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Die Vertrauten der Dworanskaja waren unruhig, denn die Laune Varwaras litt unter seltsamem Wechsel. Früher war sie die lustigste, liebenswürdigste, sorgloseste Frau gewesen, tagein tagaus dieselbe; jetzt zeigte sich Varwara, deren Reiz in der stets lächelnden Miene gelegen hatte, die ebenso zu ihr zu gehören schien, wie ihre schönen schwarzen Augen, unruhig und nervös, aufgeregt und wenig Herrin ihrer selbst. Sie, die niemals ein verletzendes Wort für irgend jemand gehabt hatte, war jetzt imstande, die unangenehmsten Dinge selbst ihren ältesten Freunden zu sagen, die erschrocken waren, als müßte eine Katastrophe bevorstehen.
Wladimir Iwanowitsch, der schöne Mann mit den ergrauenden Haaren, besuchte noch immer häufig das Haus, aber er kam nur, um rasch wieder fortzueilen, setzte sich höchstens ein paar Minuten zu Tisch, wenn Varwara auch anderen Besuch hatte. Trat er in den kleinen Salon neben dem Schlafzimmer ein, war es nur in Eile, die Zigarette im Mund. Er verbrachte nie mehr wie früher lange Abende bei Varwara und auch er hatte die Ruhe und Sicherheit verloren, die ihm früher selbstverständlich waren.
Ariane gegenüber war das Benehmen Varwaras seltsam. Manchmal überhäufte sie sie mit Zärtlichkeiten, hielt sie unter Vorwänden bei sich zurück, verhinderte sie auszugehen und überschüttete sie mit Geschenken. Dann wieder geschah das Gegenteil: sie war verletzend in ihren Worten, zog sich von ihr zurück und sprach oft tagelang nicht mit ihr, als wären sie Fremde. Das junge Mädchen ertrug diese Launen mit einer Gleichgültigkeit, als bemerke sie weder die Zärtlichkeiten noch den Haß.
Eines Tages, als sie in einer heiteren und zugänglichen Stimmung schien, teilte ihr Ariane, es war kurze Zeit nach ihrer Schlußprüfung am Gymnasium, die Absicht mit, an die Universität zu gehen, und erzählte von den Schwierigkeiten, die sie mit ihrem Vater hätte. Varwara haßte ihren Schwager, den sie niemals sah.
»Dein Vater war immer ein Dummkopf, meine Liebe,« sagte sie, »und du bist viel zu klug, um mit ihm leben zu können. Seine Absicht dich zu verheiraten ist albern. Du bist noch ein Kind. Was weißt du vom Leben? Hast du überhaupt schon ein ,Verhältnis'?«
Sie unterbrach sich lachend und setzte dann, ihrer Nichte ins Gesicht blickend, fort:
»Im Ernst, hast du eines? Du weißt von mir alles, was ich treibe, ich habe dir niemals etwas verheimlicht, aber was weiß ich eigentlich von dir? Also beichte, du kleine Heuchlerin!« Ariane lächelte, ohne zu antworten. Varwara fuhr fort:
»Die ganze Stadt liegt dir zu Füßen, du machst die Männer wild wie eine Teufelin: aber was gibst du ihnen dafür? – Und doch, man braucht dich nur anzusehen, du bist ganz von unserem Blut. Deine Mutter hatte in deinem Alter schon ihren Roman erlebt, ich selbst lebte mit achtzehn Jahren schon nach meinem Gefallen. Und man erzählt mir, daß die heutigen Mädchen noch viel fortgeschrittener seien und uns weit übertreffen. – So sei einmal offen, was tust du mit den Männern? Ich sehe, sie gehorchen dir auf den Wink. – Ach, wie ich dich beneide, früher einmal...«
Varwara Petrowna seufzte.
»Auf keinen Fall darfst du mich verlassen. Du bist hier glücklich. Du bist frei. Du kannst kommen und gehen, wann es dir paßt. Was willst du mehr? Ich lasse dich nicht fort, ich kann mich nicht von dir trennen.«
Es war etwas Rührendes in diesen letzten Worten und Ariane fühlte dies. Vergeblich versuchte sie ihre Tante umzustimmen, Varwara wollte nichts von einer Trennung hören.
Denn in Wahrheit war sie nach einem langen Leidensweg zu einem sonderbaren Ruhepunkt gelangt. Es war ihr nicht entgangen, daß Wladimir Iwanowitsch immer dann kam, wenn er sicher war Ariane anzutreffen, daß er an ihrer geistvollen Unterhaltung Gefallen fand und daß er Gelegenheit suchte, ihr zu begegnen. Anfangs empfand sie darüber eine bittere Verstimmung, aber dann erkannte sie, daß die Anwesenheit Arianes ein sicheres Mittel war, um ihren flatterhaften Liebhaber zu fesseln, und daß er immer seltener und seltener käme, wenn das junge Mädchen fortginge. Nun war sie aber schon dahin gelangt, daß sie ihn nur sehen wollte, ja, dies war das einzige Ziel ihrer Tage. Im übrigen sagte sie sich: »Was ist Gefährliches dabei? Ariane ist ein Kind und der Doktor ist in ihren Augen ein halber Greis. Sie läßt sich durch hübsche Jungen zwischen zwanzig und dreißig den Hof machen, unter denen wird sie sich ihren Geliebten wählen. Wladimir kann sie nicht interessieren, man muß vom Leben so viel erfahren haben wie ich, um zu verstehen, was ihn begehrenswert macht.«
Die arme Varwara dachte nicht sehr weit, sie hielt Ariane, um Wladimir an sich zu fesseln, und ahnte nicht, welch gefährliches Spiel sie trieb. So scheiterte Ariane, als sie ihrer Tante begreiflich machen wollte, wie nötig der Besuch der Universität für sie sei, und sie endete schließlich damit, daß sie, ihr in die Augen blickend, sagte:
»Nun gut, du hast es so haben wollen!« und überließ sie dem Grübeln über diese rätselvollen Worte.
Am selben Abend ging Ariane, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß niemand in Hörweite war, zu dem im Speisezimmer befindlichen Telephon, verlangte eine Verbindung und sprach ein paar kurze Worte in den Apparat. –
Ein Monat verging; man war jetzt mitten in einem heißen, gewitterstarken Sommer, als ein besonderer Zwischenfall die Ruhe in der Dworanskaja störte. Eines Abends, als Varwara gegen acht Uhr von einer Wagenfahrt heimkehrte, fand sie die Wohnungstüre offen und trat ohne Läuten ein. Mit ihrem raschen, leichten Schritt ging sie, ohne von jemand gehört zu werden, durch das Speisezimmer. Die Türe zum Zimmer Arianes war halbgeöffnet und im Hintergrund des Zimmers sah sie das junge Mädchen in einem dünnen, weißen Kleide an die Wand gelehnt und vor ihr, sie mit ausgebreiteten Armen einschließend, stand Wladimir Iwanowitsch so nahe herabgebeugt, daß Varwara glaubte, das Gesicht ihres Geliebten müsse das ihrer Nichte berühren.
Sie hatte gerade noch Kraft, um in ihr Zimmer zu gelangen und zu läuten und bald wußte das ganze Haus, daß Varwara ohnmächtig geworden sei. –
Am nächsten Tage rief sie Ariane zu sich und sprach in entsagendem Tone:
»Ich bin in deiner Sache anderer Meinung geworden. Ich habe kein Recht, dich hier zurückzuhalten. Du sollst dein Leben nach deinem Geschmack einrichten und, wenn es dir gefällt, studieren. Geh an die Universität nach Petersburg, nach Moskau, nach Lüttich oder weiß der Teufel wohin. – Ich gebe dir, was du zum Leben brauchst. Mit zweihundert Rubel kannst du eine reiche Studentin sein, mit hübschen Kleidern, feiner Wäsche und Pariser Parfums.«
Die Antwort Arianes verblüffte ihre Tante.
»Ich werde tatsächlich, wie ich es schon lange vorhatte, an die Universität gehen. Aber ich brauche kein Geld. Ich danke dir, aber ich habe bereits meine Vorkehrungen getroffen; ich bin und bleibe vollkommen unabhängig.«
Vergebens versuchte Varwara ihre Nichte zum Sprechen zu bringen, ihre Neugier war entfacht, aber sie erfuhr nichts. Ariane entfernte sich ohne Aufklärungen gegeben zu haben.
Varwara behielt, allein geblieben, die peinliche Empfindung, daß sie von ihrer Nichte, die sie heranwachsen gesehen und die seit drei Jahren bei ihr lebte, nichts wußte. Es gab allem Anschein nach in diesem jungen Mädchen irgendein Geheimnis, in dessen Dunkel sie nicht einzudringen vermochte. Varwara fühlte zum ersten Male, wie völlig machtlos sie Ariane gegenüber war; sie entschlüpfte ihr; wer war sie überhaupt?
Ganz verstört, konnte sie nicht an sich halten, mit Wladimir Iwanowitsch noch am gleichen Abend darüber zu sprechen; er teilte ihre Besorgnis. In der Aufregung, die beide ergriffen hatte, konnte Wladimir seiner Geliebten nicht verbergen, daß er Ariane bis zum Wahnsinn liebe. Der Auftritt war einzigartig und ergreifend. Die beiden Liebenden weinten zusammen; seit langem hatten sie keine Stunde so tiefster, innigster Vertrautheit gemeinsam verlebt.
Gegen die Mitte des Sommers begannen in der Stadt Gerüchte umzulaufen, die sich in unangenehmer Weise mit Ariane Nikolajewna beschäftigten. Stammgäste des Hotel London versicherten, sie spät nachts in den Korridoren des Hotels gesehen zu haben. Einer erzählte, sie sei nach Mitternacht in ein Zimmer getreten, in dem man Champagner getrunken habe; ein anderer versicherte, er habe sie zu einer sehr späten Stunde allein die Dreitreppe des Hotels herunterkommen sehen. Man kann sich vorstellen, daß die bösen Zungen nicht mehr zur Ruhe kamen. Gewiß war Ariane Nikolajewna nicht die erste, von der man behauptete, daß sie Verhältnisse habe, und man war ein ziemlich freies Benehmen der jungen Mädchen gewohnt, aber es gibt doch gewisse Grenzen. Daß ein junges Mädchen einen Flirt hat und selbst das übliche Ausmaß überschreitet – welcher Russe würde darüber erstaunt sein oder gar Worte des Tadels finden? Das sind Dinge, bei denen man nie um eine entschuldigende Erklärung verlegen ist, und nur die ganz Dummen stellen sich erstaunt. Aber Feste und Soupers im Hotel London, so sehr der Öffentlichkeit preisgegeben, das sind Dinge, bei denen der Skandal beginnt. Ariane Nikolajewna wurde nicht geschont; Mädchen und Frauen liebten sie nicht sonderlich, sie hatte zu viele und zu sichtbare Erfolge. Fast alle Männer, die in ihre Nähe kamen, verliebten sich in sie. Sie war eine allzugefährliche Rivalin und bemühte sich offenkundig nicht, die Frauen zu gewinnen; sie hatte eine Mischung von Überhebung und Spott für sie, die sie, um die Wahrheit zu sagen, verhaßt gemacht hatte. Sie freute sich damit, die festesten Bande zu lockern und die glücklichsten Verbindungen, ob legitim oder nicht, zu zerstören. Und besonders in diesem Sommer schien es, als ob sie von einem Dämon gejagt sei und beschlossen hätte, Rache zu nehmen, – man wußte nicht wofür – indem sie mit Vorliebe solche Männer betörte, die allgemein als nicht mehr frei bekannt waren. Womit sie sie fesselte, wußte man nicht, aufs Geratewohl setzte man das Schlimmste voraus. Und die Unzahl der Verhältnisse, die man ihr nachsagte, gestattete keine Nachsicht mehr.
Es muß mit Bedauern gesagt werden, daß ein bestimmter Anlaß, bei dem ihr Name im Mittelpunkt stand, ein noch viel größeres Ärgernis verursachte. – Es war eines Abends gegen elf Uhr, als zwei bekannte Lebemänner, die reichlich gegessen und mehr getrunken hatten, als ihnen zuträglich war, beschlossen, in Damengesellschaft jenes kleine Vorstadthaus aufzusuchen, das Leo Dawidowitsch, dem Portier des Hotel London, gehörte. Sie kannten es gut, da es ihnen früher öfter jene verschwiegene Zuflucht gewährte, die es für alle bereit hielt, die ihr Glück bei Frauen zu verbergen wünschten... Sie wußten nicht, daß das Häuschen seit dem Vorsommer an Ingenieur Michael Iwanowitsch Bogdanow vermietet war. Sie fuhren im Wagen vor und läuteten; keine Antwort. Gereizt durch dieses Schweigen begannen sie an die Tür zu pochen. Sie öffnete sich endlich und sie standen vor der alten Dienerin, die ihnen mitteilte, daß das Haus an Bogdanow vermietet sei, und ihnen sagte, daß sie fortgehen sollten ohne weiter zu lärmen. Sie vermochte sich indes nicht verständlich zu machen, man hörte sie nicht an, da man entschlossen war einzutreten und weiter zu trinken. Die Alte begann zu schreien, sie wurde zur Seite geschoben und trotz des Protestes der Frauen, die sie vergeblich zurückzuhalten suchten, stiegen die beiden Männer die Treppe hinauf. Im Vorzimmer trat ihnen Bogdanow mit einem Stock entgegen und befahl ihnen sich zu entfernen; sie bedrängten ihn und er konnte eben noch in ein Zimmer entkommen, von wo er der Polizei telephonierte. Inzwischen hatte sich eine zweite Tür auf den Vorraum geöffnet und eine junge Frau flüchtete mit halb verdecktem Gesicht die Treppe hinunter auf die Straße. Die beiden Frauen glaubten die zierliche und elegante Ariane Nikolajewna zu erkennen, die ja in der ganzen Stadt bekannt war.
Am nächsten Tage schon wußte es jeder. Man fügte tausend Einzelheiten hinzu. Das junge Mädchen sei im Bett Bogdanows überrascht worden. Sie hätte sich im bloßen Hemd geflüchtet; eine der beiden Frauen hatte ihr einen Mantel geborgt. Andere erzählten, sie sei in Ohnmacht gefallen, die Polizei habe einen Arzt holen müssen ...
Der Skandal war gewaltig. Ariane Nikolajewna setzte ihre Spaziergänge fort, ging nach wie vor in den Alexanderpark, soupierte weiter mit ihren Freunden, als ob alle diese Gerüchte nicht sie beträfen. Immerhin ging sie nach einer Woche aufs Land und verbrachte vierzehn Tage auf dem Gut ihrer Tante.
Ich vergaß zu berichten, daß Ariane vor diesem letzten Skandal jenen zu sich kommen ließ, der sich als ihren Bräutigam betrachtete. Sie sprach eingehend zu ihm von ihrer bevorstehenden Abreise zur Universität. Nikolaus hatte natürlich auch von den vielen Redereien gehört, die sich mit Ariane befaßten, und es ist überflüssig zu betonen, daß er nicht ein Wort davon glaubte. Er hatte die Leute, die derartiges in seiner Gegenwart erzählten, in einer Weise angeblickt, daß sie sofort verstummten und dann von etwas anderem zu reden begannen. Er war von der Mitteilung Arianes nicht überrascht. Es schien, als hätte er es vorausgesehen. Er war keineswegs verzweifelt oder niedergeschmettert, sondern erklärte ihr in einem vollkommen ruhigen und überzeugten Tone, daß er ihren Entschluß begreifen könne, daß sie gewiß ein Recht habe noch zwei oder drei Jahre zu studieren, aber daß er nicht auf sie verzichte, daß er auf sie warten wolle und daß sie schließlich doch Mann und Frau sein würden, da es anders nicht sein könne. »Denn es ist im Himmel so bestimmt!« sagte er wörtlich.
Nach dieser Unterredung blieb er längere Zeit auf seiner Besitzung und wurde in der Stadt nicht gesehen.
Anfang September war Ariane reisebereit. Am Abend ihrer Abreise ereignete sich noch am Bahnhof ein vielbemerkter Zwischenfall. Sie stand mit Varwara Petrowna, Wladimir Iwanowitsch, Olga Dimitriewna und einigen ihrer jungen Freunde, Abschiedsworte wechselnd, auf dem Perron. Eben umarmte sie ihre Tante in der Türe ihres Waggons, als sich plötzlich ein riesenhafter Kerl durch die Gruppe drängte; Nikolaus Iwanow, denn er war es, stieß Ariane in das Abteil, in dem Olga noch saß. Er war viel bleicher als sonst und schien völlig außer sich. Er reckte sich vor Ariane auf, blickte sie einen Augenblick starr an und gab ihr dann einen solchen Fauststoß, daß sie auf den Sitz sank. Nikolaus zitterte, stürzte in die Knie und küßte fieberhaft den Saum ihres Kleides. Dann erhob er sich, ließ seinen Hut, der zu Boden gefallen war, im Stich und stürzte in die Nacht hinaus.
Die Glocke läutete zum drittenmal, die Maschine pfiff und der Zug glitt an den niedergeschmetterten Zeugen dieses Überfalles vorbei aus der Halle.