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Wenja Kljutscharows Eltern wohnten schon über zwanzig Jahre im Hause Slawnow, und zwar immer in der gleichen Wohnung.
Eine derartige Seßhaftigkeit – oder soll man es mit »Gewöhnung« bezeichnen? – kommt ja zuweilen vor.
Die Fenster dieser Wohnung gehen alle nach dem Hof. Doch die Wohnung ist hell und freundlich. Vierter Stock, Sonnenseite.
Nur der Korridor ist eng und unheimlich.
Von seinem neunten Jahr an ging Wenja furchtlos diesen Korridor entlang. Vorher aber, selbst am Tage – nur im Laufschritt und klopfenden Herzens. Am Abend aber hätte man ihn weder mit Schokolade noch mit sonstigen Leckerbissen dazu bewegen können, über diesen Korridor zu gehen. Um keinen Preis wäre er gegangen!
Der Hof des Hauses schien Wenja ein riesiges, graues Feld mit zwei Pfaden.
Diese zwei Pfade waren die beiden mit Fliesen belegten Fußwege, die von den zwei Treppen zum Tor führten.
Von den übrigen drei Treppen führten keine Fußwege zum Tor.
Am Ende des Hofes, weit, weit weg. war an der kahlen Ziegelmauer, bis zum zweiten Stock hinauf, Brennholz aufgeschichtet.
Morgens und abends wurden die Holzscheite von einem Riesen, der eine weiße Bluse mit aufgekrämpelten Ärmeln trug, mit einem Beil gespalten. Dieses Beil – so schien es Wenja – war viel größer als er selbst und als alle anderen Kinder des Slawnowschen Hauses.
Merkwürdig und märchenhaft war es auch, daß der Riese das Holz nicht so spaltete, wie das gewöhnlich gemacht wird – er trieb einen eisernen Keil in das Scheit, hieb mit dem Beil darauf, und krachend barst der dicke Stamm.
An regnerischen Tagen, wenn Wenja nicht ausgehen durfte, sah er dieser Arbeit oft lange zu.
Nach dem Klang der Axt konnte er unterscheiden, ob das Scheit noch nicht nachgab oder ob es schon nahe am Zerbersten war.
Dann kam ein kleiner Junge gerannt, nahm eiligst einen Armvoll des gespaltenen Holzes und trug es davon.
Wenja beschloß, daß dieser Junge der Sohn des Riesen, also selbst ein künftiger Riese sei und daß sie das Holz zum Kochen ihres »Riesen«essens nötig hätten. Und selbstverständlich wurden da ganze Ochsen gebraten.
Als Wenja etwas herangewachsen war, verlor der Riese seine ganze Riesenhaftigkeit. Er erwies sich als ein hageres, mittelgroßes, ganz gewöhnliches Bäuerlein mit einem Spitzbart – ungefähr wie das Bäuerlein in Wenjas Lesebuch.
Wie Wenja aus Gesprächen mit ihm erfuhr, hatte er auch keinerlei Heldentaten vollbracht: mit der Riesenschlange hatte er nie gekämpft, vom Räuber Ssolowej hatte er keine Ahnung, und nie hatte er herrliche Fürstentöchter geraubt.
Er hatte auch keinen klingenden Heldennamen, sondern hieß ganz unheldenhaft – Chariton.
Und der kleine Junge, der immer so eilig das Holz abholte, war gar nicht sein Sohn.
Sie waren beide aus dem Malyschewschen Gemüse- und Bäckerladen im Hause Slawnow: Chariton war Bäcker, der Kleine – Laufbursche.
Als Wenja das erfahren hatte, empfand er etwas wie Unzufriedenheit, ja Groll gegen Chariton und den Jungen – als hätten sie sich über ihn lustig gemacht, ihn betrogen.
Je mehr Zeit verstrich, je größer Wenja wurde, desto mehr änderte sich alles.
Nicht zum mindesten das Slawnowsche Haus und der Hof.
Als Wenja das erste Jahr die Elementarschule besuchte, war der Hof bedeutend kleiner geworden: früher zählte Wenja von der Treppe bis zum Tor vierundfünfzig, ja sogar fünfundfünfzig Schritte, jetzt nur siebenunddreißig.
Das löste ein unbestimmtes Gefühl von Trauer in ihm aus, rief ein gewisses Mißtrauen der Vergangenheit gegenüber hervor – als hätte man sich auch hier über ihn lustig gemacht, ihn hintergangen.
*
Doch gab es in der Vergangenheit Dinge, die er nie vergessen konnte – frohe, lichte Tage.
Vielleicht auch nicht Tage, sondern nur Minuten, Augenblicke.
Auch waren sie nicht durch irgendwelche besondere Begebenheiten gekennzeichnet; die Begebenheit selbst schien ganz nebensächlich, das Wesentliche war die Empfindung.
So hatte sich seinem Gedächtnis eine ganz besondere, ganz grundlose Freude eingeprägt.
Wenja erinnerte sich: er war damals noch ganz klein, drei oder vier Jahre alt etwa, und er war auf das Küchenfenster geklettert. Ein gewöhnliches Küchenfenster war's mit einem Kasten darunter.
Drüben, auf dem gegenüberliegenden Küchenfenster, sah er ein Bündchen Radieschen liegen und zwei Gurken – zwei kleine, grüne Gürkchen.
Und sei es, daß die Sonne sie beschien, oder daß sie naß waren – sie glänzten so freudig, als ob sie lachten.
Es war ihm damals auch wirklich durch den Sinn gegangen: »Die kleinen Gurken lachen.«
Und er hatte es nicht ausgehalten vor Freude, hatte sein Glücksgefühl nicht allein tragen können.
Er war zur Mutter ins Zimmer gelaufen, hatte die Erstaunte am Rock gefaßt:
»Mütterchen, Mütterchen – die Gürkchen – ach, komm ...«
Er hatte es in seiner armseligen Kindersprache nicht erklären können. Ganz außer Atem war er, zog die Mutter am Rock.
»Komm in die Küche – die Gürkchen – komm –«
Die Mutter hatte ihn lachend geküßt und ihm dann zwei kleine Gurken gekauft – grüne, frische.
Doch nun war's vorbei mit der Freude.
Den ganzen Tag war er dann launenhaft gewesen. Ihm war so traurig zumute, und er hatte diesen ersten Kummer lange Jahre nicht vergessen können. Ebenso wie die erste Freude.
*
Es ereignete sich soviel. Besonders im Frühling und im Sommer gab's auf dem Hof viel zu sehen.
Allein schon die zahllosen Verkäufer!
Jeder von ihnen hatte eine besondere Art auszurufen, und jeder rief etwas anderes aus.
»Scheuerlappen! Scheuerlappen!«
»Moosbeeren! Frische Moosbeeren!«
»Holländische Heringe!«
Das waren die Frauen. Jede von ihnen hatte eine andere Stimme.
Die Scheuerlappenverkäuferinnen hatten unzufriedene, heisere Stimmen, die manchmal an das Quaken von Fröschen erinnerten.
Die Moosbeerenverkäuferinnen dagegen hatten freundliche, ja zärtliche Stimmen. Das Wort »frische« klang besonders einladend.
Die Stimmen der Heringsverkäuferinnen klangen traurig und näselnd.
Auch ihre Arme, die von den Bändern der Körbe zusammengezogen wurden, hingen traurig und schlaff herab.
Die männlichen Verkäufer waren viel interessanter als die Weiber.
Was riefen sie da alles aus:
»Fische – Fische! Barse! Newa-Lachs!«
»Knochen! Lumpen! Flaschen! Gläser!«
»Räucherfische! Räucherfische!«
Besonders gefielen Wenja die Newa-Lachs-Verkäufer. Was hatten sie für fröhliche Stimmen!
Das waren die Vormittagsverkäufer.
Um die Mittagszeit kamen die Blumenverkäufer. Gefrorenes wurde ausgerufen, und besonders häufig kamen Verkäufer mit »frischen Gartenerdbeeren«. Das waren meist bärtige Bäuerlein in roten Blusen mit schwarzen Pünktchen. Sie sahen aus wie Räuber oder Henker. Ihre weiten Ärmel flatterten im Wind. Auf dem Kopfe trugen sie lange Holzmulden, in denen die Körbchen mit den grellroten Beeren standen. Über den Körbchen flatterte ein rotes Tuch aus dem gleichen Stoff wie die Blusen.
Rot – rot – alles rot.
Schöne Männer waren diese Erdbeerenverkäufer ...
Zuweilen ereignete sich auch etwas Außergewöhnliches.
So hatte eines schönen Tages der besoffene Setzer Ssilesnew alle Scheiben in seiner Wohnung zerschlagen ...
Ein anderes Mal, im Herbst, an einem trüben, stürmischen Tag, ertrank der kleine Wolodja, der Sohn des Beamten Rumjanzew.
Von der Festung hörte man Kanonendonner – Überschwemmung!
Wie es sich später herausstellte, war der Kleine hingerannt, um die Überschwemmung zu sehen.
Ein schrecklicher Tag war es. Graue Wolken jagten dahin. Ein schräger, stechender Regen durchschnitt die Luft.
Und plötzlich hörte man unten im Hof die Stimme des Dworniks Dwornik = Hauswart. Jemeljan –
»Herr – Herr –« rief er.
Sie klang so erregt, diese Stimme. Jemeljan rief zu den Rumjanzewschen Fenstern im zweiten Stock hinauf:
»Herr – Herr – Ihr Söhnchen – ist ertrunken –«
Trotz des Unwetters hörte man das Öffnen des Fensters, dann Schritte, die dem Tor zueilten.
Die Mütze auf dem Kopf, ohne Mantel, mit aufgestelltem Rockkragen lief Rumjanzew dem Tor zu.
Laute Stimmen wurden hörbar.
Viele Hausbewohner liefen, trotz des Sturms, mit.
Auch Wenja wollte durchaus mit, doch die Eltern erlaubten es nicht.
Als Wenja zwölf Jahre alt war, florierte unter den Petersburger Kindern ein Spiel, das wie eine Seuche um sich griff. Eine Art Kartenspiel war's, doch nicht mit Spielkarten, sondern mit Deckeln und Böden von Zigarettenschachteln. Man tauschte sie untereinander gegen Geld, gegen Süßigkeiten, gegen Spielzeug. Man suchte in Gärten, auf Straßen und Plätzen nach weggeworfenen Schachteln. Es war eine wahre Leidenschaft, die die Kinder erfaßt hatte. Bis zur Selbstvergessenheit wurde mit diesen Deckeln und Böden gespielt. Raufereien entstanden. Es flossen Tränen.
Zu dieser Zeit zog ein neuer Mieter in das Slawnowsche Haus, Kapitän Odyschew.
Er selbst befand sich noch auf See. Vorläufig waren nur seine Schwester Sophie und seine beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, gekommen. Außerdem Hektor, der Hund.
Als die drei Möbelwagen in den Hof einfuhren, sah man, wie in solchen Fällen üblich, eine Menge Frauenköpfe an den Fenstern der Wohnungen.
Doch bildete weder das Ausladen der Möbel, noch die Möbel selbst und ihr Aussehen den Mittelpunkt des Interesses der Bewohner – das Hauptinteresse galt den Kindern des Kapitäns.
Dieses Interesse galt aber nicht so sehr ihrem Äußeren, obwohl es von dem der übrigen Bewohner des Hauses stark abwich (sie waren groß und stark, hatten dicke Beine, rote Wangen und Doppelkinne). Auch ihre Kleidung war es nicht, obwohl sie aus ihren stattlichen Körpern ziemlich lächerlich wirkte – sie trugen nämlich Matrosenanzüge, der Junge mit sehr kurzen Hosen, das Mädchen mit ebenso kurzem Rock, und breitkrempige Hüte mit herabhängenden Bändern.
Nein, wie gesagt, weder ihr Äußeres noch ihr Anzug erregten die allgemeine Aufmerksamkeit der Bewohner.
Ihr freches, fast möchte man sagen – beleidigendes Benehmen war's, das das allgemeine Interesse hervorrief.
Ihre erste Tat war, daß sie den riesigen Bernhardiner auf eine Katze hetzten, die über den Hof lief.
»Nimm sie, Hektor – nimm sie!« schrien sie aus voller Kehle.
Der große Hund sprang bellend um die Katze, die mit gesträubtem Fell dastand.
Aus den Fenstern rief man:
»Junge – Kinder! Laßt das – wozu denn –«
Die Tante unterbrach ihre Aufsicht über das Ausladen der Möbel und lief zu den Kindern.
»Anatol! Antoinette! Was macht ihr denn? Schämt ihr euch nicht?«
Sie war ein kleines Persönchen, bedeutend kleiner als Neffe und Nichte, war sehr mager und hatte ein dünnes Stimmchen.
Sie rannte geschäftig hin und her. Auf ihrem Kopfe wippte ein etwas merkwürdiger Hut mit Spitzen und Beeren.
»Kinder – schämt ihr euch nicht?«
»Dieser Schafskopf hat sie selbst entwischen lassen«, sagte der Junge zum Mädchen. »Nie fängt er eine Katze.«
»Der Hund ist eben klüger als ihr«, ließ sich eine Stimme aus einem Fenster vernehmen.
Die Kinder hoben die Köpfe und sahen hinauf.
Und wie auf Verabredung streckten beide die Zungen heraus.
Jemand lachte.
»Wartet nur – gleich komme ich hinunter und reiße euch an den Ohren«, rief der Beleidigte.
Und wieder, wie auf Verabredung, machten die Kinder diesmal zur Abwechslung »lange Nasen«.
Nach diesem Vorfall wurden sie nur noch wegwerfend »Toljka« und »Tonjka« genannt.
Die weitere Bekanntschaft der Slawnowschen Kinder mit denen des Kapitäns brachte einen großen Skandal.
Toljka gesellte sich zu den Kindern, die das neue Kartenspiel spielten, überfiel unerwartet einen der Spielenden, entriß ihm ein ganzes Paket und lief davon.
Die Kinder, die den langbeinigen Räuber nicht einholen konnten, klopften und polterten an der Wohnungstür, doch statt der Tante, bei der sie sich beklagen wollten, erschien mit furchtbarem Gebell Hektor, der Hund.
Alle Kinder rannten erschreckt davon.
Am gleichen Tage riß Tonjka, als sie auf dem Hof Petjka, dem Sohn des Setzers, begegnete, diesem die Mütze vom Kopf und zwang den schwächlichen Jungen, als er mit erhobenen Fäusten auf sie losging, in die Knie. Dabei rief sie laut und fröhlich:
»Grüße den König!«
Petjka war zu Tränen gekränkt, wagte es aber nicht, mit dem großen und dicken Mädel zu raufen.
Er lief davon und rief ihr nur von weitem einige Freundlichkeiten zu, die sie umgehend mit gleicher Münze erwiderte.
Ein andermal riß Tonjka beim Ballspiel einem kleinen Mädchen die Schleife aus dem Zopf und lief davon.
Das Kind weinte jämmerlich, holte seine Mutter und ging mit ihr zu Tante Sonja.
Aber auch sie wurden vom bellenden Hund empfangen und mußten unverrichtetersache abziehen.
Als man sich dann beim Dwornik beklagte und der sich zur Wohnung des Kapitäns begab, rief Toljka aus dem Fenster:
»He, Dwornik – auch auf dich werde ich den Hund hetzen – ich schwöre es dir bei allen Heiligen!«
Der Dwornik schüttelte den Kopf.
»Ein wahrer Räuber«, murmelte er. »Sie werden das Schleifchen schon wiederbekommen,« setzte er, zu den Anklägern gewandt, hinzu – »was sollten die auch damit?«
Einige Tage darauf fielen die Kinder über Toljka her, der über den Hof ging.
Der Bengel wehrte sich verzweifelt.
Er stellte sich an die Mauer, um nicht umringt zu werden, und schlug auf die Angreifer los.
»Gib die Karten zurück!« schrien die Jungen.
»Nein,« schrie er zurück – »nein, ich gebe sie nicht!« und wieder verteidigte er sich verzweifelt. Als er sah, daß er unterliegen würde, rief er über den ganzen Hof:
»Tonjka – laß Hektor heraus!«
Aber die Schwester, die er eine halbe Stunde vorher verprügelt hatte, steckte nur den Kopf zum Fenster heraus und sagte mit Seelenruhe:
»Fällt mir gar nicht ein. Verdrescht ihn nur ordentlich, ihr Jungen! Haut ihm auf die Nase – da ist er empfindlich. So ist's recht – so ist's recht!«
»Du Aas!« schrie er wütend – »laß Hekt...«
Aber man hatte ihn zu Boden geworfen.
Ein Knäuel von Leibern wälzte sich auf den Steinen.
Man hörte die Worte – keuchend – abgerissen:
»Gib – die – Karten – zurück –«
Und ebenso keuchend die Antwort:
»Ihr – könnt – mich –«
Fast aus allen Fenstern sah man dem Schauspiel zu, aber niemand nahm Partei.
Tante Sonja war nicht zu Hause.
Tonjka lachte und rief laut und lustig:
»So ist's recht – auf die Nase! Auf die Nase!«
Schon floß Blut aus Toljkas Nase.
Einer der Einwohner hatte schließlich genug von diesem wilden Schauspiel.
»Hört auf, Kinder! Ich lasse sofort den Dwornik holen!«
Der Dwornik kam. Die Schlacht hielt ein. Blutend und hinkend ging Toljka zu seiner Wohnungstür und setzte sich auf die Schwelle. Die Schwester, das wußte er, würde ihm doch nicht öffnen, bevor die Tante zu Hause war.
»Ist es dir gut bekommen? Hat's geschmeckt?«
Toljka drohte mit der Faust:
»Warte nur, ich werde es dir schon heimzahlen –«
Abends hörte man in der Wohnung des Kapitäns Tonjkas Jammergeschrei, Hektors Gebell und Tante Sonjas Stimme:
»Du Räuber – du wirst sie ja erschlagen! – O Gott – o Gott!«
Aber einige Augenblicke darauf lehnten Bruder und Schwester, beide erhitzt und hochrot, schon aus den Fenstern – er aus dem einen, sie aus dem anderen.
»Wieviel Haare sind dir noch übriggeblieben?« höhnte Toljka.
»Und dein Ohr? Hält es noch fest?« fragte Tonjka.
»Mein Ohr ist noch an seinem Platz, aber deine Haare reichen sicher nur noch für zwei Raufereien.«
»Hab' ich dich gut gebissen? Hast's gespürt?«
»Damit brauchst du nicht zu prahlen, das ist keine Heldentat – beißen kann jeder, der Zähne hat. Aber zum Faustkampf taugst du gar nicht.«
»Schafskopf – ich bin doch kein Bengel.«
»Wenn du kein Bengel bist, dann mach dich nicht mausig. Ich krieg' dich ja doch immer unter.«
»Krieg' dich unter – krieg' dich unter –« äffte ihm Tonjka nach – »da –«
Tonjka streckte die Zunge heraus, sprang vom Fenster. Auch Toljka sprang herab.
Und wieder hörte man Geheul, Gekreisch, Hektors lautes Gebell und Tante Sonjas dünnes Stimmchen:
»O Gott, Kinder – ihr bringt euch ja um –«
Dann das Klirren von Geschirr ...
Am nächsten Tage erschien Toljka mit verbundenem Kopfe auf dem Hofe.
Auf die Frage der Jungen, was denn geschehen sei, antwortete er mit Seelenruhe:
»Das Schwesterlein – mit einem Teller.«
»Nicht übel«, lachten die Kinder.
»Ich habe ihr aber auch einen gehörigen Denkzettel gegeben.«
Und in der Tat kämpfte Toljka mit der Schwester wie mit einem Bengel: er schlug mit der Faust und zielte immer aufs Ohr, auf die Nase, aufs Auge, und wenn ihm das zu lange dauerte, riß er sie an den Haaren, warf sie nieder, setzte ihr das Knie auf die Brust und rief triumphierend:
»Tod oder Leben!«
Und in seiner ganzen Gestalt, die weit über sein Alter hinaus entwickelt war, in seinem wilden Triumphgeschrei, seinen wild blickenden Augen, seinem Gladiatorengebaren lag etwas Barbarisches.
Nicht umsonst hatte er rasch den Beinamen »Barbar« erhalten. Freilich nannten ihn nur die Erwachsenen so.
Zuweilen kam es aber auch vor, daß Bruder und Schwester sich friedlich benahmen.
Dann wurden sie von allen gelobt.
Die Jungen spielten dann mit Toljka, schmeichelten sich bei ihm ein, lobten seine Kraft. Die Mädchen schwätzten mit Tonjka, umarmten und küßten sie und quittierten ihre überkräftigen Umarmungen nicht mit Geheul, sondern mit freudigerschrecktem Gekreisch.
Toljka neckte die Verkäufer nicht, prügelte nicht die Kinder, sondern geruhte gnädigst mit ihnen zu spielen, ja, er bewirtete sie sogar mit Zucker, den er immer in seinen Taschen hatte. Er erzählte höchst interessante Geschichten, die er von seinem Vater, dem Kapitän, gehört hatte, der, wie Toljka sagte, die ganze Welt wohl zehnmal bereist hatte.
Er prügelte auch den Gymnasiasten Lenja Schykalow nicht, wenn der ihn unterbrach, um Episoden aus Jules Vernes »Reise um die Erde in achtzig Tagen« zu erzählen.
Nur einmal, als Lenja ihn damit ganz besonders gelangweilt hatte, unterbrach ihn Toljka, um zu sagen:
»Dein Jules Verne hat achtzig Tage gebraucht, mein Vater aber immer nur vierzig. Einmal sogar nur fünfunddreißig.«
In solchen segensreichen Zeiten überhäufte Tante Sonja ihre Lieblinge mit Süßigkeiten, kaufte ihnen neue Kleider.
Toljka erschien in einem neuen Matrosenanzug, mit etwas längeren und bequemeren Hosen, auf dem Hofe. Statt des breitkrempigen Strohhutes trug er eine Mütze, unter der die blonden Haarbüschel hervorsahen.
An diesen gebenedeiten Tagen hatten seine sonst so wild blickenden Augen einen hellen, kindlichen Ausdruck.
Und Tonjka spielte mit den Mädchen »Ballschule« und sonstige friedliche Spiele.
Doch dann plötzlich, eines schönen Morgens, ertönte aus der Wohnung wieder Hektors Gebell und Tante Sonjas Gekreisch:
»Toljka – bist du verrückt geworden! Toljka – was machst du –?«
Toljka saß auf dem Fensterbrett und ließ die bloßen Beine herausbaumeln – aus der majestätischen Höhe des dritten Stockwerks.
Hinter ihm ertönte stockend, verzweifelt Tante Sonjas Stimme:
»Verrückter – du – wirst – dir – das Genick brechen –!«
»Gib mir fünfzig Kopeken, sonst springe ich hinunter«, sagte der Junge, indem er sich halb umwandte.
»Toljka – o mein Gott – was soll ich nur tun –!«
»Bitte ergebenst um fünfzig Kopeken! Was? Nein? Nun, dann lebe wohl!«
Tante Sonja kreischte über den ganzen Hof –
»Hi–i–i–ilfe!«
An den Fenstern zeigten sich Neugierige. Manche drohten mit dem Finger.
Doch das berührte den Jungen natürlich gar nicht.
»Tante, schämst du dich denn gar nicht, aus diesen schäbigen fünfzig Kopeken eine solche Angelegenheit zu machen?« fragte er frech, aber im Grunde genommen ganz vernünftig.
Schließlich bekam er natürlich das Geld.
Tonjka ging ihm nach und wollte ihren Teil der Beute haben.
Aber Toljka stopfte sich mit unerschütterlicher Ruhe die Süßigkeiten, die er gekauft hatte, in beide Backen, bot sogar den Kindern im Hof davon an, gab aber der Schwester gar nichts.
»Ah, schmeckt das gut – großartig!« sagte er schmatzend.
Jetzt hatte er wieder den wilden Ausdruck in den Augen: die oberen Lider waren hoch hinaufgezogen, die unteren zwinkernd zusammengezogen.
»Hier sind Fruchtpasten – bedient euch nur«, sagte er zu den Kindern.
Tonjka, hochrot vor Ärger, schielte zum Bruder hinüber.
»Wart nur – wenn Papa zurückkommt, werde ich ihm alles, aber auch alles erzählen!«
»Ich selbst werde ihm alles erzählen, dumme Gans. Das tue ich doch immer, du weißt es ja. Mach mal lieber ›schön‹ – fang das Konfekt auf. Ich werde werfen, und du fang auf! Aber mit dem Mund, nicht mit den Händen. Nun – eins, zwei –«
»Geh zum Teufel – bin ich denn ein Hund?«
»Nun – wie du willst. Jetzt gehe ich Gefrorenes kaufen.«
»Taugenichts! Dieb! Du hast die Tante bestohlen.«
»Sie hat's mir ja selbst gegeben.«
»Du hast ihr aber gedroht, daß du hinunterspringst.«
»Versuch's doch auch. Jag ihr einen Schrecken ein.«
Und Tonjka ging wirklich.
Aber sie machte es nicht mit Drohungen, sondern mit Tränen und Gekreisch.
Tante Sonja schrie:
»Ihr werdet mich ins Grab bringen.«
Das war ihre Lieblingsphrase. Aber schließlich bekam Tonjka doch, wenn auch nicht fünfzig Kopeken, so doch fünfundzwanzig.
Froh und eilig lief sie damit die Treppe hinunter. Aber unten lauerte ihr der Bruder auf.
Man hörte lautes Geschrei und haltloses Weinen.
Toljka kam aus dem Treppenhaus gerannt, ein Konfekt in der einen, fünfundzwanzig Kopeken in der anderen Hand.
Hinter ihm die schreiende Schwester:
»Haltet den Dieb –!«
Türen und Fenster schlugen. Erschreckte Gesichter wurden sichtbar. Tante Sonja jammerte:
»Kinder – ihr Unmenschen! O Gott – ich hole den Dwornik –!«
Aber der Bengel rannte das Mädchen um, stieß es mit den Füßen.
»Immer bist du einem im Weg – dumme Gans –«
Und weg war er.
Erst abends kam er wieder heim. Seine Lippen waren schwarz von Blaubeeren.
»Zwei Pfund habe ich aufgefressen«, prahlte er vor den anderen Jungen. »Immer eine Handvoll in den Mund – immer eine ganze Handvoll.«
Und er zeigte seine Hände, die auch ganz schwarz waren.
»Ich liebe Blaubeeren sehr«, fügte er hinzu. »Als wir im Sommer auf dem Gut waren, habe ich im Walde alle Blaubeeren aufgegessen. Den Mädchen habe ich sie aus der Hand gerissen – und den Jungen auch.«
*
Manchmal begingen Toljka und Tonjka ihre Schandtaten gemeinsam.
Als Ziel ihrer Späße wählten sie dann immer Tante Sonja.
Eines Tages, als sie sich nach einem recht tollen Spiel erschöpft und erhitzt in zwei Sessel warfen, sagte Toljka, indem er sich mit der Mütze fächelte:
»Du – weißt du, was ich ausgedacht habe?«
»Was?«
»Errat es mal.«
»Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich irgendeine Dummheit.«
»Dumme Gans – etwas sehr Schönes sogar.«
Er schnalzte mit der Zunge, und sein Blick aus zusammengekniffenen Lidern bekam einen grünlich schillernden Glanz.
»Also sag schon – sonst gehe ich spielen«, sagte Tonjka ungeduldig.
»Wir wollen Tante Sonja ›ins Grab bringen‹ –«
»Wa–a–as? – Wirklich ins Grab –?«
»Nein – nur zum Spaß –«
»Und wie?«
»Ich werde mit einem Messer auf einer Glasscheibe kratzen.«
»Und – sie?«
»Dumme Gans – sie fürchtet sich doch davor. Das ist für sie ebenso wie Küchenschaben. Du weißt es ja.«
»Dann wird sie einfach davonlaufen.«
»Das wird sie nicht können: einer von uns wird kratzen, und der andere wird sie festhalten und ihr nicht erlauben, sich die Ohren zuzuhalten.«
»Dann halte du sie, und ich werde kratzen«, schlug die Schwester vor.
»Ich kann besser kratzen,« erwiderte Toljka – »ein Liedchen werde ich anstimmen! Auch du wirst es nicht aushalten können. Weißt du, so: sssst – sssst –. Das ist dann so, als ob man einem auf dem Herzen herumkratzen würde.«
Tonjka war entzückt. Sie sprang von einem Bein aufs andere und klatschte in die Hände.
»Ja, ja – ich werde sie umarmen und sie festhalten, und du wirst kratzen – ja, Toljka? Ja?«
»Ja, natürlich – wie sich's gehört. Also komm.«
Sie rannten um die Wette nach Hause.
Schlau und hinterhältig gingen sie vor.
Toljka legte ein Stück Glasscheibe in ein Buch und ging mit lammfrommer Miene in Tante Sonjas Zimmer.
»Tante, darf ich in deinem Zimmer lesen?«
Die Tante, die an derartige »Zärtlichkeiten« nicht gewöhnt war, erlaubte es natürlich, freudig überrascht.
»Ja, mein Liebling – selbstverständlich.«
Der Nichtsnutz setzte sich bescheiden in eine Ecke und öffnete vorsichtig das Buch.
Auch die Tante machte sich an ihren Roman.
Nun kam auch Tonjka herein, das Lachen nur mit Mühe unterdrückend.
»Du solltest auch etwas lesen, Kindchen«, schlug die Tante freundlich vor. »Siehst du, wie artig Toljka ist.«
Tonjka verzog das Gesicht, um nicht zu lachen, und sagte niedergeschlagen:
»Ich habe Kopfschmerzen – ich werde mich niederlegen.«
Sie legte sich auf den Diwan.
Die Tante erschrak, setzte sich zu ihr, legte ihr die Hand auf die Stirn –
»Mein Gott! Wie Feuer! Ich werde dir Chinin geben.«
Und sie wollte aufstehen.
Da hustete Toljka. Das war das Zeichen. Die »Kranke« sprang auf.
Die erschrockene Tante hatte kaum Zeit, auszurufen:
»Was ist denn –?«
Schon umfingen sie Tonjkas kräftige Arme, und ihr Aufschrei verlor sich in Toljkas wildem Kriegsgeschrei und Tonjkas hellem Gelächter.
Vergeblich versuchte die kleine, schwache Tante, sich aus der machtvollen Umarmung der lieben Nichte zu befreien.
»Ihr Narren – was tut ihr denn –?«
An ihrem Ohr aber klang das Kratzen des Messers auf der Glasscheibe, ein ihr unerträgliches Geräusch. Sie zitterte, schrie von Zeit zu Zeit auf, blinzelte mit den Augen. Sie bot ihre ganze Kraft auf, um sich zu befreien, aber das kräftige Mädel hatte sie in die Ecke des Diwans gezwängt und lachte aus vollem Halse.
Toljka aber, erhitzt, die Zungenspitze zwischen den Lippen, mit wild blickenden Augen, fuhr mit ganz besonderer Sorgfalt und Virtuosität mit der Schneide des Messers über die Glasscheibe: ssssssst –
Die arme Tante Sonja hatte tatsächlich das Gefühl, als kratze man mit dem Messer auf ihrem Herzen.
Im Nebenzimmer bellte Hektor, den Toljka vorsichtshalber eingesperrt hatte.
»Lach doch nicht so laut!« schrie Toljka die Schwester an – »man kann ja die Musik nicht hören. Kannst später lachen.«
Die Tante flehte:
»Kinder, hört auf! Laßt doch die Dummheiten! Oh, Toljka – ich werde ja verrückt! Tonjka, schlechtes Kind – du zerbrichst mir ja die Rippen! O mein Gott – ihr Quälgeister – es ist ja schrecklich, was ihr da treibt –«
Sie schüttelte den Kopf, als ob sie ein lästiges Insekt verscheuchen wollte, kreischte auf, trampelte mit ihren schmalen Füßchen, in der Hoffnung wohl, das gräßliche Geräusch an ihrem Ohr zu übertönen. Jedoch vergebens. Tonjka, die nicht aufhörte zu lachen, hielt ihr die Beine fest.
»Tonjka, du Bär – laß doch los –!«
Aber Tonjka lachte weiter, und das scheußliche Gekratze hörte nicht auf.
»Ihr Quälgeister – ihr Narren – ihr bringt mich ja ins Grab –!«
Dieser letzte Satz ging unter in dem Freudengeheul und dem Gelächter der Kinder.
Toljka, ganz schwach vor Lachen, setzte sich auf den Fußboden, hörte aber nicht auf zu »arbeiten«.
Tonjka hatte ihr Opfer, das schon aufgehört hatte zu schreien, schon ganz mürb gemacht.
Nun bekam die Tante einen Weinkrampf.
Toljka rannte aus dem Zimmer.
Tonjka legte die Tante vorsichtig aus den Diwan und rannte dem Bruder nach.
Im Nebenzimmer warfen sich beide in tiefe Sessel.
»Ist mir aber heiß!« sagte Toljka und wischte sich den Schweiß mit dem Taschentuch ab. »Hast du gehört, wie schön ich die ›Donauwellen‹ gespielt habe? Hast du gehört?«
»Unsinn – ›Donauwellen‹«, lachte Tonjka.
»Doch, doch – die ersten Töne konnte man sehr gut erkennen.«
»Ist mir aber heiß«, sagte Tonjka und schloß ermüdet die Augen.
Im Nebenzimmer hörte man die Tante schluchzen.
»Wir haben sie zu lange gequält, Toljka.«
»Nun – und?«
»Wie – und! Hörst du denn nicht?«
»Ach, was,« meinte Toljka – »das sind eben auch ›Donauwellen‹. Das ist doch nicht das erstemal, daß wir sie ›ins Grab bringen‹ –«
Er lachte plötzlich laut auf.
»Was ist denn?« fragte die Schwester, zusammenfahrend.
»Sie hat doch gesagt: ›Ihr werdet mich ins Grab bringen!‹«
»Schafskopf – und du lachst?«
»Wein' ein wenig, artiges Kindchen!«
Schweigen.
Man hört Hektors Gebell und Tante Sonjas Schluchzen.
»Ich fürchte mich«, sagt Tonjka leise.
»Vor wem? Vor dem Bären?«
»Schafskopf – bist selbst ein Bär!«
»Nein – du! Du hättest sie ja fast erdrückt!«
Jetzt lacht Tonjka wieder. Dann sagt sie leise:
»Wie mager und schwach sie ist –«
*
Einige Tage vor der Ankunft des Vaters machte Toljka ein Verzeichnis all seiner Untaten.
Er schrieb es auf ein Blatt Papier. Einzelnes war sogar mit dem Datum versehen.
»Was werde ich eurem Vater sagen, wenn er kommt?« jammerte Tante Sonja händeringend.
»Ich werde alles selbst sagen – da ist die Liste.«
Die Tante las und erschrak.
»Mein Gott! Er wird dich ja erschlagen, Unglückseliger!«
»Hab keine Angst – ich habe ein dickes Fell.«
Als der Kapitän angekommen war, freuten sich alle im Hause.
Toljka kam zwei Tage nicht heraus. Am dritten Tage erschien er wieder im Hof.
Er ging etwas sonderbar steif – als habe man ihm Wasser hinter den Kragen gegossen.
Im Treppenhaus erzählte er Wenja und den größeren Kindern unter dem Siegel der Verschwiegenheit:
»Ganz gehörig hat er mich verprügelt! Ich habe ihm die Liste gegeben. Die Schwester habe ich nicht verraten, sonst hätte auch sie eine ordentliche Tracht bekommen. Ich gebe ihm also die Liste. ›Ist da alles drauf?‹ fragt er und raucht seine Zigarre. ›Einen Teller habe ich noch zerschlagen‹, sagte ich. › Wie zerschlagen?‹ fragt er. Und den Teller, wißt ihr, den hat ja Tonjka an meinem Schädel zerschlagen. ›So,‹ sage ich – ›zerschlagen ist nicht ganz richtig – ich habe ihn zerschossen.‹ – ›Dann bring mir Hektors Peitsche‹, sagt er – die Hundepeitsche also. Nun – und dann hat er mich eben verprügelt.«
»Tut's denn weh?« fragte man ihn.
»Es geht; sitzen freilich kann ich nicht.«
Petjka kicherte.
»Du hättest es gar nicht ausgehalten, du Jammerlappen – das ist sicher.«
»Und dir ist's gut bekommen –« kicherte Petjka weiter.
»Geschadet hat's mir jedenfalls nicht«, meinte Toljka wegwerfend.
Toljka Odyschew war in ganz kurzer Zeit zur Fabel des Hauses Slawnow geworden.
Auch die Ankunft seines Vaters und dessen etwas kräftige seemännische Züchtigung hatte keinerlei Einfluß auf sein böses Treiben gehabt. – Vergebens hatten Väter und Mütter im Hause Slawnow auf eine Besserung der Zustände gehofft.
Auch Tante Sonja hatte weiter Qualen zu leiden und wurde systematisch »ins Grab gebracht«.
Ihre Raufereien und bösen Händel führten die Kinder immer in Abwesenheit des Vaters aus, und da dieser erst spät abends heimkam, stand ihnen der ganze Tag zur Verfügung.
Tante Sonja beklagte sich beim Bruder nie über die »unglückseligen« Kinder, aus Angst, er werde sie erschlagen. Toljka behielt also seine Herrschaft über Haus und Hof.
Die Jungen des Hofes verfielen vollständig der Autorität seiner Kraft. Toljka machte, was er wollte. Gespielt wurde nur unter seiner Leitung und nach seinen Angaben. Es ging so weit, daß, wenn er aus Übermut eins der Kinder prügelte, die anderen nicht die Partei des Beleidigten, sondern die des Beleidigers nahmen.
Anders war es wohl auch nicht möglich.
Nur mit vereinten Kräften hätten die Kinder Toljka überwältigen können, doch Wenja, der, nächst Toljka, der Stärkste war, erschien nur sehr selten auf dem Hofe; ohne ihn aber hätten die Kinder nichts erreicht.
Einmal hatten sich sogar drei von ihnen zusammengetan – Antoschka, Petjka und Lenja. Aber das Unternehmen ging folgendermaßen aus: Antoschka wurde von seinem Vater, dem Pförtner, am Ohr vom Kampfplatz weggeholt, und die beiden übriggebliebenen Waffenbrüder traten, als sie ihre kräftigste Stütze verloren hatten, den Rückzug an. Zu ihrer Ehre sei's gesagt – kämpfend.
Tonjka, die, aus dem Fenster lehnend, die Angelegenheit verfolgte, konnte nun dem Verlangen nicht widerstehen, ihr ewiges Opfer, den kleinen, schwächlichen Setzersohn Petjka, etwas zu peinigen.
Als sie auf dem Hof erschien, hatte Toljka Lenja schon niedergerungen und setzte ihm das Knie auf die Brust. Mit der Hand versuchte er gleichzeitig Petjka zu fangen.
Tonjka packte Petjka mit beiden Armen und zwang ihn, trotz seiner Gegenwehr, mit Leichtigkeit nieder.
Der Triumph der Sieger war ein vollkommener. Um die Einmischung der Erwachsenen zu vermeiden (vor den Kleinen fürchteten sie sich natürlich nicht), verschleppten sie ihre Opfer ins Treppenhaus und ließen dort ihrem Siegesrausch freien Lauf. Nur mit Mühe entwirrte ein zufällig vorbeikommender Mieter das Knäuel mit seinem Stock. Weiß der Himmel, wie die Sache sonst geendet hätte.
Das Ergebnis war: für Petjka ein ganz zerkratztes Gesicht, Wunden an den Beinen, blaue Flecke überall und fehlende Knöpfe am Hemd; für Lenjka – ein blauer Fleck unter dem Auge, eine stark lädierte Lippe und zerrissene Ärmel.
Die Sieger erwiesen sich als völlig unverletzt.
Nach diesem Abenteuer unterwarfen sich die Kinder widerstandslos Toljkas Autorität.
Toljka aber hatte sich, zur größeren Festigung seiner Position, mit Nikitka, dem Sohn des Dworniks, angefreundet, einem kräftigen Bauernjungen, der im Kampf ausnahmslos alle überwältigte, Toljka nicht ausgeschlossen.
Der schlaue Toljka wußte, daß, solange Nikitka nicht auf seiner Seite war, man nicht mit absoluter Bestimmtheit auf einen Sieg rechnen konnte.
Er beschloß daher, den gefährlichen Gegner an sich zu fesseln.
Gleich nach der ersten Begegnung, das heißt nach der ersten Prügelei, forderte Toljka Nikitka, von dem er zweimal zu Boden geworfen war, zum Kampf heraus. Er nutzte die Plumpheit des dicken Bauernjungen aus, ließ alle seine Kampfeskünste spielen und zwang den Gegner auch wirklich nieder. Dann lobte er ihn und erzählte ihm geheimnisvoll von fabelhaften Kämpfen, die er schon ausgefochten hatte. Wie von ungefähr erwähnte er, daß er einst »aus Versehen« mit einem einzigen Faustschlag einen »riesenhaften Bauernjungen« erschlagen hatte.
Nikitka wollte das nicht so recht glauben. Aber Toljka bekreuzigte sich und sagte:
»Ich schwöre es dir bei allen Heiligen! Möge der Blitz mich erschlagen, wenn das nicht wahr ist!«
Nun glaubte es Nikitka, um so mehr, als im Augenblick dieses fürchterlichen Schwures Wolken heraufzogen und man fernen Donner hörte.
Toljka aber nahm Nikitka das Wort ab, daß er von seinem Geheimnis niemand etwas erzählen werde.
Das naive Bürschchen schwor einen heiligen Eid. Und von dem Tage an empfand er Toljka gegenüber eine ganz besondere Ehrfurcht, gepaart mit heimlicher Angst.
Während des Gewitters, das sich bald darauf entlud, hatte sich Toljka in Tante Sonjas Zimmer geflüchtet, hatte das Lämpchen vor den Heiligenbildern angesteckt und betete zu Gott, er möge ihn wegen seines falschen Schwures nicht vom Blitz erschlagen lassen ...
Wann er nur konnte, bewirtete Toljka den dicken Nikitka mit Süßigkeiten, nahm bei Meinungsverschiedenheiten immer seine Partei und verwandelte in kurzer Zeit den gutmütigen Mehlsack in einen äußerst zuverlässigen Gehilfen – weit zuverlässiger als Hektor.
Es genügte ein Wort Toljkas, um Nikitka dazu zu veranlassen, einen der anderen Jungen zu verprügeln.
»Verdrisch mal den Petjka«, befahl Toljka, und schon flog der arme Petjka unter Nikitkas schweren Tatzen kopfüber.
Er erhob sich weinend, flog aber sofort wieder.
»Fein!« lobte Toljka. »Aber – sei vorsichtig, sonst erschlägst du ihn noch am Ende – du weißt ja – so aus Versehen –«
»Ich habe ohnedies Angst davor«, meinte Nikitka glückstrahlend über dieses Lob. »Ich habe eine sehr schwere Hand – sieh dir mal meine Faust an!«
Petjka bat:
»Schlag mich nicht, Nikitka! Ich rühr' dich ja nicht an.«
»Warum schimpft er?« hetzte Toljka – »gib ihm einen ordentlichen Denkzettel.«
Mit lautem Schnaufen erwischte Nikitka den armseligen kleinen Petjka und gab ihm den gewünschten »Denkzettel«.
»Genug«, sagte nun Toljka. Und zu Petjka gewandt:
»Wenn du es deiner Mutter sagst, so hüte dich, wieder auf dem Hof zu erscheinen – wir würden dich einfach erschlagen.«
»Meiner – Mutter – werde ich nichts – sagen,« weinte Petjka – »aber – warum haut – ihr mich? Ich – tu euch ja – nichts –«
»Heul nicht, heul nicht. Da hätten wir dich noch ganz anders verdreschen können – nicht wahr, Nikitka?«
»Freilich,« bestätigte jener – »bei uns im Dorf prügeln sich die Leute an Feiertagen mit – Pfählen.«
»Hörst du,« meinte Toljka ernsthaft – »und du heulst schon, wenn man dich mit der Faust berührt. Und willst ein Junge sein?«
Nikitka besah den kleinen Kerl aufmerksam und sagte halb bedauernd, halb spöttisch:
»Ist das ein Menschlein! Wenn man dem einen Kohlkopf auf den Kopf legt, bricht er unbedingt zusammen.«
»Kämpf mal mit Lenjka«, sagte Toljka. »Wievielmal kannst du ihn zu Boden werfen?«
»Sooft du willst.«
»Nein – sag: wievielmal?«
»Sagen wir – zehnmal –«
Nikitka besah sich Lenjka, betastete ihm Brust und Rücken und sagte:
»Auch fünfzehnmal – sooft du willst –«
»Also dann fünfzehnmal.«
Lenjka, der Prügeleien nicht ausstehen konnte, versuchte sich loszureißen:
»Geh zum Teufel – ich mag nicht. Laß mich in Ruhe!«
»Das hat gar nichts zu sagen, daß du nicht magst –«
Nikitka warf ihn gewissenhaft einmal nach dem anderen zu Boden.
»Scher dich – kämpf mit Toljka –« keuchte Lenjka.
»Schon recht – schon recht«, schnaufte Nikitka.
Die Hände in den Hosentaschen, die dicken Beine in den viel zu kurzen Hosen, stand Toljka breitbeinig da und zählte:
»... elf, zwölf – also noch dreimal.«
Nach dem fünfzehntenmal kommandierte er:
»Noch fünfmal!«
Und Nikitka warf Lenjka noch fünfmal nieder.
»Genug«, sagte Toljka.
Nikitka wischte sich mit der Faust den Schweiß von der Stirn.
Lenjka war naß, als hätte man ihn aus dem Wasser gezogen. Er saß schwer atmend auf den Steinen.
»Der ist ja ganz außer Atem,« sagte Nikitka, auf ihn zeigend – »und mir macht's gar nichts.«
Er lachte:
»Was ist das für luftiges Volk, diese Städter! Viel luftiger als die vom Land.«
*
Sogar aus Erwachsene hetzte Toljka zuweilen seinen getreuen Zerberus.
Da kommt der besoffene, hinkende Schuster singend daher.
Toljka sagt zu Nikitka:
»Gib ihm einen Stoß! Er ist ja betrunken und hinkt auch.«
»Ja – und wenn er mich mit dem Stock schlägt?«
»Er wird schon nicht! Lauf die Treppe hinauf, komm von oben und mach, als hättest du ihn nicht gesehen.«
»Mach du es, Toljka –«
»Nein – das geht nicht. Weißt du, man wird dann gleich sagen, ich hätte es absichtlich getan. Aber beeil dich, sonst verpaßt du die Gelegenheit.«
Nikitka kicherte, ging, sah sich aber immer um – augenscheinlich hatte er etwas Angst.
Toljka drohte ihm mit der Faust:
»Wenn du noch lange zögerst, spiele ich nie mehr mit dir!«
Das genügte.
Nikitka rannte die Treppe hinauf und legte sich dort, in Erwartung seines Opfers, auf die Lauer.
Dann stürmte er plötzlich, die Mütze tief in die Stirn gezogen, leise vor sich hinpfeifend und mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter, flog mit aller Kraft gegen den auf sehr schwachen Füßen stehenden Schuster, warf ihn um und rannte, froh darüber aufatmend, daß ihm das nicht ganz ungefährliche Unternehmen geglückt war, auf den Hof hinaus.
Eine Weile darauf kam, hinkend und sich den Kopf haltend, der Schuster aus dem Treppenhaus.
»Was ist denn das für eine Frechheit?« schrie er – »hier werden ja die Menschen überfallen! Dwornik – Dwoooornik!«
Er klopfte mit dem Stock auf die Fliesen.
»Den Fall werde ich untersuchen lassen! Das lasse ich nicht so hingehen! Was sagst du? Kinder sind's, die spielen? Das ist doch kein Spiel, Menschen umzurennen!«
»Sie haben gesungen, Fjodor Fjodorowitsch«, sagt würdevoll der Dwornik und streicht seinen Bart. »Denken Sie, ich habe es nicht gehört? Sie sind ein verheirateter Mann, sind Familienvater und – trinken. Und das Singen hier im Hause ist überhaupt verboten. Das stört die Mieter.«
»Du hast mir gar nichts zu sagen«, ärgert sich Fjodor Fjodorowitsch. »Wie kommst du dazu, mir Vorwürfe zu machen? Du brauchst ja meinen Durst nicht zu stillen. Und was das Singen anbetrifft – das stört niemand. Man könnte gar denken, hier im Hause wohnen Könige, die das stört!«
Er klopfte wütend mit dem Stock und wiederholte:
»Ja – Könige! Tolle Kinder und tolle Hunde habt ihr euch jetzt hier zugelegt! Verdammte Äser!«
Er drohte mit dem Stock in die Ferne.
Nikitka aber meldete seinem Herrn:
»Jetzt habe ich ihm wahrscheinlich auch sein gesundes Bein zerbrochen. Der ist hingefallen!«
»Ja, das hast du gut gemacht,« lobte Toljka und klopfte Nikitka auf die runde Schulter – »du bist ein gesunder Bengel.«
Nikitkas Gesicht geht strahlend in die Breite.
»Ja, krank bin ich nicht – das ist schon richtig.«
*
Den Klagen der Hausbewohner wegen des geradezu unmöglichen Benehmens seiner Kinder begegnete der Kapitän mit kühlster Gleichgültigkeit.
»Nehmen Sie doch den Jungen tüchtig an den Ohren«, sagte er gleichmütig, seine Zigarre rauchend.
»Leicht gesagt ›an den Ohren nehmen‹! Um den Bengel zu überwältigen, braucht man zwei Dworniks.«
»Unsinn! Der Bengel ist doch nur ein Kind. Mit dem wird man schon fertig. Natürlich werde ich ihn verprügeln. Aber seine Raufereien wird er bestimmt nicht lassen.
»Dann lassen Sie ihn nicht in den Hof.«
»Dazu sehe ich keine Veranlassung«, meinte der Kapitän, seine Zigarre paffend.
Auch beim Hauswirt beklagte man sich ohne jeglichen Erfolg.
Slawnow, der mit dem Kapitän Odyschew befreundet war, nahm die Klagen noch kühler entgegen.
»Verzeihen Sie – aber wenn Ihre Kinder sich untereinander prügeln, kann ich doch nicht eingreifen. Ich kann doch einen Mieter nicht heraussetzen, weil Ihnen sein Sohn nicht sympathisch ist.«
»Nicht um Sympathien handelt es sich hier! Kinder, wie der Sohn des Kapitäns, gehören ja eigentlich in Fürsorgeerziehung.«
»Dann bringen Sie ihn hin«, schloß Slawnow spöttisch.
Die Vergehen waren ja in der Tat meistens nur geringfügig: eine Scheibe war zerschlagen worden, man hatte den betrunkenen Schuster umgerannt, hatte eine Hausbewohnerin im Finstern erschreckt; Tonjka hatte den kleinen Petjka so lange gekitzelt, bis er ohnmächtig wurde – nur mit Mühe hatte man ihn wieder zur Besinnung gebracht.
Die Hauptangst der Eltern bestand darin, daß die bösen Händel der Kapitänskinder einen schlechten Einfluß auf den Charakter ihrer Spielkameraden ausübten.
Dieser böse Einfluß äußerte sich auch in der Tat.
Nikitka, der Sohn des Dworniks, von Toljka angespornt, behandelte die Kinder, wie etwa ein Riese sein Spielzeug: er warf sie umher, drehte ihnen die Arme aus, quetschte ihnen die Beine ab.
Es war ganz augenscheinlich: die Kinder wurden verdorben; die stillsten und artigsten wurden zu Raufbolden, schimpften unflätig.
Toljka, den man deshalb zur Rede stellte, schwor wieder einmal bei allen Heiligen, daß er nie ein Schimpfwort gebrauche, überhaupt keines kenne.
Wenja hatten die Eltern verboten, mit Toljka zu spielen. Er hatte auch selbst keine Lust, dem Kapitänssohn näherzutreten.
Es war merkwürdig: seit dem ersten Zusammentreffen mit Toljka hatte dieser sein Interesse erweckt. Nicht etwa, daß er ihm gefiel – nein, aber aus irgendeinem Grunde kam er ihm interessant vor.
Später aber, als Toljka begann, ihm ein ganz ausgesprochenes Wohlwollen entgegenzubringen, zog Wenja sich immer mehr von ihm zurück.
»Unter allen Kindern bist du der einzige wirkliche Junge, Wenja«, sagte Toljka. Wenja aber hatte den unwiderstehlichen Wunsch, Toljka nicht zu sehen, nicht zu hören.
Nicht etwa aus Furcht, Toljka, dieser Raufbold, werde ihm etwas Böses antun – nein, das war es nicht: etwas in Wenjas tiefinnerstem Wesen sträubte sich gegen Toljkas Wohlwollen.
Wenn Toljka den Kindern interessante Geschichten erzählte, wandte er sich ausschließlich immer nur an Wenja, und anfangs hörte Wenja voller Interesse zu.
Toljka erzählte von einem Schiff, das während eines Sturms im Indischen Ozean untergegangen war.
Die Kinder saßen wie verzaubert da und wagten kaum zu atmen, um nur ja keine Silbe von der Erzählung zu verlieren.
Toljka erzählt gut. Er drückt sich nicht grob aus wie gewöhnlich, sondern gebraucht augenscheinlich fremde Worte. Seine Stimme ist nicht laut und schrill, sondern weich und einschmeichelnd – es ist gar nicht seine Stimme.
Je interessanter die Erzählung wird: schon schlagen die Wellen über dem Verdeck des sinkenden Schiffes zusammen, die Matrosen beten laut und nehmen Abschied voneinander – desto mehr fühlt Wenja, daß er nicht mehr zuhören kann. Er steht auf und geht weg.
Und wie er aus dem Treppenhaus, in dem die Versammlungen gewöhnlich abgehalten werden, auf den Hof tritt, ist es ihm ganz unfaßlich, daß das der Hof des Hauses Slawnow sein soll – er ist ihm ganz unbekannt ...
Und doch ist alles wie gewöhnlich.
Da sind die beiden mit Fliesen belegten Fußwege, die von den Treppen zum Tor führen; da sind die erst neulich frisch gestrichenen, gelben Mauern der Seitenflügel ...
Da ist auch seiner Eltern Wohnung. Sieben Fenster zählt er. In den Fenstern stehen die ihm wohlbekannten Blumen – Kakteen, Geranien, ein Rosenstock. Alles ist ihm längst bekannt – er könnte es mit geschlossenen Augen aufzählen – und doch auch wieder alles unbekannt ...
Und er begreift unklar – schuld daran ist Toljka. Die Erzählung vom sinkenden Schiff und Toljka selbst sind schuld daran. Aber auch, wenn Toljka nichts erzählt hätte, wäre er schuld daran gewesen ...
Was hat er denn getan? Woran ist er eigentlich schuld? fragt sich Wenja, indem er die Treppe zu seiner Wohnung emporsteigt.
Darauf kann er keine Antwort finden. Merkwürdig kommt ihm das vor und – unangenehm.
Er setzt sich aufs Fenster und sieht zu, wie die Kinder Ball spielen.
Toljka ist nicht dabei, und es ist interessant und lustig, zuzusehen.
Nun kommt Toljka gerannt – und plötzlich bekommt das Spiel ein ganz anderes Gesicht: das einfache, wohlbekannte Spiel ist unmöglich geworden – es ist ein böses, ein ganz schlechtes Spiel – es ist überhaupt kein Spiel mehr ...
Toljka ist schuld daran – Toljka ist der Böse – der Böse ...
»Wenja, du wirst hinunterfallen«, sagt eine bekannte, liebe Stimme erregt.
Wenja führt zusammen.
Er sitzt auf dem Fensterbrett. Die Kinder spielen nicht mehr im Hof. Die Schornsteine des gegenüberliegenden Seitenflügels sind sonnenbeschienen. Es ist also Abend.
Die Mutter streicht ihm über das Haar und sagt zärtlich:
»Leg dich schlafen, mein Kind! Schläft man denn auf dem Fenster?«
»Ich habe nicht geschlafen«, antwortet Wenja.
»Nur geschnarcht – nicht geschlafen«, sagt die Mutter lächelnd.
»Nein – Toljka hat nicht geschnarcht – Toljka ist – der Böse –«
»Du redest ja Unsinn – du bist schläfrig«, sagt die Mutter sanft.
Wenja wird plötzlich von einem ihm unerklärlichen Gefühl der Unruhe erfaßt.
Mit beiden Händen umklammert er die Hand seiner Mutter und sagt, ohne selbst recht zu begreifen, was er sagt:
»Mütterchen – ich will Toljka nicht –«
»Wie meinst du das, Kind?«
Die Mutter versteht nicht.
»Den Toljka will ich nicht –« wiederholt Wenja eindringlicher. Seine Stimme bebt – er zittert am ganzen Körper.
»Das ist auch nicht nötig, mein Kind – du sollst mit ihm nicht spielen. Er ist ein schlechter Junge.«
Aber Wenja sagt immer erregter:
»Mütterchen, liebes – du verstehst mich nicht! Ich will ihn nicht, den Toljka! Verstehst du mich, Mütterchen?«
Er ist ganz verzweifelt, daß die Mutter ihn nicht versteht.
»Mütterchen – Mütterchen –«
Die Mutter erschrickt.
»Was ist geschehen? Hat er dich geschlagen, dieser schlechte Junge? Sag – hat er dich geschlagen?«
»Nein, Mütterchen. Aber du verstehst mich nicht! Versteh mich doch endlich: wozu ist Toljka? Er ist nicht nötig – nicht nötig – hast du mich auch jetzt noch nicht verstanden?«
Er fängt plötzlich an, laut zu schluchzen.
Der Vater tritt ein und sagt ärgerlich:
»Dieser Toljka macht sie ja alle verrückt. Man wird die Sache anzeigen müssen.«
Der Vater hatte Wenja streng verboten, auf dem Hof zu spielen.
»Geh in den Garten. Das ist viel besser, als wenn du dich auf dem stinkigen Hof herumtreibst. Oder lies mehr.«
Wenja machte sich ans Lesen. Er kaufte sich drei Bücher. Sie waren billig und hatten herrliche, bunte Einbände, die noch nach Farbe dufteten. Auch die Titel waren herrlich: »Der schwarze Kapitän«, »Die Schlacht der Russen mit den Kabardinern« oder »Die auf dem Grabe ihres Mannes sterbende schöne Mohammedanerin« und die arabische Erzählung: »Die Schlange des Bosporus«.
Doch, obwohl die Bücher interessant und spannend waren, kam Wenja von einem unerklärlichen, bedrückenden Gefühl nicht los.
Es war, als erinnerten ihn die Bücher an etwas Schlechtes.
Und plötzlich hatte er's – der »Schwarze Kapitän« trug die Schuld. Das erinnerte ihn an Toljka – Toljka war ja der Sohn eines Kapitäns.
Er legte das Buch weg – er hatte die Lust verloren, es zu lesen.
Vom Hof herauf aber tönten die Stimmen der Kinder, die Soldaten spielten.
»Lllinks herum – marsch!« hörte er.
Toljka ist der Kommandant, dachte Wenja. Gestern noch hatte Toljka ihm den Vorschlag gemacht:
»Du sollst Offizier sein, Wenja. Ich bin der Kommandant, und du bist mein Gehilfe. Du sollst nicht eingeübt werden, brauchst auch nicht auf Posten zu stehen. Du sollst nur immer nachsehen, ob die anderen Posten nicht schlafen.«
Aber Wenja wollte nicht.
»Du scheinst böse auf mich zu sein«, meinte Toljka. »Ich halte dich für den Besten – und du magst mich nicht.«
Bei der Erinnerung an dieses Gespräch empfand Wenja wieder eine unerklärliche Unzufriedenheit.
Vom Hof her aber hörte er:
»Rrrechts – kehrt! Eins – zwei, eins – zwei! Laufschritt!«
Es überkam ihn eine unüberwindliche Lust, auf den Hof, zu den Kindern, zu gehen. Und er ging.
Nicht, um mit Toljka Soldaten zu spielen – nur um Toljka zu sehen, sein Gesicht zu sehen, das er haßte.
Als er die Treppe hinunterging, war es ihm wie in einem bösen, schweren Traum, aus dem man erwachen möchte und nicht kann.
Auf dem Hofe angelangt, ging er den Marschierenden entgegen, blieb aber plötzlich stehen.
Aus dem Fenster der Wohnung im ersten Stock, in die gestern ein neuer Mieter, ein Tischler, eingezogen war, stieg ein Junge in einem bunten Hemd. Er war bloßfüßig und ohne Mütze.
»Was siehst du mich an? Hast wohl noch nie einen Jungen gesehen?« rief der Junge.
Nun war er herabgesprungen und ging an Wenja vorbei. Er machte ganz kleine Schritte, drehte sich hin und her und zuckte mit den Schultern, als wollte er eben anfangen zu tanzen. Recht behend schien er zu sein und ein Raufer. Seine Haare waren zerrauft; feuerrot waren sie und standen nach allen Seiten weg, als wären sie eben noch gezaust worden. Das Gesicht war voll Sommersprossen.
Das ist der Neue, dachte Wenja – der vom Tischler.
Er ging dem Jungen nach. Als der die Spielenden erreicht hatte, rief er im Unteroffizierston:
»Abteilung – kehrt!«
Und zu Toljka gewandt:
»He, du, Generalmajor Slepzow – so muß kommandiert werden!«
Die Ordnung war gestört.
Die Jungen blieben stehen und blickten den wunderlichen Unbekannten erstaunt an.
»Ein Rothaariger!« platzte einer heraus.
»Rothaarig! Rothaarig!« wiederholten jetzt einige, schon etwas lauter.
Der Junge öffnete den Mund, der gerade war wie ein Strich, fletschte seine gelblichen Zähne und sagte, nachäffend:
»Rothaarig – rothaarig! Ach, ihr versteht ja gar nicht zu spotten! Macht man sich denn so über einen Rothaarigen lustig?«
»Wie denn? Wie denn? Sag – wie?«
Ernsthaft und sorgsam, als singe er ein wirkliches Lied, mit der Hand den Takt schlagend und leicht mit dem Fuß aufstampfend, begann er:
»Sagt zum Rothaar'gen der Rote:
›Womit ist dein Bart bemalt?‹
›Nicht bemalt ist er‹, sagt der:
›Hab' der lieben Sonne ihn
Neulich ich gehalten hin –
Die hat ihn gefärbt so sehre,
Als ob's Blut und Farbe wäre.‹«
Er kratzte sich hinter dem Ohr und ging tänzelnd auf Toljka los:
»Onkelchen – he, Onkelchen – hol mir einen Sperling.«
»Wer bist du?« fragte Toljka streng und wurde rot bis an die Ohren.
»Ich, Euer Hochwohlgeboren, bin ein ganz hervorragender Mensch. Geboren bin ich in Pske im Gouvernement Amerika. Timocha heiße ich, mein Hemd ist getupft, meine Hose ist gestreift. Siehst du – das bin ich«, schloß er und schnalzte mit der Zunge, daß es wie ein Pfropfen knallte.
Dann, ohne die Kinder zu beachten, die vor Entzücken jauchzten, Toljka scharf in die Augen sehend:
»Geboren bin ich im Jahre achtzehnhundertunbekannt, Tag und Monat weiß ich nicht – ich war nämlich besoffen, als ich zur Welt kam. Und du, sag mal – du gehörst wohl zu den Hühnerhunden?« fragte er plötzlich Toljka.
»Wieso – Hühnerhunde?« fragte jener und wurde noch röter.
»Zu den Adeligen, mein' ich. Trägst Weiberstrümpfe, hast eine Fratze wie Milch und Blut und – eine Rotznase.«
»Sein Vater ist Kapitän«, sagte eins der Kinder.
»Kapitän auf einem zerschellten Schiff – ja, ja – ich weiß«, brummte der Rothaarige. Dann fuhr er fort:
»So – so. Und wie heißt du, wenn ich bitten darf? Schorschi oder Eugenchen vielleicht – wie?«
»Warum neckst du mich?« sagte Toljka, ganz nah an ihn herantretend. »Was bin ich dir für ein Schorschi?«
»Du willst wohl raufen? Wart – dazu ist noch Zeit«, wehrte der Rothaarige mit Seelenruhe ab. »Freilich, ohne Rauferei wird's schon nicht abgehen zwischen uns, das ist gewiß. Aber laß mich zuerst mit den Kindern Bekanntschaft machen. He, du – Vollmond!« rief er Nikitka an. »Oh, hast du aber eine dicke Fratze!«
Er trat auf den verblüfften Jungen zu, beguckte ihn aufmerksam wie eine Sache und fuhr ernsthaft fort:
»Ja, weiß Gott, recht ansehnlich siehst du aus – wie eine Kommode aus Mahagoni. Der kämpft wohl allein gegen euch alle? Wo werden solche Fleischklumpen nur hergestellt? Du kannst ja eine Menge Geld verdienen – willst du das nicht?«
»Wie – Geld? Wo?« Nikitka verstand nicht. Der ernsthafte Ton des Rothaarigen hatte ihn irregeführt.
»Wie? Das weißt du nicht?« staunte jener. »Wo? Nun, im Zoologischen Garten. Bei Gott, dich kann man für Geld zeigen. Das Publikum wird bestimmt extra deinetwegen hingehen. Ach, Freund, da läßt du ja ein sicheres Geschäft fahren. Spielt hier Soldaten, verrenkt sich die Beine bei eins – zwei, eins – zwei! Aber vielleicht hast du viel Geld?«
»Nikitka, hau ihm doch eins in die Fresse! Warum verhöhnt er dich, der rothaarige Teufel?« rief Toljka.
»Die Fresse hat ja auch einen Herrn«, antwortete der Rothaarige.
Nikitka kam schnaufend heran und gab ihm einen Stoß mit der Schulter.
»Roter Teufel, du – willst dich mit mir einlassen! Also – komm!«
»Wart«, stieß ihn der Rothaarige leicht zurück. »Ich will mich nicht mit dir herumbalgen. Aber kämpfen wollen wir. Das ist dir sicher auch angenehmer.«
Nikitka. der in der Tat vom Kampf mehr Erfolg erhoffte, willigte ein:
»Also gut – denkst wohl, ich bin schwach? Nun – los!«
Der Rothaarige wies auf die Mitte des Hofes:
»Komm hier heraus.«
Unter den Kindern entstand eine große Aufregung.
»Der Schafskopf – warum fängt er mit Nikitka an?«
»Nikitka wird ihn ja zermalmen!«
Die Kämpfer hatten einander schon gepackt.
Der Rothaarige, der fast um einen Kopf kleiner war als Nikitka und bedeutend dünner, stellte seine langen, mageren, etwas krummen Beine auseinander und stemmte sie wie Eisenstanzen fest.
Nikitka bog den Gegner verzweifelt hin und her und drückte ihm seine breite Brust gegen das Gesicht.
»Jetzt wird er ihn erdrücken«, flüsterten die Kinder untereinander.
Der Rothaarige aber schrie:
»Oho! ist das eine Brust! Wie ein Kissen! Du hast dich aber gehörig angefressen.«
Er klopfte auf Nikitkas dicken Rücken:
»Einen feinen Vorrat hast du da.«
Nikitka, blutrot im Gesicht, schnaufte über den ganzen Hof.
Nun ließen sie einander los.
Der Rothaarige schüttelte den Kopf:
»Kräftig ist er ja, das muß man ihm lassen. Ein schwaches Bäuerlein würde er entschieden zu Brei verrühren. Nichts als Fleisch und Fett! Und eine Farbe hat er! Wie eine rote Rübe – sogar die Beine sind rot. In dem Kerl ist sicher ein ganzes Faß Blut.«
Die anderen Kinder standen schweigend da; noch konnten sie nicht entscheiden, wer die Oberhand bekommen würde. Sie verhielten sich also vorläufig zurückhaltend.
Nikitka aber keuchte aufgeregt:
»Wart, wart – dir will ich schon zeigen –«
»Siehst aus, als kämst du eben aus dem Dampfbad – uf–uf–uf!« neckte der Rothaarige. »Hast dich jetzt ausgeruht – Dampfmaschine? Also, komm – Fortsetzung.«
Wieder umklammerten sie einander, stampften den Boden.
»Halt dich an der Luft fest!« rief plötzlich der Rothaarige mit durchdringender Stimme.
Ein Ruf der Bewunderung entfuhr den Zuschauern.
Der Rothaarige hatte den schweren Gegner aufgehoben, schwenkte ihn einmal hin und her und warf ihn zu Boden.
»Ho – ho – ho – ho!«
Die Kinder sprangen wie besessen umher.
»Hoch, der Rothaarige! Hoch!«
»Bravo!«
»Nikitka – schämst dich nicht?«
»Ätsch – ätsch!«
Nikitka erhob sich langsam.
»Hast dir weh getan?« fragte der Rothaarige teilnehmend. »Ihr habt ja aber auch ein scheußliches Pflaster hier auf dem Hof. Bei uns, in der Narwaer Vorstadt –«
Aber er sprach nicht zu Ende. Toljka hatte zwei lange Schritte gemacht, hatte rasch den Arm erhoben und dem Rothaarigen von hinten auf das Ohr geschlagen.
Der machte einen Purzelbaum über den sich eben erhebenden Nikitka, stand aber sofort wieder auf beiden Beinen.
»Das war ein guter Schlag. Nur von hinten – das taugt nicht!«
Er wußte sofort, woher der Schlag gekommen war.
»Ah – Herr Kapitän! Das macht aber einem Kapitän keine Ehre!«
Toljka wartete schweigend mit leicht zusammengekniffenen Augen.
Der Rothaarige stürzte sich auf ihn.
Toljka schlug kräftig zu, doch die Schläge des Rothaarigen waren ganz ungewöhnlich.
Es war, als stecke in seiner Faust die ganze Kraft und der ganze Ungestüm seines behenden Körpers. Wie Schüsse waren diese Schläge – kurz, scharf.
Toljka begann, sich zurückzuziehen.
Aber der Rothaarige ließ nicht von ihm ab. Seine Schläge wurden immer rascher, immer schärfer. Ein wahrer Hagelschlag. Das Aufschwingen seiner Arme merkte man schon gar nicht mehr.
Das Entzücken der Kinder war grenzenlos.
»Rothaariger – Rothaariger!«
»Fein – fein hast du's gemacht!«
»Der ist ja wie ein Kreisel!«
»Ah – ah – ah –!«
Toljka war zu Boden gestürzt. Er sprang gleich wieder auf, fiel aber sofort wieder hin. Nase und Oberlippe waren blutig geschlagen.
»Toljka, ergib dich!« schrien die Kinder durcheinander.
Der Rothaarige stand abwartend da.
»Nun? Noch?« fragte er etwas außer Atem.
»Ge–nug«, sagte Toljka und spuckte Blut aus.
Er trat einige Schritte beiseite, weinte plötzlich laut auf und lief davon.
Wenja fühlte, wie eine Blutwelle seinem Herzen zuströmte.
Es litt ihn nicht mehr hier.
Springend und hüpfend lief er über den Hof und die Treppe hinauf.
»Mütterchen! Väterchen! Mütterchen!« rief er laut.
Die Mutter kam ihm erschreckt entgegengelaufen.
»Mütterchen – Mütterchen! Eben – eben ist Toljka verprügelt worden! Hörst du, Mütterchen? Toljka hat soeben geweint! Toljka hat geweint!«
Der Sieg des Rothaarigen über Toljka war kein endgültiger.
Sie kämpften nachher noch oft »friedlich« miteinander, und der Sieg blieb unentschieden.
Der Rothaarige sagte dann, ohne einen Funken von Groll gegen Toljka, zu den Kindern:
»Der versteht's aber wirklich recht gut, obwohl er zu den Herrschaften gehört. Kräftig ist er – das muß man ihm lassen.«
»Aber gegen dich kommt er doch nicht auf – nicht wahr?« schmeichelten die Kinder.
»Doch! Mal besiege ich ihn, mal besiegt er mich. Freilich – wenn's Ernst wird, dann ist's was anderes. Wenn ich nämlich ernstlich kämpfe, dann verdoppeln sich meine Kräfte. Dann trete ich nicht zurück – eher laß ich mich töten.«
Und in der Tat: bei ernstlichem Aneinandergeraten siegte der Rothaarige immer über Toljka. Freilich nur mit großer Mühe.
Aber noch solchen Siegen war er stets sehr ermattet. Seine »verdoppelte« Kraft fiel in sich zusammen. Schweißtriefend und blaß saß er dann da, und seine sommersprossigen Finger zuckten. Toljkas dagegen, des Besiegten, Wangen röteten sich, und seine breite Brust atmete tief und frei.
In solchen Augenblicken bedauerte Wenja den Rothaarigen und haßte Toljka noch mehr.
Aus den Kämpfen mit Nikitka ging der Rothaarige nicht immer als Sieger hervor.
Oft, wenn es ihm gelungen war, dank der Plumpheit des Gegners, einen Sieg über ihn zu erringen, warf Nikitka den Sieger leicht wieder ab, warf sich mit seiner ganzen Schwere auf ihn und umklammerte ihn.
»Wie ein Bär bin ich,« pflegte er zu sagen – »ich erdrücke euch alle mit meinem Gewicht.«
Aber, wie dem auch sei: seit dem Erscheinen des Rothaarigen auf dem Hof hatten die Kinder aufgeatmet.
Toljka und Nikitka trieben es jetzt lange nicht mehr so arg.
Einmal hatte sich der kleine Petjka, den Nikitka blau und grün geschlagen hatte, beim Rothaarigen beklagt.
»Immer schlägt er mich und zerbricht mir fast die Knochen. Frag die Kinder, wenn du es mir nicht glaubst«, jammerte er.
Der Rothaarige ging zu Nikitka und warnte ihn:
»Hüte dich, du Mondgesicht! Wenn du mir die Kleinen anrührst, schlag ich dich blutig.«
»Den Petjka meinst du? Das ist doch kein Kleiner – der ist ja sogar älter als ich«, rechtfertigte sich Nikitka.
»Schafskopf! Älter als du! Vergleich dich doch mit ihm – was ergibt sich? Ein Elefant und ein Floh.«
Petjka aber gab er den Rat:
»Und du, kleiner Heulmeier, hau ihn mit allem, was dir gerade unter die Hände kommt: mit einem Stein, mit einem Holzscheit – ganz gleich.«
Und zu den Jungen:
»Ihr seid aber auch sonderbare Heilige. Die beiden, Toljka und Nikitka, freunden sich an, und ihr seht zu – als ob sich das so gehören würde. Wenn in unserer Narwaer Vorstadt solche zwei sich zusammentun würden – die würde man bald trennen.«
»Ja was sollen wir denn mit ihnen anfangen,« schnatterten die Kinder – »mit den zwei Ungeheuern?«
»Ach was – Ungeheuer! Ihr fürchtet euch ja nur, und das ist gar nicht nötig. Euch alle zusammen werden sie schon nicht erschlagen. Seht ihr, mich schlägt der Meister schon seit zwei Jahren nicht mehr. Wenn er nämlich den Riemen erwischt, greif ich unbedingt zum Hobel oder zum Stemmeisen. Ihr müßt es auch so machen. Nicht die Körperkraft macht es aus – haut mit allem, was euch unter die Hände kommt, drauflos. Hauptsächlich aber – alle zugleich! Ihr macht es ja immer so, daß, wenn einer geschlagen wird, die anderen zusehen und womöglich noch hetzen. Alle zusammen aber könntet ihr den Toljka und den Nikitka, und mich obendrein, ordentlich verbleuen.«
»Ein braver Kerl ist er«, sagten dann die Kinder untereinander.
»Ja, das ist er. Das macht gar nichts, daß er rothaarig ist.«
»Es gibt eben verschiedene Rothaarige.«
»Sie fürchten sich ja alle vor ihm.«
»Nein, zu zweit fürchten sie sich nicht vor ihm. Toljka allein fürchtet sich nicht vor ihm. Und wenn gar der Nikitka dabei ist, wird er keinesfalls mit ihnen fertig.«
»Wir müssen unbedingt zum Rothaarigen stehen – nicht wahr?«
»Ja natürlich – ohne ihn sind wir ja verloren.«
Die Kinder lebten förmlich auf.
Petjka wurde ganz fröhlich und bekam sogar rosige Wangen.
Nikitka ließ ihn jetzt in Ruhe. Nur manchmal »spielte« er ein wenig mit ihm. In ihm brodelten ja förmlich das Blut und die Kräfte.
Seine Gesundheit, seine Kraft beglückten ihn, mochten ihn übermütig. Da ist es schwer, der Versuchung zu widerstehen, einen kleinen Schwächling zu drücken, zu pressen und um und um zu wenden.
Jedem gesunden Kinde fällt es schwer, sich von Raufereien und Gewalttaten zu enthalten.
Wie soll man sich wohl enthalten? Das gesunde Blut ist stärker und will sich austoben.
Es pocht und hämmert in den Adern und sucht Betätigung.
Da liegt manchmal Nikitka Sonntags bloßfüßig im Sande am Kanal und frißt Sonnenblumenkerne.
Er kann kaum atmen vor Hitze. Auch die gute Sonntagsmahlzeit, die er hinter sich hat, trägt dazu bei ... Wie nach einem Dampfbad fühlt er sich.
Der große, satte Körper verschmachtet sozusagen vor Nichtstun.
Er schließt und öffnet die sonnenverbrannten Fäuste.
Er streckt die Beine, spreizt die Sehen. Die braunen Sohlen werden sichtbar. Hart und rissig sind sie – wahre Elefantensohlen.
Was hab' ich für schöne Beine, denkt Nikitka – wie ein Held aus den alten Sagen.
Und nebenan sitzt Petjka und zählt seine Karten. Immer hat er Karten. Er hat Glück im Spiel. Zählt die Karten und legt sie sorgfältig in Päckchen.
Nikitka streckt das Bein aus und bedeckt mit seinem Elefantenfuß Petjkas ganzen Reichtum.
»La–a–aß doch,« sagt Petjka weinerlich und gibt dem Fuß einen Stoß – »laß – du wirst mir die Karten zerknittern.«
»Schieb doch das Füßchen weg – versucht doch.«
Nikitka lacht und frißt Sonnenblumenkerne.
Petjka ergreift mit beiden Händen den dicken Fuß, stemmt sich dagegen, wie gegen einen Klotz, und reißt und biegt an den Zehen.
»Dicker Teufel, du – warum belästigst du mich? Ich rühr' dich doch nicht an.«
Er ärgert sich. Ärgert sich über Nikitkas Kraft und über seine eigene Schwäche.
Aber hartnäckig und unerschütterlich widersteht der Elefantenfuß allen Angriffen.
Petjka jammert:
»Immer belästigt er einen – aber auch immer. Laß, sag' ich dir! Du wirst mir die Karten zerknittern! Niki–i–i–itka – la–a–a–aß!«
Mit seiner mageren, schwachen Faust haut Petjka auf das dicke, harte Bein Nikitkas.
»Bieg eine Zehe herunter – eine wenigstens – mit beiden Händen! He–he–he«, lacht Nikitka und knabbert an seinen Sonnenblumenkernen. Seine dicken Wangen glänzen, als ob man sie mit Fett eingerieben hätte, und treten beim Lachen so stark hervor, daß man die Augen kaum sieht.
»La–a–a–aß – Nikitka! Laß doch!«
»He–he–he! kleines Hündchen! Gib dir doch etwas Mühe – vielleicht kannst du die Zehe doch zurückbiegen – vielleicht gelingt's dir – hehehe!«
Er wischt sich die Lippen mit der braunen Faust. Nun hat er sich genug ergötzt.
Petjka glättet seine Karten.
»Siehst du – hast sie mir ganz zerknittert. Und immer belästigt er einen – immer! Ich rühr' dich doch nicht an.«
Nikitka gähnt und streckt und reckt sich.
»Warum bist du nur so klein, Petjka? Ich kann das gar nicht begreifen. Kannst nicht einmal mit meinem Fuß fertig werden – nicht einmal mit meiner Zehe. Wie kommt das nur?«
»Lach nur! Deine dicke Fresse erlaubt es dir. Ein Elefantengesicht hast du – ja, bei Gott«, sagt Petjka zänkisch und steckt seine Karten ein.
»Was schadet denn das, daß ich ein Elefantengesicht habe? Dafür bin ich aber auch riesenstark, und du bist ein – Garnichts. Was ich will, kann ich mit dir machen, und du kannst nichts mit mir anfangen.«
Nikitka erwischt Petjka am Kragen und neigt ihn zur Erde.
»Siehst du – dein Leben ist in meiner Hand.«
Aber all diese rohen Spöttereien sind, im Vergleich zu Nikitkas früheren Grausamkeiten, für Petjka wie Weißbrot mit Butter bestrichen.
Petjka lebte auf. Seine Wangen bekamen sogar einen rosigen Schimmer.
Im Vergleich zu früher war jetzt der reine Fasching.
*
Wenja hatte sich mit dem Rothaarigen angefreundet. Nicht nur, weil dieser Toljka verprügelt und den kleinen Petjka gegen Nikitka in Schutz genommen hatte.
Etwas anderes zog ihn zu dem neuen Kameraden hin.
Auch auf die Verwegenheit des Rothaarigen, die die anderen Kinder des Hauses Slawnow mit Ehrfurcht erfüllte, legte er keinen besonderen Wert. Auch nicht auf seine Großsprecherei und seine Witze.
Im Gegenteil – der Rothaarige gefiel ihm viel besser, wenn er schweigend Toljkas Erzählungen zuhörte, oder wenn er in der Werkstätte seines Meisters, des Tischlers Kusmitsch, die Hobelspäne zusammenkehrte.
Ganz besonders aber liebte Wenja den Rothaarigen, wenn dieser im Frühling zuweilen von der Narwaer Vorstadt erzählte. Es war wie ein Hauch von besonderer Wärme und Innigkeit, der diese Erzählungen durchwehte.
»Dort ist jetzt das Gras schon grün. Die Jungen werden nun sicher bald anfangen zu baden. Fröhlich und schön ist es in unserer Vorstadt. Als ob alle verwandt untereinander wären.«
Und wieder im Hanswurstton:
»Dieser verdammte pockennarbige Kusmitsch! Den hat auch der Teufel geritten, unsere Vorstadt zu verlassen und hierher zu ziehen!«
Dann sang er traurig und spöttisch zugleich:
»Leb wohl, du vielgeliebte Vorstadt,
Leb wohl, du Weniks liebe Kneipe!«
Der Namen dieser Kneipe gefiel Wenja ganz besonders. Er war sogar etwas gerührt, denn – erinnerte das nicht etwas an seinen eigenen Namen: Wenik – Wenja?
Das erweckte in ihm ein zärtliches Gefühl zu jener Vorstadt, die er nur aus den Erzählungen des Rothaarigen kannte.
»Und an Feiertagen,« fuhr der Rothaarige fort – »wie ist es da lustig – wie muß man über die Spaßmacher lachen!«
Und er machte die Spaßmacher nach, schlug Purzelbäume, wand und drehte sich, tanzte, stampfte mit den Füßen, warf seine Mütze auf die Erde, hob sie, indem er sich wie ein Kreisel drehte, wieder auf, um sie dann sofort wieder in die Luft zu werfen.
Die Kinder jauchzten vor Entzücken.
Besonders der dicke Nikitka war begeistert und wieherte vor Freude.
Zuweilen aber sang der Rothaarige mit aufrichtiger Trauer:
»Nicht weit hinterm Schlagbaum,
Umgeben von Wasser,
'ne freundliche Zuflucht für Arbeiter liegt.«
Dann sah Wenja in Gedanken eine lange Chaussee, die sich zwischen Häusern dahinzog, in denen alle verwandt und verbrüdert waren.
Und es schien ihm, als habe er hier, im Hause Slawnow, niemand, der ihm nahestand, sondern nur dort, in jener Vorstadt.
Dann bat er den Rothaarigen:
»Komm mit mir in eure Vorstadt – wir wollen dort spazierengehen.«
Und der Rothaarige klopfte ihm besonders herzlich auf die Schulter und sagte:
»Ja, wir wollen hingehen. Ganz bestimmt wollen wir hingehen.«
Dann setzte er noch herzlicher hinzu:
»Du, Wenja, bist der beste von all den Jungen. Nur zu still bist du. Mußt mehr Haare auf den Zähnen haben. Ohne diese Haare, weißt du, ist es unmöglich. Sonst fressen sie dich auf – ganz ohne Beilage.«
*
In die Vorstadt Narwa Arbeiter-Vorstadt. geriet Wenja ganz unerwartet.
Es war im Winter, bald nach den Weihnachtsferien, an einem Sonntag, da sagte der Rothaarige zu ihm:
»Wir wollen jetzt gleich in die Vorstadt Narwa gehen – unbedingt sofort.«
Er sprach ernst und erregt.
»Ich muß zu Hause fragen –« begann Wenja, aber der Rothaarige unterbrach ihn:
»Frag nicht – man wird dich nicht lassen.«
»Vielleicht läßt man mich.«
»Ach, laß doch! Ich habe meinen Pockennarbigen (den Meister) auch nicht gefragt.«
Wenja war noch unschlüssig, aber der Kamerad wiederholte eindringlich:
»Unbedingt sofort!«
Unterwegs teilte der Rothaarige mit geheimnisvoller Miene mit, daß heute alle Arbeiter der Putilow-Werke, und überhaupt die ganze Vorstadt Narwa, mit einer Bittschrift zum Kaiser gehen würde.
»Also müssen auch wir gehen, Bruder. Wir werden doch die Unseren nicht im Stich lassen, nicht wahr, Wenja? Die ganze Narwaer Vorstadt geht ja. Unsere Tischler sind schon bei Tagesanbruch gegangen.«
»Ich bin ja aber doch kein Narwaer«. sagte Wenja errötend.
»Doch – du bist so etwas wie ein Narwaer.«
Weiter erzählte der Rothaarige, daß die Arbeiter beschlossen hätten, dem Kaiser von ihrem Leben zu erzählen.
»Wir Arbeiter, weißt du, leben ja wie Leibeigene«, sagte er, augenscheinlich Gehörtes wiederholend. »Weißt du, wie die Leibeigenen in der Knechtschaft der Gutsbesitzer gelebt haben? Man verkaufte die Menschen wie Vieh und prügelte sie mit Ruten.«
»Aber jetzt ist es doch nicht so. Jetzt sind alle frei – der Befreier (Alexander II.) hat sie ja alle befreit«, unterbrach ihn Wenja. Aber der Rothaarige sagte düster:
»Befreier! Was weißt du davon! Wir wollen mal zusammen zu meinem Verwandten gehen. Er ist ein Arbeiter der Putilow-Werke – er soll dir mal von deinem ›Befreier‹ erzählen.«
» Meinem Befreier?« sagte Wenja beleidigt – »mich hat er nicht befreit.«
»Er hat niemand befreit«, sagte der Rothaarige mit finsterer Miene.
Dann schwieg er lange Zeit. Sie gingen eilig durch Straßen, die Wenja nicht kannte.
Es war ein kalter, windiger Morgen. Der Frost faßte sie kräftig an Ohren und Nasen.
»Wir wollen in die Straßenbahn steigen,« schlug Wenja vor, der sehr fror – »ich habe Geld bei mir.«
»Wenn sie uns einholt, steigen wir ein«, willigte der Rothaarige ein. »Aber – wie sollte sie uns einholen?«
Und in der Tat: auf dem langen Weg kam ihnen weder eine Straßenbahn nach, noch eine entgegen.
»Es scheint, daß gar keine Straßenbahnen gehen«, sagte der Rothaarige nachdenklich. »Komm schneller, Bruder. Da ist schon der Narwaer Prospekt, und dahinter ist gleich der Platz und das Tor.«
»Oho, Bruder,« sagte er, als sie gleich darauf den Platz erreicht hatten – »sieh mal: Militär!«
Auf dem großen Platz tummelten sich Berittene, und an den Lagerfeuern wärmten sich Infanteristen.
Wenja wurde unruhig beim Anblick dieser augenscheinlich kriegsbereiten Soldaten.
»Komm zurück«, sagte er leise.
»Wohin zurück?« fragte der Rothaarige ärgerlich.
Er verlangsamte etwas den Schritt, und nun näherten sie sich dem Narwaer Tor.
Doch ein Berittener winkte ihnen von weitem mit der weißbehandschuhten Hand ab.
»Man läßt nicht durch«, sagte der Rothaarige mit dumpfer Stimme.
»Komm zurück«, wiederholte Wenja.
»Warte, Bruder,« besann sich der Rothaarige plötzlich – »ich weiß, wie wir durchkommen: über Katharinenhof und Wolynka. Ja, ja – so wird's gehen.«
Sie liefen über die knarrende Holzbrücke, dann die breite Straße bergauf.
»Das ist Wolynka«, berichtete der Rothaarige in Eile. »Wir sind gleich da. Hier, Bruder, kenne ich Weg und Steg. Bind mir die Augen zu – ich finde mich doch zurecht – auf Ehre!«
Einen Augenblick später waren sie auf der Chaussee. Die Narwaer Vorstadt lag hinter ihnen.
*
Unheimlich war's.
Die ungeheure schwarze Menschenmenge, die wenige Augenblicke vorher noch, Gebete singend und Kirchenfahnen tragend, rüstig einhergeschritten war, machte plötzlich halt.
Nur einige Kirchenfahnen schwankten noch leicht, und einige abgerissene Töne eines Gebets schwebten durch die Luft. Die Menge stand wie eine Mauer da.
Und plötzlich klang durch die frostklare, reglose Luft schrill und beunruhigend ein Trompetenton.
Kaum war er verklungen, begann ein Knattern, als springe ein riesenhafter Hammer über Steine.
Nun kam wieder Bewegung in die Menschenmauer, ein Murren ging durch die Reihen.
»Sie schießen – sie schießen!« ertönte ein schmerzhafter Aufschrei.
Dann wieder – der über Steine springende Hammer.
»Wenja, hierher!« rief der Rothaarige.
Sie duckten sich beide hinter einem niedrigen Steinpfosten, der aussah wie ein Grabmal ohne Kreuz.
Aber das Knattern kam immer öfter ...
Mit blassen, zitternden Lippen stieß der Rothaarige schwere Flüche aus.
»Wir müssen wieder nach Boldyrjow zurück«, flüsterte er. »Schnell! Aber heb den Kopf nicht, sonst schießen sie dich an – die Äser.«
Als sie schon in der Nähe des Dorfes Wolynka waren, hielt der Rothaarige den sehr rasch gehenden Wenja an, indem er ihn am Ärmel zupfte:
»Wart!«
»Was ist denn?« fragte Wenja, indem er stehenblieb.
»Wart«, murmelte der andere leise.
Wenja sah ihn an und wartete. Auch der Rothaarige schien zu warten.
Dann machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand und sagte mit erstarrten Lippen, kaum hörbar:
»Wenja – hast du gesehen? Es sind ja wirklich Menschen erschossen worden! Hörst du, Wenja? Sie haben ja wirklich geschossen!«
Er öffnete den Mund, wie ein Fisch ohne Wasser, und atmete mühsam die Luft ein.
Wenja erschrak. Es kam ihm vor, als sei der Rothaarige verwundet.
Doch der erholte sich wieder, spuckte aus, ließ wieder ein paar kräftige Schimpfworte fallen, schob seine Mütze zurecht und sagte düster:
»Komm.«
Die Erschießung der Arbeiter, die mit einer Bittschrift zum Kaiser gegangen waren – eine in Petersburg noch nie dagewesene Begebenheit – fand lebhaften Widerhall unter den Kindern des Hauses Slawnow und gab Anlaß zu lebhaften Erörterungen.
Meinungen und Sympathien waren geteilt.
Toljka, und mit ihm auch Nikitka, nahmen Partei für die Soldaten, die Polizei, also für den Kaiser.
Die Augenzeugen des blutigen Ereignisses – Wenja und der Rothaarige –, die sich noch immer unter dem frischen Eindruck des Gesehenen befanden, vertraten das Recht der Arbeiter und waren entrüstet über die Grausamkeit der Regierung.
»Wie viele kleine Kinder haben keinen Vater mehr!« sagte der Rothaarige. »Was würdest du sagen, wenn sie dir deinen Vater erschossen hätten?« wandte er sich an Toljka.
»Wozu sind sie aber auch gegangen?« antwortete dieser mit einer Gegenfrage. »Mit dem Kaiser sprechen! So eine Frechheit! Darf man denn das?«
»Weshalb denn nicht? Der Kaiser ist doch ebenso ein Mensch wie alle anderen.«
»Eben solch einer – und doch ein anderer! Und was, wenn sie ihn getötet hätten? Er wäre herausgekommen, um mit ihnen zu sprechen – und plötzlich hätte einer geschossen,« ereiferte sich Toljka – »wie viele verkleidete Studenten und Juden mögen dabeigewesen sein!«
»Natürlich«, bekräftigte Nikitka die Worte seines Gebieters. »Sie haben ›Gott schütze den Kaiser‹ (die Volkshymne) gesungen – und hatten Revolver bei sich.
»Nein, sie hatten keine Revolver! Wenja und ich haben es gesehen. Man hat auf sie geschossen, und sie sind auf die Knie gesunken und haben Gebete gesungen – so war es! Darf man denn das?«
Nikitka schnaufte. Er war seiner Sache augenscheinlich nicht ganz sicher. Aber Toljka bemerkte spöttisch:
»Man darf also – wenn sie es getan haben.«
»Ein Schafskopf bist du und ein Aas obendrein!« sagte der Rothaarige wütend. »Wenn Menschen ohne Waffen sind, ist es natürlich ungefährlich, auf sie zu schießen. Aber richtig ist es nicht.«
Er war ganz außer sich und sagte drohend:
»Schon recht – aber dabei bleibt's ja nicht! Die Arbeiter werden sich alle versammeln, und dann wird's deinen Polizisten und Generalen schlecht gehen!«
»Das macht nichts,« höhnte Toljka – »es werden genug Kugeln für sie da sein. Aus Kanonen wird man auf sie schießen – wie die Schaben werden sie sich verkriechen, deine Arbeiter! Ha–ha–ha!«
»He–he–he!« sekundierte Nikitka. »Das ist schon richtig – mit Kanonen ist das ganz einfach.«
Aber der Rothaarige ergab sich nicht:
»Schon recht! Auch für sie werden sich Kanonen finden. Nicht wahr, Wenja?« wandte er sich an diesen.
»Ja«, sagte Wenja, obwohl er sich nicht recht vorstellen konnte, woher die Arbeiter Kanonen nehmen sollten.
*
Es taute. Es tropfte von den Dächern, wie im Frühling.
Die Jungen warfen einander mit Schneebällen – Toljka und Nikitka gegen Wenja, Lenjka und Petjka.
Anfangs waren die beiden Parteien fast gleich stark. Dann aber zogen sich der schwache Petjka und der ungeschickte Lenjka etwas zurück, so daß die Verteidigung gegen die zwei starken Gegner fast ganz allein auf Wenjas Schultern ruhte.
Mit Schnee bedeckt und heftig schmerzender Wange – Nikitka hatte gut gezielt – begann Wenja den Rückzug anzutreten.
Lenjkas Unterstützung zählte nicht mit – seine Bälle gingen fast alle fehl.
Petjka war schon ganz kampfunfähig – ein Schneeball hatte ihn ins Auge getroffen.
Die Sieger hatten mit Freudengeheul die Gegner in einen Winkel des Hofes gedrängt.
Lenjka bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und verteidigte sich nicht mehr.
»Haut sie, die Putilow-Arbeiter!« rief plötzlich Toljka – »Los!«
Ein Schneeball flog Wenja an die Nase – Tränen stürzten ihm aus den Augen.
»Nieder mit ihnen!« heulte Nikitka freudig auf.
Wenja hatte nicht Zeit, sich zu besinnen, als Toljka ihn gefaßt und auf einen Schneehaufen geworfen hatte.
»Ergibst du dich?« rief er triumphierend, indem er ihn tief in den Schneehaufen hineindrückte.
Trotz aller Anstrengungen versank Wenja immer tiefer, denn Toljka hatte sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf ihn geworfen.
Nikitka seinerseits war über Lenjka und Petjka hergefallen und knetete sie ordentlich durch.
Wenja hörte Petjkas weinerliche Stimme:
»Nikitka–a–a! La–a–a–ß!«
Und Lenjkas erbitterte: »Laß mich – du Teufel!«
»Ergebt euch!« heulte Nikitka dröhnend.
»Ergebt euch nicht!« rief Wenja und machte wieder einen verzweifelten Versuch, sich von Toljka zu befreien.
Aber Toljka hatte ihn so fest umklammert, daß ihm der Atem verging.
»Nun? Wird's bald? Ergibst du dich?«
»N–nein –«, brachte Wenja mühsam hervor.
Er sah, wie Toljkas Gesicht sich verfinsterte. Die rosigen Wangen mit den Grübchen zuckten. Auch die etwas vorstehende volle Unterlippe bebte.
»Ergib dich!« zischte Toljka und preßte Wenjas Arme so fest zusammen, daß sie schmerzten.
Die zusammengekniffenen Augen bekamen einen grünlichen Schimmer.
Er ist wütend, dachte Wenja, und plötzlich überkam auch ihn die Wut.
»Laß mich!« rief er warnend.
»Nein – ich l...«
Toljka sprach den Satz nicht zu Ende, denn Wenja hatte den Kopf erhoben und biß ihn mit rascher Wendung in die feiste Wange.
Er spürte etwas Salziges auf den Lippen.
Toljka sprang auf, ließ Wenja los und sprang zurück, die Hand an die Wange pressend.
»Was? Beißen? – Du Mädel!«
Wenja hatte sich erhoben. Er stand da, als warte er auf etwas.
Auch Toljka wartete.
»Willst dich wohl mit mir schlagen?« fragte er leise.
Wenja antwortete nicht. Sein Blick war zufällig auf den sich im Schnee wälzenden Haufen von Leibern gefallen.
Der dicke Nikitka lag auf Lenjka und Petjka und rieb ihnen die Gesichter mit Schnee ein.
Wenja machte einen Schritt vorwärts, doch Toljka packte ihn am Arm.
»Laß das! Das ist nicht deine Sache! Spiel nicht den Beschützer!«
Wenja riß sich los, fühlte aber im gleichen Augenblick einen dumpfen Schmerz an der Backe.
Ihm wurde schwindlig. Nur mit Mühe hielt er sich auf den Beinen.
Toljka aber holte wieder aus. Wenja bückte sich rasch, und der Schlag traf die Schulter. Nun warf er sich auf Toljka, spürte aber sofort wieder einen dumpfen Schmerz an der Backe.
Plötzlich hörte er: »Wenja – hau ihn!«
Hell klang dieser Ruf an sein Ohr, und ihm wurde ganz froh zumute.
Der Rothaarige! dachte er.
Toljka machte einen Schritt zurück. Seine grün schillernden Augen funkelten, und er rief laut:
»Nikitka – laß jene zwei! Der Rothaarige kommt!«
Und in der Tat: der Rothaarige war schon da.
Ohne Rock, die bloßen Füße in Pantoffeln, eine Mütze mit Ohrenklappen auf dem Kopf.
Er schob seine Mütze zurecht:
»Los, Brüder!« rief er durchdringend.
Und als hätten alle drei nur auf diesen Ruf gewartet: Wenja, Lenjka, der noch nicht Zeit gehabt hatte, sich von Nikitkas machtvoller Umarmung zu erholen, und der weinende kleine Petjka – alle drei stürzten sich auf Toljka und Nikitka, die schon nebeneinander standen.
Aber die Kräfte waren ungleich verteilt: schon waren Lenjka und Petjka von den beiden Riesen zu Boden geworfen worden.
Zwar erhoben sie sich sofort, lagen aber gleich wieder da.
»Ach, Brüder – so geht's doch nicht!« rief der Rothaarige.
Nun griffen zwölf Arme ineinander, zwölf Beine stampften, glitten, rutschten auf dem weichen, schon tauenden Schnee.
Jeder Schlag versetzte den Rothaarigen in größere Begeisterung.
Seine Fäuste flogen nur so durch die Luft. Ein Pantoffel war ihm vom Fuß gefallen. Er ließ ihn liegen.
»Hau ihn! Hau ihn! Brav, Wenja!«
Wenja hatte Nikitka die Nase blutig geschlagen.
Nikitka schlug wild um sich, doch Wenja parierte geschickt und versetzte dem Gegner einen Schlag nach dem anderen.
Toljka hielt sich lange. Aber nach zwei wuchtigen Schlägen des Rothaarigen, die auf Toljkas Wangen dunkelrote Flecke hinterließen, sprang Toljka plötzlich zur Seite, griff in die Tasche, zog blitzschnell ein Taschenmesser hervor und rief:
»Achtung!«
»Oh – ein Messer!« sagte der Rothaarige, sofort haltmachend.
Die Prügelei brach plötzlich ab.
Toljka und der Rothaarige standen einander gegenüber.
Der Rothaarige hob seinen Pantoffel auf und zog ihn an.
»Wirst du stechen?« fragte er, schwer atmend.
»Ich werde dich erstechen!« antwortete Toljka.
»Habt ihr gehört, Brüder?« wandte sich der Rothaarige an die Jungen.
»Wir haben's gehört –«
»Alle haben wir's gehört.«
Der Rothaarige sagte leise:
»Laß das Messer, Toljka – steck's ein!«
Toljka schwieg.
Der Rothaarige machte vorsichtig einen Schritt vorwärts. Toljka erhob das Messer.
Der Rothaarige riß seine Mütze vom Kopf und schlug damit blitzschnell auf das Messer, gleichzeitig Toljka mit der anderen Hand an der Gurgel packend.
Petjka fing das Messer auf.
Der Rothaarige versetzte Toljka einen Schlag aus die Nase, daß das Blut nur so spritzte. Toljka bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Reicht's? Hast du genug?« fragte der Rothaarige. »Eigentlich sollte man dir alle Zähne ausschlagen – für das Messer«, setzte er hinzu.
Toljka wandte sich ab, nahm das Taschentuch aus der Tasche und ging langsam längs der Mauer zum Tor hinaus auf die Straße.
»Da geht er hin«, kicherte Petjka.
»Er muß sich etwas Bewegung machen«, sagte der Rothaarige ernsthaft.
Dann wandte er sich an Nikitka, der sich immer noch sein Gesicht abwischte:
»Und du, Schafskopf – warum nimmst du immer seine Partei! Dich hat man ja schön zugerichtet! Geschieht dir aber recht. Hört, Kinder, wenn wieder etwas vorkommen sollte, wendet euch sofort an mich. Dann wollen wir mit ihnen wieder abrechnen, wie sich's gehört. Und du, Petjka, nimm das Messer in Verwahrung, und wenn er oder dieser Schafskopf sich wieder mausig machen – stich einfach drauflos.«
»Bei Gott, ja – das werde ich tun!« sprudelte es plötzlich über Petjkas Lippen. »Wie kommt denn dieser Nikitka dazu, mir immer gleich ins Gesicht zu schlagen? Heute hat mit dieser Dickwanst den Bauch ganz zerquetscht. Bis jetzt tut er mir noch weh. Bin ich denn sein Untergebener?«
»Hörst du, Nikitka? Und du schämst dich nicht, immer die Kleinen zu kränken, großer Lümmel?« Der Rothaarige drohte mit dem Finger. – »Mit dir will ich noch mal ernsthaft reden.«
»Ich werde den Petjka nicht mehr anrühren«, sagte Nikitka dumpf. Er schnaufte und zwinkerte mit den Augen: »Der Toljka hat mich ja immer aufgehetzt.«
»Toljka? Du selbst hast wohl keinen eigenen Kopf, du Esel? Daß du mir von jetzt ab dem Toljka nicht mehr gehorchst – verstehst du mich?«
»Ich verstehe,« schnaufte Nikitka – »ich werde mit ihm nicht mehr verkehren.«
Er trat plötzlich auf Petjka zu, der zusammenzuckte, und hielt ihm seine riesenhafte rote Pranke entgegen.
»Sei nicht böse, Petjka,« sagte er schamhaft – »ich will dir nie wieder etwas tun.«
Petjka sah seinen ewigen Peiniger zaghaft an und streckte ihm sein mageres, schmutziges Pfötchen hin:
»Ja – wir wollen wieder gut miteinander sein!«
»So – nun gehören wir alle zusammen«, lachte der Rothaarige. »So hätte es schon längst sein müssen. Genau wie bei uns in der Vorstadt Narwa. Hörst du, Wenja – wie bei uns draußen, wo alle befreundet sind.«
Er nahm die Mütze ab und kratzte sich hinter dem Ohr.
Wenja fühlte sich glücklich. Er hatte Lust zu lachen, zu weinen – und den Rothaarigen zu küssen.
Schon trat er auf ihn zu – doch ein unbestimmtes Schamgefühl hielt ihn zurück, sein Vorhaben auszuführen.
»Was ist denn?« der Rothaarige sah ihn fragend an.
»Nichts –«
Wenja überlegte einen Augenblick. Dann sagte er mit leicht bebenden Lippen:
»Du – bist gut –«
»Ja, ja, ja – solange ich schlafe, bin ich gut«, lachte der Rothaarige.
Dann, sich plötzlich besinnend:
»Jetzt muß ich aber laufen! Der Meister wird schimpfen. Ich bin ja einfach auf und davon, als ich durchs Fenster sah, daß ihr euch prügelt, Toljka und du. ›Der schlägt mir noch den Jungen zum Krüppel‹, habe ich gedacht und bin rasch gekommen.«
Er hob einen Schneeball auf, warf ihn gegen die Mauer und lies dann, mit den Pantoffeln über den Schnee gleitend, davon.
Es taute.
Fröhlicher, heller fielen die Tropfen auf die noch leicht gefrorene Erde.
Rein, blau, wolkenlos wölbte sich der Himmel. Man konnte kaum glauben, daß es Januar war.