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Wie ich zu Tode quäle eine liebevolle Seele,
Wenn ihre Hülle »Leib« nicht meinem Ideal entspricht – –!
Wie stell' ich's aber an, daß ich das »Edlere« wähle?!?
Mein Wächter »Auge« gestattet es mir nicht!
Er sagt: »Man täuschet dich; die beste Seele
Kann eben nur im besten Leib gedeih'n!
Und nur weil Christus vollkommen schön gewesen,
Könnt' sich sein Herz der ganzen Menschheit weihn!
Voll innerer Sanftmut ist nur das schönste Wesen;
Es dankt dem Schöpfer gleichsam ewig für seine Gnad' auf Erden – – –,
In seinem verborgensten Blick kannst du es lesen:
›Ich bin von Ihm verpflichtet worden, gut zu werden!‹
Gott ähnlich werden ist jedem benommen,
Der nicht die Glieder dazu mitbekommen!
Nur vorn vollendet schönen Menschen fordre ich Hirn und Herz – – –
Er fliege, Gott-begnadet, himmelwärts!
Er sei gerecht, allgütig und allweise – – –
Und er allein stört mir nicht meine Kreise,
Daß der Mensch engelrein werden könne in absehbarer Zeit!
Von den anderen aber verlang' ich nur,
Daß sie sich betrachten als mißlungene Exemplare der Ideale erträumenden Natur!«
Der »Eisvogel« war schon seit meiner Kindheit mein Lieblingsvogel.
Dieser Gegensatz zwischen »zartem Vogel« und »strenger Winterkälte«!
Und dazu schillert er noch blaugrün, wie ein Kolibri in den Tropenwaldungen! Der Winterkolibri!
Sein scharfspitziger Schnabel sticht Fischlein aus dem Wasser; wie Harpunen Walfische stechen!
Er sitzt tagelang auf der Lauer, auf einem Baumstumpfe am Teiche. Plötzlich schießt er hin, taucht unter, sticht zu. Ein eleganter Mörder.
Die Karpfenteiche beraubt er vollständig. Niemand würde es ihm zutrauen. Tagelang hockt er auf einem Baumstumpfe, grünblau schillernd, der Schnabel eine Lanze, ein Schwert, ein Dolch, eine todbringende Nadel!
Ein »romantischer Recke« in blaugrün schillerndem Panzer! Ein Märchen-Held der Natur selbst!
Lilly hat sich einen Teich graben lassen auf der Besitzung ihres Großvaters, ihn umranden lassen mit Salweiden, Erlen, Haselstauden, Ölweiden. Sie hat das Ganze umfrieden lassen mit einem zarten Gitter. Und hat einen Eisvogel hineingesetzt. Nun schaut sie stundenlang zu, wie er hockt und wartet. Der Herr des Teiches!
Die Komplimente der Herren, die sich ihrer zarten Seele bemächtigen wollen, erscheinen ihr daher schal und lächerlich!
Sie ist okkupiert, okkupiert, vom Walten der Natur und ihren Mysterien – – –.
Der Mann kommt ihr dagegen kleinlich und lächerlich vor. Er ist nur ein »ungeschickter, brutaler, anmutloser« Eisvogel. Auch er wartet stundenlang, tagelang auf seine Beute! Er sticht zu und verschluckt sie. Aber es sind nicht »wertlose Elritzen«, die er verschluckt, vernichtet! Es sind »Seelen«!
Ich sah euch Kinder gestern abends beim Nachtmahle. Ihr aßet Wurst in Essig und Öl. Aber du, J. M., hattest eine Art von Nachthemd an, und man sah deinen herrlichen Hals. Du aßest und hattest zugleich den Blick einer Heiligen. Du spürtest es, daß ich vor dir hätte hinknien mögen wegen deiner überirdischen Schönheit. Aber du saßest im Familienkreise beim Nachtmahle und warst erst zwölf Jahre alt. Da sang ich denn meine Hymnen an dich notgedrungen nur in mich leise hinein! Aber sie brausten wie Frühlingsstürme aus meinem alt-jungen 50jährigen unbezähmbaren Herzen heraus ins Leben, und ich merkte es an dem verlegen-erstaunten Ausdruck deines Antlitzes, daß der Hauch meiner Begeisterungen dich dennoch streifte – – –! Und aus der Stube, in der ihr euer frugales Nachtmahl einnahmt, ward eine Kirche, durch die Kraft allein meines begeisterten Herzens!
J. M., ich danke dir!
Wem, wem sollte man denn danken, als dem, der einen über die eigenen Niederungen plötzlich hinüberhebt in höhere, in bessere Sphären?!? Und wenn es nur ein Kind ist bei seinem Nachtmahle – –.
Am nächsten Morgen sagte sie verlegen: »Gestern waren Sie ein wenig betrunken – – –.«
»Jawohl«, erwiderte ich, »ich war ein wenig berauscht – – –.«
Der Dichter sagte zu dem jungen, ganz betrunkenen Herrn: »Sitzen Sie vielleicht da wegen dieser wunderbaren jungen Dame vis-a-vis, und sind Sie deshalb so betrunken?!?«
Der junge, betrunkene Herr gab keine Antwort.
Da kam eine alte Nelkenverkäuferin.
Der junge, betrunkene Mann sandte der Dame zehn Nelken hinüber, zitronengelbe und lilafarbige, obzwar der Dichter ihn davor warnte. Es sei ungeschickt in einem Café.
Die Herren, die bei der wunderbaren Dame saßen, sagten zu der Nelken Verkäuferin: »Abfahren mit den Blumen, abfahren!«
Da kaufte der Dichter dieselben Nelken, sandte sie mit einem Zettel: »Ein Dichter für einen unglücklichen jungen Mann.«
»Abfahren«, sagten die Herren zu der Nelkenverkäuferin, »augenblicklich abfahren!«
Dann gingen sie triumphierend mit der wunderbaren Dame weg.
Aber nichts, nichts, nicht ein Atom irgendeines wirklichen Gefühles geht verloren auf dieser Erde. Nur merken es die Brutalen nicht.
Die Dame fühlte: »Man liebt mich unglücklich, man leidet – – –.«
Die Herren hätten sagen müssen: »Nehmen Sie doch die schönen Blumen an, man scheint Sie ja dort fanatisch zu verehren –.«
So wäre der Schlag pariert gewesen, jedesfalls die Gefühlswelt ausgeglichen. Aber sie gaben sich eine Blöße im Rapiergefecht des Daseins, nützten einfach ihre momentane Macht aus, schlugen drein. Das haben die Frauen nicht gerne.
Da fühlte die Dame sogleich renitent: »Man liebt mich unglücklich, man leidet! Was seid ihr für rohe Gesellen, ihr meine Herren glücklichen Besitzer?!?«
»Wir sind blamiert«, sagte der betrunkene junge Mann.
»Jawohl«, sagte der Dichter; denn er sagte immer »jawohl« bei solchen Anlässen, unter allen Umständen; obzwar er es dennoch gerade anders wußte!
»Weiß ich es, fühl' ich es nicht, daß der Hofmeister meines Bruders mich lieb hat?! Ich muß mich stellen, als wär's nur ein Lehrer; aber vielleicht lernt man so am schnellsten diese notwendige › Lüge des Lebens‹!«
»Meine Freundin Lilith könnt' ich ermorden! Sie tanzt graziöser als ich! Weshalb gab mir das Schicksal weniger bewegliche Glieder?!? Warte nur, Feindin, in irgendetwas, was ich zwar noch nicht genau weiß, werd' ich sicher dafür geschickter sein als du! Denn du wirst mit deinem idealen Tanzen auskommen wollen, ich aber, Minderbegabte, muß ein übriges tun für die Männer!«
»Ich liebe meine englische Lehrerin; sie ist so mild-melancholisch, sie muß viel erlitten haben! Da sagt mir meine Mama: ›Kind, existiere ich denn gar nicht mehr für dich?! Nur mehr Miß Burnand?!‹ Da wurde ich ganz verzweifelt. Denn bisher liebte ich beide in ganz gleicher Weise – – –.«
»Heute am Eislaufplatze fiel ich hin. Ein Dragoner-Freiwilliger half mir beim Aufstehen. Es war mir höchst peinlich. Aber war es mir wirklich höchst peinlich?! Es war mir höchst peinlich und gar nicht höchst peinlich zugleich – – –.«
» Tu', was die anderen tun, lass', was die anderen lassen –. Immer aber lehrt man uns merkwürdigerweise solche Frauen in der Geschichte, die eben ganz anders waren als alle die anderen – – –. Jeanne d'Arc, Charlotte Corday! Wozu, wozu also Geschichte?!?«
»Immer seh' ich die Sommerwolke dunkler und dunkler werden. Alles drängt nach Entladung von überschüssigen Kräften in der weisen Natur –. Da sagt mir Mama: ›Kind, hast du schon Klavier geübt?! Du weißt, die Pflicht – – –‹.«
»Ich liebe meine Eltern unaussprechlich. Aber wenn mein Spatz ›Fifi‹, den ich der Katze entrissen habe, mir einmal wegflöge, der immer bei den Mahlzeiten auf meiner Schulter Platz nimmt, so müßte ich ihnen dennoch den Gram antun, sie zu verlassen und zu sterben vor Gram!«
»Ich hasse meinen deutschen Lehrer; er hat eine unangenehme Ausdünstung. Was kümmert mich sein Geist?!? Ich habe einmal die spitzige Feder voll Tinte gegen ihn gerichtet, um ihn ins Auge zu schießen. Es war gerade, als er so tief und schön über Goethe sprach – – –.«
»Als ich es erfuhr, daß der Dichter zu uns zum Nachtmahle käme, tauchte ich im warmen Bade nicht unter, um meine gedrehten Locken nicht zu zerstören. Aber der Dichter sagte sogleich zu mir: ›Sie kommen augenscheinlich aus dem warmen Bade, und Ihre gedrehten Locken sind dennoch nicht aufgegangen. Wie merkwürdig, Fräulein!?‹ Und ich erwiderte: ›Mama hat es mir so anbefohlen, weil Sie kommen – – –.‹
Da sagte der Dichter: ›Sie lügen, denn Sie erbleichen!‹ Da erst aber erbleichte ich wirklich. Man wird sich also vor Dichtern am allermeisten in acht nehmen müssen!«
Wehe dir, der du nicht
geschützt bist vor Frauengunst,
und verbrennst in Liebesbrunst!
Ein ewig Wachsender bisher, wirst du nun ein Stillgestandener!
Eh' du es spürst, bist du ein
anderer,
ein
Niederhocker wirst du,
Wanderer!
Nicht wie im Kaleidoskope mehr wandeln sich dir in
holdem Verändern die Bilder des Lebens,
wandelt sich dir dein
wandernder Blick;
und
im kleinen Kreislauf und lieblichen Austausch
geschlechtlich-seelischer Kräfte
vollendet sich nun dein allzu gesichertes
Alltagsgeschick!
Aber die anderen,
einsam, den Blick gerichtet in
Fernen,
folgen
unentwegt ihren Sternen!
Wehe dir, der du nicht vor Frauengunst
geschützt bist,
und nun für die »
kleine Tat« des Lebens
ausgenützt bist!
Für die All-Schönheit darfst du nichts mehr fühlen – – –
Die Hauptsache ist, du sollst dich nicht verkühlen!
Nicht mehr bei Emerson lesen und Beethoven spielen,
wirst du himmlische Kräfte zu unerschöpflicher Tat aufspeichern!
Emerson und Beethoven sind
heilige Geber – –
aber die Frau will sich
an dir bereichern!!
Und du, Arm-seliger, verarmst!
Deines Größenwahnes
heiligen Kern heilt sie dir,
gibt dir
zugeschnittene gesunde Glückseligkeit dafür!
Im blasenden Sturm
hemmt sie dir deinen Lauf,
stellt dir
sorgsam den Rockkragen auf!
Vor Abgründen sucht sie dich zu bewahren,
läßt dich in den
Abgrund deiner Alltäglichkeit fahren!
Dein Gehirn schützt sie vor
Melancholien und
Träumen,
weiß mit überschüssigen Kräften
aufzuräumen!
Deine Seele schützt sie vor Wanken und Schwanken,
weiß sie an nahe
Ziele festzuranken!
Deinen Körper zwingt sie schäbig,
sich zu erhalten,
denn sie
braucht ihren Alten!!
Wehe dir, der du nicht
geschützt bist vor Frauengunst,
und verbrennst in Liebesbrunst!
Unser vergebliches Sehnen ist unser Kräftespender!
Unser erreichtes Ziel ist unser Wegbeender!
Durch unsere Tränen hängen wir mit
der Welt zusammen,
die selbst ewig
um Ideale weint!
Doch
unser Sieger-Lächeln wird uns verdammen,
denn wir sind
vorzeitig geeint!
Zum Abschluß will die Frau uns bringen
und
unser Ringen!
In friedevolle endgültige Ehe wollen wir einst mit der
Gesamtnatur treten,
ihr aber müßt bereits zu Anna oder Grete beten!
Der
Gott in dir duldet keine Göttinnen,
aber schon gar nicht
irdische Hundsföttinnen!
Bei Emerson lesen und Beethoven spielen
kannst du unerschöpfliche Kräfte erzielen!
Aber selbst deine
vollkommenste Frau
erhebt sich nicht zu Brünhildens Abschiedsworten:
»
Zu neuen Taten,
teurer Helde,
wie liebt' ich dich,
ließ' ich dich nicht?!?«
Was diese »wilden Kaninchen« für merkwürdig starke Nerven haben müssen, man kann es sich gar nicht vorstellen! Ein Nervenarzt müßte direkt erstaunt sein! Alle Funktionen des Lebens ausführen können, in ununterbrochener Todesgefahr und Todesangst! Der organische und endlose Verfolgungswahn! Der Irrsinn eine Realität im Dasein! Furchtbar! Während des Essens Todesgefahr! Während des Schlafens Todesgefahr! Während des Spielens auf Waldlichtungen Todesgefahr! In Hochzeitsnächten Todesgefahr! Immer lauert der Fuchs, der Sperber, ja sogar die Krähe. Nie ein Augenblick »innerer Rast«! Und dabei gehen sie dem Gesetze ihres Lebens nach, als wäre überall Friede und Sicherheit! Das sind »gesunde« Nerven, gewappnet für den Kampf ums Dasein, wie ein Ritter in seinem Stahlpanzer! Sie können das Leben genießen, wie es sich gerade darbietet, während es im Busche bereits verdächtig raschelt! Können wir das?! Lebenskünstler sind es, Nervenkünstler! Äsen können, während der Sperber ungesehen in den Lüften bereit sein kann! Sich erst vor ihm fürchten, wenn es zu spät ist, bis zum kurzen Todesschrei; bis zum letzten Augenblicke das Dasein genießen dürfen und dann rasch: »Ade, du schöne Welt!« Das sind gesunde und haltbare Nerven! Von einem besonders widerstandsfähigen Organismus müßte es heißen: »Er hat Kaninchennerven!«
Ein zweiter Held, die Beutelratte, Opossum! In Lebensgefahr stellt sie sich tot. Wenn die Behendigkeit der zierlichen Füßchen nichts mehr nützt, wenn die scharfen Zähnchen nichts mehr nützen, wenn alle Waffen im »Kampf ums Dasein« versagen, dann stellt sie sich tot. Das heißt, sie streckt die Waffen rechtzeitig! Eine Genialität! Nicht länger kämpfen, nicht länger sich erwehren wollen als es möglich ist! Passives Heldentum! Der Sieg des Besiegtseins! Bei dem Opossum ist es nicht ein letzter geschickter Trick, sondern eine ernste schreckliche Angelegenheit! Denn wenn es einmal sich totgestellt hat, verbleibt es in dieser Rolle sogar bei dem Erschlagenwerden! Es antizipiert die unentrinnbare Realität! Also ein genialer Organismus! Es liegt direkt etwas »Christliches« im heldenmütigen »Sichunterwerfen« einem tückischen unentrinnbaren Verhängnis! Die Opossume unter den Menschen sind selten. Am ehesten sind es noch die, die die Browningpistole stets auf ihrem Nachtkästchen liegen haben – – –. Sie kämpfen, und können eigentlich nie besiegt werden! Sie haben ihren Sieg über das blöde Leben auf ihrem Nachtkästchen liegen – –.
Baudry de Sauniers Buch: »Die Kunst, zu fahren!«
Weshalb verwandeln sich denn alle herrlichen Dinge, die das gottähnliche Menschengehirn ausdenkt, ausdichtet, so baldigst in groteske Niederträchtigkeiten?!? Weil es im irdischen Dasein selbst eben überall zugleich Himmel und Hölle, betörenden Satan und beschützende Engel gibt!
Niemand, der die friedeatmende Natur lieb hat, den Wald, die Wiese, den Abend und den Morgen, den lässigen behäbigen Nachmittag, und den Vormittag voll Kraft und lebendiger Pracht, niemand, der das Reh abends am Waldesrande betrachten möchte, die hungrige Krähe im Schneefelde, die aufblühenden und die absterbenden Gebüsche an den endlosen Straßen, die stürmischen Symphonien der Gebirgswässer, und die edle diskrete Stummheit der einzelnen Baumgruppen, niemand würde dann durch die Welt dahinrasen in seinem heiligen Privatluxuszuge »Automobil«, und so Menschen, Tiere, und sich selbst gefährden!
Könnt ihr euch Beethoven, Goethe, Kant, rasend dahinfahrend vorstellen, ihr reichen Menschen?!?
Das Leben in sich langsam einströmen lassen, heißt überhaupt nur: leben! Alles andere ist der armselige Versuch, in rasendem Tempo der Anklage Gottes zu entfliehen, daß man für die Schönheiten seiner Welt kein Auge, kein Ohr, keine Zeit übrig habe! Der Edelfiaker im Prater, der doch gewiß den Ehrgeiz besitzt, raschestens zu fahren, läßt uns dennoch den Genuß von taudampfenden Auen, von vereinsamten Wäldern, von alten Donaugewässern, von Kieselufern in modernsten abgetönten Farben, grau-braun-blau, von alten Weiden und kreischenden Krähennesterkolonien. Aber das rasende Automobil will dir deine ohnedies vom schweren Dasein tief bedrängte Seele einfach wegrasieren! Es will dich deinem eigenen Frieden durch bösartige Geschwindigkeit entführen! Fahret, vom Schicksal Begnadete, im Tempo eines Gummiradlers in der Praterhauptallee, haltet die Reichtümer der Natur für wichtiger als das Tempo, das ihr dabei einschlagt, und vor allem leset: Baudry de Saunier: »Die Kunst, zu fahren!«
Von allen, allen war sie weitaus die Beste! Denn sie sprach nichts und trug ihr Schicksal der mißachteten Dienenden! Sie aß, was man ihr vorsetzte, nie fragte man sie, ob es ihr genehm sei, ob sie Spinat vielleicht Erdäpfeln vorziehe?!? Aber diese anderen, diese »gemästeten« Damen, in eigenem Egoismus, und in der schweigsamen Feigheit ihrer Gatten gemästeten Damen, machten einen Cas aus jeder mißliebigen Speise – – –. War die Bonne denn aus anderm Fleisch und Blut, hatte sie denn weniger Anrecht, dieses zu lieben und vor jenem zurückzuschrecken?! Man verhöhnte sie, weil sie gerne edle Zigaretten rauchte und doch dazu nicht berechtigt wäre infolge ihrer sozialen Position und ihrer ökonomischen Verhältnisse – – –. Rauche du »Sport«, oder noch lieber, rauche du gar nicht! Hast du denn ein Anrecht auf Vergnügen?! Meine Liebe, überschreite doch nicht die Grenzen deiner Nichtigkeiten! Die »Damen« aßen stundenlang Solokrebse, mit leidenschaftlichem Behagen; aber die Bonne saß schweigend da, ja in tragischestem Schweigen, bedrückt von der miserablen Behandlung, die man ihr von allen Seiten angedeihen ließ – – –. Da legte der Dichter zehn Zigaretten En A-Ala, großes Format, vor sie hin – – –. Sie wurde schrecklich verlegen über diese ihr ungewohnte Ovation. Sie glaubte dennoch nicht einen Augenblick lang, daß er ihr »den Hof« machen wolle auf diese Weise, sondern daß er nur die andern züchtigen wollte für ihre Un-Menschlichkeiten! Bald darauf wurde ihr der Dienst gekündigt, und man gab allmählich auch den Verkehr mit dem allzu »exaltierten« Dichter auf. Was übrig blieb von dem allen, waren zehn Zigaretten En A-Ala, großes Format, die die Bonne in einem eigenen kleinen Schreine sorgsam verwahrte – – –.
Frauen sind enorm impressionabel, sie nehmen so leicht die Gerüche ihrer Umgebung an! War sie in der Milchkammer, so riecht sie noch stundenlang nach Milch, ihre Hände, ihre Haare, ihr ganzer Leib – –. War sie auf dem Gemüsemarkte, so riecht sie noch stundenlang nach allen Gemüsen, wie Kräutersuppe – – –. Im Garten riecht sie nach Flieder oder Linde oder überhaupt nach Garten – – –. Auf der Alm nach Kuhweide und Kurzwiese. Das ist ein tragisches Schicksal; denn immer riecht sie daher auch nach dem letzten Hunde, mit dem sie gerade beisammen war, nach dem letzten Snob und seiner Pestausdünstung, seinem Lügegestanke! Nach Dichtern riecht sie nie, denn Dichter halten sich in respektvoller Entfernung, wahrscheinlich aus künstlerischem Egoismus! Am meisten riechen sie nach »Frechlingen«, die einem immer allzu nahe treten! Da nehmen sie die Gerüche am allerleichtesten an – – –. Edle Frauen sollten unbedingt immer in der Natur bleiben oder in der heiligen Einsamkeit ihres eigenen Zimmers. Überall sonst stinkt es!
Auch gute Bücher stinken nie, sie sind das Destillat aus allen übelriechenden Sünden, die man begangen hat, man hat daraus endlich einen Tropfen wohlriechender Menschlichkeit gewonnen!
Aber die anderen destillieren nicht!
Nun hast du deine Ruhe, süße Frau – – –
Nicht stört dich mehr mein Schlachtkalb-Blick –
So hast du es gewollt!
Ich hab's vernommen! Ich war dir eine Last!
Und Tage werden kommen, Jahre, vielfältigen Schicksals – – –
Und einst wirst du in einer müden Stunde in meinen Briefen kramen:
»Er ward sehr krank an mir; ich aber ließ ihn sterben – – –.«
Nun hast du deine Ruhe, süße Frau.
Verstummt der bangen Klage störendes Geplärre!
Es spricht dein harter Blick: »Seh'n Sie, so sind Sie mir viel lieber!«
Sahst du den schwarzen Panther in seinem Käfig manchmal mit dem gelben Blick des Wahnsinns rastlos seine Achter schleichen?! Sahst du ihn?! – – –
Nun hast du deine Ruhe, süße Frau.
»Wir wollen gute Freunde bleiben, Peter, nicht wahr?! Nicht? Wie?! Was, was haben Sie?!«
»Nichts – – –«, sagte ich, und reichte dir die Hand.
Er hatte ihr bereits alles geschenkt, was eine liebevolle zärtlichste Seele sich auserdenken könnte – Nun war er am Ende seiner liebevollen Phantasie, und er hätte sich nur noch wiederholen können – – –. Sie hatte in wunderbarer moderner Auffassung alles angenommen; denn sie fühlte es, daß es eine heilsame Medizin sei für seine erkrankte Seele, besondere Dinge zu schenken, zu schenken, zu schenken – – –. Sie nahm es an, wie eine Verpflichtung gegenüber einem Herzen, das man, wenn auch unabsichtlich, krank gemacht hat; und sie sträubte sich daher auch nicht gegen solche Geschenke, die unter andern Umständen einen zu intimen Charakter gehabt hätten, wie Schirm, Handschuhe, Gürtelschnalle, Taschentücher und so weiter, und so weiter, und so weiter – – –. Nun aber war er zu Ende mit Realität und Phantasie, insofern seine Geldmittel es gestatteten – – –. Da las er in einer Zeitung eine Annonce eines echt japanischen Klosettpapiers, aus japanischen Pflanzenfasern, unerhört zart und dennoch fest im Gefüge, wovon ein Paket freilich eine Krone achtzig Heller kostete, während die einheimischen besten Sorten für eine Krone zu haben sind – – –. Er kaufte zehn Pakete und schickte sie ihr. Sie war anfangs ganz entsetzt, beleidigt und gekränkt. Aber allmählich gewann das natürliche Denken die Oberhand. Und sie schrieb einfach zurück: »Nunmehr, Zartfühlendster, wird es Ihnen aber wirklich sehr schwer fallen, noch irgend etwas sich auszudenken, was mein Leben mir erleichtern könnte – – –.«
Schütze einen Maikäfer vor dem Zertretenwerden! Und du wirst mehr Lebenskraft davon gewonnen haben als er, der vor dem Tode stand!!! Ihn erretten, heißt, dich selbst erretten!
»Truthühner, oh, weiße Truthühner; die armen werden da aufgefüttert und geschlachtet – – –.« »Nein, sie werden weder aufgefüttert noch geschlachtet und sterben meistens sogar an Überernährung – – –.«
»Wie ist das möglich?!«
»Es gibt einen schrecklichen Feind der jungen zarten Zuckerrübe, den mausgrauen Rüsselkäfer. Diesen nun fressen die Truthühner leidenschaftlich, und da läßt man sie nun auf die Rübenfelder, sich totfressen! Das ist ihre Lebensaufgabe!«
»Sie haben eine wunderbare Zucht von Cochinchina-Hühnern!«
»Ich habe sie nicht. Man muß auf einem Gute Edelgeflügel haben, damit die Eier gestohlen werden können und der Gutsherr ein Huhn hie und da bekommt, das nach seiner approximativen Schätzung 150 Jahre alt war.«
»Und was geschieht mit den jungen Hühnern?!«
»Ich weiß es nicht. Kein Gutsherr weiß es. Es sind die Mysterien der Landwirtschaft!«
»Was baut man in Ihrem herrlichen Gemüsegarten an?!«
»Alle Gemüse, Primeurs und so weiter – – –.«
»Da sind Sie sehr zu beneiden – – –.«
»Keineswegs. Ich sehe niemals etwas von den Gemüsen. Wenn ich irgendwelche wünsche, so sind sie entweder schon gerade vorüber, oder ihre Zeit ist noch nicht gekommen. Nie treffe ich den richtigen Zeitpunkt. Was können die Gemüse dafür?!«
»Es sind eine Menge Fasane abends auf Ihren Feldern. Weshalb schießen Sie sie nicht?!«
»Ich habe das Recht, sie abzuschießen. Aber sie kommen wahrscheinlich aus dem nachbarlichen Walde. Da ist es unfair, sie zu schießen – – –.«
»Wann dürfen Sie also Ihre Fasane schießen?!«
»Wenn ich es genau weiß, daß sie nicht aus dem nachbarlichen Walde sind. Aber das weiß man nie genau.«
»Freuen Sie sich über die reiche Blütenpracht der Obstbäume?!«
»Ja; aber die Maikäfer fressen alles ab. Freilich sind sie, falls man sie dann abschüttelt, ein gutes Dungmittel für den Boden, um wieder reiche Obstblüten zu liefern für die Maikäfer des nächsten Jahres!«
»Welche Frucht auf Ihrem Gute erfordert am wenigsten Pflege?!?«
»Die roten oder gelben Beeren des Wegstrauches. Die kleinen Vögel fressen sie, und wenn im Fluge ihr Mist zufällig auf eines meiner Felder fällt, habe ich den Nutzen als Dungmittel davon – – –!«
»Die Bewirtschaftung eines solchen Gutes muß sehr interessant sein –.«
»Jawohl. Man erwartet es täglich, daß irgendeine Katastrophe alle Arbeit zunichte mache. Meistens kommt sie. Dann hat man die Genugtuung, auf sie vorbereitet gewesen zu sein als vorausschauender Landwirt. Man ist nicht düpiert worden von der Natur!«
»Ich bitte Sie, weshalb ist dieser dichte Zaun vorhanden und diese schwere, verschließbare Tür?!«
»Fragen Sie nicht! Es ist von jeher. Man wird schon gewußt haben, weshalb man es tat. Es ist nur unsere Schuld, wenn wir es vergessen haben – – –. An solchen Institutionen darf man nicht rütteln. Der Verwalter sagt: ›Herr, alles hat seinen Zweck. Es ist unnütz, darüber nachzusinnen‹ – – –.«
»Gibt es also keine Irrtümer auf einem Gute?!«
»Nein, auf einem Gute gibt es keine Irrtümer. Denn was gut ausgeht, kommt vom Direktor; was schlecht ausgeht, kommt von der unberechenbaren, unbesiegbaren Natur!«
Männer liegen am Rücken auf entsprechend gebauten roten Lederfauteuils ohne Füße und jonglieren mit den Füßen herzige Knaben. Sogenannte »Antipoden«, mit lebenden Wesen statt mit Riesenkugeln, Würfeln, Tischen, spanischen Wänden. Die Leiber der Knaben sind biegsam wie Kautschuk, es kann ihnen nichts geschehen, sie geben nach, jedem Schwünge; was man auch mit ihnen treibe, sie bleiben intakt! Die Knaben sind besser gewachsen als Mädchen und haben einen freudigen, begeisterten Gesichtsausdruck. Sie »arbeiten« wie edle dressierte Hunde bei einem gnädigen, verständnisvollen Herrn. Sie sind das Gegenteil von »verprügelt«. Sonst könnten sie nicht diesen leuchtenden, begeisterten Gesichtsausdruck haben! Alles kann man ihnen, den jugendlichen Artisten, einlernen, einschärfen, einprügeln, aber der Gesichtsausdruck bleibt die freie Wahl des unbezwinglichen Inneren! Ich schaue jedem Artisten nur in das Gesicht. Hier ist das Zeugnis eingeschrieben, ob er »berufen« ist vom Schicksal zum Artisten oder es sich »zugelegt« hat aus tausend Gründen! Nun, in dieser Gregory-Truppe ist solch ein »berufener« Knabe. Ein etwas scharfes nervöses Gesicht und etwas bleich unter der roten Schminke. Auch dieses fühlt man durch. Er ist Meister, ohne viel zu lernen. Er braucht nicht zu üben. Etwas in ihm verleiht ihm unerhörte besondere Elastizitäten. Seine Schwungkraft ist um vieles vehementer als die der andern reizenden Knaben. Er ist in allem wie ein Sieger, er ist allen innerlich um viele Längen vor, obzwar sie alle dasselbe vollführen. In ihm sind elektrische Spannkräfte aufgehäuft, mühelos vollbringt er, was andre sich »erworben« haben. Siehe, ein Genie des Turnens! Er macht das Unmögliche möglich in leichter Anmut! Er würde es »umsonst« leisten, auf Wiesen oder Dorfstraßen, die »Varietébühne« ist ihm nichts anderes!
Und da saß einer in der Proszeniumsloge ganz hart an der Bühne, so fünfzig Jahre alt, und murmelte: »Ist er nicht schöner, wertvoller als alle Frauen zusammen, die mich zerstört haben?!? Ich werde ihm morgen anonym eine Patek-Uhr schicken, Genf, von der Sternwarte geprüft, garantiert auf dreißig Grad unter Null, auf neunzig Grad über Null, mit Kupfermantel gegen elektromagnetische Einflüsse geschützt, zweitausendfünfhundert Frank wert, die ihm sonst niemand schenken würde! Und ich werde es erzählen, allen Damen; und wenn mich eine ironisch lächelnd dabei ansieht, werde ich sie ohrfeigen!«
Hans Schließmann bat mich dringend, doch am Freitag abend nach Hietzing ins Parkhotel zu kommen, wo der temperamentvolle, geschmackvolle Dostal von den 26ern konzertiere, in dem schönen, weiten Garten. Es wurde halb 12 Uhr nachts, und Schließmann war besorgt, daß ich noch die letzte Tramway erreiche. Sie fuhr aber an uns vorüber. In demselben Augenblick hielt ein eleganter Gummiradler knapp vor uns an, und zwei frische Mädchenstimmen jubelten: »Peter, Jessas, Peter, was machst denn du da in Hietzing?!« – »Ich habe die letzte Tramway versäumt«, erwiderte ich geschäftsmäßig und ohne Begeisterung der Freude des Wiedersehens mit den herrlichen urwüchsigen Kindern. – »Tu dir nix an, Peter, wir nehmen dich mit in unser'm Wagen, wir fahren eh nach Wien, ah, so ein glücklicher Zufall –.« Hans Schließmann stand gerührt da im Angesichte solcher wirklich seltenen glücklichen Zufälle, dankte den guten, schönen, herzigen Mädchen im Namen seines beneidenswerten Freundes und sagte, daß das »goldene Wiener Herz« doch noch nicht ganz im Aussterben begriffen sei, wie er bisher vermutet habe –.
Wir fuhren davon. Bei dem Mariahilfer Berg sagte das eine der süßen Mädchen: »Peter, was wirst also dem Fiaker bezahlen?!« – Ich erwiderte: »Nichts. Ich bin eingeladen worden.« – »No, no, tu dir nix an, Schmutzian, wegen die paar Krandln.« Für den Zahlenden sind es immer »Kronen«, für den, der bezahlt wird, nur »Krandln«. Ich erwiderte: »Ich bin euer Gast.« – »Wärst vielleicht zu Fuß nach Wien gehatscht, du Narr?!« – »Ich hätte mir vielleicht im Notfalle einen Einspänner genommen.« – »No, also, sixt es, jetzt kommen wir aufs Gleiche.« – »Also gut, ich werde die Taxe für den Einspänner erlegen – –.« »Da schau her, im Gummiradier fahren und Einspännertax' zahlen, geh, i wer mi glei giften –.« – »Also, bitte, wieviel habe ich zu bezahlen?!?« – »Zehn Kronen, es is eh kein Geld.« – Ich fand das zwar nicht, daß es kein Geld sei, aber ich fragte: »Wieso, bitte, zehn Kronen?!?« – »No, san mir früher, bevor mir di aufg'fischt haben, du Schnorrer, net ein bisserl in Hietzing herumg'fahren, bei so an' schönen Abend, mir scheint, du gönnst uns dös not!?!« – Ich erwiderte, daß ich ihnen es herzlich gönne. – »No, also, du bist ja ein g'scheiter Mann, du bist ja unser Peterl – – –.« Also das Peterl bezahlte die zehn Kronen. »No, und mir san gar net auf der Welt?!«, sagten die beiden Süßen. »Unsere Gesellschaft ist gar nix wert, mir san nur die Zuwag zum Fleisch, da schau der eahm an – – –.« Ich gab einer jeden noch eine Krone. »Peter, Peter, wir haben dich immer für an' veritablen Dichter g'halten, für an' besseren idealisch veranlagten Menschen; no, sagn mer, es war nix – – –.« Ich ließ den Wagen halten, stieg aus. »Peter, bist bös?!« – »Nein. Weshalb sollte ich bös sein?!« – »No, war's net ganz unterhaltsam?!« – »Sehr«, erwiderte ich. An Hans Schließmann schrieb ich sogleich noch in der Nacht eine Karte: »Was Ihre Korrigierung Ihrer Ansicht über das im Aussterbeetat befindliche ›goldene Wiener Herz‹ betrifft, so bitte ich Sie sehr, mit der Korrektur bis zum nächsten Freitag zu warten, wo Dostal von den 26ern wieder im Parkhotel Hietzing konzertiert. Da erfolgen nämlich mündliche Aufklärungen – – –.«
Am nächsten Tage traf ich das eine der süßen Mädchen. »›Peter, gut, daß ich dich treff‹. Kaum warst du gestern ausgestiegen, so durfte ich mich auf den Bock setzen und kutschieren, und der Herr Fiaker ist zur Mitzl in den geschlossenen Wagen eingestiegen. Und dann hat er uns deine zehn Kronen geschenkt. Das is a Kavalier, da nimm dir ein Beispiel!« Ich schrieb sogleich an Hans Schließmann: »Ihre erste Regung war die richtige. Es gibt doch noch ein ›goldenes Wiener Herz‹ – – –.«
Zwei kleine Cafétische, rund, in einem Eck, vis-à-vis voneinander.
Die Mitzi kommt, setzt sich an den einen Tisch.
Der Kellner: »Fräul'n Mitzi, wollen S' nicht an Ihrem gewohnten Tischerl Platz nehmen?!?«
»Nein, hier bleib' ich – – –.«
»Fräul'n Mitzi, Fräul'n Mitzi, dös hätten S' net tun sollen, Gott, dös hätten S' net tun sollen; dös ganze Lokal is auf – – –. Gehn S' setzen S' Ihnen an Ihren gewohnten Tisch und machen S' kane G'schichten –. Wann Er kummt und dös merkt – – –!?«
»Bringen Sie mir ein Glas Tee halb mit Rum gefüllt!«
Kellner ab.
Der Fiaker Karl erscheint. »Fräul'n Mitzi, i kumm nur g'schwind herein, es Ihnen melden, der Herr Franz is im Lokal, er wird glei da sein – – –.«
»Schau'n S' daß S' abfahrn, kümmern S' Ihna um Ihnere Gäul'.«
»Fräul'n Mitzi, san S' nicht so leichtsinnig, mir haben Sie alle gern – – –.«
»Warum soll i net leichtsinnig sein?! Wen kümmert das was?! Soll er kommen, der Herr Franz – – –! Malheur!«
»Er wird stechen – – –.«
»No wird er; Malheur – – –!«
Der Fiaker entfernt sich.
Der Herr Franz kommt langsam, setzt sich an seinen gewohnten Tisch.
Er steht auf, kommt langsam, plump schwerfällig an den anderen Tisch, stützt den rechten Arm auf die Tischplatte: »Sö wollen allein sein?!?«
»Nein. Warum?! Keine Spur. Warum soll ich allein sein wollen?!? Lächerlich.«
Pause. Beide wie Raubtiere vor dem Morden.
»Sö wollen also nicht allein sein?!?«
Sie trinkt ihren Tee.
Pause.
»Sö wollen also doch allein sein?!«
»Ich bitte, gehen Sie an Ihren Tisch zurück und belästigen Sie mich nicht – – –!«
»Belästigen, ja, belästigen – – –!«
Sie schaut ihn an wie eine stechende Kreuzotter, wutentbrannt.
»Seit wann belästige ich Sie, Fräulein?!«
»Seit lange schon – – –.«
»Es wird nicht seit so lang her sein – – –.«
»O ja, seit sehr lang her – – –.«
»Es wird seit vorgestern sein, beim Fünfkreuzertanz im Prater – – –.«
Sie lächelt perfid-höhnisch.
»Warum lachen Sie?! Sie, spül'n S' Ihner net mit mir! Net sich mit mir spül'n, Mitzerl – – –.«
»Ach was, gehn S' an Ihren Tisch zurück und lassen S' mich in Ruh'. Tu' ich Ihner was, no also! Lassen S' mich ruhig meinen Tee trinken – –.«
Er geht an sein Tischchen zurück. Wie ein gepeitschter Tiger im Käfig.
Isabella kommt, bleibt zwischen beiden Tischchen stehen, schaut beide an.
Mitzi: »No, was stehn S' da?! Was gibt's zu schauen?!«
Isabella: »Darf ich nicht da stehen?! Regen S' Ihna net auf, Fräulein, Ihnen schau' ich eh net an!«
Mitzi: »Freches Mensch!«
Isabella: »Wer is Ihr freches Mensch, wer?!?«
Franz: »Isabella, pausier! geh' weiter, was hast davon?!?«
Mitzi zu Franz: »Laßt du mich beleidigen?! Wann ich an deinem Tisch sitz'?!?«
Franz: »Laß sie, sie hat dir nix tan, was kümmert sie dich?!«
Isabella geht ab.
Mitzi: »Mir scheint, die fliegt auf Ihna, die blattersteppige Funzen, und Se protegieren sie noch. Wann s' noch amal herkommt, kriegt s' a Watschen! So a schiechs Luder, wann s' wenigstens nach was gleich sähert – – –!«
Pause.
Beide trinken Tee mit Rum.
Isabella kommt wieder, geht an den Tisch der Mitzi heran, sagt laut – deutlich: »Fräul'n Mitzi, der Herr Poldl von vorvorgestern, vom Fünfkreuzertanz im Prater, is draußen. Er schickt mich herein, Ihnen die Post zu sagen, daß er verabredetermaßen draußen auf Sie wartet – – –.«
Die Mitzi blickt sie haßerfüllt an, beginnt dann bitterlich, bitterlich zu weinen.
Franz: »Wein' nicht, Mitzerl, mir gehören zusamm'! Schau'n S' daß S' abfahr'n, Sie Koberin, richten S' uns keine Posten aus! Es wird doch noch eine Anständigkeit geben in dera Welt – – –!«
Mitzi steht auf, gibt der Isabella eine Watschen –.
»Eh bien, lequel vous plait le plus des deux?!?«
»L'écrivain me plaît plus que le journaliste –.«
» Tous les deux sont des journalistes, madame – – –.«
»Ce n'est pas possible. Ils ont les mines tout-à-fait différentes – – –.«
»Un journaliste peut tout écrire ce qu'il pense, c'est son talent! Mais l'écrivain ne peut pas tout écrire ce qu'il pense! Ce manque de talent, c'est son talent!«
»Et comment cela se mire-t'il dans les mines?!?«
»L'un est franc et ouvert, comme un marchand, qui a donné ses meilleures marchandises, l'autre est timide et de mauvaise conscience, parce qu'il a retenu en soi-même ses bijoux les plus précieux – – –!«
»Mein liebes, getreues Kind, ich kenne alle, alle deine Ehebrüche, deine Treuebrüche, die du an mir begangen hast – – –.«
»Wie, was, um Gottes willen, bist du irrsinnig geworden, willst du mich beleidigen, zu Tode kränken?!«
»Ruhig! Das Maul gehalten! Kusch! Es gibt in den Restaurants, in den Cafés, in den Seebädern, am ›Gänsehäufel‹, eine ganze Anzahl von immerhin sehr netten Männern, die seit Monaten mit der Empfindung herumgehen: ›Die hätt' ich unter Umständen haben können! Aber wozu sich einlassen?! Wer weiß, wie es dann ausgeht; lieber nicht – – –.‹
Weißt du aber, worin die Treue einer Frau besteht, meine Liebe?!?
Daß es auf Gottes Erde keinen einzigen Mann gebe, der, selbst ganz blöd versunken in seinen schmählichsten Eitelkeiten, sich das je auch nur eine Sekunde lang einbilden könnte! Das sei eure einzige Treue, daß jeder andere hoffnungslos dahinsterbe!«
»O Herr über mein Leben, ich habe nichts getan, ich bin doch allen Gefahren ausgewichen – – –.«
»Gefahren ausgewichen?!? Wo gibt es denn Gefahren für eine wirklich getreue Seele?! Das Wort ›Gefahren‹ ist schon ein Verbrechen!«
Er schlägt und ohrfeigt sie.
»O Herr, ich war also dennoch eine Sünderin!«
»Ich habe gesät und geerntet zugleich«, dachte ein Mann, als er einem armen Kinde auf der Straße einen mechanischen Blech-Hampelmann kaufte. »Ich habe fast ein Wuchergeschäft gemacht nur mit einer Krone 50!«
Fressen ohne Hunger, saufen ohne Durst, lieben ohne Liebe – – – das wollen sie! Keinerlei Achtung vor diesem einzigen Heilmittel: Die unentrinnbare Stunde ist gekommen!
Die meisten Mütter geben ihren Töchterchen den Rat: »Erwirb dir seine Achtung – – –.«
Sie müßten ihnen aber den Rat geben: »Erwirb dir seine Verachtung!«
Wehe der Frau, die vom Manne nicht verachtet wird und nicht mißverstanden wird als hysterische, halb irrsinnige Persönlichkeit!
Wehe der Frau, die dem Manne verständlich ist! Wehe der Leichtfaßlichen, in jeder Beziehung! In ihrer Rätselhaftigkeit allein liegt ihre Persönlichkeit! Eine Frau verstehen, ist ihre Verurteilung! Das hat sie mit dem Genie gemeinsam! Mit beiden ist es daher gleich schwer, zu verkehren!!! Wenige nehmen sich die Mühe, sie zu »ergründen«. Die meisten ziehen sie an ihre eigene »Oberfläche«! Die Frauen und die Genies denken daher: »Weshalb soll ich mich flach machen lassen, wenn ich doch tief bin?!?« Der Spinat fühlt: »Was bin ich für eine wunderbare Anordnung von lebendigen Zellen, was für ein Mysterium von geheimnisvollem Leben und Walten!?« Aber der Koch macht ein einfaches Püree daraus, und der Mensch frißt es, ohne Phantasie! Also verfährt man mit der Frau und mit dem Genie. Man appretiert sie zu gemeinnützlichen Gegenständen. Man verkocht sie und serviert sie in verdaulichem, genießbarem Format. Daher sagt der verkochte Dichter so oft zu der verkochten Frau: »Siehe, ich verstehe dich, und du verstehst mich! Lassen wir uns also ruhig verspeisen!« Und sie schließt die müden Augen und läßt sich verspeisen, in verdaulichem, genießbarem Format! Wehe den Fressern und Verdauern!
Ich gebe es zu, daß ich einen Fanatismus für besonders aparte Spazierstöcke besitze, vielleicht sogar der Beginn eines kommenden Irrsinns, wobei man dann an schönen Spazierstöcken seine ganze Lebensfreude hat! Der Wald, der See, Frühling und Winter, die Frau, die Kunst versinken, und es bleibt dir als einzig Lebenfüllendes: der schöne Spazierstock! Obzwar ich diese heimtückische Entwicklung einer Vorliebe nicht bei mir befürchte, kann dennoch jede Lieblingsempfindung leider in unserem Nervensystem zu einer »idée fixe« auswachsen, sich organisieren. Nun, ich kenne sämtliche Spazierstöcke in den Wiener Geschäften, habe überall meine ausgesprochenen Lieblinge, die merkwürdigerweise am seltensten weggekauft werden. Wundert Sie das, Herr Peter Altenberg, bei Ihrem verschrobenen Geschmack?! Eine junge Dame schenkte mir einst einen solchen tief ersehnten Spazierstock, der zwei Jahre lang in der Auslage stand. Er bestand aus hellgrauem Kapziegenhorn und Zuckerrohr. Es war ein äußerst gelungenes Wiener Fabrikat nach englischem Muster und kostete nur 11 Kronen. Zuerst nähte mir die junge Spenderin ein Futteral aus dünner Rehhaut, mit brauner Seide, für den Griff.
Aber da sagten alle im Café und im Restaurant: »Was fehlt Ihrem Herrn Stock?! Hat er sich verkühlt bei der schlechten Witterung?!?«
Einer sagte: »Peter Altenberg, Sie sind gerade auffallend genug. Lassen Sie diese gewaltsamen Anstrengungen, sich lächerlich zu machen. Es geht auch von selbst!«
Mein Spazierstock wurde oft umgeworfen. Einmal sagte mir ein Herr: »Schauen Sie nicht so vorwurfsvoll, glauben Sie, ich habe es absichtlich getan?!?«
»Nein«, erwiderte ich, »das glaube ich nicht; denn welchen Grund sollten Sie haben, meinen armen Spazierstock absichtlich umzuwerfen?!«
»No also, sehen Sie, nur ein bissel vernünftig sein«, sagte der Herr und verzieh mir.
Infolge dieser peinlichen Ereignisse trug ich in jeder Woche meinen geliebten Spazierstock in die kleine Handlung, wo er gekauft war, und bat, die Schäden durch Politur usw. usw. wieder auszugleichen. Der Verkäufer sagte immer liebenswürdiger: »In zwei bis drei Tagen! Für die Reparatur ist nichts zu bezahlen!« Allmählich merkte ich es, daß er mich für einen »Stock-Narren« hielt und den Stock niemals auch nur dachte in die Reparatur zu geben. Er sagte immer: »Soeben ist der Stock aus der ›Fabrik‹ gekommen! Wie wenn Sie es erraten hätten!« Einmal merkte ich mir eine kleine Abschürfung.
»Diese kleine Abschürfung ist aber noch immer vorhanden«, sagte ich bescheiden.
»Ja, das geht eben bereits in die organische Struktur des Ziegenhornzellgewebes, das kann selbst unsere Fabrik nicht mehr herausbekommen – – –.«
Ich dachte: Hättet ihr ernstlich gefeilt, geschabt, politiert, so wäre von meinem wunderbaren Kapziegenhorngriff heute nichts mehr vorhanden. Wie danke ich euch daher für eure fürsorgliche Weisheit: »Er ist ein Stock-Narr! Man muß ihn schonen!«
Ich bekam als Kind einen Vorgeschmack von der Ungerechtigkeit des Lebens. Und zwar so: Ich war ein exzeptionell furchtsames Kind, man könnte fast sagen pathologisch. Denn wenn jeden Samstag, abends, die französische Bonne stundenlang ihren Kasten draußen ordnete, verblieb ich in meinem Bette in Todesangst im einsamen Zimmer, direkt in Todesschweiß. Das Kinderzimmer war durch vier bis fünf Zimmer von dem »gewissen Orte« getrennt, und abends mußte man durch diese stockfinsteren großen Räume bis in den beleuchteten »kleinen Ort«. Eines Abends schickte mich meine schöne vergötterte Mama wieder hin. Ich lief in Todesangst hin, in Todesangst zurück. Als ich erschöpft vor der Kinderzimmertür ankam, und mich gerettet dünkte, überlegte ich mir, daß man es mir nicht glauben würde, daß alles so rasch sich habe ereignen können. Infolgedessen blieb ich pfiffig hart an der Türe noch eine Zeitlang stehen. Da öffnete Mama die Tür und erblickte mich an derselben kauernd. »Ah, da bist du also die ganze Zeitlang gestanden, aus Furcht, durch die dunklen Zimmer zu gehen!? Also vorwärts, ich werde sehr bitten, monsieur!«
Keine Versicherungen, keine Tränen halfen. Ich mußte den Leidensweg, ganz zwecklos diesmal, noch einmal durchmachen – – –.
Jeder Mensch hat irgendeinmal einen Höhepunkt seines Gesamtorganismus. Viele haben ihn auf einer Bergpartie, wenn sie auf einer Alm rasten, oder in der Sennhütte, oder auf dem Gipfel. Da kommt der Friede über sie, und die Schönheit der Erde macht sie weltentrückt und gutmütig, friedevoll und bewegten Herzens! Oder auf einer Eisenbahnfahrt. Man rast an duftenden windbewegten Feldern vorüber; an kleinen Waldungen; an unbekannten Ortschaften, die in der trostlosen Ebene auftauchen; an wundervollen Gärten mit Tennisplätzen und Villen; an Petroleum-Waggons, die aussehen wie graue Ungetüme; an Waggons, die die Welt durchrasen, angefüllt mit Millionären, außen braun mit goldenen Inschriften; an Wiesen mit Hasen, die dem Tode geweiht sind; an blinkenden Tümpeln, an nackten Knaben, die gegen die Vorschrift baden –. Oder in den Opern »Rheingold«, »Carmen«, »Götterdämmerung«! Überall, überall gibt es Höhepunkte, wo der Mensch des Alltages plötzlich die Flügel ausbreitet und »über sich selbst« hinüberschwebt, in seine eigenen reinen Atmosphären! Er wird endlich er selbst! Ich kannte einen ganz vergrämten Advokaten. Eines Tages erblickte er ein Einspännerpferd, dem der Kutscher einen grünen Zweig mit Flieder so ungeschickt hinter dem Ohr befestigt hatte, daß das Pferd ununterbrochen sich bemühte, den lästigen Gegenstand zu entfernen. Da ging der Advokat hin, nahm den Zweig weg, und überreichte dem Kutscher fünf Kronen. Dieser sagte: »Ich hab' ja dös Viech nur ausstaffieren wollen – – –.« Der Advokat ging in seine Kanzlei und erledigte eine Menge wichtiger und schwieriger Dinge, die aber nicht seine »Höhepunkte« repräsentierten.
» Sei, die du bist!
Nicht mehr, nicht weniger!
Aber die sei!
Und in allem und in jedem – – –.
Willst du's versuchen, dir selbst zu entrinnen?!
Vergeblich!
Dein Gott in dir läßt es nicht zu – – –
Und auch dein Satan in dir hält seine Beute!
Folge doch lieber
deinem Sterne,
Der vielleicht schon deinen Urvätern milde oder verhängnisvoll geleuchtet – – –.
Und solltest du dabei in den Abgrund stürzen,
So sei es wenigstens der
deine, in dem du zerschellst!«
Sie hatte alles und hatte doch eigentlich gar nichts.
Sie war wunderbar schön, aufgezogen zwischen Wiesen und Wäldern, aber einem städtischen Millionär anheimgefallen!
Dante Alighieri hätte sich sieben Jahre lang um sie abgehärmt, und von ihren Lieblichkeiten seine dumpfen müden Gesänge entnommen – – –.
Aber sie ward falsch beraten, wie die meisten.
Sie wünschte es eben sehnlichst, daß Fräulein Anna sie beneide und daß Tante B. sie segne.
So opferte sie ihr Lebensglück.
Niemand half ihr, und sie stürzte daher in den Abgrund der Vergnügungen – – –.
Gott sah herab mit seinen ernsten milden Weltenaugen, und die Engel weinten bitterlich um ihn herum.
Da wurde sie auf einer rasenden Automobilfahrt, 90 Kilometer die Stunde, abends in dunstender Au, an einen alten Baum hingeschleudert und starb.
Bevor sie starb, blickte sie um sich, sah eine graugrüne, feuchtdunstige Landschaft voll von Wiesen und fernen Wäldern. Die Menschen um sie herum erkannte sie nicht mehr. Die Herren fuhren mit der Leiche langsam zur Stadt. Jetzt, jetzt hätten sie 120 Kilometer nehmen können die Stunde, da nichts mehr zu befürchten war für die süße Frau – – –. Aber da fuhren sie fast im Schritt – – –.
Im Frühling nimmt man sich einen Anlauf zum Besseren. Man spürt sich so als alten Sünder. Man möchte eben nicht hinter der Natur und ihrem heilenden Ungestüm zurückbleiben! Man möchte neue Kräfte säen im winterlich verdorrten Organismus. Man beginnt mit Trinkkuren und weiteren Spaziergängen. Man spricht von blühenden Bäumen, von weiten Ausblicken auf die Ebene, von kleinen Hausgärten, von Wegen in Wäldern. Man glaubt gutmütiger zu werden, oder man redet es sich jedenfalls ein. Man glaubt seine Schärfe eingebüßt zu haben und Gott und der Natur nähergetreten zu sein mit einem Schritte! Man verzeiht im Angesichte der Dotterblumen am Bachesrande, und das Singen des Wässerleins macht uns schicksalergeben! Unsere Geliebte kann uns kein Leid mehr antun, denn wir bemühen uns in diesen lichten Frühlingstagen, sie ganz, ganz zu verstehen; unsere Kinder können uns nicht mehr enttäuschen, denn siehe, sie gehen eben frühlingshaft in ihre eigene blühende Welt hinein. Wir spüren die Erde dampfen vor Keimglut, und wir spüren unsere eigenen Winterlichkeiten! Und zugleich erblühen unsere letzten Schätze, die tragischen Erfahrungen, in verklärter Verjüngung in unseren Herzen wie Weidenkätzchen und Birkenblüten. O Mensch, auf deinen äußeren Winter folgt deine wirkliche innere Jugend, vielleicht die einzige, die du wirklich besitzest und genießen kannst!
Sissie B., Lillie R., ihr waret gutmütig, sanftmütig wie edle Kinder. Ihr wurdet zutraulich, wenn man euch lieb hatte. Ihr kämet wie scheue Rehe aus dem Waldesdickicht eures Mißtrauens, falls man euch liebevoll-gerührt betrachtete. Eure Art zu gehen war schon wunderbar. Und das allein bewirkte bereits tiefe Anhänglichkeit in mir. Aber der »liebende Mann« hat für diese göttlichen Details kein Auge! Er will besitzen, sich erlösen, sich berauschen, sich betäuben. Was kümmert ihn euer Schreiten?! Er hat keinerlei Achtung vor euerem stillen Dasitzen und in die ferne Heimat hineinblicken, in fremdem Lande. Er hat keinerlei Achtung vor »kindlicher Verlassenheit«, und vielleicht fehlen euch zwanzig Kronen für die Wäscherin – – –.
Ihr mußtet trinken, ohne daß euch zu trinken war, ihr mußtet lachen, ohne daß euch zu lachen war, ihr mußtet tanzen; aber zu tanzen war euch immer!
Und dann fuhren sie in ein neues »Engagement«. Und die eine schrieb mir: »Grüßen Sie herzlichst Herrn B. K. Fragen Sie ihn, weshalb er mich zuletzt so sehr gekränkt und beleidigt hat?! Ich habe ihm doch so schön vorgetanzt und ihm seine englischen Lieblingslieder alle noch zuletzt vorgesungen – –?!?«
Der Dichter sah im Apollotheater die Seelöwen der Dresseurin Madame Juliette. Ihre Kunstleistungen entzückten ihn; aber ihr Wesen, ihre gutmütige Liebenswürdigkeit, ihre ›Menschenfreundlichkeit‹, ihr gutwilliges, freudiges Bemühen rührten ihn tief; und er begriff es nicht, daß irgendein Reicher, mit Glücksgütern Begabter, ein vom Schicksal Gesegneter, sich so ein wunderbares Tier nicht erstünde, um diese getreuen Augen, diese mysteriöse Anhänglichkeit an den Pfleger genießen zu können in seinem empfindsamen Herzen – – –. In ihrer Ungeschicklichkeit geschickt; behend in Unbehendigkeit; tolpatschig und anmutig zugleich; und mit den Augen Treue spendend und unermeßliche Anhänglichkeit – – –. Er dachte sich in einem Parke ein wunderbares Bassin aus mit einem flachen Felsen zur Sonnentrocknung. Und eine Dame käme hin, täglich zweimal, mit einem Weidenkorbe voll von Fischen. Da schwämme in lieblicher Hast der Seelöwe heran, erhöbe sich, bellte leise und blickte die Herrin liebevoll an. Und diese setzte sich an den Rand des Bassins, spräche freundschaftlich zu dem klugen Tiere, das sie nicht versteht und dennoch versteht! Und eines Tages streichelte sie ganz besonders zärtlich den glatten feuchten Kopf der Robbe und sagte: »Du bist ja doch der einzige, der mich wirklich lieb hat und versteht auf Erden – – –.«
So träumte der Dichter. Aber am nächsten Abende las er folgendes in der Zeitung: »Gräfin Z. hat der Dresseurin Madame Juliette den Seelöwen ›Robespierre‹ um 12.000 Francs abgekauft für ihr ungarisches Gut.«
Da träumte der Dichter: »Wahrscheinlich bedarf die Edle gerade jetzt aus irgendeinem Grunde eines solchen besten, sichersten und getreuesten Freundes – – –!«
Der Doktor sagte mir heute, ich sei krank. Also gut, nun weiß ich es; was ich eigentlich übrigens schon lang gespürt habe – – –. Schon lange.
Ich kann also nichts mehr für andere leisten, muß mich mit mir beschäftigen, um mich zu erhalten – – –. Ein unnatürliches Leben!
Eine schreckliche Melancholie überfällt mich daher, wie wenn Heuschreckenschwärme über blühende Gegenden kommen, alles, alles ausrottend, vernichtend.
Die Angst vor dem Tode macht mich lieblos, gereizt, hartherzig und ungerecht, alles vernichtend.
Mein Gatte spürt mich seitdem als eine Belastung, ohne es zu sagen.
Er trägt sein dumpfes Schicksal, aber nicht mit dem »inneren Jauchzen« des ergebungsvollen Edelmärtyrers! Des unter Gottes Schutze Stehenden!
Er hat eben nur ein »schlechtes Geschäft« mit mir gemacht.
Das ist es. »Die Seelenaktien« sind gefallen – – –.
Er hat zu wenig Sentimentalität, um mein Hinsterben als »tragisches Schicksal« mitgenießen zu können, wie ich selbst, das Opfer!
Er denkt an die Schönen, Gesunden, Frischen, Haltbaren, die ihm entgangen sind durch mich! Daran denkt er!
Ich nehme »Sorysin« und »Guajacose« löffelweise des Tags; aber seine Rücksicht und Fürsorge haben etwas Fadenscheiniges; die Milliarden Fäden der Freundschaft sind schleißig geworden. Statt mein Hinsterben als einen ewigen Verlust entsetzt zu betrauern, steht er verzweifelt vor dem Verhängnis, das gerade in seinem Leben sich ereignet – – –.
Seine Liebe wächst nicht durch die tragischen Verhängnisse, sondern stirbt langsam, unmerkbar ab. Er ist also kein Künstler. Wenn ich jetzt, jetzt einen fände, der mein Hinsterben miterleben, mitbetrauern könnte!?!
Ich würde mich gerne eine »Ehebrecherin« schimpfen lassen, um das zu erleben als Sterbende, daß einer mir in ewiger Trauer nachstürbe – – –.