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Sehen wir vor allen Dingen zu, welcher Art Leute unsre hauptsächlichsten Freunde sind, und wie wir im gewöhnlichen Leben mit ihnen verkehren. Es gibt eine Zahl von typischen Freunden, welche sich mit mancherlei, aber geringen Abänderungen fast in allen Gruppen vorfinden, fast wie gewisse bestimmte Rollen in jeder Schauspielergesellschaft. Wir wollen sie in Reih und Glied stellen und Heerschau über sie abhalten. Vielleicht erkennen wir in jedem von ihnen einen unsrer jetzigen oder früheren Freunde, und alle zusammen werden uns einen großen Theil der kleinen psychologischen Chronik unseres täglichen Lebens vorführen. Wir können sie leicht ordnen und unter verschiedene Benennungen bringen, wie die intelligenten Freunde, die Herzensfreunde, die spaßhaften Freunde, die herrschsüchtigen, die nachgiebigen, die ungewissen, die unbeliebten, die langweiligen, die groben, die kränklichen, die gesunkenen, die heftigen. Aber es ist besser, sie nach und nach zu prüfen, wie sie uns einfallen, in derselben Unordnung, in der sie sich im Leben darstellen. Ich stelle die Gesellschaft vor.
Der erste, der herantritt, ist der, welchen wir von allen am meisten fürchten. Man könnte ihn »den Bändiger« nennen. Er beherrscht uns, wie selbstverständlich, ohne es zu wollen und ohne seine Überlegenheit im geringsten zu mißbrauchen, und das vermehrt noch seinen Einfluß und unsere Unterwürfigkeit. Er ist gewöhnlich lange Zeit hindurch für uns ein Räthsel gewesen. Erst nach langer Untersuchung haben wir den Grund seiner Übermacht entdeckt. Worin ist er uns überlegen? Er hat nicht mehr Verstand, nicht mehr Bildung, nicht mehr Muth, nicht mehr Schlauheit oder Kühnheit oder Reichthum als wir selbst. Er hat nur eins voraus: er ist streng logisch in allen seinen Handlungen, wie in seinen Reden. Darum können wir ihn von allen Seiten erproben: seine Rüstung ist so dicht und wohlgefügt, daß wir nicht die kleinste Öffnung oder Schwäche entdecken können. Unter zehn Gesichtern von Freunden, welche über einen boshaften Scherz, den wir über einen Abwesenden machten, lachen, bleibt sein Gesicht allein ernsthaft; und dieses unbewegte Gesicht, welches eine Mißbilligung zugleich ausspricht und verbirgt, bleibt uns dann lange im Gedächtniß, unangenehmer als ein offener Vorwurf. Wir können tausend schöne und verständige Dinge sagen, welche die Bewunderung des Zuhörerkreises hervorrufen, aber wenn uns in diesem Wortstrom etwas Kindisches oder eine gewagte Behauptung entschlüpft, so macht er sie bemerklich, ruhig, ohne Bosheit, wie wenn er eine Pflicht erfüllte, mit einer ganz einfachen Bemerkung, der wir nichts entgegenstellen können, die uns aber unsere ganze Selbstzufriedenheit verbittert. Wenn wir uns mit ihm unterhalten, nützen uns die Künste der Rede, des Geistes zu nichts; wir fühlen uns entwaffnet und fast immer zur Vertheidigung gezwungen, statt anzugreifen. Indem er immer das Wesentliche in unsern Reden aufsucht, zwingt er uns fortwährend, die Armuth unsres Geistes zu enthüllen, und da er, als gewissenhafter und bescheidener Manu vielmehr zu lernen wünscht, als das, was er weiß, zu zeigen, so versetzt er uns jeden Augenblick durch seine scharfen und direkten Fragen in eine demüthigende Verlegenheit, welche der Eigenliebe und Unwissenheit jeden Ausweg abschneiden. Nach einer Stunde der Unterhaltung, während deren er nicht zwanzig Worte sagt und wir uns mit tausenderlei Geschwätz abmühen, um uns geltend zu machen, entdecken wir dummer Weise hundert schwache Seiten an uns selbst, und wie wir dies plötzlich, aber zu spät wahrnehmen, fühlen wir uns beschämt und gereizt. Es ist keine Aussicht vorhanden, ihn bei einer Zugehörigkeit, einer Lächerlichkeit oder einem Unrecht zu überraschen; er ist immer auf seinem Posten, auf seiner Hut, und seiner selbst sicher. Das Wenige, was er sagt, mag wenig bedeuten; aber man mag es hin und her wenden, soviel man will, so wird man keine Möglichkeit finden, ihm zu widersprechen. Wenn wir bisweilen bei ihm einen Irrthum entdecken, beeilen wir uns mit Freuden über ihn herzufallen, um ihn zu demüthigen, aber unsere Freude wird plötzlich zunichte, wenn wir ihn selbst sich freiwillig verbessern sehen, ohne Anstrengung, ohne einen Schatten von Scham oder Ärger; und zuletzt schämen wir uns statt seiner, da wir bemerken, daß ihm unsre boshafte Selbstgefälligkeit nicht entgangen ist: ein neues Zeichen seiner Überlegenheit, die wir nicht anzuerkennen verstehen. Tausendmal nehmen wir uns vor, ihn zu überwinden, wir greifen ihn mit vorbereiteten Waffen, auf selbstgewähltem Boden ungestüm an, aber er empfängt unsern Stoß, ohne in Verwirrung zu gerathen, ohne unsere Absicht auch mir zu ahnen, und statt den Kampf aufzunehmen, steht er dabei und sieht uns allein kämpfen und uns abmühen, mit nachsichtigem Lächeln, welches unsern Arm lähmt. Eines Tages endlich, aufgebracht über sein Beharren bei einer richtigen Meinung, um derentwillen wir die Unklugheit begangen haben, ihn anzugreifen, schleudern wir ihm ein beleidigendes Wort in's Gesicht. Ah! Diesmal haben wir es wirklich erreicht. Wenn wir ihm dann ins Gesicht sehen,
bemerken wir, daß wir ihn nicht in seinem Stolz, sondern in seiner Herzensgüte gekränkt, ihn nicht wie ein Kavalier beleidigt, sondern ihm wie ein Lastträger einen Schlag versetzt haben. Sein Antlitz, das wir zornentbrannt zu erblicken glaubten, drückt nur peinliches Erstaunen, einen freundschaftlichen, traurigen Vorwurf aus, der uns zwingt, die Augen niederzuschlagen. Nun sind wir erst recht gezwungen, in ihm unsern »Bändiger« zu erkennen und uns zu sagen: Ja, es ist wirklich wahr, der Geist ist das Schwert, das Wissen ist der Helm, der Witz ist der Federbusch, die Reputation ist der Mantel; aber der Mann selbst verbirgt sich unter alledem, er liegt im Charakter. Und er ist mehr Mann, als wir.
Ein andrer Typus ist der diplomatische Freund. Wir weichen in tausend Hinsichten von einander ab; uns verbindet eine einzige Ideenkette oder vielmehr der Faden einer einzigen Idee, auf welchem unsre Freundschaft sich im Gleichgewicht
hält, wie der Seiltänzer auf dem Seil. Wenn unsre Unterhaltung diese Idee verläßt, so verstehen wir uns nicht mehr, ja wir können das Gespräch nicht weiter führen, es sei denn, daß wir eine von jenen Eisenbahnunterhaltungen führen, welche nichts bedeuten. Und so verkehren wir fast immer mit einander. Alles, was der eine sagt, bejaht der andre, aus Höflichkeit, aber flüchtig, um seiner eignen Meinung nichts zu vergeben. Wir behandeln uns mit tausend zarten Rücksichten. Unsre Reden sind ganz mit Komplimenten, mit höflichen Phrasen, mit Ausrufen erheuchelter Bewunderung oder Beistimmung durchwebt und von stummen, aber beredten Blicken begleitet, welche fortwährend der Bedeutung der Worte widersprechen oder sie berichtigen, während die höflich beistimmenden Bewegungen des Kopfes die Widersprüche und Berichtigungen wieder aufheben. Und doch sind wir gern beisammen, wir lieben beide dies gymnastische Spiel, zu dem wir uns gegenseitig zwingen, als eine nützliche Übung des Geistes und der Rede. Wenn wir auseinandergehen, sind wir fast immer mit uns selbst zufrieden, denn wir haben uns überzeugt, daß wir in der Welt zu leben wissen. Wenn wir uns von fern sehen, grüßen wir uns mit einer lebhaften Handbewegung, und wenn wir zusammentreffen, will jeder dem andern die rechte Seite lassen, und so tanzen wir ein Ballett auf der Straße, ehe wir in Ordnung kommen. Im Winter laden wir die Flüche der Gäste auf uns, weil wir die Thüre des Kaffeehauses für den Wind offen halten, da keiner von uns zuerst eintreten will. Von unsern Thaten sprechen wir wenig oder gar nicht; aber bei dem kleinsten Mißgeschicke kann er für den Ausdruck seines Mitgefühls kein Ende finden, und über das geringste Glück, das ihn betroffen hat, freuen wir uns unendlich, mit vielen Worten. Dabei wissen wir sehr wohl, daß wir Beide den Ausdruck unsrer Gefühle übertrieben haben, aus Furcht, er möchte, der Wirklichkeit gemäß dargestellt, im Vergleich zum Komplimentirbuch etwas mager ausfallen. Im Ganzen genommen sind wir Freunde; aber um beisammen sein zu können, müssen wir, so zu sagen, den Geist ein wenig schief halten, wie zwei Schielende die Köpfe drehen müssen, wenn sie sich in die Augen sehen wollen. So vergehen Jahre, ohne daß die Art unsrer Freundschaft sich ändert. Alle Unterschiede unsrer Natur und unsrer Ideen werden immer stärker, aber wir bemerken es Beide nicht, denn wir vervollkommnen uns allmählich immer mehr in der Kunst, sie zu verbergen, und andrerseits wird das Band der einen Idee, die uns verbindet, immer fester. Zu einem Kampfe mit ihm fehlt uns die erste Bedingung, der Boden. Er kümmert
sich nicht um unsre Freunde, und wir kennen die seinigen nicht, er lebt in seiner eignen Welt, die uns herzlich zuwider ist, wie die unsrige ihm; wir treffen und unterhalten nus an der Grenze zweier feindlichen Staaten, wie zwei höfliche Gesandte. Nur einmal waren wir im Begriff, auf einander zu stoßen, aber wir wichen beide zu rechter Zeit zurück, erschreckt durch den Gedanken, das mit so viel Fleiß und Mühe errichtete Gebäude in einem Augenblick zusammenstürzen zu sehen, aber wir verständigten uns schnell wieder, indem wir uns stellten, als hätten wir es anders gemeint. Bei alledem hat eine solche Freundschaft auch ihr Schönes. Der eine ist für den Andern immer eine neue Persönlichkeit, halb im Schatten
verborgen und von kleinen Geheimnissen umringt, welche das Gefühl der Freundschaft kitzeln und frisch erhalten. Wir reden einander mit unserm Titel an; ein jeder hat einen hohen Begriff von der Schwierigkeit, dem Adel, der Wichtigkeit der Stellung des Andern, wir loben uns gegenseitig und empfinden Vergnügen dabei, obgleich wir das Lob kräftig zurückweisen und es mit denselben Worten einander zurückgeben. Jeder von uns spricht mit den eignen Freunden gut von dem Andern, in achtungsvollen, höflichen Ausdrücken; in unserm Gedächtniß haftet kein bitteres Wort; die Barke unserer Freundschaft gleitet sanft über ruhiges und klares Wasser dahin, wie über Öl, und es bleibt uns eigentlich nichts zu wünschen übrig. Sollten wir erkranken, so würde unser Freund regelmäßig alle Tage anfragen lassen, wie wir uns befänden, und wenn wir den großen Sprung machten, würde er sicherlich nicht weinen, aber er würde wenigstens die Fingerspitze in einen Augenwinkel senken, mit dem aufrichtigen Wunsche, sie feucht zurückziehen zu können.
Der folgende ist Euer Abbild im Kleinen, ein jüngerer Bruder, welcher alle Eure Eigenschaften und Neigungen besitzt, zwar weniger ausgesprochen, aber in demselben Verhältniß zu einander. Daher eine wunderbare Ähnlichkeit der Neigungen, Gefühle, Gewohnheiten und Manieren. Aber er ist von sanfterer, nachgiebigerer Gemüthsart als Ihr, und Ihr beherrscht ihn. Eure Freundschaft fesselt ihn nicht blos, er geht ganz darin auf. Er findet in Euern Handlungen so vollständig seinen Willen, in Euern Worten seine Gedanken, in Euern Mitteilungen seine Gefühle wieder, daß seine Persönlichkeit mit der Eurigen verschmilzt, und er würde Euch vielleicht sein Leben hingeben, wenn es möglich wäre, damit Ihr es für seine Rechnung durchlebtet. Er freut sich Eurer Zufriedenheit, als wäre es seine eigne, unterwirft sich allen Euern Launen, verwebt in seine Sprache Worte und Phrasen, die von Euch stammen, und der Grund seiner Reden besteht fast ganz aus Stoff, den er heimlich aus Euerm Magazin entführt hat. Seit Ihr ihn kennt, hat er Euch noch kein einziges Mal widersprochen, denn wenn Ihr etwa eine Meinung aussprecht, die er nicht theilt, so schweigt er oder billigt sie gegen sein Gewissen; entweder, weil er es für unmöglich hält, daß Ihr Euch täuschen solltet, oder weil er Euch auch den geringsten Ärger über einen bescheidenen Widerspruch ersparen möchte. Für ihn seid Ihr soviel werth, wie hundert andre Freunde; er folgt Euch, wie Euer eigner Schatten. Er findet sich in Eurem Hause, ohne es zu bemerken, wie von einem Instinkte geleitet. Solange Ihr sprecht, richtet sich sein lebhaftes, funkelndes Auge voll Sympathie mit fortwährendem und wachsendem Lächeln auf das Eurige, und seine ganze Person, alle seine Bewegungen, seine ganze Seele winken Beifall. Und doch ist kein Schatten von Schmeichelei in seinen Worten oder Manieren. Auf seinem ganzen Gesicht glänzt ein so wohlwollender Ausdruck, seine Augen strahlen von so heiterer Klarheit, seine Worte treten so unmittelbar aus dem Herzen auf die Lippen, athmen eine so ungesuchte, frische Liebenswürdigkeit, daß es undenkbar scheinen würde, bei ihm einen Hintergedanken zu argwöhnen. Und zu welchem Zweck auch? Er wünscht weiter nichts als Eure Zuneigung, und seine Neigung zu Euch ist fast eine zweite Selbstliebe. Eure Feinde sind die seinigen und verursachen ihm mehr Schmerz als Zorn, und noch mehr Verwunderung als Schmerz, denn er begreift nicht, daß Ihr Feinde haben könnt. Seine Zuneigung ist blind und unbeherrschbar. In Eurer Abwesenheit ist sein Lob so übertrieben, daß es gegen alle Beide den Spott auch der nächsten Freunde hervorruft, und er fühlt Schmerz und Ärger darüber. So oft Ihr bei irgend einer Gelegenheit seiner bedürft, findet Ihr ihn dienstfertig, hingebend, zu den geringsten Diensten, wie zu den schwersten Opfern bereit. Dafür verlangt er nicht einmal als Ersatz eine innige Freundschaft und Vertraulichkeit: er hat sich selbst freiwillig auf eine tiefere Stufe gestellt und will sie nicht verlassen. – Manchmal freilich wird Euch diese so leichte, schmachtende Freundschaft, welche Euch nichts kostet und Eure Fehler ermuthigt, zur Last. Nun fangt ihr an, ihn zu ärgern, reizt ihn durch Widerspruch, sucht ihn zu erzürnen und gegen Euch aufzubringen; aber die Traurigkeit, welche sein Gesicht ausdrückt, zwingt Euch, aufzuhören, ehe Ihr Euern Zweck erreicht habt. Ein andermal macht Ihr Euch das boshafte Vergnügen, Euch in seiner Achtung herabsetzen zu wollen, indem Ihr ihm Fehler und Unrechtes an Euch enthüllt, wovon er nichts wußte; aber sein ungläubiges, wohlwollendes Lächeln läßt Euch das Unternehmen aufgeben. Noch andre Male, denn wir sind so beschaffen, daß wir auch in unsrer Zuneigung einen Zwang fühlen wollen, und unser Herz verdirbt in ungezügelter Freiheit, werdet Ihr wahrhaft kalt und hart gegen ihn, und stoßt ihn zurück, wie einen Schmeichler oder Feind. Aber er ist standhaft, er verzeiht, nähert sich langsam wieder und erwartet schweigend, daß Ihr ihm wieder die Hand reicht. Zuletzt werdet Ihr durch seine Beständigkeit besiegt, ihr fühlt Reue und kehrt zu ihm mit mehr Zuneigung zurück als vorher, ja bisweilen geschieht es, wenn Ihr alle die Schätze von Güte und Ergebenheit, die er im Herzen trägt, erkannt habt, daß Ihr ihn zuletzt nicht nur liebt, sondern bewundert und für ihn eine Dankbarkeit und Achtung fühlt, welche bei passender Gelegenheit in leidenschaftliche, ungewohnte Worte ausbrechen und ihn in Verwunderung, Rührung und Dankbarkeit versetzen: Einen solchen Mann kann man fast nicht mehr einen Freund nennen; die Neigung, die Euch verbindet, gehört fast zu den Familiengefühlen; er ist für Euch wie ein lieber Sohn, nnd unwillkürlich liebkost Ihr ihn, indem Ihr ihm die Hand auf's Haupt legt.
Da ist noch ein anderer, der hundert schöne Eigenschaften des Geistes und Herzens besitzt, und früh schon mehr als einen Beweis wahrer Freundschaft gegeben hat. Aber diese schöne Frucht ist von einem Wurme angestochen. Auf ihm ruht der Fluch, daß jedes Ereigniß, Eure unbedeutendste Handlung, welche Euch Ehre oder Vortheil bringt, sei dieser auch noch so gering, sogar von Euch selbst unbeachtet und ihm allein bekannt, ihm die Wirkung eines Hammerschlags auf den Kopf, eines Lanzenstiches ins Herz macht. Daran ist nichts zu ändern. Die Krankheit sitzt tief, ist ihm angeboren, kreist ihm wie eine Schwindsucht in Blut und Knochen und keine menschliche Macht kann sie heilen. Dieses sein Eifersuchtsgefühl kennt keine Grenzen; er ist ebenso eifersüchtig auf Freunde, wie auf Unbekannte, auf Hohe, wie ans Niedrige, auf Alte, wie auf Junge, in allen Bereichen des Gedankens und der menschlichen Arbeit. Er ist der Nebenbuhler der ganzen Menschheit; aller Ruhm und alles Glück Andrer erscheint ihm wie eine Demüthigung, ein Unglück für ihn selbst, vom Ruhme des großen Künstlers an, welcher die große Medaille auf der Weltausstellung erwirbt, bis zum Schulknaben, der es zum Ersten seiner Klasse bringt, von dem Glück eines entfernten Bekannten, der eine Million erbt, bis zu dem eines
nahen Freundes, welcher tausend Mark in der Lotterie gewinnt. Wenn Ihr während der freundlichsten Unterhaltung auf einen Erfolg, den Ihr errungen, ein Lob, das Ihr erhalten, hindeutet, so ändert sich sogleich seine Miene, das Wort bleibt ihm im Halse stecken; er kann nicht mehr soviel Athem sammeln, um ein Wort als Glückwunsch hervorzubringen. Man bemerkt, daß er kräftige Anstrengungen macht, um dieses Gefühl zu ersticken, man sieht, daß er sich schämt und leidet; aber es ist umsonst, er kann sich weder beherrschen noch verstellen, er muß sein Gesicht zeigen, wie es ist, und das Gesicht verräth Alles. Wenn ihr dann während der Unterhaltung Euren Erfolg herabsetzt, dann heitert er sich auf; wenn Ihr Beschränkungen anführt, welche das Lob vermindern, leuchtet sein Gesicht von Dankbarkeit, er athmet freier, spricht wieder geläufig und offenherzig und geht getröstet
von dannen. Ohne daß er Euch ein einziges Wort zu sagen braucht, errathet Ihr alle Qualen und Kämpfe seiner Seele. Wenn Euch eine öffentliche Kränkung Eurer Eigenliebe zu Theil wird, so ist er der erste, der am folgenden Tage erscheint, nicht eben betrübt über das Vorgefallene, aber von viel lebhafterer Zuneigung zu Euch erfüllt als vorher, als wenn jener Schimpf ein Hinderniß in Eurer Freundschaft beseitigt hätte, und die freundlichen und großmüthigen Worte, welche er ausschüttet, sowie seine warmen Händedrücke sind vollkommen aufrichtig. An dem Tage nach einem Triumph ist er ebenfalls der erste, aber diesmal treibt ihn der Teufel der Eifersucht. Er kommt, wie der Furchtsame, der sich der Gefahr entgegenstürzt, um in Eurer Gegenwart den bittern Trank auf einmal hinabzuschlingen, den er, fern von Euch, tropfenweise hätte verschlucken müssen. Von dieser Erbärmlichkeit abgesehen ist er ein trefflicher Freund und bleibt es selbst während seiner Eifersucht: er würde niemals eine schimpfliche Handlung begehen, um Jemandem das zu nehmen, warum er ihn beneidet. Nach und nach verzeiht man ihm seinen Fehler, unter dem er allein leidet; man findet, daß er durch die Qualen, die er trägt, mehr als genug bestraft ist. Und wenn es Euch anfangs Vergnügen machte, ihn zu quälen, so erspart Ihr ihm jetzt auch den leichtesten Stich, indem Ihr ihm sorgfältig Alles verschweigt, was Euch Ehre bringen kann. Er selbst unterstützt Euch darin, indem er sich beeilt, der Unterhaltung eine andre Richtung zu geben, wenn sie sich dahin neigt, und richtet sie gewöhnlich auf traurige Gegenstände, auf den Tod einer geliebten Person, auf einen eignen Schmerz, auf die Wechselfälle des Lebens, womit er Euch indirekt andeutet, wie eitel und flüchtig das menschliche Glück ist; oder er fängt plötzlich an, irgend einen wahrhaft großen, ruhmvollen und glücklichen Mann mit begeisterten Worten zu preisen, welchem gegenüber Eure eignen Erfolge so kleinlich erscheinen müssen, daß Ihr nicht mehr wagt, sie zu erwähnen. Wenn Ihr ihn dann manchmal den Kopf zerbrechen und sich quälen seht, nicht um Euch zu beleidigen, sondern um sich selbst zu vertheidigen, wobei er aufrichtig überzeugt ist, daß Ihr sein Spiel nicht durchschaut, dann fühlt ihr wohl für Ihn wirkliches Mitleid, welches Euer Wohlwollen vermehrt, und Ihr gerathet in Versuchung, ihm die Hand auf die Schulter zu legen und zu ihm mit festem Blick und der vertraulichen Zuneigung eines Bruders zu sagen: »Freund, heile dich von diesem so kleinen, elenden, quälenden Fehler, dem einzigen, den du hast! Dir fehlt so wenig, um ein vollkommener Freund zu sein!« Aber nein, das hieße ihm eine tödtliche Wunde versetzen, und dazu habt Ihr nicht den Muth. Darum fahrt Ihr fort, mit ihm umzugehen, wie er ist, und betrachtet ihn zuletzt nur wie einen Menschen, der an einer schweren Krankheit leidet, zu der wir alle einen Keim im Leibe haben; Ihr überzeugt Euch, daß er Euch wirklich wohlwollen muß, weil er fortfährt, Euch wohlzuwollen trotz der Schmerzen, die Ihr ihm so oft bereitet habt.
Da ist noch der sanfte, der rauhe, der glühende, der lauwarme, ja sogar der eiskalte Freund. Wie es uns gelungen ist, aus dieser Eismasse, an welcher vielen Andern unnützer Weise die Hände erstarrt sind, eine Art Freundesgestalt herauszuholen, wissen wir selbst nicht. Aber diese Gestalt haben nicht wir ihm gegeben, er besaß sie schon, und wir allein erkennen sie, wenn wir ihn von einer gewissen Seite betrachten. Er zeigt in der That eine gewisse Zuneigung zu uns, auf seine Weise; wir haben es vor Jahren bemerkt, als wir eine weite Reise antraten. Seine Unterlippe gerieth in leichtes Zittern, als er uns mit seinem gewöhnlichen, steinernen Gesichte Lebewohl sagte. Er ist uns in der That freundlich gesinnt; wenn er es nicht wäre, würde er nicht unsre Gesellschaft aufsuchen und stundenlang darin aushalten, ohne sich zu langweilen. Aber er empfindet einen Widerwillen, ja einen Abscheu, mehr als gegen alles andre Abscheuliche, gegen äußere Gefühlsdarstellungen. Für ihn sind das schimpfliche Kindereien, Armseligkeiten, Erniedrigungen des Herzens, die eines Mannes unwürdig sind, Verneinungen der Empfindung, die sie ausdrücken sollen, Heucheleien, höfische Schmeicheleien, welche ihn anekeln. Er verbirgt das Gefühl der Freundschaft mit derselben scheuen Schamhaftigkeit, mit welcher ein eben mannbar gewordener Jüngling seine ersten zärtlichen Gefühle, seine erste Liebessehnsucht verhüllt. Ja noch mehr: er will das Gefühl, welches ihn mit uns verbindet, nicht einmal Zuneigung nennen, in seinem Innern verwirft er dies Wort, oder vielmehr, er will sein eignes Gefühl gar nicht untersuchen oder näher bestimmen: er geht mit uns um, weil er doch mit Jemand umgehen muß, und zieht uns Andern vor, weil er findet, daß wir besser zu ihm passen. Bei uns findet er eine größere Übereinstimmung der Ideen, leichtere Nachsicht für seine Manieren, kurz einen Genossen, der ihn nimmt, wie er ist, ohne ihn mit Gefühlsansprüchen zu langweilen. Und er bleibt uns vollkommen treu. Jeden Abend zu bestimmter Stunde finden wir ihn unfehlbar dort an seinem gewohnten Tisch sitzen, mit der gewohnten Zeitung, die ihn täglich langweilt; von der Thürschwelle aus grüßen wir ihn mit einem Lächeln, welches er erst mit einer ganz geringen Lippenbewegung erwidert, wenn wir neben ihm sitzen. Er giebt uns Alles nur halb: einen halben Blick auf der Straße, einen halben Satz in der Unterhaltung, die Fingerspitze beim Abschied, einen Brief von drei Zeilen, wenn er entfernt ist, einen Gruß durch ein Kopfnicken, eine Mißbilligung durch einen erstaunten Blick, sein Mitgefühl durch einen kleinen, erzwungenen
Seufzer. Wenn er in seiner hingebendsten Stimmung ist, geht er wohl so weit, den Zeigefinger der rechten Hand auf Eure Brust zu richten, aber er zieht ihn zurück, ohne Euch zu berühren und nimmt sogleich seine gewöhnliche Ernsthaftigkeit wieder an. Wir können ganz gut mit einander einige Stunden lang spazieren gehen, ohne uns etwas Unangenehmes zu sagen, ein wenig entfernt von einander einherschlendernd wie zwei Schüler, welche sich entzweit haben, aber beim Sonntagsspaziergang neben einander hergehen müssen. Zuweilen jedoch, ärgerlich über diese Kälte, ergreifen wir ihn am Arm und schütteln ihn, indem wir die Zähne zusammenbeißen, wie um ihm zu sagen: »Ermuntere dich, um Gottes willen!« Aber er läßt sich schütteln wie ein Todter und wirft uns einen Blick zu, welcher sagen will, es sei unnütz, und man solle ihn in Ruhe lassen. Dennoch fühlt er in seinen besten Augenblicken eine Art Dankbarkeit für uns und betrachtet uns lange mit einem Blick, welcher eine halb spöttische, halb wohlwollende Verwunderung über die Seltsamkeit unsres Charakters ausdrückt, weil wir darauf bestehen, einem Originale seiner Art wohlzuwollen. Aber er äußert dieses Gefühl niemals in Worten. Er lebt in einem dichten Nebel von Gleichgültigkeit und Langweile, worin unsre Freundschaft ihm unbestimmt, wie ein Schatten erscheint, welcher die Eintönigkeit des unendlichen Grau, welches ihn umgiebt, ein wenig unterbricht. Bei alledem ist er im Grunde gut und eines schlechten oder gemeinen Gefühls unfähig, aber nicht so sehr aus wirklicher Tugend, als darum, weil er, der Natur seiner Empfindungen gemäß, sich nicht die Mühe geben will, solchen Empfindungen, ebenso wenig als vielen andern, die Thore seines Herzens zu öffnen. Wenn wir von ihm ein Opfer für uns verlangen, so bringt er es ohne Anstrengung, fast gleichgültig, und nur der Gedanke wird ihm beschwerlich, später den Ausdruck unsrer Dankbarkeit annehmen zu müssen. Und so geht unsre Freundschaft ihren Weg, stumm, in sich verschlossen, in einem Zustand des Schlafwachens, mit gesenktem Kopf und halbgeschlossenen Augen. Wenn uns ein Unglück in achtundvierzig Stunden wegnähme, so würde unser Freund nach Empfang der Nachricht eine halbe Stunde lang unbeweglich an seinem Tisch sitzen, die Stirn in die Hände gestützt und die Augen zu Boden gerichtet – und dies wäre die liebevollste Leichenrede, die er je in seinem Leben gehalten hat.
Von ganz andrer Art ist der explosive Freund, ein stattlicher Mann und eine so ehrliche, edle Natur, als es eine geben kann, aber ein unbezähmbares, wildes Thier, wenn ihm das Blut in den Kopf steigt, und das geschieht jeden Augenblick. Er ist wie gewisse, in eine Gasatmosphäre gehüllte Pflanzen, welche bei der Annäherung einer Flamme sich entzünden und abbrennen, wie ein Feuerwerk. Um einer Kleinigkeit willen bedroht er uns mit einem Duell. Wenn wir uns mit ihm unterhalten, sehen wir immer das gewaltige Schwert eines Haudegens über unserm Haupte schweben. Unversehens, während eines ruhigen Gesprächs, fühlt man das Auffliegen einer Mine: er hat ein Wort schief aufgefaßt. Aber mit derselben Leichtigkeit, mit der er in Wuth geräth, beruhigt er sich auch wieder; die Neue folgt fast unmittelbar auf die Sünde. Die Geschichte seiner Freundschaften ist eine ununterbrochene Geschichte von Beleidigungen und Ehrenerklärungen, Drohungen und Entschuldigungen, Herausforderungen und Versöhnungen; die erstern immer im ersten Antrieb gemacht, die zweiten immer auf edle Weise, wie ein guter und braver Bursch. Als wir mit ihm eines Abends das Haus eines Freundes verließen, hatte er uns in Gegenwart vieler Leute in der Hitze des Gesprächs eine Unverschämtheit ins Gesicht geschleudert, so daß wir sogleich die Sekundanten bestimmten. Als wir die Treppe hinabgestiegen waren, im Dunkeln, fühlten wir plötzlich seinen Arm um unsern Hals geschlungen und seinen Mund an unsrer Wange. Er schämt sich seiner selbst und schlägt sich mit den Fäusten gegen den Kopf; aber was nutzt es? Es steckt etwas in ihm, was bei der geringsten Berührung
losbricht und ihn eine Spanne hoch von seinem Stuhle emporschnellt, mit zwei Pfeilen in den Augen und dem Zorn Gottes in der Kehle. Sein argwöhnisches Gemüth findet überall Nahrung für seinen aufflammenden uud donnernden Zorn. Er hält immer ein offenes Register für Rechnungen, die er mit seinen Freunden abzuschließen hat. Einem will er in's Gesicht sagen »vier Wahrheiten, die er noch niemals zu hören bekommen hat«; einem andern will er bei erster Gelegenheit eine »Rückenzukehrung zurück erstatten, welche ihm schon seit einem Jahre auf dem Herzen liegt; für einen dritten hält er einen Säbelhieb bereit« dessen er sich erinnern soll »bis zum Grabe«; einen vierten muß er durchaus morgen am Ausgang des Theaters erwarten, um eine Erklärung von ihm zu fordern. Im Abendzirkel, während man von ganz andern Dingen spricht, als von seiner Person, argwöhnt er geheime Anspielungen, verborgene Andeutungen, verdeckten Spott, rollt die Augen gegen den und jenen, schüttelt den Kopf und erwartet ungeduldig den Augenblick, Feuer an das Pulver zu legen. Aber alles dies nimmt fast immer ein friedliches Ende. Ein freundlicher Schlag, den man ihm zu rechter Zeit auf den Rücken giebt, zerstreut im Augenblick alle gewitterschwangern Wolken. Er hat nur drei Duelle und drei Ritze auf dem Gewissen, um deren willen er fünfzehn Beileidsbesuche gemacht hat.
Aber eine Stunde später geht es wieder von neuem an; er muß Jemand fassen und »mit Gewalt auf den Kampfplatz schleppen«. Er ist niemals so liebenswürdig, als an den Tagen, wo er mit dem unverbrüchlichen Vorsatz aufgestanden ist, sich selbst zu beherrschen. Dann sieht er alle, Freunde und Feinde, mit der wohlwollenden Miene eines evangelischen Geistlichen an, und läßt neue, höchst seltsame Stimmwechsel hören, welche gewissen kindlichen Mißtönen keuchender Greise ähneln; wenn dann in dem gewohnten Zirkel Jemand ihm widerspricht, so hört er schweigend zu, die Augen auf seine Kaffeetasse gerichtet und läßt seine Finger unter dem Tische knacken; aber der unterdrückte Zorn kocht in seinem Innern, schäumt, steigt ihm in Blutwellen zu Kopf, die Augen schwellen ihm, seine Stirn bedeckt sich mit Schweiß, so daß man ihm zurufen möchte: »Brich doch los, Unglücklicher, sonst zerplatzest du, wie ein Frosch!«. Und er muß zuletzt losbrechen. Unsre Freundschaft mit ihm geht schwankend und im Zickzack vorwärts, wie es Gott gefällt. Dabei können wir ihn niemals hassen, selbst wenn er uns beleidigt hat. Nach einmonatlicher Feindschaft fällt er uns eines Morgens ins Haus, ganz niedergedrückt, um uns zu bekennen, er sei ein unvernünftiges Thier, und dann
reichen wir ihm die Hand, bewegt, und werfen uns vor, ihn nicht zuerst aufgesucht zu haben. Er aber schwört theure Eide, wobei er seine Stentorstimme erschallen läßt und mit seinen Fäusten unsern Tisch zu zertrümmern droht, sich nie wieder von seiner thierischen Natur besiegen
lassen zu wollen – die ihn doch in eben diesem Augenblicke besiegt.
Dann haben wir noch einen, den man den »wahrheitswüthigen« Freund nennen könnte. Er ist ehrlich, uns wohlgeneigt,
voll Verstand, von etwas wechselnder Laune, und hat nur einen Fehler: er ist bis zur höchsten Grobheit aufrichtig. Er sagt uns Alles, was er von uns denkt, bis zu seinen innersten Gedanken, auch diejenigen, welche uns einen Sprung rückwärts thun lassen, ungewiß, ob wir ihm für seine Aufrichtigkeit danken, oder ihn einen unverschämten Wicht nennen sollen. Was kann man thun? er ist von der Wahrheitswuth besessen. Wie ist er mit uns in dieses Verhältniß gekommen? Wir erinnern uns dessen nicht mehr. Eines Tags muß er uns zum ersten Mal eine unangenehme Wahrheit gesagt haben, gegen welche wir uns nicht zu empören wagten, weil er unsre Schuld in unsern Augen las, und seit jenem Tage befinden wir uns in seiner Gewalt. Er ist in der That ein schrecklicher Mensch. Zwischen allen Freunden besteht ja doch ein stillschweigendes Übereinkommen, daß man gewisse Dinge weiß, aber nicht ausspricht, daß man sich stellt, als glaube man gewisse andern, auch wenn das Gesicht des Redenden uns Zweifel einflößt, daß man einander gewisse Fehler nicht vorwirft. Ein leichter Schleier, nöthig um gewisse sehr zarte Seiten der Eigenliebe zu verhüllen, hängt auch zwischen den vertrautesten und aufrichtigsten Freunden. Aber bei ihm ist von solchem Schleier nicht die Rede. Auf unsre Augen richtet er fest seine teuflischen Augen, denen nichts entgeht, und wenn der Ausdruck unsres Blicks dem Sinne unsrer Rede nicht entspricht, unterbricht er uns und sagt uns mit nackten, klaren Worten, was wir eigentlich hätten sagen wollen oder sollen, und tadelt schroff unsere Doppelzüngigkeit, wenn sie auch ganz unschuldig ist. Er bohrt mit seinem Blick und seinen Fragen bis in die Tiefe unsrer Seele und zieht mit Gewalt alle unedlen Gedanken, boshaften Gefühle, kindischen Eitelkeiten, kleine Heucheleien und Schandflecken ans Licht, die wir in undurchdringliches Dunkel begraben glaubten; und dies alles schüttelt er uns ins Gesicht, wie einen Haufen schmutziger Lumpen, indem er jedes Stück mit solcher Sicherheit des Urtheils und Ausdrucks bei seinem Namen nennt, daß es unnütz ist, zu läugnen oder sich zu vertheidigen; die Schamröthe verräth uns und der Ärger lähmt unsre Zunge. Im Ganzen achtet er uns durchaus nicht weniger als die Andern, denn er spricht nur aus, was die Andern denken. Übrigens spricht er auch von sich selbst mit derselben Schamlosigkeit. Aber dafür verlangt er auch Gegenseitigkeit von uns, er zeigt Alles, will aber auch Alles sehen, er giebt sich nicht zum Komödienspielen her und erkennt weder Geheimnisse noch Schamhaftigkeit an. Während einer einstündigen Unterhaltung leert er sich selbst aus, wie einen Sack und kehrt den Freund um, wie einen Handschuh. Lange Zeit hindurch erscheint uns diese Freundschaft sehr hart. Oft läßt er uns verwirrt, gedemüthigt zurück, gegen uns selbst ärgerlich, wüthend gegen ihn, von tausend Rache- und Feindschaftsplänen durchtobt, und wenn wir ihn hinausbegleiten und er vor uns hergeht, gerathen wir in heftige Versuchung, ihn mit einem Faustschlag in den Nacken hinauszubefördern. Aber jetzt ist es zu spät, mit ihm zu brechen; es wäre kindische Kleinmüthigkeit. Auf der andern Seite, mögen wir immerhin uns zernagen und gegen ihn wüthend sein, wir sind doch gezwungen, ihn zu achten. Was ihn als Freund unangenehm macht, ehrt ihn doch als Menschen. Wir wissen, wer er ist, haben alle seine Geheimnisse in der Hand, sind seiner sicher. Dann gewöhnen wir uns auch nach und nach an seine Grobheit, wir bemerken, daß er uns Gutes thut, daß er unser Inneres säubert und uns aufrichtiger und ehrlicher macht; wir fühlen zuletzt, wenn wir mit ihm zusammen gewesen sind, eine Gewissenserleichterung,
als ob wir ein schweres Unrecht einem Manne gebeichtet hätten, dessen Achtung wir nicht mit Unrecht besitzen wollten. Ja es macht uns Vergnügen, ihm zuvorzukommen, indem wir freiwillig unsre Heuchelei enthüllen und uns gegen ihn nicht für mehr ausgeben, als wir werth sind, und wir genießen dann in seiner Gesellschaft eine Ruhe und Freiheit des Geistes, welche ebenso angenehm ist, als der Zwang, den er uns anfangs auferlegte, peinlich und aufregend war. Es giebt beherrschende, vertraute, versöhnende Freunde: dieser ist der chirurgische Freund, der uns mit Eisen und Feuer heilt, ohne Interesse, aus reiner Liebe zur Kunst. Um uns auf dem Wege der Aufrichtigkeit mit unsern andern Freunden zu erhalten, genügt sein Bild, welches uns von Zeit zu Zeit erscheint, die Augen und den Zeigefinger auf uns gerichtet, als wollte er sagen: »Hier bin ich und höre zu, Heuchler!
Der nun folgende ist ein goldner Becher, aber gefüllt mit Opium. Er hat Euch Dienste geleistet, er ist eine Blume der Höflichkeit, Ihr könnt nur Gutes von ihm reden: aber was hilft's? Er ist uns zum Ekel. Das Abgetragenste, das Älteste, beklagenswerth Unbedeutendste, was es nur in dem ungeheuren Bereich von menschlicher Unterhaltung geben kann, ist der gewöhnliche Stoff seiner Unterhaltungen. Seine Gesellschaft versinnlicht durchaus einen Druck von dreihundert Atmosphären. Er ist nicht ein bloßer Holzkopf: er hat genau soviel Ideen, als nöthig sind, um ihn zu einem denkenden Geschöpf zu machen; denn die eigentlichen Dummköpfe sind erheiternd. Er sagt weder Dummes noch Widersinniges, er ist beständig und grausam vernünftig. Aber Ihr müßt Euch die Kinnladen festhalten, um das löwenartige Gähnen zu verhindern, welches aus der Tiefe der Seele aufsteigt, wenn er in einem Tone, ähnlich der eintönigen Bewegung eines Mehlsiebs, Euch der Reihe nach die Geschichte einer seiner Erkältungen oder die Schicksale seiner Uhr oder die endlose Biographie eines Vetters erzählt, welcher in einem unbekannten Dorfe Bürgermeister und noch langweiliger und schlafmachender ist, als er selbst. Die merkwürdigste Nachricht, die lustigste Anekdote, die dramatischste Erzählung, Alles entfärbt sich, wird
schwerfällig, grabliedartig auf seinen unglücklichen Lippen. Und er liebt den Ton seiner Stimme, der schreckliche Mensch, und verbreitet über die geringste Kleinigkeit einen Strom von bleiernen Perioden, so daß man um Gnade bitten möchte, um Gottes willen. Es nützt auch nichts, plötzlich einen Seitenweg einzuschlagen oder unversehens in einen Tabaks- oder Barbierladen einzutreten, wenn man ihn von ferne auf der Straße erblickt; nichts könnte in ihm jemals den Verdacht erregen, daß Ihr nicht in den Ton seiner Stimme leidenschaftlich verliebt wäret. Er sucht Euch nicht nur aus Wohlwollen auf, sondern heftet sich an Euch aus Dankbarkeit, denn Ihr seid einer der Wenigen, vielleicht der Einzige, der in seinen Banden nicht heult und seine krampfhaften Zuckungen unter dem Anschein gütiger Aufmerksamkeit verbirgt. Wie hättet Ihr auch den Muth, ihn einer der süßesten Illusionen seines Lebens zu berauben? Seine Freundschaft macht keine Ansprüche; er verlangt weiter nichts, als daß Ihr ihm zuhört. Diese seine unerschütterliche Überzeugung, scharfsinnige Reden mit wohlklingender Stimme vorzutragen, ist die Folge einer geistigen Einfalt, welche Euch Mitleid einflößt, und die unendliche Langweile, welche seinem Munde entströmt, rührt
zum großen Theil daher, daß er vollkommen alle moralischen Fehler entbehrt, welche uns unterhalten, alle boshaften Leidenschaften, welche uns beredt machen: er bildet die teuflisch grausame Offenbarung einer fast engelhaften Güte. Ihr könnt auch überzeugt sein, daß seine Freundschaft nicht unter einem Wechsel Eures Glücks leiden wird, denn mit diesem wird die Kraft Eurer alterthümlichen Geduld nicht abnehmen. An dem Tage, wo Euch das Unglück widerfährt, wird er sich unfehlbar an Eurer Seite befinden, um Euch den einförmigen Tonfall seiner Trostworte zu hören zu geben, welche in Euer Ohr tönen werden, wie der Schall der Erdklumpen auf einem Sarge, oder Euch von Euren schmerzlichen Gedanken abzuziehen versuchen, indem er auf Euern Schädel das Kataplasma einer seiner anmuthigen Anekdoten aufschlägt. Trotz alledem, wenn er manchmal sein Gewebe ungewöhnlich lang macht und dabei besondere Befriedigung darlegt, fühlt Ihr plötzlich Eure Nerven erzittern und das Blut in den Kopf steigen; Ihr öffnet schon den Mund, um ihm zuzurufen, er sei ein Henker ohne menschliche Eingeweide, und für immer mit ihm zu brechen, aber der zuvorkommende Ton, in dem er Euch fragt, ob Ihr unwohl seid, und verspricht, ein andermal weiterzuerzählen, erstickt Euern Ausruf zwischen den Zähnen, Ihr ergebt Euch mit gesenktem Haupt und sagt zu ihm mit einem trüben Blick: »Fahrt nur fort«. Und er wird fortfahren bis zum Tode.
Da ist noch einer, ein Herz mit seidenen Fäden gestickt, wie der chinesische Dichter sagt, ein junger Mann voll Freundlichkeit
und Wohlwollen, welcher unter den Freunden das Amt eines Friedensstifters mit dem Eifer und der Standhaftigkeit eines Apostels versticht. Wie der Kuhbaum giebt er nur Milch von sich, von welcher Seite man ihn auch ansticht. Er betrachtet den Kreis seiner Freunde wie eine Art Institut, dessen moralische Leitung ihm anvertraut ist, und bemüht sich fortwährend, daß Alles richtig zugehe, und setzt alle seine Eigenliebe daran, als wenn die Schuld jeder kleinen Unordnung auf ihn zurückfallen müßte. Ein Bruch zwischen zwei Freunden betrübt ihn, wie ein häusliches Unglück und er findet keine Ruhe, bis er sie wieder versöhnt hat. Vermittelst sinnreicher, strategischer Kombinationen, über die er lange nachgedacht hat, erreicht er es, daß die beiden Feinde an dem bestimmten Ort, Gesicht gegen Gesicht, zusammentreffen, so daß sie einander nicht ausweichen können, und nun drängt er sie an einander. Bei Streitigkeiten bietet er sich zum Vermittler an; Abneigungen sucht er im Anfang zu ersticken, er erzählt dem Einen, was der Andre angeblich Gutes von ihm gesprochen habe, und fügt noch einiges Eigne hinzu; gefährliche Diskussionen schneidet er mit einem scherzhaften Einfall ab; er verstreut die witzigen Gedanken eines Jeden in alle Winde; er besucht alle Häuser seines Freundeskreises, kennt hundert Kinder bei ihren Namen, begleitet die Familien an die Eisenbahn, verbreitet gute Nachrichten, belebt kalte Unterhaltungen, indem er Dinge auf die Bahn bringt, worüber alle übereinstimmen; er erweckt alte Freundschaften wieder, zerstreut Argwohn, mildert Tadel, bestimmt Zusammenkünfte, verabredet Gastmähler, entschuldigt Alle, liebt Alle, lobt Alles. Wenn es ihm gelungen ist, zehn Freunde um seinen Tisch zu versammeln, alle in guter Laune und gutem Einvernehmen, so liebkost und hütet er sie mit den Augen und fühlt sich so glücklich, als hätte er alle Mächte Europas zu einem Bündnisse vereinigt. Da ist er an seinem Platze, da ist er schön und strahlend und schüttet die Liebe und den Frieden seines Geistes aus; er gleicht dem Fleisch gewordenen Ideale der Eintracht und allgemeinen Ruhe, nach welchem alle seine Wünsche und Anstrengungen hinstreben. In seiner heitern Mittheilsamkeit, während er seinen Kaffee schlürft, zeigt sich deutlich der gute und ehrliche Grund seines Charakters. Für Jeden findet er im passenden Augenblick den Ausdruck, der seiner Eigenliebe schmeichelt; Jeden zieht er, einen nach dem Andern, in's Gespräch, wenn er gerade Gelegenheit findet, sich geltend zu machen; er erinnert an mehr eingebildete als wirkliche Dienste, welche ihm früher der oder jener erwiesen hat, um ihm seinen Dank ausdrücken zu können; er bittet um Verzeihung für Unrecht, von dem Niemand etwas weiß; er klopft seinen Nachbarn auf die Schultern, reicht andern die Hand über die Stuhllehne hinüber, billigt mit einem Lächeln die Rede entfernt sitzender und begleitet Alle um Mitternacht nach Hause. Am folgenden Tage ist er übler
Laune, denn er fürchtet, er habe sich in der Hitze des Gesprächs ein unpassendes Wort gegen irgend Jemand entschlüpfen lassen. Die Freunde sind seine Familie, er widmet ihnen alle seine freie Zeit, er möchte, daß sie alle in einem einzigen Hause beisammenwohnten und dutzendweise um ihn wären. Er wird herausfordernd und unangenehm, wenn er merkt, daß sich Jemand seinem Kreise entzieht; er erfindet phantastische Lebensbeschreibungen, rahmt Photographien ein, läßt Briefe umgehen, dient als Spediteur, als Rechnungsführer, als Wahlagent, als »claqueur« im Theater und sagt »meine Freunde« mit einem geheimen Gefühl von Lust und Stolz, wie der Grundbesitzer sagt »meine Ländereien« und der Dichter »meine Gedichte.« Er ist nicht der Freund, welchen wir am liebsten haben, denn er ist gegen Alle derselbe und sein Charakter zeigt keine Vorsprünge, welche in Vertiefungen des unsern eingreifen und uns so eng verbinden könnten. Aber er ist uns dennoch lieb, als das lebende Symbol einer wohlwollenden, nachsichtigen und fröhlichen Freundschaft; bei jedem unsrer Feste scheint mehr als Einem etwas zu fehlen, wenn er nicht dabei ist, und wie in den Tagen des Glücks vermissen wir ihn auch in den Tagen der Trauer, denn sein gutes Herz fühlt gleichermaßen die Freude und den Schmerz Aller.
Da ist auch der ungeschliffene Freund. Im Grunde ist er ein braver Mann, hat vortreffliche Eigenschaften und will
Euch wohl. Aber er ist ungeschliffen von den Fußzehen bis in die Haarspitzen, durch unbezähmbaren Instinkt und eingewurzelte Gewohnheit rebellisch gegen die Gesetze des Komplimentirbuchs. Er ist eine ziemlich häufige Gestalt: eckig, stachlich und höckerig in solchem Grade, daß man ihn nicht berühren mag, um sich nicht eine Abschürfung zuzuziehen. Er redet zu Euch fortwährend in dem Tone eines gereizten Maulthiertreibers. Seine Mimik besteht ganz aus Gesichterschneiden, Schulternzucken und Rückenzukehren. Er unterbricht Euch im Reden, tadelt jedes Eurer Worte, widerspricht jedem Eurer Urtheile, verweigert Euch die Zeitung »weil er sie eben lesen wolle«, und wenn Ihr ihn ärgert, so stößt er Euch mit dem Ellenbogen fort, mit der Artigkeit eines Wagenrades. Selbst wenn er Euch mit Thränen in den Augen um eine Gefälligkeit bäte, würde er ein Mittel finden, um ungezogen zu sein. Sein Leib enthält eine gewisse Menge, nicht von Traurigkeit, sondern von Bitterkeit, welche sich fortwährend in tausend kleinen, zwecklosen Unarten Luft machen muß; würde er an diesen zahllosen kleinen Entlastungen verhindert, so würde er in größeren Zwischenräumen irgend einen groben Unfug anrichten. Eure Freunde fragen Euch von Zeit zu Zeit: »Wie fangt Ihr es nur an, um mit diesem Stachelschwein auszukommen?« Wer weiß? Ihr ertragt vielleicht seine Freundschaft, wie ein reuiger Christ ein Hemd aus Sackleinwand tragen würde. Dazu kommt noch ein gewisses Vergnügen an der Geduldsübung, die Befriedigung, Euch selbst im Vergleich mit ihm als der vollendetste Weltmann vorzukommen, der Genuß, mit den Freunden schlecht von ihm zu sprechen, ein wenig Hoffnung, ihn mit der Zeit höflicher zu machen, und die Gewohnheit, Euch an ihm zu ergötzen, wie an einer Komödienrolle. Dann ergreift ihn auch die Wuth nicht bei allen Gelegenheiten; seine Grobheit geht niemals bis zu ganz unerträglicher Unverschämtheit, sie besteht aus einer einförmigen Aufeinanderfolge von bäurischem Grunzen und Unfreundlichkeiten, ohne die geringste Absicht Euch zu beleidigen. Es nützt auch nichts, wenn Ihr versucht, ihn mit seinen eignen Manieren zu behandeln; entweder bemerkt er es gar nicht, oder erkennt Euer Recht dazu an; außerdem werdet ihr dessen bald müde, weil Ihr bemerkt, daß Eure absichtliche Grobheit weit hinter seiner thierischen, angeborenen Rohheit zurückbleibt, welche ihm von Herzen kommt und aus allen Poren herauszudringen scheint. Vielleicht habt Ihr auch manchmal versucht, wenn er seinen guten Tag hatte, ihm den Rücken zu streicheln, wie man es mit einer bissigen Dogge thut, und ihn im freundlichsten Tone zu fragen: »Aber sage doch, Freundchen, könntest du nicht etwas weniger »rustica progenies« sein, wenn man sich die Mühe giebt, Dir wohlzuwollen?« – Aber es war verlorene Mühe; er lächelte einen Augenblick mit einem Augenwinkel und warf Euch einen flüchtigen Blick zu, wie ein gezähmtes Thier; aber dann wurde er grimmiger, als vorher und sagte Euch zwischen zwei Achselzucken, er sei einmal so, und wer mit ihm umgehen wolle, müsse ihn nehmen, wie er sei. Wenn er Euch betrübt findet, wird er Euch irgend ein rauhes Trostwort sagen, indem er Euch von der Seite anblickt. Wenn er auf die Probe gestellt wird, kann er Euch vielleicht
in unhöflicher Weise einen große Dienst leisten, aber verlangt sonst nichts. Seine Freundschaft mag an günstigen Tagen Goldstücke auszugeben haben; aber er wird Euch während des ganzen Lebens nicht für einen Heller Höflichkeit erweisen. Nur bei einer Gelegenheit werdet Ihr bei ihm etwas finden, das einer entfernten Absicht, freundlich zu sein, ähnlich sieht, und zwar, wenn er Euch während einer schweren Krankheit besucht; an diesem Tage wird er Euch zu trinken reichen, die Kissen zurecht rücken und mit sanfterer Stimme zu Euch sprechen. Aber Ihr könnt davon überzeugt sein, beim ersten Zeichen der Genesung werdet Ihr bei Euren freundlichen Danksagungen seine alte Grobiansrinde knotiger und stachliger wiederfinden, als jemals.
Nun folgt der mephistophelische Freund. Dieser nimmt einen der ersten Plätze in unsern Gedanken ein. Wir sind der Gemüthsart nach das Gegentheil einer vom andern nnd tragen zwei ganz verschiedene Welten unter unsern Haaren. Er glaubt an nichts von dem, was wir glauben, und zeigt eine unendliche lächelnde Verachtung für Alles, was Gegenstand unsrer Bewunderung, unsrer Begeisterung ist. Er besucht uns und will uns wohl, weil wir gewisse Fähigkeiten und äußerliche, angenehme Eigenschaften besitzen, aber er kann an uns alles das nicht ausstehen, was aus den Gefühlen unsres Herzens sein Leben und seinen Charakter empfängt. Von dieser Seite sind wir ihm höchst mißliebig, und er zeigt uns nur Härte und Spott. Er ist der Freund nur von einer Hälfte unsres Ich; die andre Hälfte verabscheut und geiselt er mit allen Kräften seines Geistes. Er ist nicht heftig in seinen Manieren, noch redet er viel; aber er kämpft schrecklich mit kleinen, vergifteten Nadelstichen. Nach und nach hat er auch viel Gewalt über uns gewonnen. Der Ausdruck irgend eines Gefühls oder einer Idee, welche sich über seine kalte, positive Natur erhebt, scheint uns selbst zuletzt in seiner Gegenwart fast ebenso unpassend oder kindisch, wie ihm selbst. Wir fürchten sein Lächeln und seinen Spott. In seiner Gegenwart fühlen wir uns verwirrt, geschwächt, gezwungen, viele Dinge zu verschweigen; wir müssen immer die liebevollsten und poetischsten Gefühle zurückdrängen. Wenn er dann fort ist, empört sich unser Herz, und das Gewissen beschuldigt uns der Feigheit, und dann schwören wir, bei erster Gelegenheit das unwürdige Joch abzuschütteln und mit herausfordernder Kühnheit unsre Gesinnung frei zu offenbaren. Aber sobald wir uns wieder in seiner Nähe befinden, fühlen wir unsre Arme gebunden, alle unsre Vorsätze fallen vor seinem ersten Grinsen zu Boden. Er hat den Vortheil, uns mit dem Spott bekämpfen zu können, während wir gezwungen sind, ernste Gründe vorzubringen; wir sind auch in unsern wärmsten Gefühlen unsicher, während er in seinem Skeptizismus ruhig und unbeweglich dasteht. Wir
knirschen über unsre Ohnmacht, oft glauben wir fast, ihn zu hassen, und bisweilen hassen wir ihn wirklich. Aber er zwingt uns zu einer gewissen geistigen Arbeit, sein stolzer Gleichmuth flößt uns eine gewisse Bewunderung ein, sein scharfer und tiefer Geist, sein schneidiges Wort ziehen uns an; und bei seiner gefühllosen Natur zieht uns jedes kleine Zeichen von Wohlwollen, das er uns giebt, trotz unserem Widerwillen, zu ihm hin. Unwillkürlich betrachten wir ihn oft, ohne von ihm bemerkt zu werden, mit einem aus Neugierde, Wohlwollen und Abneigung zusammengesetzten Gefühl, dem wir keinen bezeichnenden Namen geben können, und bisweilen ertappen wir mit einer Art von Bedauern in unserm Herzen ein Gefühl von fast sklavischer Unterwürfigkeit gegen ihn und eine unbestimmte Willfährigkeit, uns nach seiner Weise zusammenzuziehen
und zu entstellen, um in seiner Meinung zu stiegen und ihm die Nadel aus der Hand zu schlagen, womit er unser Fleisch durchbohrt. Aber im Ganzen beruht der größte Theil seiner Macht auf unsrer Schlaffheit; darum untersuchen wir unser moralisches Betragen gegen ihn so wenig wie möglich, und um vor Andern unsre Ergebenheit gegen ihn zu rechtfertigen, loben wir ihn über die Gebühr und mögen lieber keine Zeugen haben, wenn wir in seiner Gesellschaft sind. Obgleich uns nun seine Freundschaft mehr bittere Gefühle, als Vergnügen gewährt, obgleich wir ihn im Grunde des Herzens nicht lieben, so würden wir doch, wenn er in den Fall käme, von uns einen starken Beweis unsrer Hingebung verlangen zu müssen, ihm vielleicht eher einen solchen liefern, als vielen andern Freunden, die wir achten und lieben, so groß ist das Bedürfniß unsrer gequälten Eitelkeit, eine Vergeltung zu üben und ihren Herrscher sich zu unterwerfen.
Einen andern möchten wir den Ehrenfreuud nennen; er zeigt eine sehr merkwürdige psychologische Erscheinung. Er hat Gemüth, Geist, Bildung, Scharfsinn, Höflichkeit, alle guten Eigenschaften, welche einen guten Freund ausmachen, neben der Haupteigenschaft, uns zugethan zu sein. Dennoch lieben wir ihn nicht, wir beten nicht zu demselben Heiligen, wie er. Es fehlt ihm an einem gewissen Funken, welcher nöthig ist, um Freundschaft einzuflößen, wie um Liebe zu erregen. Er hat nicht unsre Schwächen, er lacht nicht über die Dinge, die uns lächerlich scheinen, redet keinen Unsinn, ist immer Herr seiner selbst, seine Güte ist zu glatt, seine Höflichkeit zu zart; ein Freund soll ein wenig derb, ein wenig spaßhaft, ein wenig phantastisch sein. In seiner Gesellschaft giebt es nie etwas Unerwartetes, er flößt uns weder Neugier, noch Furcht ein. Er ist ein Freund im Zustande des »stabilen Gleichgewichts«: wie wir uns auch gegen ihn betragen mögen, so sind wir gewiß, daß er niemals versuchen wird, uns zu schaden, daß er uns immer treu bleiben wird; aber damit wir einen Freund gern haben und geneigt sind, es ihm zu zeigen, müssen wir immer hinter ihm das Gespenst eines Feindes erblicken und etwas von seinem Übelwollen zu fürchten haben. Wir machen es mit ihm, wie mit andern Leuten, die uns lieben: wir vernachlässigen sie, weil wir ihrer sicher sind. Wir verweigern
ihm gewiß den Namen und die Achtung eines Freundes nicht, wir zeigen ihm vielmehr beständige Ergebenheit und spenden ihm bei jeder Gelegenheit das höchste Lob. Aber wir behandeln ihn mit Kälte, vermeiden ihn, wenn es angeht, und ziehen ihm offen alle die Andern vor, welche, mit angenehmen oder unangenehmen Fehlern beladen, uns ärgern und zum Streit zwingen, so daß wir mit ihnen in einem beständigen Wechsel von Verdruß und Versöhnung leben.
Wir nennen uns seine Freunde, sind es aber eigentlich nur dem Namen nach. Im Grunde des Herzens schämen wir uns auch darüber, denn das Gewissen sagt uns, daß unser Betragen die Wirkung seiner Überlegenheit ist; wären unser Gemüth, unsere Gewohnheiten, unser Geschmack edler, so müßten wir diesen Freund allen andern vorziehen. Aber gerade dieses Gefühl entfernt uns von ihm, er ist für uns ein lebender Vorwurf; sein heiteres, ruhiges Gesicht rufen uns immer ein » excelsior-« zu, dem unser Herz beistimmt, unsre Kräfte aber nicht entsprechen und dadurch werden wir im Geheimen ärgerlich gegen uns selbst und gegen ihn. Nichtsdestoweniger suchen wir ihn an Tagen des Schmerzes und Kummers auf, und er äußert sich liebevoll, unsre Kälte und unser Unrecht vergessend. An solchen Tagen und noch einige Zeit später schätzen wir ihn nach Verdienst, lieben wir ihn, bereuen wir, ihn vernachlässigt zu haben, können keinen Grund finden, warum wir ihn so vielen Andern nachgesetzt haben, und nehmen uns vor, ihm künftig innig ergeben sein. Wenn aber Kraft und Heiterkeit zurückgekehrt sind, Leidenschaften und Fehler wieder Gewalt bekommen haben, dann entfernen wir uns wieder von ihm, wie vorher.
Manchmal ärgern wir uns, des Abends, im Kreise von Freunden, die ihm nicht gleichkommen, aufgeregt von Geschwätz und gemeiner Lustigkeit, wenn er an uns vorbei geht, allein, in Gedanken versunken, und uns grüßt, ohne stehen zu bleiben, mit seinem würdigen, wohlwollenden Lächeln, welches den Adel seines Charakters und seines Lebens abspiegelt. Wir würden ihm ein grobes Spottwort nachrufen, hielte uns nicht die Furcht vor Gewissensbissen davon ab, aber wir bemühen uns, sein Bild, als das einer unangenehmen Persönlichkeit zu verjagen, ja zuweilen lassen wir uns soweit gehen, daß wir ihn bitter mit unfern Freunden verspotten – aber doch niemals, ohne daß eine innere Stimme uns schlecht und undankbar nennt. Im Grunde unsres Bewußtseins lassen wir ihm volle Gerechtigkeit widerfahren und trösten uns immer mit einem unbestimmten Vorsatz, ihm dieselbe künftig in der Wirklichkeit zu Theil werden zu lassen. Wir sind für seine Freundschaft noch nicht reif, aber vielleicht wird er später einmal unser gesuchtester und theuerster Freund werden und die Erinnerung an unsre frühere Undankbarkeit wird die kräftigste Nahrung für unsre neue Zuneigung liefern.
Ein anderer unser beachtenswerthesten Freunde ist der Chamäleon-Freund. Dieser ist ein Original von einzigem Gepräge, Er ist uns in vielen Beziehungen sympathisch und wir achten ihn; aber es gelingt uns nicht, uns einen deutlichen und dauernden Begriff von seiner Gesinnung gegen uns zu bilden. Er scheint fortwährend in Zweifel zu schweben, ob er uns lieben oder verabscheuen soll. Einige Zeit lang ist er wohlwollend und beschäftigt sich viel mit uns, nicht allein aus unbewußtem Antrieb, sondern mit der deutlichen Absicht, sich angenehm zu machen, als wünschte er Verzeihung für ein unbekanntes Unrecht zu erlangen. Plötzlich verschwindet er, wir sehen ihn Monate lang nicht wieder. Wenn er uns von fern erblickt, weicht er aus und hält sich nur einen Augenblick auf, wenn wir Brust an Brust zusammenstoßen; kalt, mit zusammengekniffenen Augen, fast unhöflich, vermeidet er unsern Blick, als wollte er auf einmal alle Höflichkeiten zurücknehmen, welche er uns früher erwiesen hat, als wären wir in seiner Achtung gesunken, als flößten wir ihm fast Widerwillen ein.
Warum das? Wer kann es sagen? Wir befragen unser Gewissen, und unser Gewissen macht uns keinen Schatten von einem Vorwurf. Er erklärt sich niemals. Er hat niemals von uns ein rauhes Wort gehört oder uns ein solches gesagt; keine, weder offene, noch versteckte Ursache zur Zwietracht hat jemals zwischen uns bestanden, noch besteht sie jetzt. Sein Groll entsteht im Innern seiner Seele, wie innere Geschwülste wachsen, reifen, aufplatzen; man weiß nicht, woher sie rühren, noch wie sie heilen, wir mögen suchen, soviel wir wollen, wir finden keinen, auch nur entfernt vernünftigen Grund für sein Betragen. Wenn die Feindschaft in seinem Herzen aufkeimt, entfernt er sich von uns unwillkürlich, wie der Hund bei den ersten Zeichen der Wasserscheu seinen Herrn verläßt. Wenn er dann in diese traurige Periode eingetreten ist, mögen wir ihn auch mit wohlwollendem Blick fragen und unsre Freundlichkeit gegen ihn verdoppeln – er ändert sich nicht, er hat seine Mucken, es ist verlorene Mühe. Wenn wir ihn dann freimüthig, gerade ins Gesicht, um eine aufrichtige Erklärung bitten, wird er verwirrt, zeigt große Verwunderung, versichert, daß wir uns irren, zwingt sich, über unsern Verdruß zu lachen und sieht uns, um uns Gewißheit zu geben, dreist in die Augen, aber mit unsicherem Blick, welcher die Wirkung aller seiner Worte zu nichte macht. Man sollte meinen, er hätte sich noch kein festes Urtheil über uns gebildet, daß er es immer ändert und sein Betragen mit ihm.
Aber das Schlimmste ist, daß er nicht nur von Monat zu Monat wechselt, sondern von Stunde zu Stunde. Auch an den Tagen freundschaftlicher Hingebung, nach einer Stunde vertraulicher, heiterer Unterhaltung zieht plötzlich eine Wolke über sein Gesicht, ohne daß man weiß warum. Es ist vorbei. Seine Rede erkaltet, sein Gesicht ändert den Ausdruck, die Unterhaltung erschlafft, wir langweilen uns beide, erwarten nicht die gewöhnliche Trennungsstunde und trennen uns in Eile mit einem flüchtigen Händedruck und einem Verrätherblick. Aber es ist schade! Er hat bisweilen so edle Gefühlswallungen, eine so eigenthümliche Denkweise, die uns so wohl gefällt! Unmöglich werden wir uns jemals ganz von ihm trennen können. Es bleibt uns immer ein wenig Hoffnung, daß seine nächste Wandlung zu unsern Gunsten die letzte sein werde, daß er sein ganzes Lebenlang bei dieser bleiben werde, und wir nehmen uns vor, bei unserm nächsten Zusammentreffen mit ihm so aufrichtig, liebenswürdig und wohlwollend zu sein, daß wir uns seiner Freundschaft für immer bemächtigen. Aber es ist vergeblich. Der Vorsatz selbst ist uns hinderlich, der Ausdruck unsres Gesichts entspricht nicht der vorbedachten Rede, wir wollen versöhnen und bringen nur Störung, und die Dinge stehen schlimmer, als vorher. Oft kommt uns der Gedanke, vielleicht beiden zugleich, für immer
zu brechen. Aber wie? Aus welchem Grunde? Es fehlt an einen Vorwand. Kein Grund, den man angeben könnte, ist aufzutreiben; wir haben uns niemals, auch nur im Spaß, verletzt; es wäre von beiden Seiten eine Handlung der Schwäche, ein Schimpf, worüber wir erröthen müßten. Wir wollen es nicht thun, er ebensowenig, und wir sind fest überzeugt, daß keiner von uns es jemals thun wird. So verlängert sich denn das Gewebe unsrer Freundschaft, aus weiß und schwarz zusammengesetzt, bisweilen mit Wohlwollen, andre Male mit Abscheu; beide stehen wir in der Thür der innigsten Vertrautheit, ohne eintreten zu können, und ohne herausgehen zu wollen und sehen uns fragend ins Gesicht, die eine Hand freundschaftlich ausgestreckt, die andere hinter dem Rücken geballt; so erwarten wir irgend ein nicht vorherzusehendes Ereigniß, das uns hinaus oder hineintreibt, ein für alle Mal.
Auch der durch die Ehe »eines bessern
belehrte« Freund ist eine merkwürdige und liebenswürdige Gestalt. Als Junggesell war er hartköpfig, man kam im Gespräch schlecht mit ihm aus, und er kümmerte sich nicht viel um die Freundschaft. Aber seit er in den Ehestand getreten ist, ist er ein Andrer geworden. Die Luft des Hauses hat die Ader des Gefühls gestärkt, die Frau hat ihn zahm gemacht, die Vaterschaft hat in ihm den Geschmack an der Freundschaft erweckt, aber an einer besondern Art Freundschaft, welche ganz aus den Abschnitzeln seiner Vater- und Gattenschaft zusammengesetzt ist. In seiner Freundschaft findet sich nichts Jugendliches, oder Feuriges mehr. Mit dreißig Jahren besitzt er schon das ruhige Genügen, die feiste, zufriedene Philosophie des Hausvaters, zufrieden mit seinen Geschäften, im Genuß seiner Ruhe, für den seine Familie die Welt ausmacht, und der die ganze Welt glücklich und friedlich sehen möchte, nur um nicht gestört zu werden.
Er nähert sich uns mit seinem wohlwollend sanften Lächeln und unterhält uns weitläufig von seinen Geschäften, erzählt uns von einem Streit, den er mit seinem Hausbesitzer wegen eines Fensters gehabt, wie theuer er im vorigen Monat den Wein gekauft, und von den kleinen Wundern, welche seine Kinder in der Schule verrichten. Er sucht mit Vorliebe seine verheiratheten Freunde auf, weil sie einander mehr Dinge mitzutheilen haben, und achtet sie höher, weil sie in der Welt eine sicherere Stellung haben. Dennoch empfindet er für den unverheiratheten Freund ein besonderes Wohlwollen, mit einer leichten Nüance von Mitleid und Gönnerschaft, was man aus der Art erkennt, wie er ihm die Hand auf
die Schultern legt und ihn fragt, wann er einmal in Ordnung kommen wird. Die Erinnerungen an die Zeit, wo wir zusammen frei und leichtsinnig waren, welche Freunde so gern hervorrufen, sind für ihn wie Erinnerungen aus einer andern Welt; er fühlt ihren Reiz nicht mehr; gleichgültig, aus Gefälligkeit spricht er davon einige Augenblicke, um unversehens wieder auf häusliche Angelegenheiten zurückzukommen. Dazwischen verwebt er allgemeine Aussprüche über die Familie und das Leben, die er langsam vorträgt, faltet die Zeitung zusammen und auseinander, und ziert seine Worte mit einigen literarischen Redeblumen, von seiner Frau entlehnt, die er bewundert und die ihn englisch lehrt. Er sieht alle seine Freunde mit Vergnügen wieder, aber flüchtig, denn er wird zu Hause erwartet, und theilt allen seinen alten Freunden den Wunsch mit, »an einem dieser Tage« ein großes Gelage abzuhalten. Dann verschwindet er und wir sehen ihn erst nach vierzehn Tagen wieder, mit einer großen Schachtel voll Süßigkeiten nach Haus gehend oder vor einem Laden um einen Petroleumofen handelnd oder, wie er uns gerade aufsuchte, um sich einige Verse für den Namenstag seiner Schwiegermutter machen zu lassen.
Im Grunde ist er ein guter, braver Mann. Freilich ist er nur ein Stück von einem Freunde, wir möchten ihn gern ganz besitzen und sind gegen die kleine schwarze Schürze etwas unwillig gestimmt, die sich wie ein eifersüchtiger
Vorhang zwischen ihn und die Welt gedrängt hat. Aber am Abend eines stürmischen Tages klopfen wir gern an seine Thüre, wo uns sein erstauntes, fröhliches Gesicht freundlich empfängt; wir erquicken uns an seinem Kamin, unter seinen Kindern, deren Augen die heitere Gutmüthigkeit ihres Vaters ausstrahlen, unter unordentlich herumliegenden Knäueln und beschmierten Fibeln; wir loben mit Vergnügen das verwaschene Aquarell der Hausfrau, worüber sie unser Urtheil verlangt, während sie von der Seite nach dem Ausdruck unsrer Bewunderung späht. Beim Weggehen drücken wir ihm voll Dankbarkeit die Hand und wünschen ihm aufrichtig, daß nie ein Unglück den Frieden seines wackern, ruhigen Hauses stören möge.
Es giebt aber auch noch einen gehässigen uud gehaßten Freund. Suchet nur, und Ihr werdet ihn sogleich finden, wenn Ihr überhaupt zu suchen braucht. Als Freund einiger unsrer vertrautesten Freunde, von denen es unmöglich ist, ihn zu trennen, befindet er sich in unsrer Gruppe, wie eine Spinne in einer Weintraube, so dicht zwischen die Beeren eingeklemmt, daß wir sie durchaus mit verschlucken müssen. Er hat uns niemals
beleidigt oder beschädigt, behandelt uns immer mit Höflichkeit, und doch flößt er uns eine unbesiegbare Abneigung ein. Wir finden seinen Blick falsch, seine Stimme widerwärtig, seine Manieren erkünstelt, und unter seiner Höflichkeit glauben wir undeutlich einen Haufen Nattern sich winden zu sehen, unedle, schlechte Gefühle von allen Arten. Diese Abneigung, welche sich weder erklären, noch Luft machen kann, verwandelt sich nach und nach in Höllenqualen. Jede seiner Handlungen und jedes seiner Worte macht uns einen unangenehmen Eindruck; seine Witze machen uns Gänsehaut, sein Lob macht uns den Eindruck, als würde uns Öl ins Gesicht gespritzt; seine ganze Persönlichkeit, vom Scheitel bis zu den Fußzehen, ja sein Gang ist uns verhaßt. Es kommt uns vor, als müßten alle menschlichen Wesen, welche allen unsern Vorfahren seit zwanzig Generationen verhaßt oder feindselig gewesen sind, sich in ihm verkörpert haben. Ein unbarmherziges Schicksal will es, daß er sich immer neben uns oder uns gegenüber befindet, bei Festmahlen, im Theater, im Wagen, unter der Volksmenge; er spielt bei uns die Rolle jener schrecklichen Katze Edgar Poe's, welche durch ihre fortwährende Gegenwart und ihre entsetzlichen Liebkosungen den Mörder ihres Herrn quälte.
Dabei übt er auf uns eine unbegreifliche Anziehung aus, so daß wir gezwungen sind, ihn fortwährend im Auge zu behalten und auf seine Reden zu merken. Er sagt kein Wort, auch wenn er entfernt von uns sich im lauten Kreis der Freunde befindet, das nicht geradenwegs, scharf in unser Ohr dränge, als würde es durch ein Hörrohr herbeigeleitet; und nie hat er im Leben ein verdammtes Glück oder trägt ein elendes Lob davon, ohne daß es irgendwie zu unsrer Kenntniß käme. Unser Widerwille geht so weit, daß wir nachts von ihm träumen, daß wir Viertelstunden damit zubringen, ihn in Gedanken zu prügeln, daß wir manchmal, wenn er vor uns hergeht, plötzlich in Versuchung gerathen, ihm einen heftigen Fußtritt zu versetzen, auf die rohste Weise, ohne den geringsten Vorwand, wie es ein Tollhäusler thun würde. Von diesem wüthenden Abscheu gegen ihn können
wir uns durchaus keine Rechnung ablegen; wir möchten seiner Sektion beiwohnen, um zu sehen, was für eine Art Teufelei er im Leibe hat, die uns ihn so qualvoll unverdaulich macht.
Wir haben auf tausenderlei Weise versucht, ihn zu heilen, wir haben seine Gesellschaft aufgesucht, ihm Gefälligkeiten erwiesen, nachgeforscht, ob nicht in seinem Herzen irgend eine geheime Ader der Güte oder Freundlichkeit verborgen läge, die ihn erträglicher machte, eine Fähigkeit oder Idee in seiner Einbildungskraft oder seinem Leben, die unsre Qual einigermaßen erleichtern könnte, haben aber keinen andern Erfolg gehabt, als daß wir ihn nur noch heftiger hassen und verabscheuen. Es fehlt uns sogar der elende Trost, daß er unsre Gefühle gegen ihn bemerkte; ganz im Gegentheil: der höllische Mensch hält sich für angenehm, liebenswürdig und geliebt; er ist klebrig wie Leim, verfolgt uns hartnäckig mit seinen schlaffen, kalten Händedrücken, durchbohrt uns mit seinem liebkosenden Lächeln und peinigt uns, indem er uns zwingt, uns auf seinen Arm zu stützen und ihm Komplimente in's Gesicht zu sagen. Wenn er von uns spricht, sagt er: »Unser Freund«, Jedermann sagt zu uns, wenn er von ihm spricht: »Euer Freund«, und auch wir sind gezwungen, zu sagen: »Unser Freund«. Bisweilen geht uns ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf: der Gedanke, daß vielleicht in unsern letzten Augenblicken, im Hintergrund eines Zimmers, wo wir den letzten Seufzer aushauchen, hinter der Gruppe unsrer nächsten Freunde – aber nein, der Gedanke ist nicht schrecklich, sondern angenehm: der Gedanke, ihn zum letzten Male zu sehen, würde unsern Todeskampf erleichtern, und vielleicht würden wir ihm in diesem Augenblicke alle die Qualen verzeihen, die er uns auf der Erde hat erdulden lassen.
Ein andrer, sehr merkwürdiger, ist der Freund »der Festtage«. Er gehört zu gleicher Zeit zu Eurer Gruppe und zu einer andern, und zwar gehört er zu den unzuverlässigsten in der Eurigen. Die Verschiedenheit der Lebensweise ist der Grund, warum Ihr selten mit ihm zusammentrefft, aber da ihr viele Freunde und gewisse Neigungen gemein habt, so findet Ihr Euch mit ihm bei allen öffentlichen und privaten, politischen und künstlerischen, bürgerlichen und ländlichen,
Ankunfts- und Abschieds-Festmahlen zusammen, welche im Laufe des Jahres aufeinander folgen. Ihr seid für einander wie jene bunten Fahnen, welche man bei allen Festen wehen sieht. Ihr habt bei den Bechern Bekanntschaft gemacht, und die Geschichte Eurer Freundschaft zeigt auf jeder Seite eine Speisekarte. Dieser Freund ist Euch natürlich sehr sympathisch, Ihr habt ihn immer nur in jenen glücklichen Augenblicken gesehen, wo Jedermann ein heiteres Gesicht, offnes Herz und freundliche Worte zur Schau trägt: beim dritten Essen habt Ihr Euch vom Tische erhoben und einander auf die Schulter geklopft; Ihr habt immer zu einander nur freundliche Worte gesprochen, habt Euch niemals getrennt, ohne zu bedauern, daß Ihr nicht länger zusammenbleiben könnt; kurz, in Eurer Freundschaft hat es niemals einen Augenblick von übler Laune oder Langweile gegeben. Es ist eine noch jungfräuliche Freundschaft, von einem gewissen Lichtglanz der Poesie vergoldet.
Das Herz sagt Euch wohl, daß auch dieser Herr ein Sack voll Fehler sein wird, wie die Andern alle, aber diese Fehler habt Ihr doch niemals gefühlt, oder gesehen. Und wenn Ihr auch überzeugt seid, daß auch er seine schlechten Tage haben muß, seine Schmerzen und sein Elend, so erscheint er doch vor Eurem Geiste niemals anders, als mit geröthetem, lachendem Gesicht, zwischen zwei Festgenüssen thronend, wie das Bild der festlichen Freundschaft, des fröhlichen Lebens. Ihr macht ihm denselben Eindruck. Die seltenen Male, wo Ihr Euch dann unterwegs begegnet, wechselt Ihr Freudenbezugungen, wie es immer bei Leuten der Fall ist, welche von einander nur fröhliche Erinnerungen verlangen, und die unvermischte Freude dieser Begegnungen erhöht nur noch Euer gegenseitiges Wohlwollen. Wie schade, daß man sich nicht öfter sehen kann! Es müßte herrlich sein, mit einem so lustigen, liebenswürdigen Freunde zusammenzuleben! Aber in Wirklichkeit thut Ihr nichts, um Euch einander zu nähern, Ihr wißt, daß Ihr sehr bald Eure Illusionen verlieren würdet und zieht es vor, diesen schönen Anschein von Freundschaft in gehöriger Entfernung unversehrt zu bewahren, mit der Ihr Euch jedesmal in Gedanken tröstet, wenn Euch Euere gewöhnlichen Freunde zuwider sind. Diese bilden, so zu sagen, das Gebäude der Freundschaft, jener die schöne Aussicht, welche von von den Fenstern aus genießt. Deswegen bleibt der Freund der Gastmähler fast immer auf dem Platze, wo Ihr ihn gefunden habt, und Ihr könnt jahrelang fortfahren, Euch über den funkelnden Tisch weg Toaste zuzurufen und die Treppen der Gasthäuser Arm in Arm herabsteigen, indem Ihr Euch in warmen Ausdrücken beklagt, nicht täglich beisammen sein zu können.
Nicht selten geschieht es, daß man nach zehn Jahren ungestörter Freundschaft nicht einmal den Vornamen dieses Freundes weiß, noch seine eigentliche Beschäftigung kennt. Aber wir werden uns seiner darum nicht weniger bis in unsre spätesten Jahre erinnern, nicht nur weil die Geschichte seiner Freundschaft sich unbefleckt nnd schneeweiß ausdehnt, wie die unendlichen Tischtücher, auf denen sie geboren und herangewachsen ist, sondern auch weil ihr fröhliches Bild sich in unserm Geiste mit allen beklatschten Lustspielen, allen Statuen - Enthüllungen, allen örtlichen Ausstellungen, allen Zweigbahnen vermischen wird, welche den
Glanz und den Reichthum unsrer Provinz erhöhen sollen, und weil uns die Gewißheit tröstet, daß er, wenn wir vor ihm sterben sollten, auf unser Gedächtniß mehr als einen ehrenvollen Trinkspruch ausbringen wird, wenigsten in jenen lyrischen Momenten der Gastmähler, wo die übermäßige Gerührtheit der Herzen alle Dämme übersteigt und in das Reich der Todten übergreift.
Da ist noch ein Andrer, der für uns das fortwährende, gedankenlose, unsinnige Lachen repräsentirt, eine Art rein körperlichen Lachens, wobei alle Kräfte unsres Geistes ausruhen und sich erholen, wie die körperlichen Kräfte während des Schlafs. Er hat eine ganz eigentümliche Art grober Komik, aber echt und freimüthig, welche uns anfangs nervös machte uud langweilte, aber zuletzt gefiel und ihn uns angenehm machte. Wir gewöhnen
uns an gewisse Arten von Späßen, wie an gewisse Arten von Likören. Freilich sind die seinigen eher Dummheiten als Feinheiten, aber so grob, so massiv, so pyramidal, daß sie dieselbe Wirkung thun, wie die feinsten Witze. Daraus entsteht eine angenehme Doppelwirkung: indem er nach dem Erfolg urtheilt, hält er seine Späße für vortrefflich und bleibt dabei, und in seiner Selbsttäuschung finden wir einen neuen Grund zur Heiterkeit, und so haben wir beide unser Theil. Er entspricht einem gewissen Bedürfniß, das wir alle bisweilen fühlen, uns in muffigen Augenblicken einer um so sorgloseren und müheloseren Unterhaltung hinzugeben, je schwerer die Gedankenarbeit ist, von der wir auszuruhen haben. Für ihn ist Alles, was außerhalb der Richtung liegt, die sein Geist genommen hat, ein todter Buchstabe. Für ihn ist jeder, der nicht auf seine ewigen Possen eingeht, ein verlorener Mensch. Er ist ein Instrument, das nur einen einzigen Ton angiebt. Aber wir hören in diesem einzigen Tone tausend Töne. Seine Spaße, hundertmal wiederholt, erhalten einen besondern Werth durch die Wiederholung, was uns ihren wirklichen Werth vergessen läßt, so daß es nun hinreicht, sie mit einem Worte, einer Handbewegung, den Ton der Stimme anzudeuten, um die üble Laune einer ganzen Woche durch ein herzliches Gelächter zu vertilgen. Seine abgeschmackteste Albernheit ersetzt uns eine Unterhaltung von einer Stunde. Wir sind im Stande, eine kleine Reise zu unternehmen, um ihn zum tausendsten Mal seine vielen Possen wiederholen zu hören, die wir seit Jahren auswendig wissen. Wir tragen sie im Kopf herum, pressen sie aus, wiederkäuen sie, finden sie immer geschmackvoller, ohne doch zu wissen, worin eigentlich ihr Geschmack besteht; sie müssen in sich die Essenz irgend einer verborgenen, verführerischen Philosophie enthalten, deren Hauptformel wir nicht herauszufinden vermögen.
Der Mann nimmt in der That einen wichtigen Platz in unserm Leben ein. In höchst traurigen Augenblicken giebt uns einer von seinen unsinnigen Spaßen wie durch Zauberei Heiterkeit und Muth zurück, indem er uns plötzlich von einem thöricht lächerlichen Gesichtspunkt ein ernstes Ereigniß erblicken läßt, welches bei den überdachten Beileidsbezeugungen der andern Freunde nur noch ernster erscheint. Sein Einfluß auf uns ist so stark, daß wir in solchen Fällen, wo es eine Entweihung wäre, den Schmerz durch Lachen erleichtern zu wollen, ihn wie einen Feind fliehen müssen, denn sein Anblick würde hinreichen, uns in lautes Lachen ausbrechen zu lassen. Dabei verbirgt er unter diesem unerschöpflichen Gelächter ein gutes Herz, das der zartesten Gefühle fähig ist. Bei einem Unglücksfalle ist er einer der ersten, welche herbei eilen; er wartet ungeduldig auf das Wiedererscheinen von ein wenig Heiterkeit, um uns während dieses Aufathmens seinen neuesten Unsinn vorzutragen. Er drückt uns niemals seine Zuneigung in Worten aus, und zwar darum, weil sein Geist von der Witzwuth so stark beherrscht und durchtränkt ist, daß er auch die Zuneigung nicht mehr ernsthaft ausdrücken kann: darum schweigt er lieber.
Für ihn sind Groll und Haß durchaus unbekannte Dinge, Außer der Arbeit, von der er lebt, hat er nur einen Gedanken: lachen zu machen. Er läßt sich auch nicht durch die eiskalte Aufnahme entmuthigen, welche seine zweifelhaften Witze bei Leuten finden, die in die besondre Art seiner guten Laune nicht eingeweiht sind; aber er versucht es immer wieder von neuem mit unerschrockner Standhaftigkeit, voll Vertrauen auf sein komisches Vermögen, bis es ihm gelingt, eines jener ausgelassenen, homerischen Gelächter hervorzurufen, die er immer nur im günstigsten Sinne auffaßt; dann ist er zufrieden. Alles in Allem gehört er zu den Freunden, mit denen wir in Gedanken und Gefühlen am meisten übereinstimmen, denn das Lachen ist zwischen uns, wie eine Musik, bei deren Klang wir uns, ohne sie in Worte zu fassen, tausend innige und angenehme Dinge sagen, welche er nicht in Worten wiederzugeben vermöchte, noch wir ihm verständlich machen könnten. Die Trennung von ihm gehört zu dem Traurigsten, das Lebewohl keines Freundes geht uns so zu Herzen, wie der letzte kleine Scherz, den er uns mit etwas veränderter Stimme in den Waggon wirft, der sich schon in Bewegung befindet. Wenn wir nach langer Abwesenheit zurückkehren, giebt es unter den uns erwartenden Freunden kein lächelndes Gesicht, das uns so sehr erfreut wie das seinige, und wir errathen schon von fern die bösartige Witzmacherei, die uns beim ersten Gruß erwartet.
Wir alle fast haben oder hatten einmal einen Freund, der für uns einen höchst seltsamen Gewissensfall ausmacht: den Schelmenfreund. Sein Ruf gehört zu den allerschlechtesten; er muß in früherer Zeit einmal eine große Zuchthausgeschichte durchgemacht haben, und wenn wir dessen nicht ganz sicher sind, so können wir doch über kleinere Schuftereien keinen Zweifel hegen. Er ist eines von jenen Subjekten, mit denen ein anständiger Mann, wie man sagt, sich nicht öffentlich sehen lassen darf. Warum behandeln wir ihn also als Freund? Das ist ein Punkt, über den man ein Buch schreiben könnte: »Ueber die Freundschaft von Ehrenmännern mit Schelmen«. Gegen uns hat sich der Freund immer betragen, wie die Blume der Ehrlichkeit; wir haben seine moralischen Schwächen erst nach mehrmonatlichem Umgang entdeckt. Überdies ist er ein höchst sinnreicher Schuft, vergnügt und liebenswürdig über jeden Begriff, an dessen Gesellschaft wir unendliches Vergnügen finden. Dennoch wäre es unsere Pflicht, ihm verächtlich den Gruß zu verweigern. So sagt Jedermann. Und es ist richtig. Aber man hat gut reden: Niemand von uns wird sich entschließen können, einen Mann gröblich zu beleidigen, von dem uns nur Vergnügen zu Theil geworden ist. In jedem Fall hätten wir es sogleich thun müssen, sobald wir seine Thaten erfuhren; jetzt ist es zu spät. Es könnte ihm nicht entgehen, daß wir es mehr aus Furcht vor den Leuten thun, als aus Gewissensdrange, und das müßte ihm als Feigheit erscheinen. Gehen wir also vorwärts, indem wir den Anschein retten: behandeln wir ihn kalt in Gegenwart von Andern, sprechen wir von ihm mit Verachtung, öffnen wir ihm die Thür unsres Hauses nicht, suchen wir an besuchten Orten ihn zu vermeiden; aber unter vier Augen, an sicherer Stelle, lassen wir uns bis zur innigsten Vertraulichkeit gehen und genießen seine Gesellschaft in vollem Maße. Das Spiel ist nicht edel, gewiß nicht; wenn wir es recht überlegen, ist es uns zuwider, so daß wir oft den Vorsatz fassen, es ein für alle Mal abzubrechen. Aber wenn wir sein Gesicht wieder vor uns sehen, wird unser Wohlwollen stärker, als das Gewissen. Die Sympathie, eine gewisse psychologische Neugierde, welche Schelme ehrlichen Leuten einflößen, wie verlorene Weiber anständigen Frauen, ein gewisser Widerwille, den Stein auf ihn zu werfen, welcher aus dem Bewußtsein unsrer eignen Schlechtigkeit und unsrer geheimen Schelmereien entsteht, eine unbestimmte Furcht vor empfindlicher Wiedervergeltung von Seiten eines Menschen, den wir zu Allem fähig halten, binden uns an ihn, wie mit der Fessel eines geheimen Einverständnisses: dazu kommt noch die Hauptsache, daß er uns Vergnügen bereitet. Um eines einzigen Vergnügens willen verzeihen wir hundert Schelmenstreiche, die uns nichts angehn.
Um vor uns selbst diese Freundschaft zu entschuldigen, um uns in dieser Gesellschaft ohne Gewissensbisse vergnügen zu können, machen wir uns eine Art kleinen, künstlichen Gewissens zurecht, wir bilden uns eine besondere Moral, die wir wegwerfen, sobald der Freund den Rücken kehrt; und auf diese Weise, indem wir ihn ein wenig erhöhen und uns ein wenig herablassen, gelingt es uns, die innere Stimme, welche uns tadelt und beschämt, wenn auch nicht zu ersticken, so doch ein wenig leiser zu machen. Aber unser Vergnügen ist niemals ganz ohne Unruhe; es geschieht bisweilen, wenn wir bei dem Freunde sind, daß wir uns plötzlich umwölken und ihn, einen Blick zuwerfen, worin er ein Gefühl von Abneigung und Verachtung erräth, und dann leuchtet ihm seine wahre Natur einen Augenblick aus den Augen, nebst einer düstern Selbstzufriedenheit, daß er uns in den Schlingen seiner Freundschaft festhält, aus denen wir nicht den Muth haben, uns frei zu machen. Aber das sind vorübergehende Bewölkungen, die wir Beide nicht zu bemerken scheinen wollen. Er sucht sich unsre Freundschaft wie einen Ehrlichkeitsbeweis der Welt gegenüber zu bewahren; wir halten an der seinigen ein wenig aus Wohlgefallen, ein wenig aus Schwäche fest. So wird es viele Jahre fortgehen, bis er seinen Ruf wiederhergestellt haben und ein Freund gleich den andern werden wird, oder bis er uns eine grobe Schurkerei zufügt und sich damit selbst den Abschied giebt. Unterdessen stellt er unter unsern Freunden das dar, was man im Verkehr zwischen beiden Geschlechtern »einen schlechten Umgang« nennt, und seine Freundschaft gehört unter die Zahl der unerlaubten Vergnügungen und der schimpflichen Gewohnheiten.
Einer der liebsten ist der uns an Intelligenz und Bildung stark überlegene und zugleich von Charakter edle Freund; er findet in jeder Unterredung die siegreiche Idee und das überzeugende, beruhigende Wort und giebt uns jeden Abend, wie ein zu entwickelndes Thema, einen kleinen Schatz von Urtheilen und Kenntnissen mit nach Hause, die er, wie ein großer Herr, während einer Stunde heiterer Unterhaltung, sorglos um sich her gestreut hat. Wenn er mit dieser Überlegenheit des Geistes eine vornehme Bescheidenheit in seinem Wesen verbindet, so ist er in der That ein verehrungswürdiger Freund. Bei ihm schweigt unser Stolz, nicht weil er ihn niederdrückt, sondern weil er unter seiner sanften und mächtigen Hand in sanften, tiefen Schlaf fällt, weil er zum Widerstreben weder Muth, noch Kraft, noch einen Vorwand findet. Wir hören ihm begierig stundenlang zu, der Geist ist zum Lernen geneigt, gerade weil ihm jeder Schatten von Stolz fehlt; wir fühlen, daß uns diese Unterordnung des Geistes wohlthut, uns vor aller Eitelkeit, die uns Andern unangenehm macht, reinigt und unsern Sinn veredelt. Keine Art zu lernen ist so angenehm und so nützlich, wie diese. Es giebt nichts Liebenswürdigeres, als die Freundschaft dieses jungen Mannes, in unserm Alter oder jünger, welcher in ruhmreichen Geistesarbeiten seine Nächte durchwacht hat. Er giebt uns jeden Augenblick, in eine höfliche Redensart oder einen sinnreichen Scherz gehüllt, wie man ein Geschenk heimlich überreicht, um nicht die Eigenliebe zu beleidigen, einen tiefen Gedanken, der in unserm Geiste Frucht tragen wird. Er nimmt eine besondere Stelle in unserm Herzen ein, mitten unter den andern Freunden. Wir fühlen gegen ihn eine Art Ehrerbietung, mit etwas Furchtsamkeit gemischt, welche uns
an diejenige erinnert, welche wir in unsrer Jugend für gewisse Professoren empfanden, welche, obschon wenig älter als wir, doch schon gelehrt und berühmt waren und uns vertraulich und wohlwollend behandelten.
Da wir nun fühlen, daß die Vortheile in unserm freundschaftlichen Verkehr nicht gleich sind, daß er viel mehr giebt, als er empfängt, so strengen wir unsre besten Fähigkeiten an, um durch unsre Freundlichkeit, unsern Witz und unsre Fröhlichkeit das auszugleichen, was er an Intelligenz und Wissen voraus hat. Alle seine Freundschaftsbezeugungen tragen den Stempel der Erhabenheit seines Geistes. Unser Kopf ist voll von seinen Aussprüchen, Rathschlägen, Witzworten, welche uns zuerst in einer traurigen Stimmung getröstet oder von einem Zweifel befreit haben, und dann in unserem Gedächtnis hängen geblieben sind, zwischen den Elementen unsrer Bildung und den Aphorismen unsrer Philosophie.
Gewisser schwatzhaften und etwas gewöhnlichen Freundschaften satt und durch sie niedergedrückt kehren wir zu ihm zurück, dem immer Hochstehenden, welcher uns in die reinen stärkenden Regionen des Gedankens erhebt. Bei allen unsern geistigen Arbeiten ist die furchtsame Erwartung seines Urtheils das, was uns das Ziel immer höher stecken heißt, und der Wunsch, seine Billigung zu erhalten, giebt uns den kräftigsten Antrieb, um es zu erreichen. Wir hören seinen freimüthigen, tiefgedachten Tadel an, welcher uns mit einem Wort einen geheimen, unverbesserlichen Fehler im Mechanismus unsres Geistes enthüllt, wie der Kranke die Diagnose seiner Krankheit anhört, erstaunt, nicht den geringsten Unwillen zu fühlen, sondern nur ein wenig Traurigkeit und Mitleid mit uns selbst. Ihm machen wir auf dem Felde des Gedankens dieselben Bekenntnisse, die wir andern Freunden auf dem des Gefühls ablegen; er steht so hoch über uns, daß wir nicht nur nichts Schimpfliches, sondern sogar einen gewissen Trost darin finden, ihm unsre selbstverschuldete Unwissenheit, unsre unbekannten Fehler zu entdecken. Bei ihm empfinden wir nicht den geringsten Neid, keine Ehrenbezeugung, die ihm erwiesen wird, scheint uns übertrieben, wir sind an ihn durch eine Art Schülerergebenheit gebunden, welche nicht nachdenkt und nur immer die Gelegenheit herbeiwünscht, sich äußern zu können. Es macht uns Freude, ihn die letzten Reste unsres Stolzes opfern zu können, wenn deren noch übrig sind; jede Handlung der Vertraulichkeit, wie man sich gegen Kameraden erlaubt, ist uns bei ihm zuwider; in seiner Gesellschaft ist unsre Stimme gesammelter, unsre Sprache korrekter, sind unsre Gesten bedeutsamer und wir finden ein immer neues Vergnügen daran, ihn mit einem volltönenden Herzlichen »Du« anzureden; vermischt mit manchen zarten Empfindungen, welche wir nicht versuchen können, auszudrücken, ohne sie zu entweichen.
Der Folgende lebt in einer hundert Meilen von der unsrigen entlegenen Welt. Wir haben zusammen lateinisch gelernt, dann haben wir uns aus dem Gesicht verloren, dann ihn wiedergefunden, als Mäkler in kleinen Geschäften, dick geworden, mit einem Bocksbart, nachlässig gekleidet, lustig, unwissend und als einen guten Kerl, und haben die alte Freundschaft wieder angeknüpft. Wir treffen nur selten zusammen, aber immer mit Vergnügen. Er grüßt uns mit seiner groben, wohlwollenden Stimme von der anderen Seite der
Straße herüber und giebt uns zu verstehen, daß er sich nicht aufhalten kann, ruft uns bisweilen aus dem Eckfenster eines Kaffeehauses vierter Ordnung an, wo wir ihn in Geschäften finden mit Landleuten oder Händlern, vor einer Flasche Landwein. Wenn wir keine Eile haben, unterhält er uns weitläufig von seinen Geschäften, erhitzt sich dabei und zeigt uns auf der flachen Hand Muster von seinem Getreide, worüber er durchaus unser Urtheil verlangt. Das Geschäft hat ihn nicht verfeinert, darüber ist kein Zweifel; aber sein gutes Herz vertritt bei ihm die Stelle guter Manieren. Er fragt uns oft über unsere Angelegenheiten mit vorsichtiger lächelnder Neugierde, wie er etwa einen Astronomen um Nachrichten über Mars oder Merkur bitten würde. Ja bisweilen sammelt er alte Schulerinnerungen, gräbt altmodische Worte wieder aus, wobei ihn sein gesunder Menschenverstand unterstützt, und bemüht sich, zu uns in einem Tone zu sprechen, den er für passender für uns hält, auch um uns zu beweisen, daß er nicht so sehr alles Wissens baar ist, oder so durch sein Geschäft verbauert, wie wir vielleicht glauben. Es klingt in der That seltsam genug, wenn man ihn in seine ungebildete, gewöhnliche Mäklersprache ein Stück von einem Verse Vergils oder die Bruchstücke eines Ausspruchs Machiavellis einflechten hört.
Aber wir beeilen uns, ihn zu seiner gewöhnlichen Redeweise zurückzuführen, aus welcher wir eine Menge unbekannter und sehr kräftiger Ausdrücke und neue Witzworte lernen und von den Erfolgen, Schwierigkeiten, Schmerzen nnd Wechselfällen eines Lebens erfahren, von dem wir keine Vorstellung hatten. Er ist uns für diese Freundschaft von Herzen dankbar, und nachdem wir mit unseren Liqueurgläsern angestoßen haben, drängt er uns mit dem Ellenbogen von dem Tische des Liqueurhändlers weg, wühlt mit seinen dicken Fingern in seinem groben Taschenbuch und will uns nicht bezahlen lassen. Bisweilen und ganz zufällig hat er sich in der Mitte unsrer andern Freunde befunden; aber er gesteht uns freimüthig, ohne die geringste Absicht, uns zu beleidigen, daß die Herren Advokaten, Gelehrten und Beamten ihm nicht zusagen, er findet sie zu fein für sich, es sind Leute, die nicht mit Jedermann umzugehen wissen; ihre neugierigen Blicke, ihre trockenen Manieren haben ihn nervös gemacht. Seit dem schlägt er unsre herzliche Freundschaft noch viel höher an. Aber diese ist nicht ganz rein. Daran ist zum Theil die eitle Absicht schuld, würdevoll und herablassend zu erscheinen, zum Theil das Vergnügen, uns unserm Freunde überlegen zu fühlen, ohne alle die mühevolle Rivalität der Eigenliebe uns von einer achtungsvollen Hand streicheln zu lassen, welche nichts dagegen verlangt, was uns
ein Opfer oder eine Anstrengung kostet. Aber einerlei; es giebt Augenblicke, wo wir einen Antrieb zu tiefem Wohlwollen und sanfter Dankbarkeit für diesen guten Burschen fühlen, wenn wir ihn aufrichtig fröhlich sehen, lachend und sich die Hände reibend über etwas Erfreuliches, das uns widerfahren ist, dessen Natur er doch nicht begreifen kann, oder wenn er uns mit einfachen, ungeschickten, für den Fall ungeeigneten Worten wegen Schmerzen und Leiden zu trösten sucht, die er nicht versteht, aber zu Herzen nimmt; oder wenn wir aus Verzweiflung zu ihm unsere Zuflucht nehmen, unserer schwierigen Freundschaften überdrüssig, der Gehirnarbeit müde, voll Ekel gegen unsre Bücher, unsre Mappen, unsre fortwährende, gezwungene Gedankenjagd, unser verfluchtes Leben als Sklaven der Intelligenz, und in seinen verständigen Reden über Getreide, Leder, Zucker, Öl, Wein, Holz und in dem kräftigen Viehstallgeruche das gesunde, ruhige Gefühl des Lebens wiederfinden.
Da ist auch einer, der vielleicht, auf die Probe gestellt, sich als wahrer Freund zeigen würde; aber er ist ein Freund von seltsamem Gepräge, der im gewöhnlichen Laufe des Lebens so in seine Wissenschaft oder Kunst versunken ist, daß er unser Vorhandensein kaum bemerkt. Sein Egoismus ist
derjenige, den man sehr passend »den bronzenen Egoismus des Genius« genannt hat. Für ihn giebt es auf dieser Welt Nichts von Bedeutung, außer dem, was auf irgend eine Weise, wenn auch nur von fern, dem einzigen und fortwährenden Ziele seines Lebens, seiner Beschäftigung dienen kann. Alles muß ihm diesen Zweck fördern, auch seine Freunde, welche zuletzt, der mehr, der weniger, in seiner Hand, ohne es zu wissen, zu Werkzeugen für seine Arbeit werden. Man muß sich drein ergeben. Wenn er uns nach unsern Angelegenheiten fragt und aufmerksam zuhört, so so dürfen wir uns nicht täuschen: unsre Antworten gehen geradenwegs in ein gewisses Schubfach seines Gelehrten- oder Künstlergehirns, ohne ihren Weg durch das Freundesherz zu nehmen; und wenn wir mit unsrer Rede bei einem Punkt angekommen sind, über den hinaus sie kein Interesse mehr für ihn hat, mag er auch für uns noch so wichtig sein, so wird er uns noch sein Ohr leihen und immer lebhaftere
Zeichen von Zustimmung geben; aber sein Geist ist schon tausend Meilen weit entfernt. Er erscheint des Abends in dem gewohnten Kreis, das heißt, er bringt seinen Körper dahin, aber seine Gedanken läßt er zu Hause, bei seinem Buch, Mikroskop, seiner Zeichnung, seinem Bilde, und der, welcher in dem Zirkel Beifall giebt, lacht, die Hand drückt oder vom Wetter spricht, ist nur sein Abgesandter, beauftragt, unter den Freunden seine Rolle möglichst gut zu spielen. Bisweilen spricht er auch zu uns mit voller Geistesgegenwart, aber dann setzt er nur mit lauter Stimme seine Gedankenarbeit fort, bei der wir ihn, als wir zu ihm traten, unterbrochen haben, und vertieft sich in endlose Einzelnheiten, in streng technischer Sprache. Dabei erwärmt er sich immer mehr, ohne uns ins Gesicht zu sehen, als wenn er zu andern Leuten spräche und ohne jemals den geringsten Verdacht zu hegen, daß wir uns langweilen könnten.
Er hat übrigens auch Tage mit hellen Zwischenräumen, Gott sei Dank. Eines schönen Tages kommt er zu sich, reibt sich die Augen und hat ein dunkles Gefühl seines Unrechts gegen uns; eine Stunde darauf sehen wir ihn mit Verwunderung in unser Haus treten, das er seit Jahresfrist nicht besucht hat. Offenbar kommt er in der Absicht, sein Unrecht wieder gut zu machen. Diesmal ist er es wirklich, ganz er selbst: sein Blick begegnet dem unsern, ohne einen fernen Gedanken zu verrathen; er fragt uns nach unsern Geschäften, läßt sich über das, was uns in den letzten Monaten begegnet ist, aufs Laufende bringen, hört zu, versteht, lächelt verständig, stört unter unsern Büchern herum, sagt uns, unsre Freundschaft sei für ihn ein Trost seines Lebens und verläßt uns, nachdem er uns unter den herzlichsten Ausdrücken zehnmal die Hand gedrückt hat. Dann »Lebewohl« für weitere sechs Monate. Er verschließt sich wieder in seine fixen Gedanken, wie ein Einsiedler in seine Höhle, und was wir von nun an von ihm zu sehen bekommen, ist nichts weiter, als sein Scheinbild, bis er eines Tages wieder von »Reue über seine Sünde« ergriffen wird.
Trotzdem lieben wir diesen Freund und seine Gesellschaft, so wie er sie giebt. Wir finden ein eigenthümliches Vergnügen daran. Wir treffen zufällig auf der Straße zusammen, wie zwei Wassertropfen unter einer Dachrinne, er behält die Freiheit seines Geistes und wir die unsrige; wir machen uns keine Erklärungen, gehen an einander vorüber, ohne uns zu grüßen, sehen uns täglich, verlieren uns ein Jahr lang aus den Augen, Alles ist recht, wir sind mit Allem zufrieden. Es ist eine Freundschaft, so frei und elastisch, wie die Luft, mit der freien Liebe der Nihilisten vergleichbar. Aber immer ist sie von unsrer Seite von aufrichtiger Achtung für die starke, edle Leidenschaft begleitet, die ihn beherrscht, und die vielleicht eines Tags seinen Namen berühmt, seine Zerstreuungen allbekannt machen wird.
Zuletzt kommt noch ein Freund, der auf der schiefen Ebene des Lasters in müssigem Elend lebt, befleckt von elenden, durch
Ausschweifungen verthierten Freunden, bei denen er die letzten Schreie seines Gewissens zu ersticken sucht. Unsre Freundschaft, welche durch Erinnerungen an unsre Kindheit und erste Jugend, die uns beiden theuer sind, am Leben erhalten wird, ist das letzte Band, welches ihn an die anständige und höfliche Welt fesselt, in welcher er früher gelebt hat, und noch erscheint er bisweilen bei uns, abgemagert, sich seiner bettelhaften Kleidung schämend, mit starkem Absinthgeruch, um ein wenig gesunde Luft einzuathmen, wofür er uns eine traurige Dankbarkeit bezeigt. Zu Anfang flößte er uns mehr Widerwillen als Mitleid ein, und trotz allen unsern Bemühungen fiel die Unterhaltung kalt und gezwungen aus, und er schied von uns mit einem bittern Lächeln, welches uns betrübte. Aber nach und nach haben wir die Funken der Erinnerung wieder angeblasen, es ist gelungen, das Gefühl der alten Freundschaft zu erwecken. Mit Geduld, ohne unsre Absicht zu verrathen, von dem wenigen Guten, das in ihm übrig ist, ausgehend, suchen wir ihn wieder emporzuheben. Bisweilen, in einem langen Spaziergange an einsamen Orten, wo wir mit ihm von unsern Familien sprachen, von den gemeinsamen Studien, von Leuten, die wir sonst geliebt haben, fühlt er allmählich seinen Geist und sein
Herz sich neu beleben, kommt zu dem lebhaften, schmerzlichen Bewußtsein seines Zustandes, ermannt sich, sieht einen Schimmer von Hoffnung vor sich und verläßt uns mit einer Hoffnung, die uns erfreut.
Aber es ist vergebens. Die Springfeder seines Willens ist zerbrochen, das, was er für Vorsätze hält, sind nur Funken von Wünschen, welche, kaum entzündet, wieder verlöschen. Ein andermal kehrt er zu uns zurück mit einem spöttischen Lächeln, aus dem man eine feindliche Absicht herausliest. Dann führt er uns mit boshafter Selbstgefälligkeit alle Gemeinheiten der elenden Welt, in der er lebt, vor die Augen, zeigt uns, eine nach der andern, schamloser Weise alle Ruinen seiner Würde und seines Herzens, bemüht sich, die Gesellschaft, in welcher wir leben, auf die Höhe der seinigen herabzudrücken, und schmäht unser eignes Leben, indem er die edelsten Empfindungen roh zerlegt, Menschen verläumdet, die häßliche Kehrseite jedes schönen Anscheins bemerklich macht, und thut dies mit so ungestümen Feuer, mit einer solchen Macht roher, schneidender Worte, daß wir, übermannt und herabgewürdigt, ohne zu wissen, was wir ihm antworten sollen, ihn gehen lassen, grimmig zufrieden mit seinem Sieg; wir hassen ihn. Aber nach wenigen Tagen kehrt er zurück, blaß und niedergeschmettert, und sagt mit bewegter Stimme: »Laß mich bei dir sein, sprich zu mir von schönen, edlen Dingen; hebe mich ein wenig aus dem Schmutz empor, der mich erstickt«. Da fällt unser Zorn zu Boden; wir fassen wieder ein wenig Hoffnung,
In diesem fortwährenden Kampfe gewinnen wir zu ihm nach und nach eine Art ärgerlicher Zuneigung, welche uns manchmal antreibt, ihn anzuflehen, auf die Stirn zu küssen, ihm unser Haus anzubieten, unser Blut für seine Erlösung zu geben, und andre Mal ihm lieber den Tod zu wünschen, als auf diese Weise der langsamen Zersetzung seines Geistes und Körpers beizuwohnen. Wenn es uns gelungen ist, ihn einige Stunden durch eine heitere und tröstliche Unterhaltung in der Höhe zu erhalten, fühlen wir eine so lebhafte Genugthuung, daß es uns scheint, als hätten wir eine große Schuld gegen ihn und versucht sind, ihm für seine Wohlthaten zu danken. Und er thut uns in der That wohl, wenn er uns die ganze Verworfenheit zeigt, in die er gerathen ist; denn an dem Mitleid und Ekel, die er uns einflößt, erkennen wir deutlich, wie unsinnig jene heftigen Reaktionen gegen die hohen Aspirationen des Geistes und Herzens sind, zu welchen wir bisweilen durch die Wuth über unsre Ohnmacht getrieben werden, und die uns für einige Zeit in ein gedankenloses, rohes Leben stürzen, und wir fühlen tiefer, wenn wir mit ihm zusammengewesen sind, den Werth unsrer anständigen Freunde, unseres arbeitsamen Tagewerks und der reinen, kräftigen Luft, die wir einathmen. Bisweilen ergreift uns auch ein Schreck, wenn wir daran denken, daß wir sehr oft im Leben uns am Rande des Abgrundes befunden haben, in welchen unser Freund hinabgestürzt ist, in moralischen Zuständen, die den seinigen nicht ganz unähnlich waren; wenn wir nicht zu Grunde gegangen sind, wie er, so lag es nicht an unsrer Tugend, sondern am Glück, an einem Zusammentreffen von Umständen und Ereignissen, welches auch ihn gerettet hätte, wenn er sich darin befunden hätte. Dann fühlen wir, daß die Verachtung, die wir bisweilen für ihn fühlen, unrecht ist. Denn im Grunde sind wir nicht viel mehr werth, wenn wir uns wohl durchforschen, und dieses Gefühl führt uns eines Morgens in seine Dachkammer, freundlicher als gewöhnlich, um ihm einen Spaziergang aufs Land vorzuschlagen, während dessen wir unter den Eingebungen einer bescheideneren und aufrichtigeren Freundschaft einen neuen Versuch machen wollen.