Ehescheu thatsächlich bestärken kann. Adieu einstweilen! Und wenn der liebe Engel dort aufwacht, grüßen Sie mir'n schönstens!«

Und damit verschwand Dr. Glauchau, den Fürsten nachdenklich und jedenfalls aufmerksam gemacht zurücklassend. Sigrid, wieder Sigrid! Sollte Sascha so sehr recht gehabt haben mit ihrem direkten Hinweis, daß Sigrid ihre Schwester mit ihren Launen geradezu maltraitierte?

»Nun, wir wollen dem gründlich und nachdrücklich ein Ende machen,« gelobte er sich. »Nun Iris auch alles weiß, wird ein Eingriff meinerseits ihre geschwisterlichen Gefühle nicht mehr in dem Grade verletzen –!«

Iris schlief weiter – regungslos, mit kaum hörbarem Atem, aber es schien Hochwald, als wäre dieser Zustand nur das Resultat tiefster, seelischer Erschöpfung, mehr Bewußtlosigkeit als Schlaf. Sie schrie jetzt nicht wieder auf, als er seine Hand aus der ihrigen löste, es erschien jedoch dafür auf ihrem blassen Gesichte ein solcher Ausdruck tiefster Qual und bitterster Pein, abwechselnd mit dem einer entsetzlichen Furcht, daß er das Experiment sich nicht zu Wiederholen traute. Als er ihr die Hand auf die Stirn legte, kam es wie eine Erlösung über sie, und ihren Mund umspielte ein Schatten des gewohnten, freundlichen Lächelns. –

Gegen acht Uhr morgens öffnete sich leis die Thür und Sigrid huschte herein; gleichzeitig kam ein leises Wimmern über Iris' Lippen, und sie bewegte sich unruhig hin und her.

»Man sagte mir, Iris sei krank,« flüsterte Sigrid.

»Es scheint so,« erwiderte der Fürst trocken, ohne Gruß, nur bemüht, die weißen Hände zu liebkosen, die unruhig aus der Decke umhergriffen.

»Was fehlt ihr –?«

Hochwald zuckte mit den Achseln.

»Du bist ganz unerwartet gekommen?« fragte Sigrid nach einer Pause.

»Ja.«

»Du telegraphiertest doch, daß du erst heut' Abend eintreffen würdest – demnach scheinst du deine Geschäfte eher erledigt zu haben.«

»Doch nicht ganz. Ich kam auf ein Telegramm Professor Glauchaus,« erklärte er.

Sigrid trat befremdet zurück.

»Professor Glauchaus?« wiederholte sie erstaunt.

»Ja. Er fand Iris gestern schon verändert und rief mich herbei. Hoffentlich nicht zu spät.«

»O Marcell!« machte Sigrid abwehrend. »Was dieser Professor doch weise ist,« setzte sie voll Spott hinzu. »Wie hat er nur wieder sehen können, was weder deiner Schwester noch mir aufgefallen ist?«

»Gottlob, daß er's sah,« war die kurze Antwort.

Sie schlug die Augen nieder.

»Ja, wir müssen ihm dankbar sein,« flüsterte sie und setzte hinzu: »Ich hörte, daß nach dem Sanitätsrat geschickt wurde – kann ich, bis er kommt, hier irgendwie behilflich sein?«

»Ich danke, nein,« erwiderte Hochwald kurz, und Sigrid wandte sich der Thür zu.

»Sigrid!« rief er ihr nach, von einem Einfall erfaßt.

»Nun?« fragte sie umkehrend.

»Ist dir bekannt, daß Iris gestern einen anonymen Brief erhielt, der – der ihre Herkunft enthüllt?« sagte er, sie so scharf ansehend, als es die Dämmerung in dem Zimmer erlaubte.

»Ja,« sagte sie nach einem Moment des Zögerns. »Iris hat ihn mir selbst gezeigt und mich gefragt, ob die Angaben darin wahr wären –«

»Und –?«

»Ja, durfte ich das verneinen?« erwiderte Sigrid, den Fürsten voll ansehend.

»Es wäre barmherzig gewesen,« kam nach kurzer Pause die Antwort. »Doch du magst selbst überrascht gewesen sein –«

»Ich war entsetzt« – versicherte Sigrid eifrig, die großmütig gebaute Brücke benutzend.

»Und wen vermutest du als Autor dieses Bubenstückes?«

»Spini,« erwiderte sie ohne Zögern.

Fürst Hochwald nickte ernst. Dann sagte er nicht ohne Bitterkeit: »Und dennoch habt ihr, weder du noch meine Schwester, gesehen, daß Iris anders war als sonst?!«

Sigrid biß die Lippen zusammen.

»Sie zeigte sich nicht erregt –« sagte sie atemlos.

»Ich glaube das gern,« war die ruhige Antwort. Damit wandte sich Fürst Hochwald ab und beugte sich über die unablässig leise wimmernde Iris, daß Sigrid darin ein Zeichen sah, zu verschwinden.

Draußen im Korridor aber ergriff sie ein solcher Schwindel, daß sie sich am Thürrahmen festhalten mußte.

Endlich schritt sie davon mit unebnen, ungleichen Schritten, wie Menschen nach einer langen, anstrengenden Nachtwache thun, und drinnen wurde Iris wieder still. –

Nach ein paar Stunden, während denen Hochwald Mühe hatte, einen »Krankenbesuch« seiner Schwester abzuwehren, die ihm zwischen Thür und Angel erzählte, sie müßte heut' noch nach England abreisen, um mit Lady X. zu dem flower show in Y. zurechtzukommen, weil Lady Z. dort ihre Orchideen ausstellte » and everybody, including Royalty was going to see those delightful Orchids!« Und die Ausstellung sei um drei Tage verfrüht, und die süße Iris würde doch gleich wieder Wohl sein, nicht? Und so voll war Madame Chrysopras von dieser flower exhibition, daß sie eigentlich nur ein halbes Ohr hatte für die Nachricht, Boris und Fuxia wären im besten Einvernehmen zu Tante Ukatschin nach Zarskoë-Sselo abgereist – –

Details war Hochwald auch wirklich im Moment nicht geneigt zu geben, er konnte nur mit seiner Schwester hoffen, daß Iris sich schnell wieder erholen würde.

»Ich würde dann den Nachtzug nehmen und morgen früh in Ostende an Bord gehen,« sagte sie geschäftig, den ›süßen‹ Brief Von Lady X. auf dickstem cream-Note-Paper um die Finger drehend.

Bald nach ihr glitt Sigrid wieder in das verdunkelte Zimmer.

»Du wirst müde sein von der Reise – darf ich dich nicht ablösen, damit du etwas ruhen kannst?« fragte sie sanft.

»Nein,« sagte Fürst Hochwald kurz, denn Iris begann wieder unruhig zu werden; er legte ihr deshalb beschwichtigend die Hand auf die Stirn.

Dies kurze »Nein« reizte Sigrid so, daß sie ganz ihre Rolle vergaß.

»Das klingt ja, als fürchtest du dich, ich könnte ihr ein Leid thun,« sagte sie rasch und unüberlegt.

»Wenn ich das fürchtete, dann gnade dir Gott,« erwiderte er mit einem Ernst, daß sie erbleichend zurückfuhr.

»Das ist ja fast eine Drohung,« wollte sie sagen, doch sie brachte es nur unvollständig hervor, so daß er nichts davon verstand.

Aber er bereute sofort seine Heftigkeit, die ihm schlecht mit seinen Pflichten als Wirt zu harmonieren schien. Deshalb wandte er sich fast gleichzeitig nach Sigrid um.

»Verzeih',« sagte er einfach, »du wirst aber vielleicht verstehen, daß ich erregt bin.«

»O ja, ja. Deshalb laß mich deinen Platz einnehmen! Sobald der Arzt kommt, lasse ich dich rufen,« rief Sigrid eifrig.

Doch Fürst Hochwald schüttelte mit dem Kopf. Die Warnung des Professors war ja sehr vorsichtig gewesen, aber Hochwald konnte sie weder vergessen, noch auch seine eigene Antipathie gegen Sigrid bannen. Und hätte er geschwankt, das sonst so natürliche Anerbieten Sigrids anzunehmen und ihr die Aufsicht über die Schlummernde auf kurze Zeit zu überlassen, so wäre dies Schwanken nur temporär gewesen, denn Iris entschied selbst in dieser Sache.

»Nicht Sigrid, nicht Sigrid!« rief sie im Schlafe unter heftiger Unruhe. »Laßt Sigrid nicht zu mir herein!«

Hochwald strich sanft mit der Hand über Iris' Stirn und beruhigte sie damit auf der Stelle. Da sich aber nichts hinter ihm rührte, wandte er sich um und sah Sigrid, die starr dastand, fest an.

»Warum fürchtet sich Iris vor dir?« fragte er mißtrauisch.

Aber Sigrid hatte sich schon wieder gefaßt.

»Sie redet wie im Fieber,« sagte sie scheinbar beängstigt.

Hochwald schüttelte mit dem Kopf.

»Die Temperatur von Händen und Stirn scheint normal,« sagte er ruhig. »Ich meine, du thätest besser, mich mit Iris allein zu lassen.«

Und Sigrid ging, ohne ein Wort zu erwidern. – –

Eine halbe Stunde später kam Professor Glauchau zurück – allein. Der Sanitätsrat ward durch eine ernste Operation zurückgehalten und konnte vor Abend nicht in Hochwald eintreffen. Er hatte Glauchau nur kurz sprechen können und letzterer ihm den Fall vorgetragen, soweit er ihn selbst kannte. Vollständige Ruhe für die Fürstin war alles, was er danach empfehlen konnte – Eisumschläge auf den Kopf bei etwa gesteigerter Körpertemperatur – und bei etwaigem Erwachen oder wiederkehrendem Bewußtsein beeftea, Champagner – und vor allem: es dürfte ihr unter keinen Umständen irgendwelcher Zweifel bleiben in Dingen, die ihren Geist beschäftigten, dem Ruhe vor allem heilsam sei.

»Mithin,« sagte Hochwald, der aufmerksam zugehört, »scheint der Sanitätsrat die Ansicht zu hegen, daß durch die erhaltene schlechte Nachricht der Geist meiner Frau einen Stoß erhalten hat, der zu diesem Resultat geführt.«

Der Professor räusperte sich.

»Das läßt sich aus der Ferne schwer entscheiden,« meinte er. »Doch schien der Sanitätsrat meine Ansicht über den Zustand der Fürstin zu teilen –«

»Und die ist –?«

Ich bin in der Medizin ein Laie und kann mich täuschen,« erwiderte Dr. Glauchau ernst. »Warten wir den Besuch des Arztes ab, bis dahin möchte ich nicht gern äußern, was schwer gegen mich wiegen würde, wenn ich unrecht habe. Nur das möchte ich bemerken: Ihre Frau Gemahlin ist nicht der Charakter, der unter einer geistigen Last so zusammenbricht, daß sie zu solchen Thaten schreitet. Und dann hat sie ihre Liebe zu Ihnen, an der sie nun und nimmer zweifeln würde. Was es also auch sein mag, das hier so unheilvoll gewirkt – vergessen Sie nicht, liebster Freund, es darf ihr, wenn sie zu sich kommt, kein Zweifel bleiben. Und ich meine auch auf die Gefahr hin, sie seelisch zu erschüttern – das kann eher in Ordnung gebracht werden, als –«

»Ich wollte, Sie sagten es ohne Umschweife, was Sie meinen,« unterbrach Fürst Hochwald.

»Vergessen Sie nicht, daß ich nichts weiß, von der Ursache keine Kenntnis habe und nur die Wirkung beobachten konnte,« sagte der Professor. »Ich spreche also nur wie der Blinde von der Farbe. Sie kennen die Ursache – es ist, bis der Arzt kommt, an Ihnen, die Wirkung zu paralysieren. Ich darf die Last einer so schweren Anklage, wie meine Theorie sie geformt, ohne die Bestätigung des Psychiaters nicht auf mich nehmen.«

»Eine Anklage?« fragte Hochwald befremdet.

»Nicht gegen unser Engelchen dort,« antwortete der Gelehrte mit einem Lächeln nach dem Lager zu, auf dem Iris ruhig und friedlich schlummerte. Dann nickte er dem Fürsten zu und ging auf den Zehenspitzen hinaus. –

In früher Nachmittagsstunde war's als Iris die Augen aufschlug und mit voll zurückgekehrtem Verständnis um sich blickte.

»Marcell!« jubelte sie auf, als sie ihren Gatten neben sich sah, »Marcell! Du? So war's doch kein Traum, daß du kamst und mich dem Tode aus dem Arm nahmst?«

»Gottlob, daß es kein Traum war,« erwiderte er liebevoll. »Ich kam zur rechten Zeit, Iris! Meine arme, kleine Iris, was mußt du gelitten haben, daß es dazu bei dir kommen konnte!«

Iris schauerte zusammen.

»Es war ein Kreuzweg, den ich gegangen bin,« sagte sie leise.

Marcell Hochwald strich sanft mit der Hand über ihr blondes Haar.

»Mein armer Liebling! Und doch – einen leisen Vorwurf kann ich dir nicht ersparen, den Vorwurf, daß du an mir zweifeln konntest.«

»An dir zweifeln? Nie, o nie!« rief Iris lebhaft, indem sie sich aufrichtete.

»Doch, Herz! Es war ein Zweifel an meiner Liebe zu dir, an der Liebe, die keinen Zweifel kennt,« entgegnete er mit der ganzen überzeugenden Freundlichkeit, die ihm eigen war. »Eine rohe, rücksichtslose Hand hat im Gefühl der Rache – der Rache gegen mich – dich treffen wollen und hat den Schleier zerrissen, den die Liebe um deinen Ursprung gewoben hat. Daß die plötzliche Wissenschaft dich im tiefsten Herzen treffen mußte, daß sie dich erschüttern mußte bis ins innerste Mark – wer wagte es, daran zu zweifeln. Aber du mußtest mich doch bester kennen, als daß du glauben konntest, es könnte dich in meinen Augen herabsetzen, meine Liebe zu dir vermindern!«

»Das glaube ich auch keinen Augenblick,« war die rasche, ruhige, sichere Antwort.

»Iris –!« Marcell Hochwald nahm ihre beiden Hände und sah ihr fest in die leuchtenden blauen Augen. »Du glaubtest an mich, und doch – und doch konntest du unser Kind, unser schuldloses Kind in deine schuldlosen Hände nehmen, um mit ihm in den Tod zu gehen, um mir diesen namenlosen Schmerz zu bereiten und deine Seele mit einer furchtbaren, unsühnbaren Schuld zu belasten?«

Er hatte heftiger gesprochen, als er gewollt und mußte sich abwenden, um sich gewaltsam zur Ruhe zu zwingen um ihretwillen. Als er sich wieder zu ihr wandte, sah er, wie ihr Blick sich konzentriert, gleichsam nach innen gerichtet hatte und ihre Züge eine Spannung zeigten, als horchte sie auf ferne – ferne Stimmen.

»Iris!« rief er erschrocken und legte ihr die Hand aufs Haupt. Da wich die Spannung aus ihren Zügen.

»Du hast mir viel zu vergeben,« schluchzte sie.

»Es ist vergeben, war vergeben, als ich dich und Siegfried in den Armen hatte,« sagte er ernst.

Sie sah zu ihm auf mit ihren schönen, klaren Augen.

»Du hast mich physisch gerettet – rette nun auch meine Seele,« bat sie. »Es ist eine Stimme in mir, die mich zwingt, das Leben unerträglich zu finden, seit ich weiß, daß ich die Tochter einer –«

Sie brach ab.

»Sie ruhe in Frieden,« sagte Hochwald leise.

»Doch wenn du bei mir bist, ist alles gut, dann weichen die Gedanken von mir, die Gedanken an den – Selbstmord. – Marcell, Marcell, verlasse mich nicht! Mein eigenstes Ich sagt mir ja, daß du mich nicht aus deinem Herzen verstoßen wirst, und daneben flüstert es in mir und zwingt mich, dich frei zu geben durch meinen Tod!«

Hochwald verstand nicht ganz, was sie meinte, der Widerspruch in ihren Worten schien ihm ein krankhafter Zustand, hervorgerufen durch die große seelische Erschütterung.

»Ich verlasse dich nicht,« sagte er gütig. »Wir wollen vereint kämpfen gegen diesen Dämon. Müßte er nicht schon gebannt sein, Iris?«

»Er ist's nicht,« flüsterte sie. »Nur dein Wille ist stärker als er, er flieht in deiner Gegenwart und wartet darauf, bis du mich allein läßt, um sich meiner wieder zu bemächtigen.«

Der Fürst schüttelte mit dem Kopf – es schien ihm nicht gesund, was Iris sagte.

»Hast du noch einen Zweifel an mir?« fragte er liebreich.

»Nein,« versicherte sie. »Keinen. Es wird mir sogar schwer, wenn ich deine Liebe zu mir sehe, mir vorzuhalten, daß ich ein Schandfleck bin an deinem Stammbaum.«

»O Iris! Das wäre ja auch ein engherziger, unchristlicher Standpunkt.«

Dankbaren Blickes sah sie auf zu ihm.

»Woher weißt du es?« fragte sie dann, »hast du den Brief gefunden oder hat Sigrid dir gesagt –?«

»Den Brief habe ich gefunden, Iris, aber mir konnte er ja nichts Neues sagen –«

»Marcell – du hast es gewußt?« unterbrach sie ihn atemlos.

»Sicherlich, mein Liebling, ich wußte es, ehe du meine Braut wurdest. Oder meinst du, dein Pflegevater hätte mir das in seiner Redlichkeit verheimlichen können?«

»Und trotzdem, Marcell, trotzdem machtest du mich zu deiner Frau?«

»Trotzdem, Lieb! Ich liebte dich, wie ich dich noch liebe und lieben werde über das Grab hinaus,« sagte er einfach.

Iris that einen tiefen, tiefen Atemzug und breitete beide Arme aus.

»Das ist Erlösung!« rief sie unter strömenden Thränen.

*

Eine Stunde später führte Fürst Hochwald seine Frau in sein eigenes Zimmer, das kühl nach Nordwesten lag und an dem heißen Sommertage ein buen retiro war. Sie fühlte sich gestärkt und kräftig an Geist und Körper – die Liebe hatte des Geistes Krankheit besiegt, und der Körper hatte willig genommen, was ihn physisch aufrichtete. Freilich sagte sich Marcell Hochwald, daß wohl noch lange Zeit vergehen würde, bis Iris die geistige Erschütterung der letzten sechsunddreißig Stunden überwunden haben würde, aber die Zeit hatte ja schon tiefere Wunden geheilt.

Um seinen Geschäften nachgehen zu können und doch Iris nicht von seiner Seite zu lassen, führte er sie in sein Zimmer und machte es ihr in einem tiefen Lehnsessel bequem, neben den er ein niederes Etagerentischchen stellte. Unter den Kopf schob er ihr ein kühles, ledernes Kissen, auf dessen braunem Grunde sich ihr blondes Köpfchen wundersam fein und stimmungsvoll abhob.

Am Schreibtisch sah er dann die während seiner Abwesenheit angelangten Briefschaften durch – ein Geschäft, das langsam von statten ging, da er immer und immer wieder neben Iris trat, ihr sanft das Haar aus der weißen Stirn strich oder ihr die feinen, matt im Schoße liegenden Hände streichelte und in die seinen nahm. Und während er wieder einmal damit beschäftigt war, fühlte er ein leises Zittern in ihren Händen.

»Was ist dir, Lieb?« fragte er besorgt.

»Die Stimme naht wieder –« flüsterte sie.

»Ich bin ja bei dir,« sagte er zuredend, wie man eben Kranken und kleinen Kindern zuredet.

Sie faßte fester seine Hand.

»So kann mir nichts geschehen,« erwiderte sie beruhigt. In diesem Augenblick klopfte es leise an die Thür zur Bibliothek, und zugleich trat Sigrid in das Zimmer.

»Ich hörte eben, daß Iris aufgestanden sei,« sagte sie näherkommend. »So ist ihre Migräne wohl besser?«

Hochwald sah seine Schwägerin zweifelnd an – wußte sie nicht, was vorgefallen? Doch ihre Züge, die trotz des heißen Tages unerhitzt und kühl und alabasterweiß aussahen, verrieten nichts. Freilich – der Professor und Rataiczak hatten nichts erzählt, und was die Kammerfrau sagen konnte, waren doch nur Vermutungen.

»Iris' Befinden ist besser, sie bedarf aber großer Ruhe und Schonung,« sagte er nicht gerade einladend.

»Gut – wir wollen dafür sorgen,« erwiderte Sigrid unbewegt, doch auf der Stelle zögernd, auf der sie stand. Iris aber richtete sich halb auf aus ihrer bequemen Lage.

»O, ein Wort nur möchte ich sagen,« bat sie, indem sie ihres Gatten Hand bittend drückte. »Sigrid – Marcell wußte, wer meine Eltern waren, ehe er sich mit mir verlobte! Dein Vater hat es ihm gesagt.«

»Still, Iris, still,« fiel Hochwald ein. »Sigrid weiß das längst!«

Da sprang Iris völlig empor und stand nun da, das Antlitz wie mit Blut übergossen, mit flammendem Blick.

»Sigrid!« rief sie bebend vor Entrüstung, »Sigrid, ist's möglich, das – das hast du gewußt und hast es mir nicht gesagt? Hast mich in dem Glauben lassen können, Marcell hielte mich noch für deine Schwester? Gewußt hast du das Gegenteil und mich die Qualen durchkosten lassen, wie ihn die Entdeckung treffen und verwunden mußte – o!«

Und außer sich, aufgestachelt aus ihrer langmütigen geschwisterlichen Nachgiebigkeit, warf sich Iris an des Gatten Brust.

In Sigrids Augen begann es drohend zu glitzern und zu funkeln.

»Ich entsinne mich nicht, daß du mich danach gefragt hättest,« sagte sie achselzuckend.

»Gefragt!« wiederholte Iris außer sich. »Und wenn du mich verachtet hättest und gehaßt hättest – um der Liebe willen, mit der deine Eltern meine Jugend sonnig und hell gemacht haben, hättest du mir's ungefragt sagen müssen. Du würdest mir so viele Qualen erspart haben!«

»Das sehe ich nicht ein,« entgegnete Sigrid heiser. »Die Sache blieb dieselbe.«

»Niemals!« rief Iris, sich fester an ihren Gatten schmiegend. »Wie kannst du wagen, das zu sagen? Die Entdeckung, daß ich die Tochter von – von deines Vaters unglücklicher Schwester sei, konnte mich nicht halb so schwer treffen, wenn du mir sagtest, daß Marcell mich im vollen Bewußtsein dessen zu seiner Frau gemacht – ohne Schwanken und Wanken!«

Ein böser Blitz schoß aus Sigrids Augen – sie sah ein, daß es, um ihr Ziel zu erreichen, besser gewesen wäre, sie hätte geschwiegen oder sich gebeugt, aber ihr Temperament siegte über ihre Weisheit und riß sie mit sich fort.

»Ohne Schwanken und Wanken, wirklich?« fragte sie hohnvoll. »Nun, eine Stufe wird dein Held wohl von seinem Sockel herabsteigen müssen, Iris – falls er sich selbst erinnert, daß er erst vierundzwanzig Stunden, nachdem mein Vater mit ihm über dich gesprochen, wiederkam, sich mit dir zu verloben. Freilich – nur vierundzwanzig Stunden hat er geschwankt, ob es sich mit seiner Ehre vertrüge, die Tochter der geköpften Verbrecherin zu seiner Frau zu machen oder seine Werbung einfach zurückzunehmen und dich – sitzen zu lassen. Aber Marcell war kühn genug, das Risiko zu wagen – das will ich gern anerkennen – und zudem – vor der Welt stecktest du ja auch hinter unserm guten Namen!« Haß blitzte aus ihren Augen, als sie sprach – sie war nicht mehr imstande, ihre Worte zurückzuhalten, ihre Leidenschaft zu beherrschen.

Marcell Hochwald drückte den blonden Kopf seiner Frau fester an seine Brust.

»Du hast recht, Sigrid,« sage er vollkommen ruhig, »ich habe vierundzwanzig Stunden geschwankt, ehe ich wiederkam, um Iris als Braut aus deines Vaters Händen zu empfangen. Es waren vierundzwanzig schwere Stunden. Aber ich schwankte nicht aus dem Grunde, den du mir unterlegst.«

»Was kümmert mich der Grund, wenn die Thatsachen reden?« rief Sigrid in wahnsinniger Wut, weil sie Iris in seinen Armen sehen mußte.

»Ist dir der Zweifel ins Herz gesäet worden, Liebling?« fragte Marcell, sich zu Iris herabbeugend.

Verneinend schüttelte sie den Kopf.

»Ah,« sagte er fast traurig, »du kannst es noch nicht wissen. Die Saat geht erst auf in den stillen Stunden des Nachdenkens. Doch ich will den Keim im Werden vernichten. Lieb! Bist du stark genug, einen Gang mit mir zu machen, der jeden Zweifel tilgen muß für immer? Die Stunde ist gekommen, den Gang mit mir zu thun. Ich hatte gehofft, ihn dir und mir ersparen zu können, doch des Menschen Hoffen ist Stückwerk vor der Bosheit der Welt, vor dem Neide niederer Seelen. Komm mit mir, Iris – die Zeit ist da. Willst du diese Rosen mitnehmen? Es wird dir vielleicht – nein, sicherlich wird es dir lieb sein, sie mitgenommen zu haben.«

Schweigend unter dem feierlichen Gefühl des Ungewöhnlichen in Marcells Ton, ergriff Iris den auf einem Seitentisch stehenden Strauß köstlicher Lafrancerosen und legte ihren Arm fester auf den Hochwalds.

»Du magst mitkommen, Sigrid,« sagte er zu dieser gewendet, einfach.

Sigrid aber, von einer vagen Furcht ergriffen, zögerte.

»Wohin gehen wir?« fragte sie abwehrend.

»Dahin, wo das rote Licht von Hochwald leuchtet,« war seine Antwort, und Sigrid, die darunter zusammengezuckt war, folgte dem Paare, wie von einem Magneten gezogen.

*

Und als die Thür unter dem türkischen Teppich in der Halle sich wieder hinter ihnen geschlossen hatte, jene Thür, durch die Spini heimlich in jener Sturmnacht sich hineingestohlen hatte in den unbewohnten, wettergeprüften Schloßflügel der alten Hochwälder Seefeste, als sie die gewundene schmale, ausgetretene Treppe hinabstiegen und den gangartigen Raum mit den Schießscharten und den Resten der alten Wachtstubeneinrichtung betraten, da sagte Iris leise, wie man in einer Kirche spricht:

»Mir ist, als träumte ich, Marcell! Wie oft hat mich nicht im Traume die schwarze Frau mit den welken Rosen und den langen, blonden Haaren in den Händen hinabgeführt hierher, wo ich doch nie meinen Fuß hingesetzt. Jedes Stück, jeden Winkel hier erkenne ich wieder aus meinem Traume.«

»Sie braucht wohl dein Gebet,« erwiderte Hochwald ebenso leise. »Gott weiß, daß ich es ihr nur deinetwegen so lange vorenthalten mußte.«

Verwundert folgte Iris ihrem Gatten – hinter ihnen schritt Sigrid halb widerwillig, halb neugierig. Nur ein dürftiges Licht stahl sich durch den Raum, der durch Fackeln früher Wohl auch bei Tage künstlich erleuchtet wurde, wie die eisernen Fackelträger an den getünchten Wänden bewiesen. Um diese Stunde aber – die sechste des Nachmittags – wurde die Seefront des Schlosses voll von der Sonne beschienen, und durch die schrägen Schießscharten fiel das Licht in breiten Strömen auf den Steinboden, so daß die Dämmerung des öden, wüsten, kellerartigen Raumes in einer goldigen, traumhaften Glorie schwamm.

An dem Wandschranke, in dem Rataiczak in jener Sturmnacht zum Ärger Spinis spurlos verschwunden war, machte Fürst Hochwald Halt.

»Fühlst du dich stark genug, Iris?«

»Bei dir und mit dir – sicherlich,« war ihre schnelle, freudige Antwort, trotzdem sie sich seltsam beklommen fühlte.

»Ich frage nicht umsonst, Iris,« sagte er nochmals. »Denn ich führe dich in eine Gruft.«

»Ein leises Frösteln rann durch ihre Glieder und sie faßte fester seine Hand.

»Wo du mich hinführst, wird es gut sein,« erwiderte sie mit jenem schönen Vertrauen, das des Glückes Grundfeste ist.

Sigrid verzog die Lippen zu einem spöttisch sein sollenden Lächeln.

»Warum mußte ich mit herkommen?« fragte sie. »Was gehen mich die Hochwälder Grüfte an? Ich habe das berühmte süß-schaurige Tendre für Grüfte überhaupt nie empfunden. Und überhaupt scheine ich hier sehr überflüssig zu sein.«

Hochwald, der begonnen hatte, die Regale aus dem Wandschrank zu nehmen, wandte sich um.

»Es ist dir unbenommen, umzukehren,« sagte er. »Vielleicht aber, wenn das Bild von Sais entschleiert vor dir steht, wirst du lernen, anders über – gewisse Sachen zu denken wie bisher. Vielleicht auch entschädigt dich für diesen Gang die Erforschung des rätselhaften roten Lichtes von Hochwald, das dich und deinen Seelenfreund Spini bis zur Verletzung des Gastrechts beschäftigt. Wie dem auch sei – hier an dieser Schwelle gebiete ich Frieden. Kannst du ihn nicht halten und deine Zunge nicht zähmen, so kehre um.«

Sigrid trat mit erhöhter Farbe ein paar Schritte näher – ihr Atem flog und sie öffnete die Lippen.

»Ruhe!« gebot Hochwald mit einem Ernst und einer Autorität, daß sie den Mund wieder schloß, ohne daß ein Laut daraus gekommen wäre.

Nun öffnete er die Rückwand des Schrankes durch einfaches Auseinanderschieben der Wände, wodurch eine niedere, eiserne Thür sichtbar wurde; der Schrank war uralt, und es schien, als sei er nur zur Maskierung des Eingangs zu einem Raume angebracht worden, der wohl in früheren Kriegszeiten als Schatzkammer gedient hatte.

Hochwald nahm Iris fester an der Hand, geleitete sie in das Innere des weiten Schrankes und öffnete die eiserne Thür. Inmitten des breiten Sonnenstrahles, der durch die besonders breite Luke, die diesem Raum Licht und Luft zuführte, mit warmem Hauch hereinströmte, leuchtete das geheimnisvolle rote Licht. Eine sogenannte ewige Lampe von Silber mit Rubinglaseinsatz hing an Ketten von der gewölbten Decke über einem schlichten, kleinen Altar herab. Der Altar wurde überragt von einem alten, wunderlieblichen Madonnenbilde auf Goldgrund, das mild herablächelte, Während das göttliche Kind auf ihren Armen beide kleine Ärmchen ausbreitete, als wollte es die ganze Welt an sein Erlöserherz schließen. Seitwärts von dem Altar stand auf der einen Seite ein geschnitzter Betstuhl, auf der anderen war ein Ständer, daran ein priesterliches Ornat hing, wie es die katholische Kirche für das Totenamt braucht, und in der Mitte des schmalen, engen Raumes mit seinen Steinwänden und seinen groben, unebenen Fliesen, da stand, verhängt durch eine kostbare, schwarze Samtdecke ein Etwas, wie ein Sarg. Auf dem Altar aber waren Vasen mit frischen Blumen gefüllt.

»Marcell –« Iris flüsterte es, in der Thür zögernd. »Marcell, wohin führst du mich? Wer schläft hier? Wer hat diesen Raum geschmückt, heut' vielleicht erst, denn frische Rosen stehen hier, und –«

»Komm,« erwiderte er und führte sie an das Fußende des verhüllten Etwas, und wie sie näher trat, sah sie, daß dort die schwarze Truhe stand mit den wundervollen blonden Haaren darin, mit dem Spitzentuch, mit den welken Rosen, und eine Ahnung ergriff sie, daß sie Hochwalds Hand fester faßte, um nicht in die Kniee zu sinken. Hochwald aber schlug die Decke zurück und enthüllte einen alten, großen, weitausladenden Bleisarg, auf Löwenfüßen stehend, wie unsere Vorfahren ihn für prunkende Grüfte liebten. Der Deckel darauf war nicht verschraubt, sondern nur aufgelegt und ließ sich leicht auf den breiten Rändern drehen, und indem Hochwald das that und den aufsatzartigen Deckel bis zum Fußende herumdrehte, ward auch des Prunksarges Inhalt sichtbar – ein zweiter, schmaler, niederer, fußloser Sarg, schlicht gefügt aus schwarzgetünchten Brettern, ein Sarg, wie die Armen ihn bekommen und die der Staat sonst noch begraben muß – ein Sarg, vor dessen Anblick der Hochmut schwindet und eine tiefe Demut des Menschen Herz ergreift. Auf dem flachen Brett, das dieses Sarges Deckel bildete, war ein Pergament angeheftet und mit schwarzen Lettern beschrieben.

»Lies!« sagte Hochwald zu Iris, auf das Blatt deutend, und sie beugte sich darüber und las in ihres Gatten Handschrift:

 

»Hier ruht, wie wir hoffen dürfen, in Gott, Marie, Freifrau von Ravensberg, geb. Gräfin von Erlenstein, nachdem sie der irdischen Gerechtigkeit Sühne geleistet, am 2. Oktober 1869, im 25. Jahre ihres Lebens.

Es umgeben mich die Schmerzen des Todes – – – Kehre zurück, meine Seele in deine Ruhe, denn der Herr hat dir wohlgethan.

Ps. 114, 3 und 7.«

 

»Meine Mutter!« sagte Iris, als sie gelesen. »Ruht meine Mutter hier?«

»Deine Mutter,« wiederholte Hochwald ernst und sanft und führte Iris zu dem Betstuhl, auf dessen Kniekissen er sie niedersetzen ließ. »Und hier, angesichts der letzten Ruhestätte deiner Mutter, angesichts des armen, elenden Sarges, der die Überreste der einst in Schönheit und Glanz Prangenden birgt, sollst du hören, warum sie den Tod durch Henkershand erleiden mußte, warum sie hier ruht, und warum ich erst nach vierundzwanzig Stunden kam, dich als Braut zu begrüßen, nachdem dein Pflegevater mir gesagt, daß du ihr Kind seiest.«

Hochwald schwieg, um sich zu sammeln, und es ward für wenige Minuten totenstill in der seltsamen Gruft, verborgen menschlichem Auge und menschlichem Wissen, während die See der Toten im Armmsündersarge ihr urewiges Lied rauschte, murmelte, flüsterte, tobte und brüllte, wo das rote Licht das ewige Leben versinnbildlichte, wo frische Blumen ihren süßen Duft hauchten durch den Atem der Verwesung und dem Tod den Stachel nahmen – – –

Hochwald stand neben dem Sarge, auf den das Sonnenlicht als ein schräger Streifen durch die Mauerluke fiel und in seinen Zügen arbeitete es wie von mächtiger innerer Bewegung. Die Augen fest auf ihn gerichtet, die Hände gefaltet wie zur Andacht, so saß Iris da, die junge Seele erfüllt von einer ungekannten Empfindung, ähnlich der, die sie so oft ergriffen, als sie das Bildnis ihrer Mutter in dem weißen Etui betrachtet, nur wollte diese Empfindung sie nicht mehr lähmen und entsetzen, wie vordem – sie fühlte sich gefeit durch die Gegenwart ihres Gatten. Und in der offenen Thür lehnte Sigrid mit gekreuzten Armen und einem Blicke, der Zorn, Verachtung, Pein und Hoffnungslosigkeit widerspiegelte.

»Als ich sie zum erstenmal sah, die hier ruht,« begann Hochwald erst leise, dann sich steigernd, »als sie zum erstenmal vor mich hintrat, da warst du, Iris, wohl erst wenige Monate alt, und sie, sie trug den Kranz von weißen Rosen im Haar, in dem sie abgebildet ist auf dem Bilde, das dein Pflegevater dir schenkte. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie so eintrat in das halberleuchtete Zimmer, in welchem ich vor deinem Vater saß – – es war mein erster Besuch in seinem Hause, denn die Ravensbergs waren eben erst vom Lande zur Wintersaison nach der Residenz gekommen und ich war auch erst im Herbst Offizier geworden, nachdem ich die Universität absolviert – –, kurz, dein Vater hatte mich empfangen, schon fertig für ein Fest in großem Hause, zu dem seine Frau noch bei der Toilette war. Du hast ganz seine Augen, Iris, ganz sein gewinnendes Wesen, ganz seinen sonnigen, frohen Charakter, sein liebreiches Herz – und was in seinem männlichen Charakter als Fehler – nein, als Mangel gelten konnte, hat deiner Weiblichkeit vielleicht gerade den Zauber gegeben, der in mein Leben als Sonnenblick fiel. Wir saßen und plauderten und fanden vielerlei Beziehungen, und dann ging die Thür auf und deine Mutter trat ein, strahlend in Schönheit und Jugend und Lebenslust – blendend meinen zwanzigjährigen Augen, eine echte Erlenstein, wie Sigrid – nur noch schöner. Dein Vater, Iris, stellte mich ihr vor – doch mitten in seinen heitern Worten überfiel ihn damals etwas Seltsames. Er wurde blaß und konnte nicht weiterreden, und wie in Furcht deutete er auf das schöne Haupt seiner Frau.

»Die weißen Rosen –« stammelte er, wie kannst du wagen, die weißen Rosen von Ravensberg zu profanieren!«

Sie gab eine leichte Antwort – doch es war zuviel für Karl von Ravensberg – scheinbar ergriffen von einer ihn überwältigenden Erregung entfernte er sich rasch, ohne mich weiter zu beachten.

Als wir allein waren – – lachte sie. Sie lud mich ein, am Kamin vor ihr Platz zu nehmen, denn es sei noch Zeit für sie zum Fortfahren, und während wir saßen und ich die herrliche Erscheinung förmlich aufsog mit meinen Blicken, da erzählte sie mir die Legende von den weißen Rosen von Ravensberg – genau, wie sie uns neulich oben auf der Seeterrasse erzählt wurde. Und sie spottete weidlich über den »abergläubischen Kram«, lachte über ihres Gatten »lächerlichen Glauben« daran und schwor, sie würde ihm die »mittelalterlichen Spinnweben« schon aus dem Kopfe treiben. Was sie sagte, bezauberte mich damals Völlig, und es fiel mir nicht ein, Schlüsse zu ziehen auf den Grad ihrer Gattenliebe. Da ich zu dem Fest an jenem Abend auch geladen war, sah ich sie noch stundenlang in ihrem weißen Rosenkranz tanzen, lachen und so graziös plaudern, wie sie allein nur konnte. Aber ich sah, ich mußte ihn auch sehen, ihren Gatten, der stumm und in sich gekehrt stand und mit den Augen seine schöne Frau verfolgte – mit merkwürdig traurigen Augen, wie mir's damals, trotz der eigenen, übermütigen Sorglosigkeit auffiel. Und ein zweites Zeichen hätte mich warnen müssen an jenem Abend. Ich stand dabei, als eine alte Dame sie anredete und nach ihrem Kinde fragte. Die Antwort, sie hoffte, es ginge dem kleinen Schreihals very well, hätte mich bei einer anderen Mutter abgestoßen, aber sie lachte dazu so reizend und versicherte in einem Atem, kleine Kinder seien schrecklich lästige Plagen – aber gottlob, es gäbe ja Wärterinnen, Gouvernanten und Pensionen u. s. w., sehr nützliche Erfindungen der Kultur. Der alten Dame aber schien die Antwort gar nicht zu gefallen. Sie sah die schöne junge Frau von oben bis unten an und sagte: »Nun, liebste Baronin, vielleicht sprießt dereinst aus Ihres Kindes Thräne auf Ihrem Grabe ein ungesätes Blümlein auf und wächst in den Himmel hinein und wird Ihr Fürsprecher bei Gott – ich will es Ihnen wünschen.«

Warum ich gerade diese zwei Züge erzähle? O, ich war damals empört mit ihr über die alte Dame, die auf einem Feste der gefeiertsten Schönheit das zu sagen wagte. Nun und weiter? Ich wurde ein ständiger Gast im Hause Ravensberg, dessen Herrin mich bezaubert hatte, daß ich an nichts anderes dachte, als an sie! Wie ich damals für sie schwärmte – wie man eben nur mit zwanzig Jahren schwärmen kann! Und dann kamen Tage, an denen sie mir erst andeutete und dann offen sagte, daß sie ihrem Gatten die Hand nicht aus Liebe gereicht, und als ich ihr einmal dabei die Hand wärmer drückte und glühender küßte als sonst, da tauchte sie ihren Blick in den meinen und schlang ihren Arm um meinen Hals, um sich sogleich wieder loszureißen und mit verhülltem Antlitz zu entfliehen.

Da überkam mich ein tödlicher Schrecken – die Augen wurden mir geöffnet und ich sah, daß das süße Getändel ein Spiel war mit dem Feuer, und obgleich mein Herz ihr höher entgegenklopfte, fühlte ich mich durch meine Ehre verpflichtet, sie zu fliehen und ihr fern zu bleiben. Nach ein paar Tagen begegneten wir uns in Gesellschaft, und sie sagte mir, sie verstünde, warum ich sie fliehe. Wir standen dabei in einem kleinen Kabinett vor einer gemalten Landschaft – ein roter, unheimlicher Sonnenuntergang, Gewitterwolken darüber hangend, und an einem Tümpel, der schwarz und grausig den Vordergrund füllte, lag ein Erschlagener in der Reitertracht des Dreißigjährigen Krieges. Ich könnte von dieser Landschaft jedes Detail malen, so sehe ich sie noch heut' vor mir. Und neben mir stand Marie Ravensberg und sah mich flehend an mit ihren schönen, gefährlichen Augen. Als sie mir gesagt, sie verstünde, warum ich sie fliehe, konnte ich nichts anderes sagen, als: »Ich danke Ihnen«, und dann verstummten wir beide. Nach einer Weile aber brach sie los: »Was soll daraus werden? Sollen wir beide elend sein?« Und als ich sagte: »So will es unsere Ehre,« da sagte sie fast schluchzend: »O, Marcell, Marcell – Sie lieben mich nicht!« – Wie mir damals das Herz, das zwanzigjährige Herz schlug! Aber ich war doch noch so Herr über mich selbst, daß ich ihr antworten konnte: »Weil ich Sie nicht lieben darf, Marie!« – »Und wenn ich frei wäre?« fragte sie mich atemlos. Dann, ja dann – ach, was soll ich sagen, was ich der Landschaft mit dem blutigen Sonnenuntergang zuflüsterte. Und doch, wenn ich darüber nachdenke, so bleibt von der Summe all dieser Worte nichts, als daß es mich, den blutjungen Menschen schmeichelte und mir den Kopf verdrehte, daß sie, die gefeiertste Schönheit unserer Kreise mir so deutlich sagte, wie sehr sie mich liebte. Wieder vergingen Tage, in denen wir uns nur von ferne sahen, und wieder trafen wir uns vor dem blutigen Sonnenuntergang. Dort sagte sie mir, sie ertrüge es nicht länger, das Elend dieses Lebens tötete sie, und sie habe beschlossen, sich von ihrem Gatten scheiden zu lassen, damit fielen alle Grenzen zwischen uns. Das weckte mich aus meinem Traume; – fest und ohne Umschweife sagte ich ihr, ein solcher Schritt würde im Gegenteil den Abgrund zwischen uns noch tiefer machen, denn einmal verbiete es ein Hausgesetz bei uns, eine geschiedene Frau zu heiraten, und dann gehörten wir beide der katholischen Kirche an, welche eine Scheidung nicht anerkennt, sondern die Ehe als unlöslich betrachtet. Da warf sie mir vor, meine Liebe zu ihr sei nicht stark genug, um sich über jedes Bedenken hinwegzusetzen. Ich hatte Mühe sie zu überzeugen, wie es im Gegenteil für meine Liebe zu ihr spräche, wenn ich Moral und Religion nicht mit Füßen treten wollte, denn sie käme dadurch mit im Staub zu liegen. Und ich schloß mit den Worten: › Ja, wenn Sie eine Witwe wären – so aber müssen wir entsagen!‹«

Hochwald hielt ein und fuhr mit der Hand über die Stirn, und dann legte er dieselbe Hand auf den schwarzen Armensündersarg vor sich.

»So wahr ich hier vor den Überresten Mariens von Ravensberg stehe,« sagte er feierlich, »so wahr ein Gott über uns lebt, der mich dereinst vor seinem Angesicht ins Gericht rufen wird, und bei meiner Liebe zu dir, meine Iris, schwöre ich, daß ich jene Worte ohne jeden Hintergedanken, ohne jede arge Meinung aussprach. Und doch wurden sie zum Versucher in dem Herzen dieser Frau hier und machten sie zur Mörderin, kaum, daß sie gesprochen waren.

»Wenige Tage später durchlief die Stadt die Nachricht von dem Tode Karl von Ravensbergs – er habe Hand an sich selbst gelegt, hieß es. Und als Selbstmörder wurde er begraben, und seine Frau erregte die allgemeine Teilnahme, trotzdem sie keine unmäßige Trauer heuchelte. Nach vierzehn Tagen erreichte mich ein kurzes Billet von ihrer Hand. ›Ich bin frei, Marcell!‹ schrieb sie, sonst nichts. Auch meine Antwort war nur kurz. Ich schrieb ihr, die Tage ihrer Trauer seien mir heilig, und tiefschmerzlich beklagte ich den Tod eines Ehrenmannes in Karl von Ravensberg. Und wenn sie mir gestattete, würde ich nach Ablauf der Zeit tiefster Trauer zu ihr kommen, mein Glück aus ihrer Hand zu empfangen. – Und so betrachtete ich mich als gebunden. Meinen Brief aber muß sie vernichtet haben, denn er ward unter ihrer nachgelassenen Korrespondenz nicht gefunden.

»Nach einiger Zeit aber lief das Gerücht, erst leise flüsternd, dann lauter durch die Stadt, Karl von Ravensberg sei von der Hand seiner Gattin getötet worden. Ehe man das Ungeheuere noch fassen konnte, war auch das Unerhörte geschehen – Marie von Ravensberg war unter Anklage des vorsätzlichen Gattenmordes verhaftet worden – ein entlassener Dienstbote hatte aus Rache die Anzeige erstattet – andere Zeugen fanden sich, und – und – der Rest ruht hier in diesem schwarzen Sarge. Laß mich das schreckliche Ende nicht näher beschreiben, laß mich nur kurz erwähnen, welch furchtbaren Eindruck es auf mich machte. Jene Worte: ›Ja, wenn Sie eine Witwe wären‹ – meinungslos gesprochen, sie verfolgten mich nun mit allen Qualen der Reue. Und doch – das hatte ich damit nicht gemeint. Der Gedanke, daß sie um meinetwillen, wie ich mir's in der Übertreibung meiner namenlosen Seelenpein, in der furchtbaren seelischen Erschütterung, die ich erlitten, vorstellte, daß sie um meinetwillen auf dem Armensünderfriedhof verscharrt werden sollte wie ein Hund, begann an mir zu nagen; als man aber gar ahnungslos in meiner Gegenwart davon sprach, daß die Anatomie sich dies seltene Objekt nicht entgehen lassen würde, da war ich nahe daran zusammenzubrechen. Was ich thun konnte, that ich – ich ging zu dem Könige, schüttete ihm mein Herz aus und bat um die Gnade, den verstümmelten Überresten der armen Irregeleiteten auf meinem Grund und Boden eine letzte Ruhestätte geben zu dürfen als Sühne für jene unüberlegten Worte. Der König, der sich deinem Pflegevater, meine Iris, schon so gnädig erwiesen und mir immer ein väterlicher Freund war, suchte mich zu trösten und gewährte meine Bitte unter dem Befehl, jegliches Aufsehen aufs strengste zu vermeiden. In der Stille der Nacht nach jenem furchtbaren Tage, an dem sie – starb, wurde mir in einer Kiste der arme schwarze Sarg ins Haus gebracht, und ich hielt die Totenwache bei ihr. O Iris, du wirst mich verstehen, wenn ich dich bitte, dir vorzustellen, welche Stunden das für mich waren – – Rataiczak ward von mir eingeweiht, desgleichen der Schloßpfarrer – derselbe, der noch hier ist. Letzterer, der sehr bekannt ist mit den Räumlichkeiten des Schlosses, schlug mir dies Versteck vor als Gruft – ein alter, unbenutzter Bleisarg stand dort mit anderem Gerümpel in der Ecke – er war wohl ehedem für einen meiner Vorfahren bestimmt und dieser dann in fernen Landen beigesetzt worden. Und so machten wir aus diesem Raume eine Gruft und eine Kapelle zugleich, in welcher ein regelmäßiger Gottesdienst stattfindet für das Heil ihrer Seele, die vielleicht nun zur Rast geht, da ihr Kind gekommen ist, für sie zu beten. Du weißt es, Iris, daß ich fast zwanzig Jahre lang wie ein Einsiedler hier gelebt – daß es eines Menschenalters fast bedurfte, die Folgen jener seelischen Erschütterung von mir zu nehmen – ich war ein anderer Mensch geworden, der den quälenden Gedanken: Deine Worte haben sie versucht, verleitet, nicht loszuwerden vermochte. Da tratest du in meine Kreise, Iris, und neues Leben, neues Hoffen durchzog mein Herz. Weißt du's nun, Iris, warum ich vierundzwanzig Stunden zögerte, dich als Braut an mein Herz zu nehmen, nachdem ich erfahren, daß du ihr Kind seist? Ich glaubte, ich würde dir entsagen müssen, ich dürfte die Tochter der Frau nicht zu meinem Weibe machen, die ein Wort von mir zu jener furchtbaren Thal trieb – die Tochter des Mannes, den jenes Wort von mir getötet. Mein guter Stern führte mich in jenem Zweifel, in der schwärzesten Stunde meines Lebens zu einem weisen und heiligen Manne, dem Superior der Kapuziner auf Fiesole, und er bekämpfte meine Zweifel – – Wie glücklich war ich, und niemals mehr hat der Gedanke, ich hätte dir dennoch entsagen sollen, Gewalt über mich gehabt. Und wie du in dieser Frage entscheiden wirst, meine Iris, das sagt mir mein Herz. Amen.«

Hochwald hatte geendet, doch schon vorher hatte Iris sich erhoben und war neben ihn getreten.

»Heut' erst bin ich wahrhaft dein Weib geworden, weil du mich in die Tiefe deiner Seele blicken ließest,« sagte sie schlicht. »Wird es mir je gelingen, die tiefe Wunde ganz zu heilen. Unergründlich, sagen sie, ist des Menschen Herz und es betrügt sich selbst am leichtesten – für dein Herz aber stehe ich ein! Ein furchtbarer Dämon muß ihr eine Deutung deiner Worte eingegeben haben, ein Dämon, der ihren ewigen Tod gewollt –«

Erschüttert hielt sie ein.

»Sie starb im Frieden mit Gott, standhaft und bereuend,« fiel Hochwald ein. »Wir dürfen hoffen, daß sie drüben auch entsühnt ist. Und doch, Iris, – du hast sie oft im Traume gesehen – – ich bin nicht geistergläubig und, wie ich hoffe, frei von spiritistischen Ideen, und würde dem nicht glauben, der mir von einer Erscheinung Toter erzählte – – Iris, dennoch ist sie gestern, um diese Stunde etwa, vor mich getreten, wie ich sie im Leben gekannt, die langen, blonden Haare und den Strauß weißer Rosen, die ihr Blut rot gefärbt, in der Hand, und ich habe ihre Stimme gehört, wie sie sagte: ›Rette mein Kind!‹ Nach einer Stunde etwa erhielt ich ein Telegramm des Professors, das mich um deinetwillen hierher berief.«

Erschüttert beugte sich Iris über den schwarzen, schlichten Sarg, und ihre Thränen flossen darauf nieder; Hochwald störte sie nicht und ließ sie sich ausweinen – floß doch mit diesen Thränen auch die krankhafte Spannung dahin, die ihr das junge Herz zusammengekrampft, sproßte doch vielleicht auch aus diesen Kindesthränen das Blümlein empor, von dem die alte Dame der, die hier eine geweihte Stätte gefunden, so ahnungsvoll gesprochen hatte. Und aus diesen Thränen erkannte Hochwald auch, daß Iris das Grauen überwunden hatte vor der nie gekannten Gestalt ihrer Mutter, die ihre Hand erheben konnte gegen ihren Gatten, die ihr Verbrechen büßen mußte auf dem Schafott. Hier stand die reine, makellose Tochter und weinte heiße Thränen des Mitleids und der Vergebung auf den Sarg ihrer lieblosen, schuldbeladenen Mutter.

Daß Hochwald zu der Überzeugung gelangt war, Marie von Ravensberg habe ihn nie geliebt, sondern die unselige That nur vollbracht, weil sein Rang und sein Reichtum sie verlockt, weil der Ehrgeiz ihr die Fürstenkrone als höchstes Ziel gezeigt – das Iris vorzustellen, behielt er sich für eine andere Stunde vor.

In jenen Tagen selbstgewählter Einsamkeit war ihm viel zur Erkenntnis gekommen, mancher Fehler im Charakter der schönen Frau emporgetaucht in unverhüllter und unschöner Nacktheit, und er fühlte heut' seine Schuld ihr gegenüber gesühnt. Nahezu zwanzig Jahre hatte er gebraucht, von jener seelischen Erschütterung zu gesunden, er hatte ihrem Leibe eine würdige Ruhestätte gegeben und ihrer Seele die Tröstungen und die Fürsprache der Kirche gesichert – war das nicht schon des Lohnes wert, der ihm wurde, als ihr Kind in seiner wunderbaren Unschuld, ausgestattet mit der Schönheit der Mutter und den liebenswerten Eigenschaften des Vaters in sein Leben trat und ihm ein Glück brachte, das er auf Erden gar nicht für möglich gehalten –? – –

Sigrid war längst aus dem Rahmen der Thür verschwunden, und der breite Streifen Sonnenlicht schrumpfte schon stark zusammen, als Hochwald seine junge Frau aus ihren Meditationen riß.

»Komm, Iris, es ist Zeit,« sagte er, sanft über ihr blondes Haar streichend. »Du kennst jetzt die Stätte, wo das rote Licht leuchtet, und kannst kommen, so oft dein Herz dich treibt, hier zu beten.«

Sie erhob sich sogleich von ihren Knieen, doch ehe er den Bleideckel wieder an seine Stelle drehte, legte sie den Strauß Rosen, den sie mitgenommen, auf den schwarzen Armensündersarg – eine Handlung, so schlicht und natürlich und doch hier so rührend und großherzig, daß Hochwald beide Arme ausbreitete und Iris an dieser ernsten Stätte an sein Herz zog unter stummen, heiligen Gelöbnissen.

Sorgsam verschloß er dann wieder den Eingang zu der Gruft. »Denn,« meinte er, wir müssen sie ein Geheimnis bleiben lassen – der Bevölkerung und der Schloßbediensteten wegen. Besser, daß ihr Aberglaube um das rote Licht Sagen spinnt, als daß er womöglich die Unglückliche, die hier ruht, als Geist wandeln läßt und damit unabsehbaren Schaden anrichtet.«

Als sie wieder hinaufkamen, empfand Iris erst, wie sehr sie der Ruhe bedürftig war und wie der Gang nach unten ihre erschütterten Nerven noch mehr erschüttert hatte. Hochwald führte sie zunächst wieder in sein Zimmer zurück und fand dort den Professor mit dem Sanitätsrat seiner wartend. Ersterer bat, der Konsultation aus besonderen Gründen beiwohnen zu dürfen und beschrieb nun genau seine gestrige Unterredung mit Iris und seine Fahrt mit ihr zur Station bis zum Augenblicke, wo sie ihm gute Nacht gewünscht. Iris bestätigte das alles, doch nicht mehr in der apathischen Weise von gestern, sondern mit einer gewissen zögernden und unbereitwilligen Art und einem halb verwirrten, halb erstaunten Ausdruck wie ein Mensch, der sich auf eines Rätsels Lösung nicht mehr zu besinnen weiß.

»Und mein Verdikt ist,« rief der Professor endlich, daß ich die Frau Fürstin hier für positiv unfähig halte, selbst unter dem härtesten Schicksalsschlage eine Gewaltthat gegen sich selbst oder die Ihrigen auszuführen.«

»Ich stimme Ihnen bei,« erwiderte Fürst Hochwald, »trotzdem wir beide damit gegen unsere eigene Zeugenschaft zeugen. Sprich, Iris, sag' uns, was dich zu diesem furchtbaren Schritt bewog!«

»Ich weiß nicht,« sagte Iris leise, den Blick ins Leere gerichtet. »Es war etwas in mir – eine Stimme – die mich zwang, es zu thun. In der Nacht wurde es ärger, trotzdem ich Siegfried zu mir genommen, weil ich mich allein fürchtete. Selbstmord! Ist er nicht feige und schlecht und sündig? Wer darf Hand an sich selbst legen? Und doch – ich mußte es thun. Ich habe dagegen geweint und gebetet und gefleht, ich habe mich am Boden gewunden wie ein Wurm, aber die Stimme in mir befahl mir zu sterben. Es war wie ein letztes Anklammern an einen Strohhalm, daß ich Siegfried mitnahm, aber er schützte mich auch nicht. Was soll ich noch sagen? Mir graute vor meiner eigenen That und doch beging ich sie –«

»Und die Stimme – was macht die Stimme jetzt?« fragte der Sanitätsrat freundlich.

Sie sah ihn halb abwesend da.

»Ich höre sie nicht, wenn Marcell bei mir ist,« entgegnete sie. »Und dann auch nur noch wie aus weiter Ferne. Ich kann mich nicht besinnen, woher sie kommt – es ist alles vor meinem Gedächtnis verschwommen, als läge ein dichter Nebel darüber.«

»Nun,« sagte der Sanitätsrat nach einer Pause, »Herr Professor Glauchau, ich stehe nicht mehr an, Ihre Diagnose zu bestätigen. Sprechen Sie – ohne Ihre scharfe Beobachtung und ohne Ihre geistvolle Kombination und Darlegung des Falles stünden wir vielleicht noch lange vor der Lösung eines Rätsels, an dem sicherlich schon manch ein reicheres Wissen als das meinige gescheitert ist.«

»I Gott behüte,« protestierte Dr. Glauchau, Iris mit seligem Gesichte die Hand abwechselnd streichelnd und küssend. »Ich habe nichts gethan, als nach der rechten Fährte gesucht, und auf die hat mich nicht meine feine Nase, sondern mein altes, hier so warm gewordenes Junggesellenherz gebracht. Das andere, die Erklärung, schlägt in Ihr Fach!«

»Sie sind bescheidener als nötig ist,« erwiderte der Arzt; und sich zu dem gespannt und verwundert zuhörenden Fürsten wendend, fuhr er fort: »Durchlaucht, ich zweifle nicht, daß Ihre Frau Gemahlin die Katastrophe bald überwinden und schnell gesunden wird. Wie Sie wohl erraten haben werden, handelt es sich hier um kein physisches Leiden und auch kaum um eine psychische Ursache. Denn Ihre Frau Gemahlin hat den Selbstmordversuch heut' Morgen nicht aus eigener Initiative unternommen, sondern unter fremdem Willen

Hochwald trat einen Schritt zurück.

»Wie soll ich das verstehen?«

»Durchlaucht, es ist eine schwere Anklage, die ich hier aussprechen muß – eine Anklage, die von Rechts wegen vor das Schwurgericht gehört – es hat jemand Ihre Frau Gemahlin hypnotisiert und ihr in der Hypnose, unter Befehl, den Urheber zu vergessen, den Selbstmord befohlen –«

Mit entsetztem Blick hatte Hochwald zugehört – Iris aber war aufgesprungen, die Hände gegen die Schläfen gepreßt, den Blick ins Leere gerichtet, die Lippen geöffnet und stumm einen Namen formend – –

Und Hochwald las diesen Namen von den Lippen seiner Frau ab, und sein Gesicht nahm einen harten, strengen Ausdruck an.

Professor Glauchau schien geneigt, seine Hypothese umständlich zu erklären, aber der Sanitätsrat winkte ihm, hinauszugehen mit ihm. Er hatte seine Pflicht gethan und den Schleier gelüftet. Was danach zu thun blieb, war Familienangelegenheit, und was er als Arzt thun konnte, das ließ sich auch schriftlich verordnen.

Hochwald aber, als er mit Iris allein war, drängte sie zurück in ihren Sessel.

»Kennst du die Stimme nun? Kannst du dich entsinnen?« fragte er leise und liebreich.

»Es ist alles noch so verworren,« klagte sie schmerzlich, »mir ist, als wäre es undenklich lange her, daß alles geschah. Ich kann gar nicht so weit sehen, wie alles liegt, aber im Hintergrund hängt die rosa Tapete mit den silbernen Rosen durchwirkt – woher kenne ich diese Tapete?«

»Aus deinem Boudoir, Lieb –«

»O ja, aus meinem Boudoir,« rief sie. »Ich war in meinem Boudoir eingeschlafen, gestern – war es gestern? Wie ich aufwachte – auf dem Boden, den Kopf an das Sofa gelehnt, da hörte ich die Stimme zum erstenmal, und –«

»Ich bitte um Entschuldigung, liebster Hochwald – nur auf ein Wort,« rief Dr. Glauchau ins Zimmer hinein.

»Nun?« fragte Hochwald in begreiflicher Ungeduld.

Der Professor erschien nun völlig.

»Ich habe noch etwas zu sagen,« begann er, »wozu der Sanitätsrat überflüssig ist. Denn wozu ihn auf eine Fährte setzen, auf der er als Arzt nichts zu suchen hat?«

Und er erzählte, was Rataiczak ihm gestern berichtet, ehe er Iris' Zimmer betrat. Als er geendet, wandte sich Hochwald gegen seine Frau, die blaß in ihrem Sessel lehnte.

»Ist es lichter geworden, Iris?«

»Lichter nicht,« erwiderte sie traurig. »Ich könnte nicht sagen, wie alles gekommen ist, was vorgegangen ist. Aber die Stimme – ich kenne die Stimme nun, und sie wird wiederkommen und wird nicht ruhen, bis – bis –«

»Sie wird nicht wiederkommen,« sagte Hochwald hart.

»Du kennst sie nicht, sie ist grausam und ohne Erbarmen,« meinte Iris.

»Sie wird an mir ihren Meister finden,« erwiderte er.

»Recht so,« nickte der Professor und ging hinaus.

Hochwald beugte sich zu Iris hinab und küßte sie.

»Sei getrost, mein Lieb,« sagte er. »Alles wird noch gut werden, alles wird sich wenden, wenn wir allein hier sind und das Meer seine urewigen Hymnen rauschen wird über den wüsten Traum, den du geträumt. Mein Wille in dir ist der ältere und mächtigere – er will dich glücklich sehen, sonst nichts! Und nun laß mich gehen – auf kurze Zeit will ich dich allein lassen, denn ich habe eine Abrechnung zu halten.«

Iris erhob flehend beide Hände.

»O Marcell! Sei nicht zu hart mit ihr – bedenke die Liebe, die ich im Hause ihrer Eltern empfangen habe.«

»Ich bedenke alles, Iris, auch deine Güte, die noch für – jene bittet. Willst du sie selbst sehen?«

»O nein, nein, nein!« schrie Iris auf.

»Sei ruhig – ich hätte es auch nicht geduldet!«

Und Hochwald verließ das Zimmer.

In der Halle kam ihm Madame Chrysopras entgegen.

»Ich habe mir eben den Wagen zur Station bestellt – deine Erlaubnis vorausgesetzt,« rief sie lebhaft. Der Sanitätsrat versicherte mir, Iris sei ganz wohl – alors cela ne m'empêche pas abzureisen. Ich komme noch auf ein paar Tage auf dem Rückweg wieder, wenn ich nicht über Paris reise, bien entendu. Darf ich Iris sehen? Nein? Sie darf nicht aufgeregt werden? Poor dear thing! Grüße sie tausendmal von mir, bitte! Sigrid? O, Sigrid ist auf ihrem Zimmer. Waaaas? Sie wird mit mir reisen? Davon weiß ich ja kein Wort! Eigentlich paßt es nicht in meine Pläne, aber da du Wert darauf zu legen scheinst – dio mio, ich muß ja noch meinen Schmuck einpacken. Au revoir, also!« –

Madame Chrysopras stürmte davon in altgewohnter Lebhaftigkeit, und mit schnellem, festem Schritt ging Hochwald seinen Weg weiter zum Fremdenflügel, wo er an Sigrids Thür klopfte und ohne das »Herein« abzuwarten, eintrat.

Sigrid ging unruhig, wie eine gefangene Tigerin im Käfig, in ihrem Zimmer hin und her und blieb wie gelähmt stehen, als Hochwald plötzlich bei ihr erschien.

Unten aus der Gruft hatte sie sich leise hinweggeschlichen – sie hatte gehört, was zu hören war, und sie fühlte sich nun überflüssig. Jetzt galt es nur noch zu wägen und zu rechnen, ob sie das Spiel verloren hatte oder nicht. Eine Entdeckung fürchtete sie nicht, denn sie war ihrer hypnotischen Kräfte sicher – der Wille war sicherlich stark genug; doch war sie in der Ausführung zu flüchtig gewesen, und dessen war sie sich nicht bewußt. Es galt also jetzt nur noch zu überblicken, was ihr an Erfolg zu einem neuen Versuch blieb, und sich vorzustellen, wieviel sie sich selbst durch ihre eigene Heftigkeit vor Hochwalds Augen geschadet hatte. Und nun stand er plötzlich vor ihr, von Angesicht zu Angesicht. Aber der Ausruf des Staunens erstarb ihr auf den Lippen, als sie den Ausdruck des Widerwillens, des Zornes und der Verachtung in seinem Gesicht las. Und auch er sprach vorerst nicht – er schien mit sich zu kämpfen, daß sein Zorn nicht das menschliche Maß überschreite. Da that sie einen Schritt vorwärts.

»Steh'!« donnerte er und setzte, sich gewaltsam bezwingend hinzu: »Komm mir nicht näher – bei Gott, ich könnte sonst thun, was ich später bereuen müßte –«

»Was?« stieß sie heiser hervor.

»Dich niederschlagen, wie einen tollen Hund,« brach er los. »Elende, heuchlerische Meuchelmörderin – geh' nieder auf deine Knie und danke Gott, daß der Tod deiner Schwester – ja deiner Schwester – nicht deine Seele belastet. Der Mörder, der da in der Stille der Nacht kommt, zu töten ist kein so verabscheuenswerter Verbrecher wie du, die kalten Blutes das mit ihr an einer Mutterbrust großgezogene Wesen in den Zustand der Bewußtlosigkeit versetzt und ihr dann befiehlt, Selbstmord zu begehen. Die weltliche Gerechtigkeit verurteilt dein Verbrechen schonungslos; – es schreit zum Himmel, und darum belegt die Kirche es mit ihrem Bann. Und du hast die Stirn, das unglückliche Weib dort unten, deines Vaters Schwester zu richten? Sie hat gesühnt – geh' und sieh zu, ob auch du sühnen und das Kainszeichen aus deiner Seele waschen kannst. Denn deines Bleibens ist hier nicht länger – das Tischtuch ist auf ewig zerschnitten zwischen uns. Sie, die du in den Tod hetzen wolltest, sie hat noch gebeten für dich, aber ich wüßte nicht, wie man hart genug dir gegenüber sein kann, die du meines Weibes Mord kalten Blutes geplant und hinterlistig ins Werk gesetzt hast! – – – Du hast noch fast eine Stunde Zeit, um dich bereit zu machen, mit meiner Schwester das Haus zu verlassen, um es nie wieder zu betreten.«

Er war ruhiger geworden, während er sprach, aber sein Ausbruch des Zornes dünkte Sigrid weit weniger schrecklich als die Worte, die leiser und langsam gesprochen, wie Keulenschläge auf sie niederfielen. Und dazu funkelten seine Augen sie an in seiner ehrlichen, redlichen Entrüstung, daß sie förmlich Flammen sprühten. Und Sigrid wagte auch gar nicht, ein Wort dazwischen zu rufen – das Zimmer schien um sie zu kreisen im tollen Reigen, und erst, als er die Thür schon wieder geöffnet hatte, brach sie nieder auf ihre Kniee.

»Wirst du mich ungehört verdammen?« schrie sie auf.

Hochwald wandte sich noch einmal um.

»Was soll ich noch hören?« fragte er mit vernichtender Verachtung im Ton. »Soll ich aus Höflichkeit stehen und die Lügen anhören, die du mir auftischen würdest? Dein Wort, das du mir wiederholt gabst, Iris nicht zu hypnotisieren, ihr nichts zu sagen über ihre Herkunft, dieses Wort, an das ich glaubte, hast du gebrochen. Ich glaube dir nicht mehr. Ich will auch von deinen Motiven zu dieser Thal nichts wissen – lauter sind sie ja doch nicht, schöner werden sie dieses grausame Verbrechen nicht machen. Also rüste dich zur Reise – ich will nicht, daß dieses Dach dich noch eine Nacht hier schirmt.«

Und damit verließ er sie, und sie wußte, daß alles verspielt und verloren war, und daß keine Macht der Welt es jemals ändern und mildern würde. Denn was seine Worte ihr nicht gesagt, das hatte sie in seinem Gesicht, in seinen Augen gelesen – – es war alles hin für sie, alles, alles, und ihr blieb nichts als sein Zorn, seine Verachtung, eine trostlose, reuegefolterte Zukunft und – Spini!

*

Iris hatte indes geruht. Die gewaltigen Eindrücke, die auf ihre Seele eingestürmt waren, hatten dort energisch eine Reaktion gefordert, und ihre gesunde, ungebeugte Konstitution hatte den Sieg davongetragen: sie schlief. Wohl war's wie am Morgen nur eine Folge völliger seelischer Erschöpfung, doch immerhin ein gutes Zeichen, denn die arbeitenden Gedanken hatten Ruhe – alles, was auf sie eingestürmt, war ihr für kurze Zeit entrückt.

Als es schon dunkelte, wachte sie auf mit dem jäh zurückkehrenden Bewußtsein alles Geschehenen. Doch neben ihrem Sessel saß Fürst Hochwald, die Verkörperung der immer wachenden und immer sorgenden Liebe, und im Vollbewußtsein, daß diese Liebe ihr gehörte, reichte sie ihm stumm beide Hände, und er verstand diese Sprache, denn es leuchtete auf in seinen Augen und verklärte sein ernstes Gesicht.

Und wie sie noch so saßen, Hand in Hand, ohne daß ein Wort nötig gewesen wäre, die Weihe dieser Stunde zu bekräftigen, da hörte man einen Wagen über den Kiesweg hinwegrollen.

Erblassend fuhr Iris auf.

»Sigrid –!?« kam es wie eine furchtbare Frage über ihre Lippen.

Da nahm Hochwald sie fest in seine Arme und sagte:

»Wir müssen den Bann dieser letzten unheilvollen Tage jetzt zu bekämpfen suchen, Iris, und ich meine, wir haben schon über ihn gesiegt. Sigrid ist fort – – und du wirst sie niemals mehr wiedersehen –«

*

Damit wäre unsere Geschichte füglich zu Ende, denn Fürst und Fürstin Hochwald haben, nun die Stürme über ihren Häuptern verbraust sind, ohne daß sie imstande waren, zu vernichten, nichts anderes zu thun, als glücklich zu sein, und mit ungetrübtem Glück hat der Roman nichts zu schaffen. Und doch klingt er für die Mehrzahl der Leser besser aus, wenn sie wissen, was aus den handelnden Personen geworden ist. Madame Chrysopras kann man, wenn man Italien durchreist, im Winter in Florenz besuchen, wo sie nach wie vor ihren jour hat, Krethi und Plethi – natürlich gesellschaftlich unbeanstandeten – empfängt und sich Schmeicheleien sagen läßt über ihre Tochter Sascha, deren Ruf als Porträtmalerin mit Recht wächst, denn sie ist eine große Künstlerin geworden, deren heiterer, gleichmäßiger Charakter auch ihr persönlich viele Freunde macht. Die Kunst hat ihr alles ersetzt, was das Leben ihr sonst versagte – sie ist glücklich und ein hochwillkommener Gast allzeit auf Hochwald, wenn der Frühling dort einzieht.

Boris ist Botschaftssekretär in einer kleineren Residenz, wo Fürst und Fürstin Ukatschin-Chrysopras ein großes Haus machen. Die schöne Fuxia ist ganz vernünftig geworden, seit Boris, dem Rat seiner Schwester folgend, ihr damals im Hotel zu Hamburg ohne Vorrede einfach alles Wasser über den Kopf goß, was sich in den großen Waschkrügen befand. Den mündlichen Teil dieser Kur hatte Fürst Hochwald nicht ohne einen gewissen Erfolg übernommen, doch da Argumente bei Fuxia eigentlich wenig wirkungsvoll waren, so ist nicht zu leugnen, daß die Wasserkur den Löwenanteil an dem ebenso merkwürdigen wie erstaunlichen Erfolg hatte. Hochwald liebt es, seiner Frau diese Scene im Hamburger Hotel mit einer gewissen behaglichen Breite zu erzählen. Wenn auch infolge der Überschwemmung die Hotelrechnung »wegen eines beschädigten Plafonds der Unteretage« eine entsprechende war, so wog sie doch reichlich ihre Folgen auf, denn Fuxia nennt Boris mit Vorliebe: dear old boy, hat ihm die Verwaltung ihres Vermögens übergeben, läßt sich die Cour machen, ohne gleich ans Durchgehen zu denken, und fängt an, mit den Sitten und Manieren einer »großen Dame« auf vertrauteren Fuß zu kommen, abgesehen von ihrem »Slang«, der sich infolge von Boris' gutem Beispiel zum höheren Slang abschleift und viele Bewunderer in Kreisen findet, die Anspruch darauf haben, chic zu sein. Kurz, Fürst und Fürstin Ukatschin-Chrysopras leben » very well, indeed« zusammen, und keine Seele ahnt, daß ihr » domestic happiness« thatsächlich auf cirka zehn Litern Wasser beruht.

Hans Aus dem Winkel ist der Stern von Bayreuth und sicherlich ein großer Künstler. Da der Ruhm ihm aber nichts von seiner Natürlichkeit genommen und er sich die ganze Liebenswürdigkeit seines Charakters bewahrt hat, so ist seine allgemeine Beliebtheit kein Wunder, und auch er ist auf Hochwald immer ein lieber Gast, doch nur, wenn Monsieur le Prince et Madame la Princesse d'Ukatschin-Chrysopras nicht gerade auch dort sind.

Professor Glauchau aber, der ist des Hauses Hochwald verwöhntestes Schoßkind. Er nennt die Fürstin Iris sein »allerliebstes, allersüßestes Durchlauchtchen« und vergißt ganz seine republikanischen Grundsätze, wenn es gilt, »einen Spritzer zu Hochwalds« zu machen. Dort wird er auch als Lebensretter von Iris niemals seinen Nimbus verlieren, und es steht zu erwarten, daß der Erbprinz Siegfried von Hochwald dermaleinst den Born der Wissenschaft durch seine Vermittelung kosten und genießen wird. Vorläufig freilich hat er erst angefangen, aus der Fibel des Lesens und Schreibens Geheimnisse zu ergründen – das heißt, der kleine Siegfried natürlich.

Sigrid hatte, nachdem sie mit Madame Chrysopras abgereist war, einen Anfall von Tobsucht, der es nötig machte, sie einer Heilanstalt zu übergeben. Dort brachte sie Jahr und Tag zu, und man beanstandete nicht, sie dann als geheilt zu entlassen. Sie verließ die Anstalt in der Absicht, Zuflucht in einem Kloster zu suchen; denn als sie in der Genesung war, hatte man ihr ein Buch übergeben, welches für sie eingetroffen war. Es war eines jener Herz und Seele erschütternden Bücher mit den Dissertationen des Franziskanermönches Pater Agostino da Montefeltro, und neben dem Titelblatt war auf die leere Seite die Strophe geschrieben:

» Vous qui pleurez, venez à Dieu, car il pleure;
Vous qui souffrez, venez à lui, car il guérit,
Vous qui tremblez, venez à lui, car il sourit;
Vous qui passez, venez à lui, car il demeure.
«

Sigrid hatte Iris' Handschrift erkannt, und diese wirkte zusammen mit den ernsten, schönen Worten seltsam erweichend auf ihren noch schwachen, genesenden Geist. Sie beschloß in ein Kloster zu treten und zu büßen, was wie ein wüster Traum in ihrer Erinnerung wirbelte. Als sie aber die Anstalt verließ, empfing einer sie auf der Schwelle zur Welt zurück – – Spini!

Sigrid hatte viel von der zähen Widerstandskraft ihres Charakters eingebüßt, oder vielmehr, diese Widerstandskraft war geschwächt und unterdrückt worden durch die Nacht, die zeitweise ihren Geist umhüllt hatte. Und Spini liebte sie immer noch, trotzdem er eine vage Ahnung hatte, daß sie andere Ziele verfolgt hatte. Jedenfalls mußte Madame Chrysopras wohl oder übel Brautmutter spielen, da Sigrid zu ihr zurückgekehrt war; und trotzdem von Hochwald her alles schwieg, führte der Cavaliere sie doch im Triumph als Marchesa della Pescaja nach der Maremma. – –

In einem Punkte blieb Hochwald seiner Frau gegenüber unerbittlich, trotzdem sie längst vergeben hatte in der Überfülle ihres gütigen und großmütigen Herzens –: Iris durfte die, die sie zwanzig Jahre lang Schwester genannt, nicht wiedersehen. Und Sigrid, mochte sie nun bereuen oder nicht, mochte sie manchmal in der Tiefe ihres Elends verlangen und dürsten nach einem jener liebevollen Blicke aus den reinen, unschuldigen Kinderaugen von Iris – sie war viel zu stolz, um die Hand zuerst zu reichen, um als Bittende vor Iris und Marcell zu treten. So blieb die Kluft unüberbrückt, das Tischtuch zerschnitten. Die florentiner und römische Gesellschaft kennt die Marchesa Spini della Pescaja wohl – sie ist eine schöne Frau mit ihrem goldblonden Haar und ihrem regelmäßigen Kopf, aber man nennt sie nur die steinerne Dame, denn ihre Züge, ihre Bewegungen, ihre Sprache, ihr Lächeln, alles ist kalt und wie versteint. Selbst ihre blauen, hellen Augen haben den kalten, harten Glanz von vielfacettiert geschliffenen Steinen, einen umheimlichen Glanz, der immer an jene Häuser erinnert, darin Seelenkranke Genesung suchen. Aber Spinis Wille ist stärker als der ihrige, und darum mag er's wagen, ihr Gatte zu sein, ohne fürchten zu müssen, daß sie in die Fußstapfen ihrer Tante Marie Ravensberg tritt, die immer noch unter dem roten Lichte von Hochwald schlummert, über das die Leute sich nach wie vor den Kopf zerbrechen, um das die Sage ihre wunderlichen Gewebe spinnt, die keine Zeit zerreißt.

Und da wir wieder in Hochwald angelangt sind, wollen wir noch Abschied nehmen von der alten Seefeste, von Marcell und Iris Hochwald.

Es giebt ein Glück, das so von innen herausgewachsen ist, daß es selbst der allerschlimmsten Verleumdung, dem boshaftesten Klatsch schwer fallen würde, auch nur ein Wurzelfäserchen davon zu lockern, geschweige denn auszureißen. Und die beiden seltenen Menschen besitzen dieses Glück. Sie haben ihre große gesellschaftliche Stellung in der Welt, die Hochwald so lange ruhen ließ, ausgenommen und verbringen den Winter alljährlich in ihrem Palais der Residenz, und Iris ist dort wie auf dem Hofparkett unbestritten die schönste Erscheinung und der verwöhnte Liebling aller, selbst der Frauen. Das konnte natürlich nicht hindern, daß ihr Mädchenname »geb. Gräfin von Erlenstein« Fragen wachrief und dann Erinnerungen, bis man glücklich Marie von Ravensberg als ihre »Tante« rekognosziert hatte. Das gab natürlich ein Flüstern, ein Zischeln, ein Tuscheln und ein Gruseln, bis es vor ihre Ohren kam und freundliche Basen ihr versichern konnten, der Mann – das heißt der Scharfrichter, der Marie Ravensberg »vom Leben zum Tode gebracht«, existiere noch.

Diejenigen aber, welche über die vergangenen Ereignisse noch Näheres wissen wollten, hatten wenig Glück mit ihren Fragen. Der Fürst deutete sehr verständlich an, daß er von guterzogenen Menschen mehr Takt erwartet hätte, und Iris sagte nur sanft: »Ich weiß diese ganze traurige Geschichte – wollen wir die Arme nach so langer Zeit nicht lieber ruhen lassen? Sie werden begreifen, wie schmerzlich mich dieses Thema berühren muß!« – Selbst Madame Chrysopras hat nie erfahren, daß Iris den Namen Erlenstein nur durch königliche Gnade führte, denn Spinis haben für gut befunden, darüber zu schweigen.

Nur Leute, die sich mit Heraldik beschäftigen, hat es oft verwundert, warum die Fürstin Hochwald in ihrem Alliancewappen einen Herzschild im Erlensteinschen linken Schilde führt: nämlich in Silber drei rote Rosen, auf deren goldenen Butzen je ein roter Tropfen liegt. Wer kann es auch ahnen, daß es das alte Wappen der Ravensberg ist – die weißen Rosen gewandelt in rote durch die Sühne des Blutes, das die drei roten Tropfen andeuten. Nur einer ahnte die Wahrheit, nämlich Professor Glauchau und ihn hat Hochwald auch eingeweiht.

»Nun Gott sei Dank,« hatte der dann gesagt, »daß Graf Erlenstein das arme verlassene Kind als seins erzog, daß Sie's mit vollem Bewußtsein zu Ihrer Frau machten, das giebt einem den Glauben an die Menschheit und an die christliche Gesinnung zurück. Denn ist das nicht die gedankenlose Meinung der Masse und die sogenannte gedankenreiche Vererbungstheorie glaubensloser Grübler: Wie die Eltern, so das Kind! Wenn der Vater gestohlen hat, muß dann der gut erzogene Sohn durchaus auch stehlen? Das gäbe ja dann recht hübsche Verbrechergenerationen! Nein, unser alter Gott lebt noch und läßt seine Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte – wozu aber hätte es dann eine Erlösung gegeben und eine Taufe, die von der Erbsünde reinwäscht die junge Seele, welche diese Welt betritt. Krankheit und körperliche Übel mögen sich vererben, sicherlich – aber wer da glaubt an eine Taufe, der glaubt auch an die Erlösung von der Erbsünde durch sie. Was wir dann werden, werden wir aus der Erziehung, aus uns selbst, wenn wir nicht stark genug sind, den Versucher in unserer Brust zu besiegen.«

»Amen,« erwiderte Hochwald darauf.

Von Iris hat die Welt nicht vermocht, den Blütenstaub zu streifen, der ihren Liebreiz ausmacht. Sie ist dieselbe geblieben, die sie war, als wir sie kennen lernten – die Erschütterung, die ihre Seele durchmachen mußte, hat sie nur vertieft, und ihre herzgewinnende Heiterkeit ist kein Leichtsinn, sondern der Ausfluß eines Herzens, dem jeder Egoismus, jede Selbstüberhebung fremd ist, sie ist der Spiegel ihrer reinen Seele, die so tief zu empfinden vermag, weil sie ganz durchleuchtet und durchwärmt ist von allem, was den Menschen gut und edel macht.

Mit Grazie und Würde versieht sie ihre Pflichten als Fürstin Hochwald, doch am liebsten weilt sie an der geliebten Nordsee, wo sie so Schweres durchgemacht. Andere würden diesen Ort fliehen, doch sie liebt das »Thalatta! Thalatta!« der Wellen, sie liebt das ganze Haus, das die Wiege ihres Glückes war, sie liebt jeden der trauten, wunderschönen Räume darin und liebt die Seeterrasse, auf der die Arme der Liebe sie umfaßten und retteten in der schwersten Stunde ihres Lebens. Und sie liebt auch das rote Licht, das manchmal auf den Wellen tanzt; sie weiß, daß es das Sinnbild ist für das ewige Licht des Lebens, von dem sie hofft, daß es ihr leuchtet, die da unten schläft, die sie niemals mehr im Traume gesehen, seit jenem Tage, an welchem sie zuerst über ihrem Grabe geweint und ihr die roten Rosen gebracht – – – Warum hat Iris sie niemals mehr im Traume gesehen? Das sind Mysterien, in die noch kein Forscher gedrungen, in die wir besser auch nicht einzudringen versuchen. Und Iris liebt es, auf der Seeterrasse zu stehen am Arm ihres Gatten, wenn die Sonne hinabsinkt in das Meer, und dann kommen ihnen die Nordseelieder so oft in den Sinn, insbesondere die »Reinigung«, und laut und leise wiederholen oft ihre Lippen jene Zeilen daraus:

»Bleib' du in deiner Meerestiefe,
Wahnsinniger Traum – – –
Bleib' du dort unten in Ewigkeit,
Und ich werfe noch zu dir hinab
All meine Schmerzen und Sünden – – –
Hoiho! Da kommt der Wind!
Die Segel auf! Sie flattern und schwellen!
Über die stillverderbliche Fläche
Eilet das Schiff,
Und es jauchzt die befreite Seele!«

1

Auf holzfreies Papier gedruckt.


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