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Drittes Kapitel.
Eine warme Frühlingssonne

Es waren acht volle Monate vergangen seit der Freudenbrief aus den schlesischen Gebirgen allen Gesichtern im Schlosse einen anderen Ausdruck gegeben. Die Komtesse duldete keinen Betrübten mehr. Ein neuer Geist waltete in ihr, der Geist der Freude, ihre Launen waren verschwunden, ihr Witz kränkte, ihre Verstandesschärfe beleidigte nicht mehr; und doch herrschte sie, es gehorchte ihr alles mit Freuden, auch der Vater, der Geist war ihm zu neu, um dagegen zu intrigieren. Man meinte, sie habe sich um zehn Jahre verjüngt, so luftig hob sich ihre majestätische Gestalt, so hauchte rosenfarben die Wange, die Stirn, der Busen wogte und die Augen glühten – sie schreite einher wie eine Göttin, meinten sie, nur war man uneinig, ob eine Juno, Venus oder Diana.

Acht Monate waren vergangen; auf das große Pergament von Friedrichs Ruhm, das anhub mit dem Worte Mollwitz, war mit dem Worte Hubertsburg das letzte Siegel gedrückt, es war Friede nach sieben blutigen Jahren, und ein Schlag mit ihrer Zaubergerte hatte die Göttin aus der Lausitz an die Ufer der Spree versetzt. Willenlos war ihr der Vater gefolgt. Waren es früher zwei kämpfende Kräfte und sie die stärkere, so war er jetzt nur das Atom, das dem Atemzuge nicht widerstehen kann; es war der Atem der Liebe, der an sie fesselte, der unwiderstehlich machte. – Und wie lange hatte er gezögert, den sie erwartet, und mußte sein Regiment das letzte sein! Sie saß im Wagen, abwärts vom Wege, die Märzsonne schien hell auf die wogende Menschenmasse und ihr Auge ließ kein Gesicht der Benarbten, Bärtigen, Sonneverbrannten vorüber, ihr Ohr hörte scharf durch die tausend und hunderttausendfachen Jubeltöne des Willkommens auf die wohlbekannte Stimme. »Wenn er dich nun aber nicht erkennt,« flüsterte die bescheidene des Vaters. »Wir stehen zu weit abwärts um uns ihm merklich zu machen.«

»Er wird mich erkennen.«

»Und wenn auch, wird er sein Regiment verlassen können?«

»Er kommt, er kommt, verlassen Sie sich darauf.«

»Wünschest du denn, wird er hier öffentlich unter all den Leuten ein Wiedersehen wünschen? – Wir könnten in jenes Wirtshaus treten, wenn es gleich schlecht ist, und den Jäger mit einem paar Zeilen hier lassen.«

»Der Jäger soll ihn nicht eher sehen als ich.«

»Aber der öffentliche Auftritt –«

»Die Freude gehört nicht unter Schloß und Riegel. Da sehen Sie, wie die Frau den Husaren bald vom Pferde reißt vor Freude – dort, dort –«

»Wer weiß, ob das dem Husaren dieselbe Freude macht.«

»Kußhände und Blumen und Branntweinflaschen! Ach, das ist ein Fest, was man nicht macht. Wer wollte da vornehmer sein. Himmel und Erde sind gleich lustig. So klar ist der Horizont; es ist doch auch schön in dem Lande.«

»Wie manche, mein Kind, wird dort vergebens im Sande stehen bis spät und wird den nicht finden, nach dem sie aussieht. –«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie hat vielleicht Briefe von ihm aus allen Schlachten, nach jedem Gefecht, davon die Zeitungen Meldungen tun, bis auf das allerletzte, und doch hat es noch ein Scharmützel gegeben, ein kleines, von dem niemand spricht. Aber eine Pistolenkugel, vielleicht der letzte Schuß von allen Schüssen, traf von allen anderen gerade den einen, auf den sie harrt! – Du hast keinen Brief seit –«

»Hören Sie dort die Trompeten – um die Tannen herum schwenken sie – wie der Staub aufsteigt. Ach, wer auch zu Pferde säße!«

»Man sieht auf dich.«

»Niemand sieht auf mich – auf die Sieger allein sehen alle – hören Sie den Jubel – es sind die Totenköpfe –«

»Und wenn du ihn nicht darunter sähest, wenn doch meine Ahnung – liebes Kind, ich bitte nur, präpariere dich auf alles, mäßige dann den Ausbruch deines Schmerzes, damit wir dem Pöbel nicht zum Schauspiel dienen, unter dem wir ohnedies eine seltsame Figur spielen mögen.«

»Die Raben krähen umsonst – umsonst –«

Der Graf erschrak über die an Wahnsinn streifende Heftigkeit. Sie sang es mehr, als sie sprach, sie schlug sich in die Hände, auf dem Wagenkissen kniend und hüpfend. – »Gewiß gewiß – er kommt, mein Vater, ich sehe ihn. –«

»Mit dem besten Fernrohr unterscheidet man noch kein Gesicht – du täuschest dich.«

»Er ist darunter, und wär' es dunkle Nacht, ich sehe ihn.«

Der Graf schüttelte den Kopf. Vierundzwanzig Trompeten schmetterten keck, die Mützen und Hüte flogen, der Jubel war grenzenlos, das Geschrei der Kinder um den Wagen ließ kein Gespräch mehr zu, man hörte kein Wort. Der Graf beschäftigte sich, zurückgelehnt in der Ecke, die blonden Köpfe der barfüßigen Buben zu zählen, die wie exotische Früchte an den Ästen einer großen, knorrigen Kiefer hingen, sich überschreiend, neckend und balgend um den besseren Platz. Sie jubilierten und wußten nicht um was, sie schrien sich die Kehle rauh, und hatten von dem gewonnenen Kriege keinen Schluck saures Bier. Sie rissen an Rinde und Harz ihre zerlumpten Hosen, und jeden Augenblick schwebte einer in Gefahr, herunterfallend, Arm und Bein zu brechen. »Und wie können sie doch froh sein?« Die Frage quälte den Grafen. Er rechnete aus, wer zuerst herunterfallen müsse, er ließ eine Säge an den Stamm legen und noch hatten ihre Zähne nicht das Mark berührt, so mußte die Kiefer stürzen. Er bettete diesen hier, den anderen dort, den dritten ließ er zerquetschen, die Geretteten gerieten sich in die Haare, Eltern mischten sich drein, Parteien waren gebildet, Wache kam – was Wunder, daß er über ein so ernstes Phantasiespiel die Wirklichkeit dicht neben sich jetzt erst bemerkte, wo Eugenie schon dem staubbedeckten, gebräunten Reiter in den Armen lag. Es war Etienne, er hatte sie gesehen, er hatte Platz gemacht durch die dichten Massen: pfeilschnell war er hergesprengt und in dem Augenblick abgesessen, wo Eugenie aus dem Wagen sprang. Ihr seliger Blick, ihr nasses Auge sagte zum Vater: »Ich sah ihn doch.« Sprechen konnte sie nicht, er auch nicht und der Graf wollte nicht, die barfüßigen Buben störten ihn, die ihm nicht mehr zum Schauspiel dienten, sondern selbst Zuschauer geworden waren. Er wenigstens wollte nicht mitagieren vor diesem Publikum.

Es blieb eine stumme Hauptaktion; denn auch als der Offizier sich wieder aufs Pferd warf und ihr zurief, er werde am Tor sich Urlaub erbitten und umkehren, geschah es mehr mit Blicken als Worten. Zum tiefsten Verdruß des Grafen fühlten jene barfüßigen Zuschauer sich so von dem eben gratis gesehenen Auftritt ergriffen, daß sie in früher Schauspielwut das Wiedersehen nachahmten, einer war der Leutnant, einer das Pferd und einer – die Komtesse; nur der Graf fand keinen Darsteller, vermutlich weil die Truppe noch keinen so feinen Intriganten besaß. Das kleine Schauspiel erweckte noch mehr Beifall als die wirkliche Szene und mußte immer wieder und wieder wiederholt werden. Eugenie lächelte; und wäre der Scherz kein Scherz gewesen, sie hätte doch gelächelt. Sie hätte die schmutzigen Kinder umarmen mögen. Sie teilte ihre Börse unter sie, und als sie leer war, mußte der Jäger seine hergeben.

Etienne hatte sein Wort gelöst, ein Hurra der munteren Brut empfing ihn, sie endeten nicht mit Vivats, dem »schlanken Leutnant« und seiner »schönen Braut,« und selbst als sie den Wagen bestiegen, folgte ihnen die kleine Schar in toller Ausgelassenheit. Zum Entsetzen des Grafen wuchsen sogar an Qualität und Quantität die Lebehochs, hinaufgeschrien dem »braven langen Leutnant« und der »generösen schönen Gräfin«. Der Wagen fuhr langsam, die jungen Leute sprachen nicht, wenigstens nicht in einer ihm verständlichen Sprache, und der Graf dachte, daß ein populäres Friedensfest ein sehr peinliches Fest sei. »Wie ist Ihnen zumute, mein Vater?« fragte Eugenie, ihre Hand Etiennes Druck entziehend, um sie dem Vater zu bieten. Sie wollte dem stummen, verdrießlichen Manne etwas von ihrer Seligkeit abgeben; aber sie hörte schon nichts von seiner Antwort: »Es ist ein Götterfest, geliebt zu sein wie dieser Friedrich – von dieser Populace.« Der Ton von dieser und dieser war fast deutlicher, als ein Diplomat sich äußern darf, zumal bei einem Friedensbündnis. Er trocknete sich die Stirn und meinte, es sei für einen Frühlingstag sehr heiß.

Es ereignete sich etwas auf dem langsamen Rückwege, was alle Teile gleich zufriedenstellte. Der holländische Gesandte kam vorübergefahren. Ein guter Bekannter des Grafen, wurde er jetzt dessen Wohltäter, indem er ihm einen Platz in seinem Wagen anbot, welchen dieser, um, wie er sagte, eine Angelegenheit von Wichtigkeit zu besprechen, mit einer Freude, die nicht diplomatisch war, denn sie war aufrichtig, annahm. Er empfahl seine Kinder dem Segen des Himmels und der höllischen Straßeneskorte, und konnte wiederum nicht diplomatischer handeln. Etienne war nie so sanft gefahren als jetzt an Eugenies Seite, das Geschrei der Buben war Musik, es war ein Festlied, ein Brautgesang, der seine Seligkeit, statt zu stören, erhöhte. Sie scherzte, lachte, er mußte auch seine Börse leeren und sie bestimmte ihm die Knaben, denen er die letzten Groschen zuwarf. »Aber wo ist denn Gottlieb?« frug sie. – »Er freut sich auch mit; Berlin ist seine Vaterstadt.« – »Aber wo ist er?« – »Er verläuft sich nicht, wenn er auch tagelang fort ist; denn er ist kein leibeigener, sondern ein freiwilliger Hund.«

Der Wagen, der schon immer hat langsam fahren müssen, war jetzt genötigt, fast stille zu stehen. Betrunkene oder Verunglückte verursachten einen Auflauf, der die Fahrstraße auf länger zu sperren drohte. Eugenie und Etienne stiegen aus, der Gedanke war ihnen willkommen, Arm in Arm in Etiennes Vaterstadt einzutreten, Arm in Arm die Orte zu sehen, die so oft Gegenstand ihrer Mitteilungen gewesen. »Mit wie manchem von diesen fremden Gesichtern magst du bekannt sein, ohne es zu wissen,« sagte sie. »Es hat dich vielleicht mancher als Kind gestreichelt, auf seinem Schoße gewiegt, und ihr geht euch jetzt kalt und fremd vorüber.«

»Oder er hat mich auch nicht gestreichelt.«

»Das sagst du so ernst. Auf wen siehst du da?«

Auf den Etienne hinsah, war ein sehr alter Mann, der auf einen anderen gestützt vor ihnen ging. Ärmlich aber reinlich gekleidet, war doch nicht der Gedanke des Bedürftigseins der erste, den sein Anblick erweckte. Die grünsamtne Pelzmütze, noch stattlich auf dem weißen Haar, sprach von besseren Zeiten, daran erinnerte auch sein Gang. Er blieb oft stehen, sich an der warmen Frühlingssonne zu letzen; noch mehr Freude schien ihm der Anblick der Soldaten zu gewähren. Er wies seinen Begleiter darauf hin, er nickte wohlgefällig, er grüßte sie, er salutierte.

»Fort, alter Herr,« sagte sein Führer, »wenn wir so bei jedem Nachzügler stehen bleiben, kommen wir nicht beizeiten nach Hause. Ihr müßt ausruhen nach den Strapazen.«

»Zeitig genug, Gevatter, kommen wir in das eine Haus, wo wir alle ausruhen.«

»Pfui, wer wird ans Grab denken, an einem Tage voller Gloria.«

»Nun läßt sich's mit Vergnügen sterben,« sagte der Ältere. »Gerade nun, Gevatter! Wie viele haben's nicht erlebt und mußten in die Grube, ehe es ausgemacht war, ehe daß wir wußten, ob unsere Söhne um nichts gefallen waren, oder um ihren König. Nun wissen wir's. Ach, wie die Sonne warm scheint.«

Er deutete auf einen großen Feldstein: »Wollt Ihr Euch niedersetzen? Meinethalben, Inspektor. Wir rufen das Marketenderweib heran und trinken ein Gläschen Kirsch aufs Wohlergehen Friderici, regis Borussiae in aeternum

Der alte Mann hatte sich auf den Stein gesetzt und unwillkürlich waren die jungen Leute stehen geblieben. Es standen, saßen, sprangen, lagerten Tausende umher, es fiel nicht auf; keiner sah auf den anderen.

Der Alte lüftete die Mütze und sammelte auf seinem kahlen Scheitel die Strahlen der Sonne, die noch hoch am Nachmittagshimmel stand. »Wie das wohltut,« sprach er zum Gevatter, und die Hände ruhten gefaltet im Schoße. »So, mein' ich, schien die Sonne seit sieben Jahren nicht.«

»Und ist doch erst März, Inspektor. Laßt uns den Juli abwarten. Ein Sommer im Frieden, das ist der Herrgott in Frankreich, wir wissen nicht mehr, wie es tut.«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Verstehe,« sagte der andere. »Wir denken wieder an die Toten. Die freuen sich mit uns; sie trinken wie wir heute, im Himmel oben, oder unten, wo's heiß ist, ein Vivat dem Könige.«

Der Alte hielt das Gesicht in die Sonne. »Ein König soll sein wie die Sonne; wo er hinblickt, soll es warm werden und wachsen; wo er hinblickt, sollen Sümpfe trocknen, die Luft soll gesund werden, die Jugend froh und heiter und das Alter soll sich wohlfühlen. Der Blick eines Königs soll nicht gehen, wie der Blick eines Richters, durch Mark und Blut, dafür ist der Richter, – des Königs Blick soll Gnade sein. Des Königs Auge soll nicht suchen nach dem Fehler, der vergessen ist, es soll leuchten für alle Gnade und Hoffnung; des Königs Auge soll Wunden heilen, und wohl dem Lande, wo der König die Gnade ist – Amen! Amen!«

»Alter, was ist Euch! Die Stimme kenne ich kaum wieder. Wenn Ihr mir ein Prophet werdet, wird mir bange bei Euch. Ihr waret im Leben keiner. Was denkt Ihr denn?«

»Ich war ein sehr strenger Mann in meinem Leben.«

»Ei, das ist der König auch, und die höchstselige Majestät war es noch mehr.«

»Es muß schön sein, Gevatter, ein König sein, wo man das Recht hat, den armen Sündern zu vergeben. Das haben wir andere nicht, wir müssen streng sein, es ist unsere Schuldigkeit, wir sind sonst schlechte Eltern. Nicht?«

»Will's da hinaus? Freilich, Inspektor, Ihr tatet Eure Schuldigkeit, nicht mehr und nicht minder, gebt Euch zufrieden. Der Krieg ist aus, die Toten kommen nicht wieder. Wer im Kriege gestorben, ist mit Ehren gestorben. Kommt, legt Euch schlafen, der Gottlieb kommt nicht zurück, – 's ist Friede, sag' ich Euch. Er hat nicht mehr Recht, an Eure Tür zu kratzen, es ist konträr den Friedenspakten.«

Der Alte hatte sich erhoben. Er tastete lächelnd nach der Sonne, die sich schon nach den Giebeln der Häuser senkte: »Wie sie warm scheint! Wenn sie nur auch ins Grab schiene.«

»Singt Euch zu Hause aus dem Gesangbuch: Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und dann wird alles gut sein, Ihr werdet ruhig schlafen, von dem Gottlieb nur Gutes träumen, und wenn Ihr die Augen aufschlagt, wird Euch die helle Sonne ins Gesicht scheinen.«

»Wenn sie nur auch ins Grab schiene,« murmelte wieder der Alte. »Es ist so kalt und finster unten.« Sie gingen.

»Ist er es,« atmete Eugenie zum Freunde. Sie hatten kein Wort bisher gewechselt.

»Woher kennst du ihn, den ich Mühe gehabt, in dieser Verwandlung wiederzuerkennen.«

»Als ob es mit dem Manne, Etienne, der seinen einzigen Sohn so geliebt und so gemartert und so verloren, ein anderes Ende hätte nehmen können! Laß uns ihm etwas Sonne in sein ödes Haus scheinen lassen, und schnell, ehe er in das letzte geht, wo schon sein Gottlieb ihn erwartet. Es ist doch schön, wenn man reich ist.«

Etienne drückte stumm ihre Hand. »Morgen schon, Etienne,« fuhr sie fort, »sieh, wie er geht, morgen schon, deiner Mutter wegen; es könnte zu spät werden.« Und nun wandte sie sich um und zeigte nach rechts. »Dort ruht sie, nicht wahr, in der Gegend muß es sein? Du magst ihm wohl nicht mehr begegnen. Laß uns den Umweg machen zu ihr. Ich will ein Blatt von der Trauerbirke über ihrem Leichenstein pflücken, laß uns über ihm noch einmal unsere Hände reichen und horchen, was sie zu uns spricht. O, sie wird uns freundlich zurufen. Können wir besser gesegnet und besser begleitet,« setzte sie leise hinzu, »zum erstenmal miteinander in deine Geburtsstadt treten?«

Über ungebahnte Felder – es war heute alles ein großer Garten der Freude – ging Eugenie an Etiennes Arm nach dem Garten, in dem die ruhten, welche schlafen gegangen, ohne Botschaft hinüberzunehmen von Friedrichs gekrönten Taten. Die Komtesse wies dem Freunde schon von ferne den Marmorstein, so genau war ihre Phantasie seiner Beschreibung gefolgt. Die untergehende Sonne warf ihre letzten Strahlen auf das selige Paar, wie es auf dem Stein saß, Arm in Arm; als sie nur noch die obersten Zweige des laublosen Baumes rötete und der Abendwind in den Wipfeln rauschte, verließen sie den Kirchhof. Der Gruß der Mutter mußte ein freundlicher gewesen sein. Ihre Augen glänzten. Erst als sie zum Halleschen Tor eintraten, brachen sie das Schweigen.

Knaben bereiteten und probierten dort kleine Feuerwerke. Man erkannte den Leutnant und seine Begleiterin: die Straßenjugend herrschte hier ganz allein und ihre Anführer gaben das Zeichen zu einem Willkommen dem »langen, langen Leutnant!« und der »generösen, schönen Gräfin,« welches ihnen schon unangenehm des Momentes wegen, es noch mehr durch den Lärm wurde, durch das immer wiederholte Vivatrufen, die paffenden Schlüsselbüchsen, die zischenden Schwärmer. »Hast du gar kein Geld mehr?« fragte ihn Eugenie ungeduldig. »Keinen roten Heller; doch reichte hier auch die volle Börse nicht aus.« – »So erhebe deine Offiziersstimme,« sagte sie fast unwillig über einen Schwärmer, der ihre Hutschleife streifte, »und befiehl ihnen Ruhe.«

»Du kennst unsere Jugend noch zu wenig,« entgegnete er lächelnd. »Drohungen machen das Übel nur schlimmer. Keine Überredung fruchtet hier; die Geduld tut es allein. Die Berliner Gassenbuben sind eine Puissance, die Friedrich selbst anerkennt.«

Die Unterhaltung war italienisch geführt worden, Eugenies Blicke mochten dem kleinen Pöbel wohl ihren Unmut verraten haben. Einer schrie: »Hört ihr's, die Gräfin ist eine baskirische Prinzessin, der Leutnant hat sie entführt. Sie versteht uns nicht, weil wir nicht baskirisch reden; wir müssen lauter schreien,« und die Vivats, der baskirischen Prinzessin gebracht, dröhnten und tönten durch die Schwärmer, Böller, die Musikchöre, Schlüsselbüchsen und Glocken. »Mut und Geduld!« flüsterte ihr Etienne zu.

»O, ich habe schon einmal so leiden müssen, und gerade hier auf dem Platze,« entgegnete sie, »es ist aber sehr lange her. Als meines Vaters Gesandtschaftsposten mit dem ersten schlesischen Kriege zu Ende ging, und wir zum Halleschen Tor in unserer schönsten Staats- und Reisekarosse hinausfuhren, verfolgte uns auch ein Rudel ungezogener Straßenjungen. Der Kutscher, die Jäger und Vater selbst hatten vollauf zu tun, um sie nur los zu werden. Besonders entsinne ich mich eines über alle Maßen dreisten kleinen Taugenichts, der seinen Schlitten an unseren Wagen gehängt und nicht eher losließ, als bis ihn unser Kutscher blutig geschlagen. Ich weiß noch, daß das Kind mich dauerte, aber er lohnte mir auf sehr ungalante Weise meine Fürsprache. Ich war damals, das weiß ich auch noch, mehr erbittert als jetzt.«

»Mein Gott,« rief Etienne, erstaunt sie anblickend, »hast du denn nicht mein Tagebuch ausgelesen?«

»Nur bis nach der verhängnisvollen Gerichtsszene. Du bist mir den Rest immer schuldig geblieben.«

»Unsere Bekanntschaft, Eugenie, ist viel älter, als wir denken. Ich war ja der ungezogene Junge und hier auf der Schläfe ist noch immer die Narbe von des Kutschers Peitsche.«

»Seltsame Fügung!« rief sie nach einer Pause, seinen Arm fester an sich drückend. »Wir kommen nicht aus den Wundern heraus und es ist doch alles klar. Ich meinte immer, da du mir nie angabst, wo du die Narbe da bekommen, wie du doch mit den anderen tatest, du trügest sie aus einer kleinen Liebesaventüre, die man mir zu verschweigen für besser hielt, und ich war so edelmütig und fragte nicht.«

»Und war es denn nicht mein erstes Liebesabenteuer,« entgegnete Etienne.

Geduld hatte den Mutwillen der Gassenbuben überwunden. Sie wurden von dem Strome der Rückkehrenden die lange Friedrichstraße fortgedrängt. Es war das erste Mal, daß Eugenie sich in einer großen Stadt, allein, am Arme eines Mannes, in solchem Volksgewühle befand. Es war ihr nicht bange zumute unter den Äußerungen der Roheit. Der Verschluß in engen vier Mauern wäre ihr in dem Augenblicke drückend, beängstigend vorgekommen. Sie war nicht müde, sie wollte sehen, alles sehen und hören, was sich sehen und hören ließ. Sie forderte den Freund auf, sie auf dem weitesten Umwege in das Hotel zu führen, ihr alle Plätze seiner Kinderspiele zu zeigen, sie wolle noch einmal Kind sein, was auch die erwachsene Welt dazu denke.

Vor ihnen ging ein Mann, der, die Hände auf dem Rücken, in einem fort wiederholte: »Schäme dich, Camill. Schäme dich, Camill!« – »Warum soll sich denn Camillus schämen, Herr Professor?« fragte Etienne, ihm sanft auf die Schulter klopfend.

»Und du, romulischer Feinde
Glücklicher Sieger, o Julius,«

fuhr es heraus, als hätte des Leutnants Berührung beide Verse elektrisch hervorgelockt, nachdem sie lange vergebens nach der Geburt gerungen.

»Auch Julius Cäsar soll sich schämen?«

»Daß er auf vier Sonnenpferden
In das von ihm errettete Rom einzog.«

entgegnete rasch Ramler, halb den alten Bekannten erkennend, halb ihn begrüßend, halb ihn von sich weisend.

»Was haben beide Römerhelden gesündigt, daß sie an dem festlichen Tage für jeden Brennen, so von dem Dichter des neuen Cäsar gestraft werden?«

»Sie haben triumphiert, und Friedrich triumphierte nicht; nicht einmal eine Ovation gab es. Sie sehen mich in einer Dithyrambe auf den Unsterblichen; ich sehe nichts, ich höre nichts, ich fühle nichts, bis ich das ›errettete Rom‹ in den Vers zwinge. Es ist fürchterlich, barbarisch, es will nicht, aber es muß. Entschuldigen Sie; Sie haben mich schon aus Rom verjagt, auf Wiedersehen! Ich hoffe gewiß im Kapitol.«

»Das also ist Ramler,« sagte Eugenie. »Und wird sein Cäsar ihn nur durch einen gnädigen Blick für seinen Schweiß belohnen?«

»Er ist ein deutscher Dichter,« entgegnete Etienne, »und das Los eines Leutnants, der nach sieben Kriegsjahren noch nicht Kapitän wird, ist noch immer besser als das eines deutschen Barden, der auf Anerkennung hofft bei seinem Fürsten.«

»Die besseren Zeiten werden kommen,« sagte Eugenie, »wo die Deutschen nicht nötig haben, lateinisch und französisch zu dichten, daß man es an den Höfen versteht.«

Etienne schwieg.

Beim Laternenlicht sah die Komtesse den Fleck, wo Etienne Murmel gespielt, der Adler rauschte über ihrem Scheitel, sie sah Friedrich Wilhelms Riesen im Parademarsch um die Ecke biegen und hörte die dumpfe Trommel des Totenmarsches schlagen. Vor dem Hause seiner Kinderjahre führte er sie nicht vorüber. »Ein andermal, ein andermal, Eugenie!« Sie mochte nicht in ihn dringen. »Siehst du drüben an dem grauen Hause den Lampenschein? –«

»Da wohnte der Pate Schlipalius, und der Schein kommt –«

»Von der Blechlampe der Frau Kurzinne –« fiel Eugenie rasch ein. »Ich hatte vergessen, dich zu fragen, lebt sie noch?«

»Seit die Russen hier waren, weiß ich nichts von der Freundin meiner Jugend. Laß uns selbst sehen.«

Sie schlugen die kleine Gasse ein. Das Gezänk aus dem Eckladen überzeugte sie wenigstens, daß in dem Laden noch Branntwein geschenkt wurde. Eine heisere, krächzende Weiberstimme zeigte auch an, daß noch eine Frau die Wirtschaft führe und bald machte ein Blick durch die den Ladentisch umdrängenden Gestalten die Gräfin mit der Person der leibhaftigen Frau Advokatin Schlipalius, die, trotz ihres hohen Alters, noch in voller Kraft der Zornlaune und ihrer Rabenstimme schien, bekannt. Sie erklärte dem Volke, wie man mit den Russen umspringen müsse und wie sie sich nicht »geschert,« ob König Friedrich Rex Lust gekriegt zu kommen oder nicht, als sie den Kosaken, die ihr Sauerkraut hatten essen wollen und nicht bezahlen, mores gepredigt; sie schimpfte dann auf ihren toten letzten Mann, auf die vorigen, auf alle Männer, auf die schnippische Jugend, auf das faselnde Alter, auf das Wetter, auf den Krieg, auf den Magistrat, auf die Franzosen, auf die preußischen Generäle, die den Krieg nicht verstanden hätten, und – auf den König. »Wozu haben wir einen König? Daß er ehrliche Bürgersfrauen stecken läßt, wenn die Russischen mit uns Trommelfell spielen, oder daß er schlechte Advokaten auf der Leiter pardoniert? Die Advokaten bleiben Galgenvögel, ob's mein Mann war oder nicht, aber eine ehrliche Bürgersfrau, und wenn der König nichts tut, als mit Permission ihr den Rücken kehren, eine ehrliche Bürgersfrau fragt nicht, ob der Russe mehr trinkt oder der Preuße? Wer bezahlt, ist ehrlich. Sieben Jahre hat er bezahlt, meint ihr? Aber als wir in der Klemme steckten, wo war er da? Hat er bezahlt? Wird er jetzt bezahlen? Bar, sag' ich, bar, mein Herr! Papierschnitzel nehm' ich nicht. Was ist bar? Silber oder Gold? Gold graben wir nicht. Messing, davon kann er Rechenpfennige machen; Dukaten macht man anders. Das wissen die Jungen und die Österreicher. Aber mit den roten Backen bleibt mir vom Halse. Sind das Zweigroschenstücke? Eine Kupfernase und ein paar Augen reingeschlagen. Ist das ein Gesicht von einer Majestät? Er hat ja Scheren genug, um uns zu scheren. Ich habe nur eine, wollte ihm aber ein anderes Gesicht mit schneiden, als ein kupfernes. Frieden hat er gemacht, ja Frieden, aber was für einen? Von Papier und Tinte. Wozu ist Papier gut? Daß Rabulisten ehrliche Frauen um ihr alles bringen, daß sie Kaffeescheine schreiben, Tabak riechen; zu Drachen ist es gut am Bindfaden vorm Köpenicker Tor, da kann der Friede in den Himmel fliegen, eine ruinierte Bürgersfrau hat nichts von, und Papier ist gut zu. – Vor die Tür, ihr Lumpengesindel, oder die Kurzinne wird euch leuchten, mit oder ohne Respekt.«

Der zurückgedrängte Strom der Barfüßer trieb auch die Lauscher fort. Das wohlbekannte:

Frau Kurzinne, Frau Kurzinne
Ist eine häßliche, alte Spinne

schallte der Komtesse noch um die Ecke nach, vermischt von kräftigeren Weiseworten der alten Dame, und sie war überzeugt, daß Lunge und Laune ihr noch fortzuschimpfen erlaubten, als die Glücklichen schon in das Hotel Unter den Linden traten, wo außer dem ängstlich besorgten Grafen ihnen an der Hand des holländischen Gesandten der Marquis von Cabanis entgegenkam. Der Abend verstrich bei einem festlichen Familienmahl. Es war alles zur Freude da, nur der Hund fehlte, um sie für Etienne und Eugenie ganz vollkommen zu machen.


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