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Der Tag steigt bereits hinter dem Hügelkamm herauf, und ringsum erwachen Lärm und Stimmen.
Horchend wandert Junnu längs dem Schienenweg, entfernt sich ein wenig davon und kehrt wieder zurück und geht dicht an ihn heran; es ist, als ob er sich nicht recht getraute.
Nicht einen einzigen Tag will er an diesem Ort bleiben. Er will sogleich seine Kuh suchen, einen Strick um sie schlingen und mit ihr seiner Wege gehen, ehe ihn jemand gesehen hat. Dann mochte es im übrigen gehen, wohin es auch sei, hinein in die Einöde, fort nach einer anderen Gemeinde! – Bloß daß er hier wegkäme, weit von hier, wo hinter jedem Baum, jedem Stein ein Dämon auf ihn lauerte.
Er ist nicht weit gegangen, als er plötzlich den Klang einer wohlbekannten Glocke hört und stehenbleibt. Als sie zum zweitenmal klingt, geht er weiter nach dem Schall.
Ein kleines Brachfeld öffnet sich vor seinem Blick, er kennt es gut, letzten Sommer hat er dort Kohle gebrannt und Hafer gesät. Und mitten darauf steht sein ehemaliges Pferd. Aber nun ist es mager und abgezehrt, es trägt noch die Winterhaare, aber diese sind da und dort abgerieben, der Rücken ist geschwollen, an Hals und Bug sieht man das nackte Fleisch. Die Mundwinkel sind aufgerissen, der Kopf hängt. Es erkennt seinen alten Herrn, kann aber, weil es angebunden ist, nicht zu ihm, es wiehert nur ganz leise und reibt das Maul an seinem Arm.
»Aber was haben sie doch mit dir gemacht, o die Niederträchtigen, diese Hunde!« jammert Junnu. Und vergessend, daß er nicht mehr der rechtmäßige Besitzer ist, faßt er es am Glockenriemen und zieht es mit sich fort.
»Holla, Mann! Was willst du mit meinem Pferd?« ruft einer drinnen aus dem Walde.
Es ist Tahvo.
Als er Junnu wiedererkennt, fährt er zusammen und bleibt stehen; aber sobald er entdeckt hat, daß Junnu unbewaffnet ist, während er selbst ein Beil in der Hand hat, bekommt er wieder Mut und läuft hinzu.
»Fort von meinem Pferd!« brüllt er, indem er die Axt schwingt und ebenfalls den Glockenriemen erfaßt.
Junnu läßt los. Und als er einen Augenblick ratlos und schwach dasteht und keine Lust bezeigt, sich in eine Schlägerei einzulassen, stößt Tahvo ihn mit geballter Faust in die Seite, so daß Junnu in den Knien wankt und umsinkt.
Tahvo springt auf den Rücken seines Pferdes, haut es mit einem Pflock über die Flanke und reitet fort.
Junnu hat keine Kraft, ihm nachzueilen, er wird nicht einmal zornig, er läßt den anderen ihn einen Pferdedieb und Banditen nennen und mit dem Richter und dem Gefängnis drohen – bis er schließlich im Wald verschwindet.
»Nun, beeile dich, Tölpel«, hört er Tahvo sein Pferd anschreien.
»Es gehört ihm ja«, denkt er schwerfällig, »es gehört ihnen ja alles – sie können ja tun, was sie wollen.«
Er erschlafft, fällt ganz widerstandslos zusammen – die Morgensonne dringt grell in seine Augen, als sie sich über den Wald erhebt, sein Kopf schwindelt, und er streckt sich schläfrig auf dem Boden aus, vergißt seine Kuh, seine Flucht und alles ...
Aber kaum hat er die Augen geschlossen, als ein durchdringendes, schrilles Pfeifen sein Ohr erreicht und ihn wie ein Peitschenhieb trifft. Er hört ein Gerassel und Klirren von Eisenketten, er weiß nicht recht, ob er noch im Gefängnis ist oder ob er träumt.
Aber als er nach und nach begreift, daß es die Lokomotive sein muß, die gepfiffen hat, und daß sie es sein muß, die sich nähert, da denkt er an seine Kuh, springt auf und eilt dahin über Stock und Stein den Schienen zu, wie um etwas zu verhindern, eine Gefahr abzuwenden.
Eine kleine Herde Kühe steht jenseits des Sanddammes im Begriff, nach den Schienen zu wandern. Junnu kennt die vorderste von ihnen, es ist die seinige – und sie will auch sofort zu Junnu hinüber, sie hebt den Kopf, wimmert leise, brüllt und setzt sich in wiegenden Trab, die Glocke um ihren Hals schlägt den Takt dazu.
Aber als sie zu den Schienen kommt und gerade den Damm hinabklettern will, pfeift die Lokomotive an der Kurve und pustet Dampf aus, in vollem Tempo daherbrausend.
Die Kuh bleibt mitten auf dem Bahndamm stehen, starrt wirr die Lokomotive an und kann weder vorwärts noch rückwärts.
Die Dampfpfeife der Lokomotive schrillt, brüllt und lärmt, aber die Maschine kann nicht halten.
Junnu stürzt hervor, winkt und ruft, was er nur kann, erfaßt seine Kuh bei den Hörnern, sie widerstrebt, wenn Junnu zieht, und drängt vorwärts, wenn er sie zurückdrängen will ... Er hat sie halbwegs über die Schienen gezogen, als die Lokomotive unter Fluchen und drohendem Fäusteballen der Führer und dem kreischenden Scharren der Bremse seine Kuh vor seinen Augen mitten entzweischneidet.
Den halben Körper schleppt sie weiter mit sich, während das Vorderteil in den Händen Junnus, der an den Hörnern festhält, zurückbleibt.
Sie lebt noch kurze Zeit, ihre Halssehnen zittern, sie bewegt die Beine, als wenn sie fort wollte, aber dann fällt sie mit steifem Hals und offenen Augen, die Junnu anstarren, vor ihm am Rande des Bahndammes nieder.