Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3. Jahr. (Von 13-14 Jahren.)

31. Juli: Gestern war mein Geburtstag, der dreizehnte. Von der Mama bekam ich eine Radio-Uhr, wie ich sie mir für den Nachtkasten wünschte, mit selbstleuchtendem Zifferblatt. Das ist natürlich hauptsächlich für den Winter für die langen Nächte; gestickte hohe Halskragen; vom Papa das Tagebuch eines bösen Buben, das eine Wärterin der Hella borgte, während sie im San. war; es ist so köstlich, aber der Papa findet es blöd, weil ein Bub unmöglich das alles anstellen kann, ein neues Racket mit einer ledernen Rackettasche, hochelegant, von Sirk, und Tennisbälle, von der Dora. Billets de Corr., mondlichtfarben mit Silberecken. Die Großeltern schickten einen Korb Kirschen, Weichseln und einen Johannisbeeren und Erdbeeren; die letzteren nur für mich zum Geburtstag. Von der Tante Dora bekam ich drei Krawatten aus Berlin für Winterblusen. Nachmittags waren wir auf dem Par.-Berg, es wäre ganz lustig gewesen, wenn die Mama auch mitgehen hätte können, oder wenn die Hella da wäre.

1. August: Heute kam ein Brief von der Ada; sie gratuliert mir zum Geburtstag; da sie glaubt, er ist am 1. August und dann kommt das Wichtigste. Sie ist furchtbar unglücklich. Sie will aus den engen Verhältnissen ihrer Familie heraus, schreibt sie, sie hält es in der dumpfen Atmosphäre ihres Hauses nicht aus. Sie war in St. P... bei dem Schauspieler, den sie so verehrt, und er hat sie geprüft und gesagt, sie hat entschieden schauspielerisches Talent; er würde sie ausbilden, aber nur mit Einwilligung ihrer Eltern. Aber die bekommt sie natürlich nie. Sie schreibt, sie ist infolgedessen so nervös, daß sie den ganzen Tag weinen oder toben möchte kurz sie hält ein solches ödes Leben nicht länger aus. Ich bin ihre einzige Hilfe. Sie möchte, daß ich zu ihnen komme und noch lieber, daß sie zu uns kommen könnte auf 2 oder 3 Wochen und da würde sie meiner Mama alles vorstellen und erklären, und dann möchte sie auf 1 Jahr zu uns nach Wien kommen; der Herr G., der Schauspieler, soll nämlich im Herbst ins Raimundtheater kommen und da würde er sie unterrichten. Zum Schluß schreibt sie, sie überläßt es meiner Klugheit, und meinem Takt, sie zum glücklichsten Geschöpf unter der Sonne zu machen! Ich weiß nicht recht, was ich machen soll. Jedenfalls habe ich schon die Einleitung gemacht; es sei mir so schrecklich fad, wenn nur die Hella da wäre oder wenigstens die Ada, oder sogar die Marina. Da sagte die Mama: die Marina ist doch in Feld in Kärnten und die Ada wird kaum herkommen können. Dem Papa tut es auch sehr leid, daß ich mich so langweile und so sagte er beim Nachtessen: Möchtest du wirklich, daß die Ada herkommt; sie paßt ja im Alter eigentlich viel mehr zur Dora. Aber ich weiß, ihr zwei habt euch im Vorjahr besser vertragen. Und dann sagt er zur Mama: Sag Berta, geniert es dich, wenn die Ada kommt? Und die Mama sagt, »Aber keine Spur; wenn es der Gretel eine Freude macht; sie ist ja ohnehin leer ausgegangen, die Dora war mit mir in Franzensbad und der Oswald macht seine schöne Reise, nur unser Kleines hat nichts für sich bekommen; also willst du, Gretel?« »Natürlich Mama, will ich, ich schreibe sofort; ich habe kein Vergnügen dran, den kleinen Balg herumzuschleppen wie die Dora und so großartig das Tagebuch eines bösen Buben ist, so kann ich doch nicht den ganzen Tag lesen.« Also ich schreib' der Ada sofort, so als ob ich es durchaus wollte, daß sie kommt. Ich bin überglücklich, wenn alles gelingt und die Ada wirklich einmal eine so große Schauspielerin wird, wie die Mama es immer von der Wolter sagt, dann habe ich etwas dazu beigetragen, daß Wien eine große Künstlerin hat und daß die Ada aus dem unglücklichsten Geschöpf das glücklichste geworden ist.

2. August: Ich habe der Ada nichts davon geschrieben, daß wir geadelt, od. wie die Dora sagt renobiliert, da die Familie ja längst adelig ist, also renobiliert worden sind; sie erfährt es noch immer früh genug, wenn sie zu uns kommt. Die Mama sagt immer: Nur nicht protzen, und am wenigsten mit etwas, was man sich nicht einmal selber verdient hat. Also, das ist nicht ganz richtig, denn wenn der Papa nicht so hohe Verdienste um die Gesetze oder die Verwaltung hätte, wo er vor 2 Jahren die ganzen Nächte geschrieben hat, wäre er vielleicht nicht renobiliert worden. Ich sehe übrigens nicht ein, warum die Eltern daraus so ein Geheimnis machen mußten im verflossenen Winter. Das hätten wir doch ruhig erfahren können. Aber wahrscheinlich wollte uns der Papa eine rechte Überraschung machen. Und das ist ihm gelungen; das Gesicht von der Dora und wie sich der Oswald geräuspert hat!! Was für ein Gesicht ich eigentlich gemacht habe, darauf hat gar niemand achtgegeben, wie mir scheint.

3. August: Also jetzt weiß ich, warum die Dora so anders ist zu mir als früher, d. h. warum sie wieder so ist, wie eben früher, vor dem heurigen Winter. Sie hat an der Mama eine wahre Freundin gefunden während der 4 Wochen in Fr.! Ich brachte heute das Gespräch auf den Viktor und da sagte sie zuerst nur: Ich korrespondiere nicht mehr mit ihm. Und wie ich frage: »Habt Ihr Euch gezankt und wer ist Schuld daran?« Da sagt sie: »O, nein, ich habe ihm abgeschrieben.« »Wieso abgeschrieben, er geht doch gar nicht nach Amerika?« Da sagt sie: »Also liebe Rita, damit wir ins Reine kommen; ich habe ihn auf den berechtigten Wunsch unserer Mutter aufgegeben«. Sie sagt jetzt übrigens meistens Mutter statt Mama. Also das muß ich sagen, ich habe die Mama wirklich sehr, sehr gern, aber als Freundin kann ich sie mir nicht vorstellen. Wie kann man denn mit seiner eigenen Mutter eine wahre Freundschaft haben? Die Dora muß wirklich keinen Begriff davon haben, was eine wahre Freundschaft bedeutet. Zu seiner Mama kann man doch unmöglich von gewissen Dingen sprechen, ich könnte nicht einmal fragen: Weißt du, was das heißt, es ist etwas vorgefallen oder passiert? Und überhaupt, es ist die Frage, ob sie es wirklich weiß. Denn wie sie 13 oder 15, 16 Jahre war, hat man vielleicht ganz andere Ausdrücke gehabt und die modernen haben möglicher Weise damals gar nichts bedeutet. Und wie paßt es denn zu einer Freundschaft, daß dann die Mama doch zur Dora sagt: Jetzt darfst du nicht weggehen, das Gewitter kann jeden Moment losbrechen, und neulich abends: Dora, du mußt den Shawl mitnehmen. Eine Freundschaft zwischen einer Mutter und einer Tochter gibt es absolut nicht, sowenig wie zwischen einem Vater und seinem Sohn. Da dürfte vor allen anderen nichts mehr befohlen und verboten werden und dann das noch viel wichtigere, daß man absolut nicht alles reden kann, was man gerade möchte. Ich habe dann am Abend nur noch gesagt: »Natürlich hat dir die Mama verboten, mit mir von gewissen Dingen zu reden; und das nennst du eine Freundschaft?« Da sagte sie ganz sanft: »Nein, Rita, die Mutter hat mir nichts verboten, aber ich sehe ein, es war unüberlegt von mir, mit dir über diese Dinge zu sprechen; man lernt den Ernst des Lebens früh genug kennen.« Da lachte ich hellaut und sagte: » Das nennst du den Ernst des Lebens; weißt du nicht mehr, wie köstlich wir uns dabei unterhalten haben? Mir scheint, dein Gedächtnis hat gelitten in den Moorbädern.« Drauf gab sie keine Antwort. Wenn nur wenigstens die Ada käme. Denn jetzt brauche ich sie ebenso wie sie mich.

4. August: Also Gott sei Dank, die Ada kommt, aber leider erst am 8., weil sie am 5. Wäsche haben und da könnte niemand mit ihr herfahren. Ich bin riesig froh, nur tut mir leid, daß sie im Kabinett schläft und nicht lieber die Dora. Aber die Mama sagt, wir Schwestern sollen nur beisammen bleiben und die Ada kann die Tür ins Speisezimmer offen lassen, damit sie sich nicht am Ende fürchtet.

7. August: Die Tage ziehen sich endlos. Die Dora ist so sanft und mild wie eine Klosterschwester, aber sie redet auch so wenig zu mir wie eine Nonne, und ist immer mit der Mama zusammen. Die zwei Dackeln sind nach Neulengbach verkauft und so ist es jetzt greulich fad für mich. Gott sei Dank, morgen kommt die Ada. Wir holen sie von der Bahn ab um 6 Uhr, der Papa und ich.

8. August: Nur schnell ein paar Worte. Die Ada ist um mehr als einen Kopf größer als ich; der Papa sagte: Ja, du Longinus, wo wächst du noch hin? Oder muß ich jetzt Sie sagen? Und die Ada sagte: »Aber nein, Herr Oberlandesgerichtsrat, sagen Sie nur Du, ich bin so glücklich, daß ich hier bin bei Ihnen.« Und ihre Mama sagte: Ja, sie ist überall glücklicher als zu Haus, leider: » so ist die moderne Jugend.« Der Papa half der Ada und sagte: »Gnädige Frau, in uns hat's auch einmal gegährt und geschäumt, aber es ist schon lange her, daß wir es schon vergessen haben.« Und da seufzte die Frau Dr. H. absichtlich so lang und tief, als ob sie ersticken müßte, und die Ada nahm mich beim Arm und sagte leise: »Hast du jetzt einen Begriff von meinem Leben?« Ihre Mama bleibt heute über Nacht bei uns und lamentierte den ganzen Abend über alles Mögliche (so sagte nämlich die Ada vorm Schlafengehen); aber ich habe gar nicht so darauf geachtet, denn ich brenne schon vor Neugierde auf das, was mir die Ada zu sagen hat. Also morgen, gleich nach dem Frühstück.

12. August: Ich konnte drei Tage nicht schreiben, so viel erzählte mir die Ada. Ohne Kunst kann und will sie nicht leben, eher geht sie durch, bevor sie verzichtet. Jetzt hat sie noch ein Jahr Fortbildungsschule zu machen und dann den Französischen Kurs für die Staatsprüfung oder den Handarbeitskurs. Aber sie möchte das alles in Wien machen, damit sie nebenbei für das Theater studieren kann bei dem H. G. Sie sagt, sie ist gar nicht mehr in ihn verliebt, er ist ihr bloß Mittel zum Zweck. Sie würde alles opfern, um ihr Ziel zu erreichen. Erst verstand ich das alles gar nicht, aber sie sagte mir dann, was das heißt. Sie hat den Roman Elisabeth Kött von Bartsch gelesen, den auch die Mama hat, und noch viele andere Künstlerromane und überall steht, daß erst eine große Liebe die Frau zur wahren Künstlerin macht. Etwas kann schon daran sein. Denn anders wird man wirklich durch eine große Liebe; das habe ich deutlich an der Dora gesehen; wie sie so wahnsinnig vernarrt war in den Viktor, und wie sie jetzt wieder!! ist. Sie lernt auch wieder Latein, um alles Versäumte nachzuholen! Mit ihr spricht die Ada nicht von ihren Plänen, weil der Dora das richtige Verständnis fehlt! Nur heute erwähnte sie vor ihr, daß sie um jeden Preis im Herbst nach Wien kommen möchte, damit sie recht oft ins Theater gehen könnte. Und die Dora sagte, Gott, du irrst dich, wenn man auch in Wien ist, gar so oft kommt man nicht ins Theater; denn erstens hat man nur wenig Zeit und zweitens bekommt man sehr oft keine Sitze; in der Provinz denkt man sich das alles viel schöner, als es wirklich ist.

14. August: Nur schnell ein paar Worte. Heute, während die Ada im Bad war, sagte die Mama zu uns beiden: »Kinder, ich habe Euch etwas zu sagen; ich möchte nicht, daß Ihr recht erschreckt in der Nacht. Die Mama der Ada sagte mir, daß die Ada sehr nervös ist und manchmal im Schlafe aufsteht, ohne daß sie es weiß.« »Gott«, sag ich, »das ist furchtbar interessant, da ist sie ja mondsüchtig; das wird immer beim Vollmond sein.« Da sagt die Mama: »Ja aber Gretel, sag nur, woher weißt du alle diese Sachen? Hat dir die Ada schon davon erzählt?« »O nein, sag ich, die Franke haben ein mondsüchtiges Stubenmädchen gehabt und die hat es der Hella und mir erzählt.« Und jetzt fällt mir gerade ein, daß die Mama sagt: Woher, weißt du alle diese Sachen? Also muß das davon abhängen. Ob ich die Ada fragen könnte oder ob sie am Ende beleidigt wäre. Ich bin furchtbar neugierig, ob sie bei uns mondsüchtig wird.

15. August: Heute hat mir die Hella geantwortet auf das, was ich ihr wegen der Freundschaft zwischen der Dora und der Mama schrieb. Sie glaubt es natürlich auch nicht, daß die Dora deswegen dem Viktor abgeschrieben hat, denn das ist doch kein Grund. Die Lizzi hatte nie eine besondere Freundschaft mit ihrer Mama und die Hella schreibt, sie könnte es auch gar nicht begreifen; ich habe ganz Recht, man hat die Eltern sehr gern, aber von einer Freundschaft kann doch keine Rede sein. Und sie würde es sich auch sehr ausbitten, wenn ich auf einmal so die Freundschaft wechseln wollte. Die Dora wird wohl nie eine wahre Freundschaft gehabt haben und darum ist sie jetzt auf die Mama angewiesen. Die Bruckners kommen schon am 19. zurück, weil es in Gastein so furchtbar teuer ist. Wahrscheinlich fahren sie dann nach Ungarn zu ihrem Onkel, oder nach Fieberbrunn in Tirol. Ich habe der Hella zum Namenstag das Tagebuch eines bösen Buben geschickt, weil sie es sich auch wünschte. Jetzt haben wir es beide und können einander immer die besten Sachen schreiben, damit die andere es auch gleich liest.

20. August: Also heute Nacht ist die Ada richtig aufgestanden, davon hätten wir wahrscheinlich gar nichts gemerkt, aber sie hat den Monolog der Jungfrau von Orleans deklamiert und da sagt die Dora, die ihn sofort erkannte: » Rita, ich bitte dich, jetzt ist die Ada richtig mondsüchtig geworden.« Wir rührten uns gar nicht und sie ging ins Speisezimmer, aber dort war zugesperrt und der Schlüssel abgezogen, weil es direkt auf den Gang geht und dann stieß sie an den Streckfauteuil der Mama und da wachte sie auf. Es war gräßlich. Und dann irrte sie sich und ging in unser Zimmer anstatt ins Kabinett, aber sie war schon wach und bat uns vielmals um Entschuldigung und sagte, sie hätte das Kl... gesucht. Dann ging sie in ihr Kabinett. Die Dora sagte, wir dürfen nichts dergleichen tun, denn offenbar geniert sich die Ada sehr. Aber keine Idee, nach dem Frühstück sagte sie: Heute nacht habe ich Euch gräßlich erschreckt; seid nicht böse, ich muß manchmal aufstehn in der Nacht, es leidet mich nicht im Bett. Die Mutter sagt immer, ich deklamiere dabei, ist das wahr? Habe ich etwas geredet? »Ja, sag ich, du hast den Monolog der J. v. O. deklamiert.« »Wirklich«, sagt sie, »ja das kommt daher, weil sie mich nicht zum Theater gehen lassen; ich werde jedenfalls irrsinnig werden; Ihr wißt dann wenigstens den wahren Grund.« Dieses Nachtwandeln ist ja sehr interessant, aber mir gruselt's doch ein bißchen vor der Ada und das ist auch wahr, was die Dora immer gesagt hat: Man weiß nie, wo die Ada eigentlich hinschaut. Wenn sie wirklich einmal irrsinnig würde, das wäre entsetzlich. Übrigens fällt mir gerade ein, daß ihre Mama doch schon einmal in einer Irrenanstalt war. Wenn sie nur nicht am Ende bei uns irrsinnig wird.

21. August. Die Mama hat es auch gehört gestern Nacht. Sie ist froh, daß sie es uns schon vorher gesagt hat und die Dora sagt, wenn sie es nicht vorher gewußt hätte, hätte sie wahrscheinlich einen Herzkrampf bekommen. Und der Papa sagte: »Die Ada ist durch und durch histerisch, das hat sie von ihrer Mutter«. Die Lizzi fährt heuer im Herbst nach England und bleibt ein ganzes Jahr dort zur Ausbildung. So gern ich die Ada habe und so leid sie mir tut, ist sie mir doch jetzt unheimlich und ich bin eigentlich froh, daß sie am Dienstag schon wieder fortfährt. Heute sagte sie mir etwas Schreckliches: Der Alexander, das ist nämlich der Schauspieler, ist geschlechtskrank, weil er früher Offizier war; sie sagt, alle Offiziere sind geschlechtskrank, das ist selbstverständlich. Erst wollte ich mich nicht verraten, daß ich nicht sehr genau weiß, was einem da eigentlich fehlt, aber dann fragte ich doch und da sagte die Ada, eben das fehle einem, dieser Körperteil wird entweder immer kleiner und kleiner und ganz zerfressen, oder umgekehrt immer größer, weil er schrecklich angeschwollen ist; die letztere Art ist noch die bessere, weil dann eine Operation nützt; ein pensionierter Oberst, der in H. ein Haus hat, ließ sich daran in Wien operieren; aber er ist trotzdem nicht gesund geworden. Es gibt nur eine Rettung, nämlich daß ein junges Mädchen sich einem geschlechtskranken Mann hingibt! (so sagte auch manchmal die Mad.), dann bekommt sie die Krankheit und er wird gesund. Und daran hat die Ada erkannt, daß sie den A... nicht wirklich liebt, sondern nur, weil er sie ausbilden würde; denn das täte sie nie und sie wüßte auch nicht, wie sie ihm das sagen sollte, selbst wenn sie wollte. Gewöhnlich verlangt es übrigens der betreffende Herr. Und wie ich sage: »Denk' dir nur, was tätest du dann, wenn du davon ein Kind bekämst«, da sagt sie: »Keine Idee, wenn einer geschlechtskrank ist, ist es ausgeschlossen, daß man ein Kind bekommt. Und dann mußt du wissen, daß erst ein Kind einem die volle Weihe zur Künstlerin gibt.« Also so etwas Ähnliches hat uns, der Hella und mir, auch die Franke gesagt, deren Kusine beim Theater ist; aber wir haben gedacht, die ist nur im Theater an der Wien, und da ist das schon möglich; aber in der Burg und in der Oper und selbst im deutschen Volkstheater wird das wahrscheinlich gar nicht sein dürfen. Ich erzählte das der Ada und die sagte: Gott, ich bin nur eine Provinzlerin, aber das weiß ich schon längst, daß jede Schauspielerin ein Kind hat.

23. Die Ada ist wirklich die geborene Künstlerin, sie hat uns heute ein Stück aus einem großartigen Roman vorgelesen, aber wie! selbst die Dora sagt: »Ada, du bist phenommenal!« Da schleuderte sie das Buch weg und weinte und schluchzte schrecklich und sagte: »Meine Eltern versündigen sich an ihrem eigenen Fleisch und Blut; aber sie werden es bereuen. Wißt Ihr noch, was die alte Zigeunerin mir voriges Jahr prophezeite: »Eine große, aber kurze Zukunft, nach langen schweren Kämpfen; und meine Lebenslinie ist geknickt!« Das wird alles so eintreffen und meine Mutter kann dann das schöne Gedicht von Freiligrath oder Anastasius Grün oder von wem es ist, deklamieren. »O lieb', so lang du lieben kannst, O lieb', so lang du lieben magst! Die Stunde kommt, die Stunde kommt, wo du an Gräbern stehst und klagst.« Und dann deklamierte die Ada das ganze Gedicht und wenn ich mich abends niederlege, muß ich immer daran denken und kann nicht einschlafen.

24. August: Heute habe ich die Ada doch gefragt wegen der Mondsucht und sie hat gesagt, ja, wenn sie aufsteht, so ist das immer zu dieser Zeit und zum Vollmond. Das erstemal, voriges Jahr, hat sie es absichtlich getan, um ihre Mutter zu erschrecken, wie sie ihr das erstemal verboten hat, zum Theater zu gehen. Ich finde das nicht sehr gescheit, denn damit wird sie nichts durchsetzen. Übermorgen wird sie abgeholt und deshalb weinte sie heute den ganzen Vormittag.

25. August: Heute war die Hella mit ihrer Mama und der Lizzi bei uns. Die Hella hat sich in Gastein großartig unterhalten und sie hat mir etwas Wichtiges unter vier Augen mitzuteilen. Insofern war es unangenehm, daß die Ada noch da ist. Der Hella ist die Ada überhaupt unsympathisch, sie sagt auch, man weiß nie, wo sie eigentlich hinschaut, sie schaut immer durch einen durch. Wir konnten nicht eine Minute allein reden miteinander. Hoffentlich kann die Hella noch einmal herauskommen, ehe sie nach Ungarn fahren. Die letzte Woche waren sie in Fieberbrunn in Tirol, weil eine Jugendfreundin ihrer Mama aus Berlin dort ist.

26. August: Heute ist die Ada weggefahren, ihr Papa hat sie abgeholt. Er sagt, sie hat ein Radl zu viel, nämlich weil sie zum Theater will.

28. August: Heute war die Hella heraußen; sie ist allein gefahren und ich habe sie bei der Dampftramway abgeholt. Zuerst wollte sie mir nicht sagen, was das Wichtige sei, weil es für mich » nicht schmeichelhaft« sei; aber endlich rückte sie doch heraus. Die Familie Warth war in Gastein und da die Hella die Lisel vom Turnen kennt, so redeten sie miteinander und da sagte der Robert, der freche Mensch: Ist ihre Freundin noch immer ein solches Kind, wie damals in ... und da tat er, als ob nicht einmal mehr wüßte, wo; und überhaupt damals sagt er, als ob das vor 10 Jahren gewesen wäre. Aber das Frechste kommt erst; er sagte, ich hätte ihn nicht Bob nennen wollen, weil ich da immer an einen gewissen Körperteil denken mußte; das habe ich nie gesagt, sondern nur, daß mir das Wort Bob lächerlich und ordinär vorkommt, und da sagte er noch, wie wir noch per Sie waren: »Ja, Fräulein Grete, aus Ihrem Munde bin ich lieber mit meinem vollen Männernamen genannt.« Das weiß ich noch wie heute und ich könnte den Platz zeichnen, wo das war auf dem Weg zum Roten Kreuz. Die Hella sagte es ihm tüchtig: So, das kann alles sein, wir haben nie über solche Lappalien gesprochen, und damals waren wir ja »alle, wie wir da sind, noch rechte Kinder.« Damit meinte sie auch den ... Ich schreibe gar nicht seinen Namen. Ich habe mich aber doch wütend geärgert und auch darüber, daß er sagte: Jetzt wird ihre Freundin ja wohl auch etwas mehr gleichsehen, aber damals war sie noch recht unentwickelt. Da sagte die Hella ganz kurz: »Das sind Ausdrücke, in denen man zu jungen Damen nicht spricht« und redete nie mehr mit ihm. Das ist nämlich wirklich großartig, was geht es denn den an, ob ich entwickelt bin oder nicht! Die Hella behauptet, ich sei früher zu wenig wählerisch gewesen. Der Bob ist ja jetzt noch ein Bub. Das paßt ausgezeichnet, Bob – Bub; von jetzt an heißt er für uns nur Bub; d. h. wenn wir überhaupt von ihm redeten. Und einen, der uns unsympathisch ist, nennen wir einfach Bob, oder noch besser Be, weil ja Bob wirklich unangenehm zu sagen ist.

31. August: Die heurigen Ferien sind so fad. Jetzt ist die Hella in Ungarn und mit der Dora rede ich sehr wenig, nämlich nichts Interessantes. Und die Briefe von der Ada handeln immer nur von meinem Versprechen wegen Wien. Das ist übrigens köstlich, ich habe ihr gar nichts versprochen, sondern bloß gesagt, ich werde es gelegentlich der Mama sagen. Und das habe ich auch schon getan, aber die Mama sagte: Davon ist gar keine Rede.

1. September: Hallo, hussa! Morgen fahre ich mit dem Papa der Hella nach Ungarn nach K... M... Ich freue mich riesig. Die Hella ist ein Engel. Wie sie voriges Jahr zu Weihnachten krank war, hat ihr Papa gesagt: Sie soll sich wünschen, was sie will. Da sie aber gerade nichts Besonderes wußte und ohnehin Weihnachten kam, so sparte sie sich den Wunsch auf. Und jetzt schrieb sie ihrem Papa nach Krakau, wo er zu den Manövern war, wenn er ihr noch einen Hauptwunsch erfüllen will, so soll er, wenn er nach Wien kommt, mich nach K... M... mitnehmen; das ist der einzige größte Wunsch ihres Lebens!!! Und so war der Herr Oberst heute beim Papa im Bureau und zeigte ihm den Brief der Hella. Und morgen um 3 Uhr muß ich auf dem Staatsbahnhof sein. Leider ist das eine sehr unfeine Bahn. Die Westbahn ist entschieden feiner oder noch lieber wäre mir die Südbahn.

2. September: Ich bin schon ganz aufgeregt; ich fahre allein hinein nach Wien und muß in Liesing umsteigen; hoffentlich steige ich in den richtigen Zug ein. Heute in der Frühe kam ein Brief von der Hella, in dem sie mir schreibt: »Vielleicht dauert es nur mehr Tage, bis wir vereint sind.« Aber nichts weiter; wahrscheinlich weiß sie noch nicht, daß ich wirklich komme. Meine weißen Blusen muß mir die Mama nachschicken, weil sie bis auf eine schmutzig sind. Anziehen werde ich das Kostüm und die rosa Bluse. Ich nehme mir 20 Blätter Tagebuch mit, das wird genug sein; denn schreiben werde ich unbedingt, eventuell in der Frühe, weil die Hella in den Ferien sicher bis um 9 Uhr im Bett liegt; in Wien möchte sie immer an den Sonntagen solange liegen, aber ihr Papa erlaubt es nicht. Aber reiten lerne ich auf keinen Fall, weil es schrecklich sein muß, vor einem fremden Herrn herunterzufallen. Bei der Hella war das dadurch anders, daß der Jenö, der Lajos und der Ernö ihre Kusins sind, und da ritt immer einer ganz neben ihr und hielt sie um die Mitte: aber das geht bei mir nicht.

6. September: Gott, hier ist es herrlich! Der Jenö gefällt mir am besten, er geht überall hin mit mir, zeigt mir alles; der Hella ist der Lajos am liebsten und auch der Ernö. Der hat aber viel zu lernen, weil er beinahe durchgefallen wäre. Der Lajos wird nächstes Jahr schon Leutnant und der Jenö kommt heuer in die Akademie, der Ernö hinkt etwas, aber nicht viel, und so konnte er nicht auch Offizier werden; er wird Brücken- und Eisenbahningenieur, aber nicht hier, sondern er geht dann später nach Amerika.

Heute habe ich Zeit zum Schreiben, weil alle 4 nach S... fuhren per Rad und ich kann nicht Radfahren.

Also auf der Fahrt war es herrlich! Es ist wahr, mit einem Offizier, noch dazu mit einem Obersten fahren, ist großartig. Alle Stationsvorstände grüßten und die Kondukteure wissen gar nicht, was sie machen sollen vor Respekt. Natürlich glaubten alle, ich bin seine Tochter, da er noch von klein her Du zu mir sagt. Richtig, der Papa hat zur Ada immer Sie gesagt. In Forgacs oder Farkas oder wie es heißt, stiegen wir aus und der Papa der Hella nahm einen Wagen und wir fuhren 2 Stunden nach K... M... Er war riesig lustig. In F... aßen wir zu Nacht, obwohl es erst ½7 war. Es kamen gleich alle Kellner hergestürzt. Übrigens das ist auch beim Papa so, nur die Stationsvorstände grüßen nicht alle. Der Papa sieht ja auch riesig vornehm aus, nur das er eben nicht in Uniform ist.

Etwas furchtbar Interessantes: Gestern war ein Herr v. Kraics da aus Radufalva, der hat das Gut Radufalva von seinem besten Freund geerbt zum Dank, weil er vor 8 Jahren auf seine Braut verzichtete, die den Freund liebte. Der Oberst Bruckner sagt zwar, der K... ist ein widerwärtiger Waschlappen, aber ich finde das durchaus nicht; er sieht so feurig aus, ein echter, edler Ungar. Die Hella sagt, er hat früher wahnsinnig viel Schulden gemacht, weil er jedes halbes Jahr ein anderes Verhältnis mit einer Dame hatte; und die vielen Geschenke haben ihn fast an den Bettelstab gebracht. Also, wir können das nicht recht glauben, denn wenn eine Dame noch so für Blumen und Bonbons schwärmt, so kann man dadurch doch nicht an den Bettelstab kommen. Und gestern erzählte mir die Hella vor dem Einschlafen, daß der Lajos schon etwas » angesteckt« ist; es gibt keinen Offizier, der nicht geschlechtskrank ist und das macht sie eben so furchtbar interessant. Da erzählte ich ihr dann das, was mir die Ada vom Schauspieler in St. P. erzählt hat. Aber die Hella sagte: Es fragt sich, ob alles wahr ist; bei einem Schauspieler kann es ja allerdings eher wahr sein, besonders da er früher beim Militär war, aber im allgemeinen sind die Zivilisten furchtbar solid!!! Und das wäre ihr an ihrem Mann gräßlich. Jeder Offizier hat wahnsinnig gelebt; so sagt man nämlich in der Umschreibung für geschlechtskrank, und sie würde nie einen Mann heiraten, der nicht vorher gelebt hätte. Die meisten Mädchen, besonders wenn sie schon älter sind, verlangen gerade das Gegenteil! und da fiel mir plötzlich ein, daß das wahrscheinlich der wahre Grund ist, warum die Dora dem Herrn Obltnt. R... abgeschrieben hat, und nicht die Freundschaft mit der Mama; das ist ja auch wirklich lächerlich und niemand wird ihr das glauben. Der Papa der Hella findet mich reizend; er ist übrigens auch großartig nett. Der Onkel von der Hella redet fast gar nichts und man versteht ihn beinahe nicht; der Papa der Hella sagt immer, seine Schwägerin hat die Hosen an. Das möchte ich nie haben; der Herr im Haus muß unbedingt der Mann sein. »Aber nicht zu viel«, sagt die Hella. Sie ärgert sich übrigens immer so, wenn ihr Papa das sagt, von den Hosen anhaben. Gestern bin ich schrecklich erschrocken; wie wir auf die Veranda gehen wollen, weil wir die Burschen reden hörten, steht ein Rollstuhl da und drauf liegt der Großonkel der Hella, von dem sie mir einmal erzählte, daß er ganz verrückt ist; er ist nicht wirklich gelähmt, sondern er tut nur so. Die Hella fürchtet sich vor ihm entsetzlich, weil er sie einmal, wie sie 9 oder 10 Jahre alt war, durchhauen wollte. Aber ihr Onkel kam dazu und da hat er sie gleich losgelassen. Sie sagt zwar immer: Er soll sich nur unterstehen, aber sie hat doch gräßliche Angst. Er ist immer in seinem Zimmer und hat einen Pfleger, weil keine Pflegerin es aushalten kann bei ihm. Er sollte eigentlich in einer Irrenanstalt sein, aber in Ungarn gibt es keine feineren.

9. September: Heute vormittag war ein furchtbarer Skandal; der Großonkel, die Leute nennen ihn Kutya mog oder wie das geschrieben wird und das heißt verrückter Hund, also der Großonkel stellt uns nach. Er kann nämlich mit dem Stock gehen, wenn er will und da stellte er sich vor unser Parterrefenster und schaute zu, wie die Hella sich wusch und ich gerade aufstand. Da kam der Papa der Hella dazu und machte einen wahnsinnigen Skandal und der Onkel schimpfte auch furchtbar auf Ungarisch. Und vor dem Essen hörten wir gerade noch, wie der Papa zur Tante Olga sagte: »Das wären gerade schöne Bissen für diesen alten Schweinigl, solche unschuldige Kinder, die kämen schön zum Handkuß«. Da mußten wir so furchtbar lachen, wir und unschuldige Kinder!!! was die Papas eigentlich glauben von uns; wir und unschuldig!!! Beim Essen durften wir einander gar nicht anschauen, sonst wären wir direkt herausgeplatzt vor Lachen. Und nachmittag sagte die Hella: »Du, weißt du, daß wir am selben Tag Namenstag haben?« Und wie ich sage: »Wieso denn, mir scheint, du bist von heute vormittag übergeschnappt«, da lacht sie furchtbar und sagt: »Ja natürlich, am 27. Dez., am Tag der Unschuldigen Kinder!« Das ist zu köstlich. Sie weiß das nämlich, obwohl sie protestantisch ist, weil die Marina, die falsche Person, am 27. Dez. Geburtstag hat und wir sie deshalb in dem Brief damals »Unschuldiges Kind« anredeten und dabei hatte ich unabsichtlich ein so schlechtes K gemacht, daß es wie ein R aussah und also »Unschuldiges Rind« hieß, weswegen dann die Tante Alma den Riesenkrach machte.

Ich bin mit allen 3 Burschen per Du geworden, der Papa der Hella sagte gestern beim Nachtmahlessen zum Ernö: »Mir scheint gar ihr siezt euch noch, stoßt an auf Du und Du und seid keine Philister«. Da stießen wir an und nachher sagte der Jenö, als wir in der Fensternische standen und den Mond bewunderten: Du Margit, das war kein richtiges Bruderschafttrinken, man muß sich dazu küssen; geschwind, so lang wir allein sind; und ehe ich sagen konnte: das geht doch nicht, gab er mir schon einen Kuß. Also bei Jenö macht es mir nichts, aber beim Lajos wäre es mir wegen der Hella resp. der Ilonka, so nennen sie hier die Hella, schrecklich unangenehm.

Gerade sagt mir die Hella, sie hat gesehen, wie wir uns küßten, und der Lajos sagte: »Schau Ilonka, sie geben uns ein gutes Beispiel«. Wir sind hier riesig glücklich. Leider muß der Jenö und der Lajos schon am 16. fort in die Anstalt, der Jenö in den ersten und der Lajos in den III. Jahrgang der Akademie; gerade der fadere, der Ernö bleibt bis Oktober hier. So ist es immer im Leben, das Schöne vergeht und das Fade bleibt. Wir fahren täglich Kahn, gestern und heute bei Mondenschein. Und die Burschen schaukeln so gräßlich, daß wir immer entsetzlich Angst haben, daß der Kahn umkippt. Und dann sagen sie immer: »Ihr habt Euer Schicksal in der Hand; kauft Euch los und Ihr seid sicher wie in Abrahams Schoß«.

12. September: Der Großonkel haßt uns seit neulich; wenn er uns sieht, droht er uns mit dem Stock und wenn wir uns auch nicht gerade fürchten, weil er uns ja nichts tun kann, so ist es uns doch furchtbar gruselig. Es fallen einem immer alle möglichen Sachen ein, die man gelesen hat und aus Märchen und Sagen weiß. Das ist der einzige Grund, warum ich nicht so gern hier bin. Übrigens fahren wir am 18. weg. Natürlich werden der Lajos und der Jenö sehr oft zu Bruckners kommen; ich freue mich schon riesig. Ich weiß nicht, wie das kommt, ich glaubte immer, daß sie nur ungarisch können, aber das stimmt durchaus nicht, nur bei ihnen zuhaus, wenn keine Gäste da sind, wird immer ungarisch gesprochen. Heute hat mir die Hella erst eingestanden, daß die vielen Blumen, die einmal an einen Sonntag, wie sie im Sanatorium war, bei ihrem Bett standen, vom Lajos waren; sie wollte es nicht sagen, weil er es nicht wünschte. Eigentlich hat mich das geärgert, denn ich sehe, daß ich zu ihr viel aufrichtiger bin als sie zu mir.

16. September: Heute sind die Burschen weggefahren und gestern waren wir bis 12 Uhr Mitternacht auf. Wir waren nämlich in N... K... die ungarischen Namen kann ich nicht schreiben und da kamen wir erst um ½12 Uhr zurück. Es war herrlich. Umso trauriger ist es heute, wo es noch dazu regnet. Zum erstenmale, seit wir da sind. Abschied nehmen ist gräßlich, besonders für die Hinterbliebenen; denn die, die weggehen, haben sofort eine Abwechslung. Aber wer dableibt, denn ist alles entsetzlich öd und still. Die Hella und ich gingen nachmittags in das Zimmer von Jenö und Lajos, da war noch nicht aufgeräumt und eine gräßliche Unordnung. Da schluchzte die Hella plötzlich furchtbar und warf sich über das Bett des Lajos und küßte die Polster und die Decke. So liebt sie ihn! So liebt gewiß die Mad. den Oberleutnant, aber die Dora ist einer solchen Liebe gar nicht fähig und dann redet sie sich auf die wahre tiefe Freundschaft mit der Mama aus. Die Hella sagt, sie hat den Lajos immer schon geliebt, aber wenn sie mich und den Jenö so zusammengehen und reden sah, das hat ihr erst die Augen geöffnet. Seither liebte sie den Lajos für ewig. Nächstes Jahr wird er sich wahrscheinlich mit ihr verloben, denn vor 14 geht das nicht, weil die Eltern es nicht erlauben. Er geht auch ihretwegen zu den Husaren, weil ihr die Husaren am besten gefallen; sie leben alle furchtbar und sind riesig vornehm.

21. September: Seit Samstag sind wir wieder in Wien und die Eltern und die Dora sind am Donnerstag von Rodaun gekommen. Die Dora ist köstlich; seit die Ada da war und mondsüchtig geworden ist, fürchtet sich die Dora, sie sei angesteckt. Sie scheint nicht zu wissen, was das Wort eigentlich bedeutet! Und während ich fort war, hat sie bei der Mama geschlafen und der Papa hat in unserm Zimmer geschlafen, weil sie sich fürchtete, allein zu schlafen. Vom Alleinschlafen wird doch niemand mondsüchtig, aber das war nur der Vorwand; besonders mutig war die Dora nie, eher etwas feig und da hat sie sich einfach gefürchtet, allein im Zimmer zu schlafen. Wenn sich der Papa auch gefürchtet hätte, hätte ich vielleicht gar standepete zurückfahren müssen und wenn ich mich auch gefürchtet hätte, allein zu fahren und es wäre niemand dagewesen, mich zu begleiten, na, das wäre reizend geworden. Der Papa hat über meine » Kombinationen« riesig gelacht und die Dora hat sich sehr geärgert. Sie ist wieder so fad und eingebildet wie vor ihrer Liebe. Also hat die Hella recht, wenn sie sagt: Die Liebe veredelt. Das war übrigens ein blöder Witz vom Ernö. Wie die Hella einmal das sagte, sagt er: »Du hast dich versprochen, du wolltest sagen: vereselt«. Natürlich weil er niemanden liebt.

22. September: Heute hat die Schule begonnen. Die Frau Dr. M. war entzückend, sie schaut großartig aus und machte uns im Gang dasselbe Kompliment. Gott sei Dank, sie ist wieder unser Klassenvorstand. In Französisch haben wir eine Frau Dr. Dunker, die ist sehr häßlich, voll Wimmerln, das ist mir das Greulichste an einem Menschen; die Hella sagte, da müssen wir uns in achtnehmen, daß sie nie unser Buch in die Hand bekommt; denn sonst kriegen wir auch einen solchen Teint. In Math. und Physik haben wir ebenfalls eine neue Doktorin, die spricht so schnell, daß niemand sie versteht; aber sie sieht enorm geistreich aus, obwohl sie sehr klein ist. Wir nennen sie » Nüßchen«, weil sie einen so kleinen Kopf und so schöne lichtbraune Augen hat. Sonst haben wir dieselben Lehrkräfte wie im vorigen Jahr und ein paar neue Schülerinnen sind auch gekommen und einige übersiedelt, aber lauter solche, mit denen wir nicht näher verkehrten. Die Franke geht heuer das letzte Jahr ins Lyzeum, sie wird im April schon 16 Jahre und ist wirklich riesig stark. Das muß ihr ärgster Feind sagen. Bei der Dora hat die Frau Direktorin Englisch und das ist ihr sehr angenehm, denn sie gehört zu ihren Lieblingen und das ist wegen der Matura doch sehr gut.

25. September: Gestern und vorgestern war der Mama so schlecht, daß der Arzt noch um ½11 Uhr in der Nacht kommen mußte. Heute ist ihr, Gott sei Dank, wieder besser. Aber an solchen Tagen kann ich absolut nicht ins Tagebuch schreiben; es kommt mir wie ein Verbrechen vor. Und solche Tage dauern endlos, weil niemand viel redet und die Mahlzeiten sind schrecklich. Heute lag die Mama schon wieder auf der Chaiselongue.

29. September: Ich habe greulich Zahnschmerzen gehabt seit vorgestern. Die Dora behauptet, das sind bloß Schmerzen nach einer Goldplombe, wie die Frau Dr. M. sie hat. Das ist natürlich nicht wahr; erstens werde ich doch wissen, ob mir der Zahn weh tut oder nicht, und zweitens hat der Zahnarzt bestätigt, daß der Zahn ein kleines Loch hat. Ich muß jeden zweiten Tag hingehen und das ist gewiß kein Vergnügen. Noch dazu, wo wir heuer greulich viel zu lernen haben in der Schule. Das Nüßchen ist eigentlich sehr nett, wenn man sie nur besser verstände, aber sie redet sodaß schnell, die V. Kl., wo sie auch unterrichtet, sie Wasserfall nennen. Der Frau Dr. M. hat noch nie jemand einen Spitznamen gegeben, auch nicht im guten Sinn. Man müßte sie höchstens Engel nennen und das könnte auch einen wirklichen Namen bedeuten, das hat keinen Sinn. Im Zeichnen werden wir Stilleben malen lernen und die allerbesten auch Tierstudien, da freue ich mich riesig.

4. Oktober: Gott, heute, wie wir von der Kaiserfeier nachhause gehen, begegnen wir auf der M...straße den Viktor; leider hat er uns nicht bemerkt. Er war in Parade und ging mit drei anderen Offizieren, die wir aber, d. h. die Hella nicht kannten. Daß er uns nicht erkannte, hat uns beide riesig geärgert; die Hella meint, es kann nur sein, weil wir beide die neuen großen Herbsthüte aufhatten, die das Gesicht so beschatten.

11. Oktober: Es ist ein wahnsinniger Skandal in der Zeichenstunde entstanden. Die Borovsky hat irgend einer ihrer Freundinnen auf einen Zettel geschrieben: »Die kleine Jüdin, die F... (das ist nämlich das Nüßchen) ist frisch aus Skandalizien importiert mit ihrem Roßhaarkopf mit oder ohne Einwohner«. So ähnlich hat sie in dem Brief geschrieben und wie sie ihn der Fellner hinüberwirft, dreht sich grad das Fräulein Schöll um und fängt den Zettel ab; »Wer ist das, die F...?«, fragt sie, aber niemand gibt eine Antwort. Das hat sie furchtbar geärgert und sie steckt den Brief in ihr Tascherl. Nach der Stunde um 1 geht die Borovsky zu ihr und bittet sie um den Brief. Da fragt sie wieder: »Wer ist die F...?« Und die Fellner glaubt wahrscheinlich, der Borovsky damit zu helfen und sagt: »Sie hat vergessen die Frau Dr. Fuchs zu schreiben.« Also jetzt geht es los. Das schreib ich gar nicht alles nieder, weil es zu lange dauert; die Borovsky wird natürlich ausgeschlossen. Sie hat furchtbar geweint und gebeten und hat gesagt, sie hat es nicht so gemeint, aber das Frl. Schöll wird den Brief der Frau Direktorin geben.

12. Oktober: Heute Fortsetzung; die Frau Direktorin ist verkühlt und da gab das Frl. Schöll den Brief der Frau Dr. M.; das war gut und schlecht zugleich. Gut, weil die Borovsky vielleicht doch bleiben darf, und schlecht, weil sich die Frau Dr. M. furchtbar geärgert hat. Dann hielt sie eine großartige Ansprache über die wahre Vornehmheit der Gesinnung, einfach großartig. Und ich war froh, daß ich nicht in die Sache verwickelt war, denn sie hat die Borovsky und die Fellner greulich hingestellt. Es wird also doch wahr sein, daß ihr Bräutigam selber ein Jude ist. Es ist gräßlich, daß gerade sie einen grausamen Mann bekommen soll; wenn das nämlich alles wahr ist, was uns die Resi damals gesagt hat; aber etwas Wahres wird schon dran sein. Wir sind schon riesig neugierig, ob das Nüßchen etwas erfahren hat und wenn, was sie tut.

13. Oktober: Das Nüßchen scheint nichts zu wissen davon, sie war ganz wie gewöhnlich; die Hella meint und ich auch, daß sie sich nichts anmerken läßt, wenn selbst das Frl. Schöll ihr etwas erzählt hätte; übrigens wäre das eine Gemeinheit; so etwas erzählte man den Betreffenden doch nicht. Daß sie nichts erfahren hat, haben wir auch daraus entnommen, daß weder die Borovsky noch die Fellner gerufen wurden.

14. Oktober: Heute hat die Stickerin die Taschentücher für die Dora gebracht; ihr Monogramm und die Krone, prachtvoll; ich wünsche mir zu Weihnachten auch solche. Und für die Mama hat sie 6 Kaprizepolster gestickt, auch mit der Krone; nach und nach bekommen wir jetzt überall die Krone drauf. Ja richtig, das habe ich noch gar nicht geschrieben: Gleich in den ersten Schultagen hat uns der Papa jeder eine neue Visitkarte von ihm mit dem Adel mitgegeben, mir für die Frau Dr. M., und der Dora für die Frau Prof. Kreidl, wegen des Eintragens in den Katalog. Die Frau Prof. Kreidl hat gar nichts gesagt, aber die Frau Dr. M. war entzückend. Sie sagte: »So Lainer, da wirst du ja sehr zufrieden sein, mit dieser Standeserhöhung?« Und ich sagte: »O ja, es freut mich schon riesig, aber nur innerlich« und da sagte sie: Da hast du schon recht; »Religion, Namen und Geld machen nicht den Menschen aus.« Gott, wie reizend. Ich mache auch das v. nur winzig klein vor meinem Namen; wer es weiß, sieht es schon. Gott wie schade, daß sie nicht von Adel ist! Sie würde es wohl verdienen!!

15. Oktober: Heute ist der Oswald weggefahren nach Leoben, er studiert Bergbau, aber gegen den Willen des Papas. Aber Papa sagt, zu einem Beruf darf man niemand zwingen, sonst hat der andere sein Leben lang die Ausrede, er ist nur gezwungen das und das geworden. Die Dora sagte neulich abends, der Oswald hat nur deshalb den Bergbau gewählt, damit er nicht zuhause bleiben muß; wenn er Jus oder auch Bodenkultur studiert, könnte er nicht von Wien weg und das ist ihm die Hauptsache. Dann ist er auch etwas falsch; denn wie er nach der Matura von Graz zurückgekommen ist, hat er ausdrücklich gesagt: »Gott sei Dank, das man wieder einmal die Füße unter den eigenen Tisch setzt und die Atmosphäre der Familie atmet.« Weil damals noch die Dora zu ihm sagte: »Na gar so heimisch scheinst du dich nicht zu fühlen, denn kaum bist du in die Ferien gekommen, so schmiedest du schon Reisepläne.« Denn sie ärgert sich auch, daß der Oswald so herumfahren darf, wie er will. Und da redet er noch von einer » unleidlichen Beaufsichtigung«!! Was sollen denn da wir sagen? Er kann abends ausbleiben bis zehn und kommt nie zur Jause und tut überhaupt, was er will. Wenn ich mich einmal bei der Hella verspäte, beim Nachtmahl, ist gleich ein Riesenverdruß. Und die Ausreden, die die Dora erfinden mußte, wenn der Viktor sie erwartete, das werd' ich nie vergessen. Sie leugnet zwar alles ab, aber ich weiß es doch, weil ich doch selber mitgeholfen habe; sonst hätte er mich nicht »Schutzgeist« genannt. Jetzt tut sie, als ob sie sich gar nicht mehr erinnern könnte und drum erinnere ich sie absichtlich so oft daran, wenn wir allein sind. Neulich sagte sie gar: »Ich bitte dich, Grete (nicht Rita) sprich nicht mehr davon; diese Sache ist für mich ewig begraben.« Und wie ich sagte: Wieso denn begraben? Das gibt es doch nicht, daß man eine wahre Liebe einfach begräbt, da sagte sie: »Es war eben nicht die wahre Liebe und damit Schluß.«

16. Oktober: Heute hatte ich eine wahnsinnige Angst in der Rechenstunde. Die Hella wurde auf einmal ganz dunkelrot und da dachte ich mir: »Ah, jetzt!« Und schreibe ihr auf den Faulenzer: Eingetreten. Wir hatten nämlich verabredet, daß sie mir es sofort mitteilt, denn im Februar wird sie 14 und da wird es tatsächlich bald eintreten. Die Frau Dr. F. sagt: Lainer, was hast du der Br. hinübergeschoben? und war schon bei der Bank und nimmt den Faulenzer. »Was soll das heißen: Eingetreten« Vielleicht hat sie es wirklich nicht gewußt, aber mehrere Kinder, die es eben auch wissen, haben gelacht und ich habe mich schrecklich gefürchtet. Aber die Hella ist einfach großartig. »Entschuldigen Frau Dr., die Rita hat gefragt, ob schon Frost eingetreten ist, weil dann Natureis ist«. »Und damit beschäftigt Ihr Euch in der Mathematikstunde?« Aber Gott sei Dank, damit war alles erledigt. Nur die Hella sagt in der Pause zu mir, ich sei manchmal urblöd. Wozu ich das aufschreiben mußte. Wenn es eintritt, so ist es einfach selbstverständlich, daß sie es mir sofort sagt. Es ist nämlich nicht eingetreten bei ihr. Übrigens haben wir verabredet, daß wir lieber » Endt« sagen werden; das heißt dann soviel als entwickelt und zugleich endlich. Das ist wirklich ausgezeichnet und die Hella sagt, das habe ich in einem lichten Moment gefunden. Das ist eigentlich eine Keckheit, aber schließlich einer Freundin verzeiht man vieles. Übrigens hat sie mir direkt verboten, daß ich sie unter der Stunde immer so fixiere. Das tue ich nämlich wirklich, weil ich immer glaube: Na, also heute ...

8. November: Am Geburtstage von Papa und der Dora ist der Mama so schlecht geworden, daß gar keine Feier war; ich fürchte mich entsetzlich, daß die Mama ernstlich krank wird oder am Ende – – – – –; nein, daran will ich nicht einmal denken; das darf man nicht einmal aussprechen, auch wenn man gar nicht abergläubisch ist. Die Tante Dora ist vorige Woche gekommen, um der Mama den Haushalt abzunehmen. Wir werden auch nicht aufs Eis gehen, weil man sich immer fürchtet, während man auf dem Eis ist, könnte es der Mama schlechter gehen. Sobald sie für längere Zeit aufstehen kann, fährt der Papa mit ihr zu einem Professor, nämlich einem Frauenarzt; also muß es doch wahr sein, daß die Krankheit der Mama daher kommt.

16. November: Gott, das ist gräßlich, die Mama muß operiert werden; ich bin so aufgeregt, daß ich nicht schreiben kann.

19. November: Die Mama ist so gut und lieb, sie will, wir sollen nur aufs Eis gehen, damit wir uns zerstreuen und nicht immer an die Operation denken. Aber die Dora sagt auch, das wäre unmenschlich, aufs Eis gehen, wenn in ein paar Tagen die Mutter operiert wird. Und der Papa sagt gestern abends zu uns: »Kinder, nehmt euch zusammen, jetzt heißt's die Zähne aufeinander beißen und der armen Mama das Herz nicht noch schwerer machen.« Aber ich kann nicht, ich muß weinen, so oft ich die Mama anschaue.

23. November: Es ist so gräßlich bei uns, seit die Mama weg ist; wir mußten in die Schule gehen und glaubten, sie fahre erst nachmittags und indessen kam der Wagen schon vormittags. Die Dora sagt, das war abgekartet vom Papa, weil ich mich gar nicht beherrschen kann. Gott, wer kann denn das? Die Dora weint ja auch den ganzen Tag; und ich habe auch in der Schule so furchtbar geweint und die Hella auch.

28. November: Gott sei Dank, es ist alles gut vorüber gegangen; in 14 Tagen ist die Mama wieder bei uns. Ich bin so glücklich; jetzt sehe ich erst, was für eine gräßliche Angst ich gehabt habe. Wir gehen jetzt alle Tage zur Mama ins Sanatorium; am liebsten ginge ich allein, aber wir gehen leider immer alle zusammen, d. h. entweder mit dem Papa oder mit der Tante Dora. Nämlich die Dora geht bestimmt allein zur Mama, heute hat sie sich verraten mit den Blumen, sie tut, als ob es nur ihre Mama wäre. Wie wir am Donnerstag das erstemal bei der Mama waren, haben alle nur geflüstert und die Mama hat geweint, obwohl sie durch die Operation wieder ganz gesund wird. Gestern war leider die Tante Alma mit uns zugleich dort und da sagte der Papa, so viele Leute auf einmal regen die Mama zuviel auf, wir müssen fortgehen. Natürlich hat er in Wirklichkeit gemeint, die Tante Alma und die Marina sollen fortgehen, aber die Tante hat nicht kapiert oder nicht kapieren wollen. Wozu die Tante überhaupt gekommen ist? Wir kommen doch seit dem Verdruß wegen der Marina und dem Balg, dem Erwin, fast gar nicht zusammen, nur wenn Familienabend ist; der Oswald sagt statt Familienzusammenkunft, Familienauseinanderkunft, weil meist jemand beleidigt ist.

30. November: Heute war ich doch allein bei der Mama. In der Schule habe ich gesagt, ich habe greulich Kopfschmerzen, ob ich aus der französischen Stunde weggehen kann; das war nämlich auch wirklich wahr. Und zur Mama habe ich gesagt, die Frau Dr. Dunker war krank, wir hatten keine Stunde. Eigentlich soll man jemanden Kranken nicht anlügen, aber das war eine fromme Lüge, wie die Mama der Hella immer bei so etwas sagt, und herauskommen wird es auch nicht, weil die Frau Dr. Dunker in der IV. nichts zu tun hat, so kann es die Dora nicht erfahren. Die Mama war riesig erfreut, daß ich auch einmal allein komme. Also damit war es direkt bewiesen, daß die Dora allein hingeht. Die Mama war so süß und die Schwester Klara sagte, sie sei ein Engel an Güte und Geduld. Da weinte ich furchtbar und die Mama mußte mich beruhigen. Zuhause wollte ich erst überhaupt nichts sagen, aber wie wir uns nach dem Essen anzogen, um zur Mama zu gehen, sagte ich so en passant: »Heute sehe ich die Mama schon zum zweitenmal.« Und wie die Dora sagt: Wieso denn?, sag ich ganz kurz: »Eine Stunde entfiel und da benützte ich die Gelegenheit, um auch einmal die Mama allein zu besuchen.« Da sagt sie noch: Haben sie dich den beim Portier so ohneweiters allein hineingehen lassen? Das wundert mich sehr, daß so sehr junge Mädchen, die fast noch Kinder sind, allein passieren dürfen. Zum Glück kam gerade die Tante herein und sagte: »Na, die Gretel hält niemand für ein so kleines Kind, und dann kennen Euch doch jetzt schon alle im Sanatorium.« Am Weg haben wir nichts miteinander geredet.

5. Dezember: Heute haben wir der Mama einen großen Nikolo mit Blumen in der Butte gebracht, und neben der Rute hing ein Zettel, drauf hatte der Papa geschrieben: Kranksein wird bestraft als unerlaubte Handlung im Sinne des Paragraphen 7 des Mutter- und Hausfrauengesetzes. Das hat der Mama riesigen Spaß gemacht. Der Professor sagt, es geht sehr gut vorwärts und in einigen Tagen darf sie heraus.

6. Dezember: Das war mir gräßlich heute. Abends wie wir aus dem Speisezimmer gehen, sagt der Papa: »Gretel, du hast etwas vergessen. Und wie ich zurückkomme, so nimmt er mich an der Hand und sagt: »Warum sagst du denn nicht, daß du so gern allein zur Mama gehst? Das brauchst du doch nicht verheimlichen.« Und da weinte ich furchtbar und sagte: »Ja, vor dir nicht, aber die Dora braucht nicht alles wissen. Hat sie es dir gesagt von neulich?« Aber das von meinen angeblichen Kopfschmerzen weiß der Papa nicht, sondern nur, daß ich so gern allein zur Mama gehen wollte. Und er war so süß und küßte mich und streichelte mich und sagte: »Du bist ein lieber Kerl, mein Hexerl, bleib nur immer so.« Aber ich riß mich schnell los, weil ich mich so genierte, daß ich doch eigentlich eine Lügerei gemacht habe. Ohne die Dora würde ich überhaupt nie lügen.

6. Dezember: Der Papa ist ein Engel. Er und ich gingen vormittags zur Mama und die Tante und die Dora nachmittags. Und weil der Papa noch ins Café gehen mußte, wo er sich mit einem Bekannten verabredet hatte, so ging ich erst allein zur Mama und er kam dann nach. Die Mama fragte mich nach meinem Weihnachtswünschen; aber ich sagte ihr, ich wünsche mir nur eins, daß sie gesund wird und ewig lebt. Da war ich erst froh, daß die Dora nicht dabei war, denn das hätte ich nie herausgebracht vor ihr. Aber dann mußte ich doch meine Wünsche sagen und da wünschte ich mir Taschentücher mit »Monogramm und Krone«, Visitkarten mit Edle von, eine Büchertasche, wie die meisten Mädchen in den Oberklassen sie haben und den Roman Elisabeth Kött. Aber den letzteren bekomme ich nicht, da war die Mama ganz entsetzt und sagte: Aber liebes Kind, das ist nichts für dich; wer hat dir denn das in den Kopf gesetzt; sicher die Ada? Das würde dir, wie ich deinen Geschmack kenne, wirklich nicht gefallen. Also darauf muß ich verzichten, aber fad wäre es mir sicher nicht.

11. Dezember: Heute ist die Mama wieder nachhause gekommen; wir haben nicht gewußt, wann, nur daß sie heute bestimmt kommt. Und weil ich so froh war, daß die Mama wieder ganz gesund ist, habe ich gerade ein paar Lieder gesungen und da hat die Mama gesagt: Das ist ein gutes Vorzeichen, wenn man mit Gesang begrüßt wird. Da ärgerte sich die Dora, daß nicht sie gesungen hatte. Wir hatten alles mit Blumen garniert.

15. Dezember: Ich sticke für die Mama einen Schlummerpolster und die Dora macht ein Fußbänkchen, damit sie beim Lesen recht bequem sitzt. Für den Papa haben wir eine neue Aktentasche gekauft, weil die seine schon so schäbig ist, daß wir uns schon genieren; aber er sagt immer: »Die tuts noch lange.« Ich habe so lang nicht gewußt, was ich der Tante Dora geben soll und jetzt haben wir uns endlich zu einem Spitzenfichü entschlossen; denn sie hat solche Spitzensachen sehr gern. Der Hella gebe ich ein Skizzenbuch und einen weichen Bleistiftbehälter; sie zeichnet großartig und wird sich vielleicht zur Malerin ausbilden, der Dora ein Handtäschchen und dem Oswald ein Zigarettenetui mit Pferdekopf, denn er ist furchtbar für Rennen und Turf eingenommen.

16. Dezember: Durch die Krankheit der Mama habe ich gar keine Zeit gehabt, von der Schule etwas zu schreiben, obwohl schon manches zum Schreiben gewesen wäre, z. B. daß der Prof. W. wieder riesig freundlich tut, trotzdem er gar keine Stunde mehr bei uns hat und daß die meisten Mädchen das Nüßchen nicht leiden können, weil sie die Jüdinnen so bevorzugt. Das ist nämlich wirklich wahr, z. B. die Franke, die doch nie etwas kann, wird wahrscheinlich Lobenswert in Mathematik und Physik bekommen; und die Weinberger darf alles tun, was sie will. Ich habe immer Vorzüglich auf jeder Schularbeit und Hausarbeit, also mir ist das egal, aber die Verbenowitsch ärgert sich furchtbar, weil sie nicht mehr der Liebling ist, wie bei der Frau Dr. St. Und neulich war etwas sehr Unangenehmes in der Mathematikstunde. Bei einer Rechnung kam zufällig 1/3 heraus und da fragte das Nüßchen, wie 1/3 als Dezimalbruch heißt; und dann redeten wir überhaupt von den periodischen Dezimalbrüchen und wie sie immer die Periode sagt, so lachen ein paar Mädchen, zum Glück auch ein paar Jüdinnnen, und da wird sie furchtbar wild und schreit uns gräßlich an. Bei der Frau Dr. St. in der Ersten haben damals auch ein paar Kinder gelacht und sie hat getan, als ob sie es gar nicht bemerkte, und dann sagte sie auch immer periodische Stellen und da denkt man wirklich nicht so an die wahre Bedeutung. Die Frau Dr. F. hat gesagt, sie wird sich bei der Frau Dr. M. beschweren über unser unpassendes Benehmen. Also, alle Mädchen haben wirklich nicht gelacht, z. B. ich und Hella haben nur einen einzigen Blick gewechselt, da haben wir uns ja ohnehin gleich verstanden. Das blöde Lachen kann ich auch nicht leiden.

20. Dezember: Heute ist der Oswald gekommen; er ist einfach gottvoll. Es ist also doch wahr, daß er schon längst einen Schnurrbart hatte und daß sie nur im Gymnasium keinen tragen dürfen; und daß, wenn einer in einem Pensionat oder Konvikt ist, jeden Samstag der Raseur kommt und sie sich rasieren lassen müssen. Er sagte immer, im Gymnasium wird alles Männliche in einem erstickt. Gott sei Dank, daß ich kein Mann bin und nicht ins Gymnasium gehen muß. Also er hat einen wunderbaren Schnurrbart und die Hella ist ganz weg von ihm. Sie hat ihn zuerst gar nicht erkannt und ist zurückgeprallt, erst an der Stimme hat sie ihn erkannt. Wir haben ausgerechnet, daß sie ihn seit den vorvorigen Ostern nicht mehr gesehen hat. Er hat sie zuerst Fräulein angesprochen, aber ihre Mama hat gesagt, das ist ein Blödsinn. Na, also blödsinnig ist es gerade nicht, einfach sehr fein!!

23. Dezember: Die Mama freut sich riesig, daß der Oswald da ist, und er ist auch riesig nett; sie bekommt von ihm eine wunderbare Gruppe aus Eisenblüte, die ein Gebirge darstellt mit einem Wald und davor ein paar Rehe wie auf einer Wiese.

25. Dezember: Nur schnell ein paar Worte. Der Mama war gestern sehr gut und das lange Aufbleiben hat ihr nichts geschadet. Ich bin glücklich, wir haben jede eine Krawattennadel mit einem Saphir und drei kleinen Brillanten bekommen, sie sind aus Ohrgehängen von der Mama gemacht, die sie nie trägt. Aber das ist eben das Andenken, daß es von ihren Ohrringen gemacht ist. Und die Büchertasche und die Erzählungen von Stifter freuen mich auch riesig und die Taschentücher mit der Krone und alles andere. Und von der Hella den Ridikül mit meinem Monogramm und ebenfalls der Krone. Vom Oswald haben wir ich und die Dora kleine Briefbeschwerer und der Papa einen großen bekommen aus einer Erzgruppe. Wir brauchen eigentlich zwei Schreibtische, aber die hätten keinen Platz im Zimmer. Aber ich werde mir das Ecktischchen als Schreibtisch herrichten und dort alles hinstellen, was mir gehört.

27. Dezember: Gestern bei Bruckner, das war wirklich greulich. Da hatte die Mama der Hella recht; wenn man so ausschaut, macht man keine Besuche, wenn man weiß, daß noch andere Leute auch kommen. Die Hella sagte mir schon vorgestern, daß man es ihrer Kusine greulich anmerkt, daß sie in a... U... ist! Ihre Mama hat sich auch wegen ihr schrecklich geniert und nicht wollen, daß die Emmy aufsteht. Wir waren einfach entsetzt und empört. Aber ihr Mann ist riesig zärtlich zu ihr; hübsch ist sie nicht, besonders die Würsteln unter den Augen sind ekelhaft. Viele Frauen sollen so aussehen, wenn sie schw... sind. Sie hat ein Umstandskleid, da sieht man erst recht alles! Die Hella sagt, daß manche Frauen wunderschön werden, wenn sie in a... U... sind, und wieder welche, die häßlich ausschauen. Hoffentlich gehöre ich zu den ersteren, falls ich überhaupt ... Nein, es ist doch greulich, auch wenn man dadurch schön wird; wenn ich nur an die Frau von Baldner denke, wie die ausgeschaut hat heuer im Sommer, und von der hat der Papa immer gesagt, sie ist bildschön. In a... U... ist überhaupt niemand schön. Wir sind dann bald nach der Jause ins Zimmer der Hella gegangen und sie sagte, lange hätte sie sich es nicht mehr ausgehalten, so hätte sie sich übergeben. Und da redeten wir noch so vieles, daß uns wirklich beiden beinahe schlecht wurde. Am Sonntag kommt die Emmy und ihr Mann zu Mittag zu Br. und da hat mich die Hella gebeten, ich möchte sie zu Mittag zu uns einladen, sonst wird ihr übel. Also natürlich kommt sie zu uns, da braucht ihr, Gott sei Dank, nicht übel werden. Und dann sagte sie noch, ich möchte aber ja nicht glauben, daß sie wegen des Oswald kommen will, sondern nur aus diesem einen Grund. Das begreife ich sehr gut und sie braucht sich überhaupt vor mir nicht zu entschuldigen.

29. Heute war die Hella zu Mittag bei uns, sie hatte das neue pastellerdbeerfarbene Kleid an, das ihr großartig steht. Der Oswald sagte am Abend: »in 2 bis 3 Jahren wird die Hella eine famose Erscheinung werden.« So etwas ärgert mich immer gräßlich, immer dieses werden. Der Papa der Hella sagte von mir einfach, ich bin reizend, und nicht so blöd: ich werde reizend werden. Das hasse ich, dieses immer in die Zukunft reden. Übrigens war der Oswald riesig galant gegen die Hella. Und nachmittags, wie wir, ich und Hella miteinander über ihn redeten, wollte ich sie ein bischen mit dem Lajos aufziehen, aber da wurde sie ganz rot und sagte, er ist falsch sondersgleichen, denn seit Oktober war er ein einziges Mal an einem Sonntag bei ihnen und da mußten sie gerade ins Theater gehen. Er sagte zwar, wenn er sie nicht allein für sich haben könne, dann pfeife er auf die Besuche. Sie will nicht einsehen, daß sich darin die Größe seiner Liebe zeigt. Ich verstehe das ganz gut. Aber das ist wirklich unerhört, daß der Jenö nur ganz kurz nach mir gefragt hat damals. Und jetzt zu Weihnachten hätte es sich auch gehört, daß er eine Karte geschickt hätte. Aber so sind die Burschen. Für die paßt wirklich das Sprichwort: Aus den Augen, aus den Sinn.

30. Dezember: Heute war die Frau Hofrätin Richter da, aber nur vormittags auf eine Viertelstunde. Kein Wort vom Viktor, obwohl ich deswegen eigens im Salon geblieben bin. Die Dora ließ sich nicht blicken, obwohl sie bestimmt zuhause war. Er sieht eigentlich riesig seiner Mama gleich, auch die schöne gerade Nase und den feinen schmalen Mund; nur ist er groß und sie sehr klein, um einen halben Kopf kleiner als die Mama. Wir möchten sie doch einmal besuchen, aber ich glaube nicht, daß wir hingehen.

31. Dezember: Ich habe eigentlich keine Zeit, da heute Sylvesterabend ist, aber ich muß schreiben. Heute vormittag gehen wir, die Dora und ich, aufs Eis, da begegnen wir den Viktor; er wird ganz blaß bis in die Lippen und grüßt und spricht uns an; die Dora will vorbeigehen, aber er hält sie zurück und sagt: sie muß ihm eine Aussprache gewähren und dann geht er mit uns aufs Eis, weil sie nicht in eine Konditorei gehen wollte. Also da hatte sie ganz Recht, sie wird doch nicht mit ihm in eine Konditorei gehen. Was sie geredet haben, weiß ich natürlich nicht, aber die Dora weinte nachmittags gräßlich und von mir hat sich der Viktor gar nicht verabschiedet; vergessen kann er unmöglich haben, sondern entweder war ich gerade zu weit weg oder die Dora hat es nicht wollen; wahrscheinlich das letztere. Er tut mir wahnsinnig leid, denn er liebt sie enorm. Aber sie wird erst zur Vernunft kommen, wenn es zu spät ist. Geredet hat sie kein Wort, ich glaube, auch nicht zur Mama. Nur nachmittags spielte sie lauter traurige Musik und daran merkt man sofort, wie viel es geschlagen hat.

2. Jänner: Gestern hatte ich keine Zeit zum Schreiben, weil wir Besuch hatten, allerdings ziemlich faden, die Liste und die Trobisch; die Julie Tr. ist ein ödes Wesen, ich glaube, die weiß die einfachsten Dinge in dieser Hinsicht nicht und die Annie ist überhaupt etwas blem-blem, höchstens die Lotte ist passabel. Aber da wir Gesellschaftsspiele mit Gewinsten spielten, so unterhielten wir uns sehr gut und der Fritz und der Rudi sind ganz nett, Am Abend war die Mama so ermüdet, daß der Papa sagte, die Einladerei müsse aufhören; na, aus dieser Einladerei mache ich mir wirklich nichts, besonders wenn die Dora immer von der Lektüre zu sprechen anfängt. Von den Büchern, das heißt nämlich von den fadesten Büchern wird immer geredet, wenn man nichts anderes reden kann. Heute hat der Unterricht wieder begonnen, Gott sei Dank mit einer Deutschstunde. Auf einen guten Anfang halte ich wirklich etwas, obwohl ich sonst absolut nicht abergläubisch bin. Übrigens haben wir in der Frühe zwei Rauchfangkehrer begegnet, die, ohne daß wir es eigens einrichteten, links an uns vorbeigingen. Das soll Glück bedeuten.

5. Jänner: Hochwichtig, bei der Hella seit gestern abends ...! Sie war gestern nicht in der Schule, da ihr schon vorgestern furchtbar schlecht war und ihre Mama schon glaubte, sie bekomme noch einmal Blinddarmentzündung. Statt dessen!!! Sie sieht so leidend und interessant aus, ich war den ganzen Nachmittag und Abend bei ihr; und zuerst wollte sie mir nicht recht sagen, wie und was. Aber wie ich sagte, ich gehe weg, wenn sie es mir nicht sagt, sagte sie: »Ja, aber du darfst dazu nicht so blöde Gesichter machen und darfst mich überhaupt nicht anschauen«. »Also gut«, sag ich, »ich schau nicht, aber sag' mir alles ganz genau«. Da sagte sie mir alles, daß ihr wahnsinnig schlecht war, als ob sie entzweigeschnitten würde, viel ärger als nach der Blinddarmoperation, und dabei hatte sie ein wahnsinniges Fieber und fror doch dabei, den ganzen Freitag und gestern – – – tableau!! Und dann sagte ihr ihre Mama das Wichtigste, was sie ohnehin schon wußte. Und früher am Freitag hatte schon ihr Doktor gesagt: Warten wir ab, es kann auch andere!! Ursachen haben. Und dann flüsterte er zu ihrer Mama, aber die Hella verstand doch das Wort aufklären. Da wußte sie gleich, wieviel es geschlagen hatte. Vor ihrer Mama tat sie ganz unschuldig, als ob sie gar nichts wüßte und ihre Mama küßte sie und sagte, jetzt sei sie kein Kind mehr, jetzt gehöre sie zu den Erwachsenen. Lächerlich, also ich bin noch ein Kind! Also schließlich am 30. Juli werd ich auch 14 und wenigstens 1 Monat vorher wird es auch bei mir sein, also höchstens 6 Monate bin ich noch ein Kind. Die Hella und ich haben furchtbar gelacht, aber ein bissel was bildet sie sich doch ein; sie gibt es zwar nicht zu, aber ich habe es recht gut gemerkt. Wirklich gar nichts hat sich bloß die Ada eingebildet. Wegen der Schule ist es der Hella schrecklich unangenehm und vor ihrem Papa. Aber ihre Mama hat ihr versprochen, sie sagt ihm nichts. Wenn es wahr ist!!!

7. Jänner: Die Hella war heute trotzdem in der Schule. Ich habe sie fortwährend angesehen, und in der Pause hat sie gesagt: »Ich hab dir schon einmal das blöde Fixieren verboten, und ich verbiete es dir heute zum zweitenmale. Mit solchen Dingen macht man keinen Spaß.« Also da hört sich doch alles auf. Anschauen darf man einen nicht deswegen; gut, in der dritten Stunde setzte ich mich etwas verkehrt; da fängt sie auf einmal meinen Fuß mit dem ihren, daß ich beinahe laut auflachen muß und sagt: »Schau nur her, denn das ist noch blöder.« Natürlich ermahnt uns die Dunker sofort, das heißt, sie ruft die Hella zum Weiterlesen, aber die Hella sagt gleich, es ist ihr sehr unwohl, sie hat zu mir gesagt, sie müsse um 12 Uhr weggehen. Alle Mädchen schauen einander an, weil doch jede weiß, was unwohl bedeutet, und die Frau Dr. Dunker will die Hella gleich entlassen, aber sie sagt auf Französisch – das hat die Dunker riesig gern – sie bleibt schon bis zum Ende der Stunde. Einfach göttlich!

12. Jänner: Heute waren wir in der Nachmittagsvorstellung im Deutschen Volkstheater im Vierten Gebot. Es war herrlich, der Abschied von der Großmutter, da haben fast alle Leute geweint. Ich habe es verbissen, weil die Dora zu zweit neben mir saß, und die Hella ebenfalls wahrscheinlich aus demselben Grunde. Übrigens war sie ganz weg, weil in der großen Pause plötzlich der Lajos erscheint, der im Parterre unten war, und die Hella und ihre Mama begrüßen kam. Er wollte nach der Vorstellung ohnehin zu ihnen kommen. Der Jenö hat Mumps, das ist eine schrecklich unangenehme Krankheit, und ich würde das nie eingestehen, wenn ich ihn bekäme. Die ärgsten Krankheiten sind die, wo man geschwollen ist. Nächstnächsten Sonntag sind der Lajos und der Jenö und ich natürlich bei Br. eingeladen. Ich freue mich riesig.

18. Jänner: Jetzt habe ich eine Woche nicht geschrieben, wir haben wahnsinnig viel zu lernen, besonders in Französisch, wo wir sehr zurück sein sollen, so behauptet wenigstens die Dunker!! Sie kann die Madame Arnau nicht leiden, das sieht man deutlich. Also mir war die Mad. Arnau entschieden lieber, schon weil sie keine Wimmerln hat. Und in Geschichte beim Prof. Jordan ist es furchtbar schwer, weil man immer die Gründe selber finden muß; man muß verstandesmäßig! lernen, aber das ist bei der Geschichte sehr schwer. Niemand bekommt vorzüglich, höchstens die Verbenowitsch, aber die lernt auch aus einem Buch, aber nicht aus unserem, sondern dem, nach dem der Herr Prof. J. vorträgt. Und weil sie vorlernt, weiß sie natürlich immer schon alle Gründe der Kriege und die Folgen. Folgen haben, heißt übrigens etwas ganz anderes, und deshalb dürfen die Hella und ich einander gar nicht anschauen, wenn er beim Prüfen fragt: Welche Folgen hat dieses Ereignis gehabt? Neulich hat der Herr Prof. geglaubt, die Franke lacht ihn aus, aber sie hat nur wegen der Folgen gelacht; aber das konnte sie doch unmöglich sagen, noch dazu einem Herrn!!!!

20. Jänner: Wie wir, die Dora und ich, heute vom Eis weggehen, begegnen wir die Mademoiselle und ich grüße sie gleich und frag sie, wie es ihr (aber sehr betont) geht und auf einmal merk ich, daß die Dora weitergegangen ist und die Mademoiselle sagt: »Ihre Schwester hat es so eilig, ich will sie nicht aufhalten.« Und wie ich die Dora einhole und frage: Warum bist du weggerannt?«, macht sie ein furchtbar hochmütiges Gesicht und sagt: »Dieser Verkehr paßt mir nicht.« »Wieso denn, du hast doch die Mad. so gern gehabt und sie ist auch wirklich wunderschön.«' Ja, sagt sie, das schon; aber es war eine große Taktlosigkeit, daß sie mir das alles – du weißt schon, was – erzählt hat. Aus einem solchen Verhältnis hinter dem Rücken der Eltern kann kein Glück erblühen. Da hatte ich eine furchtbare Wut und sagte: »Geh ich bitt dich, tu nur nicht so. Vom Viktor haben auch die Eltern nichts wissen dürfen und du warst doch riesig glücklich.« Da sagte sie ganz sanft: »Liebe Grete, auch du wirst Deine Ansichten ändern«, und dann redeten wir kein Wort mehr. Aber ich ärgerte mich furchtbar über diese Gemeinheit; erst läßt sie sich alles erzählen, obwohl die Mademoiselle eigentlich gar nicht wollte, und jetzt tut sie, als wenn sie nicht wollen hätte. Wenn ich nur wüßte, wo ich die Mademoiselle treffe, dann würde ich sie warnen. Jedenfalls schau ich, daß ich heut in 8 Tagen wieder um 7 Uhr durch die W...straße gehe, vielleicht treffe ich sie, da sie wahrscheinlich aus einer Privatstunde kommt.

24. Jänner: Heute ist der Mama wieder sehr schlecht, trotz der Operation. Ich habe mir vorgenommen, daß ich weder am Sonntag zu Br. gehe, wo doch der Jenö kommen soll, noch am Montag auf die Mademoiselle warten werde. Ich habe auch der Hella nichts davon gesagt, weil sie wahrscheinlich sagen würde, das ist ein Unsinn, aber ich tue es doch lieber so; nicht weil die Dora schon zweimal so anzüglich von einem reinen Gewissen geredet hat, sondern weil mich nichts freut, wenn die Mama krank ist.

26. Jänner: Die Mama ist ein Engel. Gestern fragte sie die Tante Dora: »Ich bitt' dich, Dora, hat die Gretel schon die frischen Spitzen in ihrem blauen Kleiderl eingenäht, weil sie morgen bei Br. eingeladen ist.« Da sagte ich: »Mama, ich gehe nicht« und die Mama fragte: »Ja, warum denn nicht, doch nicht am Ende meinethalben?« Da stürzte ich zu ihr und sagte: »Es freut mich nichts, wenn du krank bist.« Und da war die Mama furchtbar lieb und weinte und sagte: » Solche Augenblicke lassen einen alle Schmerzen und Sorgen vergessen. Aber nein, nein, das darfst du nicht, du mußt gehen, übrigens ist mir heute schon wieder bedeutend besser und morgen ist wieder alles gut.« Und da antwortete ich: »Ja, ich gehe, aber nur, wenn dir wirklich gut ist. Du mußt es mir aufrichtig sagen.« Aber wegen der Mademoiselle gehe ich auf keinen Fall am Montag.

28. Jänner: Heute war Mathematikschularbeit und deswegen konnte ich gestern nicht schreiben. Wir haben uns himmlisch unterhalten am Sonntag. Wir haben so gelacht, daß uns alles weh tat und die Hella wäre bald erstickt vor lauter Lachen. Der Lajos ist aber auch zum Winden; wie er die Frau vom Major Zoltan in der Akademie nachmacht und den Hauptmann Riffl, das ist köstlich. Ich kann gar nicht schreiben, so zittert mir die Feder in der Hand vor Lachen. Und dann sagte mir der Jenö, während die Hella und der Lajos miteinander Lieder sangen, daß jeder Bursch in der Neustadt eine Geliebte hat, aber wirklich eine Geliebte. Meistens in Wien und einige auch in Wr.-Neustadt, aber das ist gefährlich wegen des Erwischtwerdens. Alle Offiziere wissen es, aber ertappen darf sich keiner lassen. Da erzählte ich ihm das vom Oswald, und da sagte er: »Da war der Oswald ein großer Esel, pardon, daß es dein Bruder ist, aber das hat er sehr blöd angestellt. Er ist eben immer Zivil gewesen, beim Militär ist das ganz anders.« Aber da habe ich mich geärgert und habe gesagt: »Ich bitte dich Jenö, du bist doch auch noch kein Offizier, also kannst du es nicht wissen.« Und deshalb sagte er dann zur Hella: »Du Ilona, du mußt deine Freundin besser in Korda halten, sie neigt zur Insubordination.« Sie soll jede Insubordination von mir aufschreiben und dann werde ich von ihm exemplarisch gestraft. Ja, aber da gehören zwei dazu!

30. Jänner: Ich möchte so gern wissen, ob die Mademoiselle am Montag wieder um 7 Uhr durch die W...gasse gegangen ist, weil sie neulich ausdrücklich sagte: A Revoir, ma chérie! Sie ist so schön und so blaß; wahrscheinlich kränkt sie sich doch auch, und fürchten wird sie sich gewiß auch wegen – – – Das wäre entsetzlich. Ob sie von den gewissen Mitteln nichts weiß, aber sagen kann man ihr das absolut nicht.

2. Februar: Jetzt ist mir ein wunderbarer Einfall gekommen und die Hella findet ihn einfach pyramidal. Wir schreiben der Mademoiselle anonym betreffs dieser Mittel und damit niemand meine Schrift erkennt, so schreibt die Hella. Es muß nämlich so etwas sein mit der Mademoiselle, weil ich neulich gerade dazu kam, wie die Mama zur Tante Dora sagte: »Wenn man das gewußt hätte, hätten wir sie doch nicht für die Kinder engagiert; ihre Eltern können eine Freude haben.« Und die Tante sagte: »Ja, das sind dann die Leute, die ihre Schande ins Wasser tragen.« Also ist es klar, daß es so ist, denn die Schande, das bedeutet ein uneheliches Kind. Und das Ärgste ist, daß die Eltern dann wissen, daß die Betreffende das getan hat. Wir müssen ihr helfen, Gott, die Arme. Also darum ist die Dora auf einmal so entrüstet. Aber woher sie es weiß? anmerken tut man der Mademoiselle gar nichts; ich hätte es bestimmt erkannt, die Hella sagt oft, ich habe ein Auge dafür. Und das ist wahr, bei dem Stubenmädchen vom Prof. Höfer habe ich es zu allererst gemerkt, nicht einmal der Papa hat es gekannt.

4. Februar: Also wir haben ihr geschrieben, d. h. die Hella, daß es solche Mittel gibt und daß alles Genauere im Lexikon steht; damit aber niemand versteht, was, falls am Ende ihre tyrannische Mutter den Brief aufmacht, so haben wir keinen Band und keine Seite, sondern nur Buchstabe F... M... geschrieben. Und unterschrieben »Jemand, der Sie versteht.« Leider können wir nie erfahren, ob sie den Brief bekommen hat, aber die Hauptsache ist, daß sie ihn bekommen hat.

7. Februar: Also, was man wegen Briefen für eine Angst aussteht! Heute sagt die Schuldienerin in der Pause: »Bitt schön, Sie sind doch das Frl. Lainer aus der III.? Ein Brief ist für Ihnen da.« Ich werde ganz rot, weil ich glaube, doch von der Mademoiselle, und die Frau Berger glaubt aber, es ist von einem Burschen und sagt: »Eigentlich soll ich ihn der Frau Direktorin geben; ich darf keine Briefe an die Schülerinnen ausfolgen, aber bei Ihnen will ich eine Ausnahme machen. Aber, bitt schön, ein zweitesmal müßte ich ihn in die Kanzlei geben.« Da sage ich: »Frau Berger, er ist bestimmt von keinen Herrn, sondern von einem Fräulein,« und wie sie ihn mir gibt, sehe ich gleich, daß er wirklich von keinem Herrn ist, sondern nur von der Ada! Das ist doch zu blöd! Zu Neujahr machte sie mir Vorwürfe, daß ich mein Versprechen treulos gebrochen, und jetzt bittet sie mich, ich soll mich im Raimundtheater oder eventuell im Deutschen Volkstheater erkundigen, ob der Herr G... dort ist; sie kann ohne ihn nicht leben in St. P. Dabei hat sie in den Ferien doch gesagt, sie liebt ihn nicht, er ist ihr bloß Mittel zum Zweck. Das weiß ich positiv, daß sie das gesagt hat. Ich gehe absolut nicht in die Theater kanzlei mich erkundigen und die Hella sagt auch, ein solches Ansinnen ist eine Frechheit! Ich soll ihr einen ordentlichen Brief schreiben, in was für eine Verlegenheit sie mich in der Schule hätte bringen können. Die Ada hat wirklich ein Radl zuviel, scheint mir, wie ihr Papa immer sagt.

10. Februar: Das ist doch unerhört! heute werde ich in die Kanzlei gerufen, die Schuldienerin hat sich beschwert, daß ich unten beim Eingang schon zweimal Orangenschalen weggeworfen habe. Gestern war es wahr, da ist mir nämlich eine hinuntergefallen, aber ich habe sie ohnehin mit dem Fuß in die Ecke geschleudert, aber von zweimal weiß ich nichts. Aber ich weiß schon, woher der Wind weht. Die Frau Berger hat geglaubt, ich werde ihr für den Brief etwas geben; ich möchte wissen, für so einen Brief, das ist doch lächerlich, dafür werde ich doch nicht 20 Kreuzer hergeben. Aber seitdem hat sie eine furchtbare Wut, das habe ich schon Mittwoch beim Füßeabputzen gemerkt. Ich habe also der Frau Direktorin gesagt: »Es war nur einmal und da hab ich die Schalen in die Ecke geschleudert, wo niemand geht, aber zweimal war es bestimmt nicht, das kann die Bruckner bezeugen.« Da sagte die Frau Direktorin: »Aus einer solchen Sache machen wir keine Staatsaffaire, aber Hinkunft bück dich, wenn dir etwas hinunterfällt.« Die Frau Berger hat sich wütend geärgert und unsere ganze Klasse hat sich vorgenommen, daß wir nicht gerade extra Mist machen, aber auch die Klasse nicht extra rein halten. Was an Papieren, daliegt, bleibt eben liegen. Eine solche Frechheit, da hört sich schon alles auf!

12. Februar: Heute haben wir die Zeugnisse bekommen. Ich habe kein einziges Befriedigend, lauter Lobenswert und Vorzüglich. Die Eltern haben sich riesig gefreut, und wir haben jede 2 K bekommen. Die Dora hat nämlich lauter Vorzüglich, nur drei Lobenswert; also sie lernt auch wahnsinnig und sie geht auch wieder in Latein bei der Frau Dr. M. Wenn sie nächstes Jahr wieder die Unterstufe hat, gehe ich auch, weil wir sie dadurch 3 Stunden mehr haben in der Woche. Richtig, die Franke hat tatsächlich Lobenswert in Math, und Physik, obwohl sie sehr wenig kann. Mir scheint überhaupt, daß das Nüßchen riesig gute Noten gegeben hat, denn die Hella hat doch 2mal Nicht genügend in der Math.-Schularbeit gehabt und hat doch Lobenswert bekommen. Bei der Frau Dr. M. muß man sich schon wirklich die Noten verdienen und voriges Jahr bei der Fr. Dr. St. ebenfalls. Am ärgsten ist es beim Herrn Prof. Jordan. Es hat wirklich niemand Vorzüglich bekommen außer der Verbenowitsch, der falschen Katze. Morgen ist bei Br. große Geburtstagsfeier wegen dem 14. Geburtstag der Hella. Der Lajos und der Jenö kommen und die beiden Ehrenfeld, weil die Hella sie sehr gern hat; besonders die Trude, die ältere, d. h. um 2 Tage älter als die Kitty, denn sie sind Zwillinge!! Das ist gräßlich!!! Sie sind erst seit heuer bei uns im Lyz. und die Hella trifft sie täglich am Eis, ich nicht, weil wir heuer keine Saisonkarten haben, sondern von Fall zu Fall zahlen, wegen der Krankheit der Mama. Ich gebe der Hella eine elektr. Taschenlampe mit Riesenreflektor, daß wirklich das ganze Zimmer licht ist und eine Bernsteinkette für den Hals.

14. Februar: Gut, daß wir heute und morgen noch Semesterferien haben, daß ich Zeit habe, alles zu schreiben von gestern. Es war einfach phenommenal! Ich war schon vormittags bei der Hella und habe ihr gratuliert und zu Mittag waren ich und der Lajos und der Jenö eingeladen und nachmittags kamen die zwei Ehrenfeld und brachten eine Bonboniere und drei Kusinen von der Hella und noch 2 Kusins, von denen der eine gräßlich blöd ist und kein Wort redet und mehrere Tanten und andere Damen, weil auch gleich bei den Großen Gesellschaft war. Aber wir haben uns gar nicht gekümmert um sie, das Speisezimmer, das Zimmer der Lizzi und das Kabinett der Hella waren für uns hergerichtet. Es waren soviel Blumen für die Hella gekommen, daß man beinahe Kopfweh bekam von dem Duft. Zu Mittag brachte der Lajos einen Toast auf die Hella aus und bei der Jause noch einen zweiten. Die Hella war großartig und sie sagte dann abends zu mir: »Tatsächlich, man ist mit 14 Jahren ein anderes Wesen!« der Lajos hatte nämlich in seinem Toast gesagt, alle 7 Jahre wechselt der Mensch sein ganzes Wesen und die Hella findet, daß das vollkommen richtig ist. Also Gott sei Dank, in 6½ Monaten wechsle ich auch mein ganzes Wesen. Sie hatte wirklich förmlich etwas Fremdes und wie alle blasen mußten, daß die Lichter auf der Torte bis auf das Lebenslicht in der Mitte auslöschten, zum Zeichen, daß die anderen Jahre schon vergangen sind, da ist sie wirklich ganz blaß geworden, weil sie fürchtete, daß jemand aus Spaß oder aus Ungeschicklichkeit ihr Lebenslicht auslöscht. Aber Gott sei Dank, es ist nicht passiert. Ich habe eigentlich solche Sachen nicht sehr gern, weil ich mich auch immer fürchte, es könnte etwas passieren. Ich weiß ja auch, daß es nur ein Aberglauben ist, aber greulich unangenehm wäre es doch gewesen, wenn jemand das Lebenslicht ausgeblasen hätte. Der Lajos hat der Hella öffentlich!! eine große viereckige Bonboniere gegeben und heimlich!! einen silbernen Ring mit einem Herzanhängsel. Den soll sie immer tragen, bis er durch einen goldenen – nämlich den Ehe-ring ersetzt wird. Aber das kann sie nicht wegen ihrer Eltern und so bat sie mich, daß sie sagen könnte, sie hat ihn von mir, aber das geht wieder wegen meiner Eltern nicht. Diese Sachen sind so unangenehm und drum will kein Bursch zuhaus bleiben, weil immer um alles gefragt wird, was man hat und tut und trägt. Nach der Jause sangen wir: »Wär ich geblieben doch auf meiner stillen Heiden« und andere traurige Lieder, weil die die schönsten sind, und am Abend tanzten wir und der Papa der Hella spielte dazu; und dann tanzte die große Kusine, die Elwira und der Lajos Czardas, das war wunderbar. Überhaupt eine solche Geburtstagsfeier wie gestern habe ich noch nie erlebt. Das ist auch nur im Winter möglich; bei mir, am 30. Juli, kann das nie sein, weil gerade die Personen, die man liebt!! nicht an demselben Ort sind. Es sollte eigentlich niemand in den Ferienmonaten Geburtstag haben, sondern höchstens von Ende September bis Juni. Wenn ich nur auch schon 14 Jahre wäre, ich kann es gar nicht erwarten. Die Mama der Hella sagte auch zu ihr beim Gratulieren, sie ist jetzt kein Kind mehr, sondern eine Erwachsene; wenn ich es nur auch schon wäre!!!

16. Februar: Wir haben eine neue Schülerin bekommen. Alle Mädchen und Lehrkräfte sind entzückt von ihr. Sie ist so klein wie zehn Jahre, aber reizend schön. Braune Locken (die Hella sagt Fuchsrot, aber das ist nicht wahr) bis zu den Schultern, große braune Augen und einen süßen Mund und einen Teint wie Milch und Blut. Sie ist die Tochter eines Bankdirektors in Hamburg; er hat sich erschossen, warum, das wissen wir nicht. Sie ist natürlich in Trauer und das steht ihr großartig. Sie spricht ganz Norddeutsch. Die Frau Dr. Fuchs ist ganz vernarrt in sie und die Frau Direktorin ist auch riesig lieb zu ihr.

19. Februar: Heute sind wir mit der Anneliese nachhause gegangen, die Hella und ich. Sie heißt Anneliese von Zerkwitz. Ihre Mama kränkt sich so über den Tod ihres Papas, daß sie wahrscheinlch in ein Sanatorium kommen muß; deshalb sind sie nach Wien zu ihrem Onkel gekommen. Der ist ein Professor und sie wohnen auf der Wiedner Hauptstraße. Die Dora findet sie auch reizend, die ganze Schule ist verliebt in sie. Sie wird auch mit uns in die Turnschule gehen; ich freue mich riesig. Sie wird zwar nicht neben mir und der Hella stehen, weil sie so klein ist; aber wir können sie doch immer anschauen, ihr alles zeigen und ihr bei den Geräten helfen. Die Hella ist ein bißchen eifersüchtig und sagte: »Die Anneliese hat mich, wie mir scheint, ganz ausgestochen bei dir«. Ich sagte ihr, das sei bestimmt nicht wahr, aber ob die Anneliese nicht zum Verlieben sei? »Ja«, sagte die Hella, »aber seine alten Freunde darf man deswegen nicht vernachläßigen«. »Das tue ich auch gar nicht: aber die Anneliese braucht doch jemanden, der ihr alles sagt und zeigt«. Und die Frau Direktorin und die Frau Dr. M. haben sie gerade vor mich gesetzt und zu uns gesagt: »Nehmt Euch ihrer ein wenig an«.

20. Februar: Wie schade, daß ich die Anneliese nicht einladen kann, da die Mama schon seit acht Tagen im Bett liegen muß. Aber am Sonntag ist sie bei der Hella eingeladen und da ich natürlich auch hinkomme, freue ich mich riesig. Aber lieber wäre es mir natürlich bei uns zuhause; wegen der Mama geht es leider jetzt nicht. Die Dora glaubt, die Mama müsse noch einmal operiert werden, das glaube ich nicht, denn eine solche Operation kann man nur einmal machen. Ich weiß nur nicht, wenn damals die Operation gut war, was jetzt der Mama wieder fehlt. Die Dora fürchtet, daß die Mama den Krebs hat, das wäre schrecklich; ich glaube aber, daß dies nicht der Fall ist, denn am Krebs muß man sterben.

23. Februar: Bei Bruckner war es himmlisch! Die Anneliese kam erst um vier Uhr, weil sie erst um 3 Uhr mittagessen. Sie hatte ein weißes gesticktes Kleidchen mit schwarzen Seidenmaschen an. Die Mama der Hella küßte sie auf die Wangen und hatte Tränen in den Augen. Ihre Mama ist nämlich tatsächlich im Sanatorium, weil sie nervenkrank ist. Jetzt ist die Anneliese bei ihrem Onkel und ihrer Tante. Aber sie weint oft um ihren Papa und um ihre Mama. Bei den Gesellschaftsspielen war sie aber ganz lustig, sie gewann gerade die schönsten Sachen, eine Taschentoilette, eine gefüllte Bonboniere, einen Jux-Elephanten, einen Neger mit einer Vase und noch anderes. Ich gewann einen Stehtintenwischer, eine Doppelvase, einen Goldkrayon, sehr viele Bonbons und ein Notizbuch. Die Hella gewann auch eine Menge und ihre zwei Kusinen und die Jenny ebenfalls. Dann wurde musiziert und die Anneliese sang die Wacht am Rhein und viele Volkslieder; sie hat eine so süße Stimme, wie sie selber ist. Sie wurde schon um 7 Uhr abgeholt, ich ging um 8 Uhr fort.

1. März: Morgen sind die Hella und ich bei der Anneliese eingeladen. Ich freue mich so. Ich werde die Mama betteln, daß ich meine neue Theaterbluse anziehen darf und das grüne Frühjahrskostüm. Wir haben ja 10° Wärme gehabt.

3. März: Gestern waren wir bei der Anneliese. Sie wohnt mit ihrer Kusine zusammen; die ist erst 11 Jahre und geht nur in die Bürgerschule, aber sie ist ganz nett. Ich habe geglaubt, daß es beim Herrn Professor Arndt furchtbar elegant sein wird, doch ist dies nicht der Fall. Sie haben nur drei Zimmer und sind nicht besonders schön eingerichtet. Er ist schon in Pension und die Emmy ist ihre Enkelin, weil ihr Papa in Galizien ist, ich glaube Hauptmann oder Major. Es war nicht so unterhaltend wie bei der Hella. Gespielt wurde ohne Gewinnste und das ist fad; es liegt einem ja nichts an den Gewinnsten selber, aber wozu spielt man, wenn man nichts gewinnt? Dann wurde vorgelesen aus einem Geschichtenbuch. Aber was die Hella und ich empörend fanden, ist, daß der Onkel der Anneliese zu uns beiden »Du« sagt. Die Hella ist doch schon vierzehn und ich werde es in ein paar Monaten. Aber die Hella hatte ganz recht; im Gespräche sagte sie: »Bei uns im Lyzeum sagen nur die Damen Du zu uns, die Professoren müssen Sie sagen.« Leider ist er bald fortgegangen, so daß wir nicht wissen, ob er's kapiert hat. Die Hella sagte auch, daß es nicht besonders unterhaltend war.

9. März: Gotteswillen, die Mama hat wirklich Krebs; der Papa will es natürlich nicht sagen, aber sie muß sich unbedingt noch einmal operieren lassen. Die Dora ist ganz verweint und mir zittern die Knie. Am Freitag kommt die Mama ins Sanatorium. Am Donnerstag kommt wieder die Tante Dora und bleibt bei uns, bis die Mama gesund ist. Gott, ich fürchte so die Operation und fast noch mehr das Wegfahren der Mama. Das ist schrecklich; aber es haben ja so viele Leute Krebs und sterben doch nicht.

22. März: Morgen kommt die Mama wieder nachhause. O ich bin so froh! Im Sanatorium ist alles so still und man getraut sich kaum zu reden auf den Gängen. Die Mama hat gesagt: »Länger bleibe ich nicht mehr herinnen, ich will zu meinen Kindern«. Wir waren täglich bei der Mama im Sanatorium und brachten ihr Veilchen und andere Blumen, weil sie die ersten Tage nach der Operation nichts essen durfte. Aber jetzt, zuhause ist es doch ganz anders. Ich wäre morgen gern von der Schule zuhaus geblieben, aber die Mama sagte: »Nein, Kinder, geht in die Schule, tut es mir zuliebe«. Natürlich gehen wir, aber aufpassen kann ich unmöglich beim Unterricht.

24. März: Jetzt schläft die Mama. Sie sieht sehr schlecht aus und hat noch immer Schmerzen. Die Ärzte müssen es doch nicht recht verstehen; denn wenn sie sie ordentlich operiert hätten, könnte sie doch nicht jetzt nach der zweiten Operation Schmerzen haben. Ich möchte wissen, was die Mama mit der Dora geredet hat, weil beide geweint haben. Obwohl die Dora und ich jetzt ganz gut mit einander sind, wollte sie es mir nicht sagen, sondern sagte, sie habe es Mama versprochen, nichts darüber zu reden. Daß die Mama der Dora ein Geheimnis anvertraut, glaube ich zwar nicht, aber vielleicht war es etwas wegen dem Heiraten. Weil die Dora nur sagte: »Übrigens hätte die Mama mir das gar nicht zu sagen gebraucht, da ich ohnehin fest dazu entschloßen bin«. Solche Andeutungen hasse ich, da ist es besser, gar nichts zu sagen. Wenn die Mama wieder aufstehen darf, fährt sie zur Erholung nach Abbazia und wahrscheinlich fährt die Dora mit ihr.

26. März: Nächste Woche soll die Mama mit der Dora nach Abazzia fahren. Die Dora glaubt, ich beneide sie wegen der Reise und sagte: »Ich würde gern verzichten auf die Reise und das Meer, wenn lieber die Mama gesund wäre. Und heuer, wo ich Matura habe, verlange ich es mir schon gar nicht«. Ich bin so traurig, daß ich absolut keine rote Masche ins Haar nehme, obwohl sie mir am besten steht. Ich trage jetzt meist eine schwarze, und seit gestern eine braune, weil die Mama sagt: »Geh, Gretel, gib die schwarze Masche aus dem Haar; das schaut so düster aus und das paßt gar nicht zu dir.« Ich konnte doch der Mama nicht sagen, wie mir zumute ist, und da nahm ich also die braune und sagte, die rote sei schon ganz verknittert.

12. April: Ich komme gar nicht zum Schreiben. Es ist so traurig bei uns, denn der Mama geht es sehr schlecht. Morgen kommt der Oswald in die Osterferien und die Mama freut sich riesig auf ihn. Ich sollte mit der Hella und ihrem Papa nach Maria-Zell fahren, weil sie vielleicht heuer in Mitterbach oder Mitterberg, das liegt bei Maria-Zell, eine Sommerwohnung nehmen werden. Aber ich gehe nicht mit, weil ich nicht aufgelegt bin dazu, und ich glaube, es ist auch der Mama lieber; denn sie sagte: »Also werde ich zu Ostern alle meine drei Lieblinge beisammen sehen.« Wie sie das sagt, mußte ich weinen und rannte schnell zur Tür hinaus, damit sie es nicht sehe. Aber sie muß es doch gesehen haben, denn nach Tisch sagte sie zu mir: »Gretel, wenn du gern mit Bruckners fährst, so gehe nur; ich bin so froh, wenn ihr eine Freude habt. Im heurigen Winter habt ihr ohnehin nichts genossen«. Und da konnte ich mich nicht zurückhalten und weinte sehr und sagte: »Nein, Mama, ich will absolut nicht wegfahren. Ich will nur, daß du wieder ganz gesund wirst.« Und da weinte auch die Mama und sagte: »Du liebes Kind, ganz gesund werde ich wohl nie mehr, aber bei euch bleiben möchte ich so gern, bis ihr alle groß seid; dann braucht ihr mich nicht mehr so notwendig.« Dann kam die Dora herein und als sie sah, daß die Mama weinte, sagte sie, der Papa habe mich gerufen. Das war aber nicht wahr, sondern am Abend sagte sie mir, daß es für die Mama keine Hilfe gebe, aber ich soll sie nicht aufregen und mir nichts anmerken lassen. Und dann weinten wir beide sehr und versprachen einander, daß wir immer beim Papa bleiben wollen.

16. Mai: Am 24. April, gerade am Sonntag nach Ostern ist die Mama gestorben. Es ist schrecklich traurig bei uns. Bei Tisch redet fast keines ein Wort, nur der Papa redet so lieb zu uns. Die Tante Dora bleibt vielleicht für immer bei uns. Es ist nicht einmal noch drei Wochen, seit die Mama begraben wurde, aber uns ist es, als ob sie schon drei Jahre tot wäre, einerseits; und andererseits will man immer schnell in ihr Zimmer gehen, um sie um etwas zu fragen oder ihr etwas zu erzählen. Und abends, wenn wir uns niederlegen, da reden wir immer so lang von ihr und dann träume ich die ganze Nacht von ihr. Wozu die Menschen sterben müssen? Oder wenigstens nur die ganz alten Leute, die schon gar niemanden mehr haben. Aber eine Mama und ein Papa sollte nie sterben. In der Nacht, nachdem die Mama gestorben war, wollte die Hella, daß ich zu ihnen käme, aber ich blieb doch lieber zuhause; aber spät am Abend traute ich mich nicht ins Vorzimmer, da ging die Dora mit mir. Der Papa hat die Tür vom Salon, wo die Mama aufgebahrt war, abgesperrt, aber trotzdem war es so unheimlich. Sie haben mich am 24. erst aufgeweckt, als die Mama schon tot war; ich hätte sie so gern noch vorher gesehen. O Gott, daß man sterben muß! Wenn ich nur wenigstens nach ihr Berta hieße; aber das wollte sie nicht, daß eine von uns nach ihr heiße und der Papa wollte es auch nicht beim Oswald.

19. Mai: Etwas hat mich beim Begräbnis der Mama furchtbar geärgert von der Dora, eigentlich nicht geärgert, sondern gekränkt, nämlich daß sie mit dem Papa in und aus der Kirche gegangen ist. Sonst gehe doch immer ich mit dem Papa und die Dora ist immer mit der Mama gegangen. Und wie die arme Mama im Sanatorium war, ist die Dora mit der Tante gegangen. Aber beim Begräbnis ist der Papa mit ihr gegangen und ich mußte mit der Tante Dora gehen. Nach ein paar Tagen habe ich es ihr gesagt und da sagte sie, das sei ganz natürlich, weil sie die ältere ist. Der Oswald hätte sollen mit mir gehen, das hätte sich gehört. Aber der ging allein. Und das ärgert mich auch; wie die Tante Dora im Herbst zu uns gekommen ist, haben wir, ich und die Dora, uns beim Essen und beim Nachtmahl an eine Seite zusammengesetzt und die Tante saß, vis-à-vis der Mama und wenn die Mama liegen mußte, blieb ihre Seite für die Teller frei. Nach ihrem Tod saß der Oswald an der vierten Seite und jetzt seit vielleicht 8 Tagen hat sich die Dora an den Platz der Mama gesetzt. Ich begreife nicht, daß der Papa das erlaubt!

19. Mai: Heute zu Mittag hat niemand etwas gegessen. Wir hatten nämlich Kalbsbrust und die haben wir auch am Begräbnistage der armen Mama gehabt, und wie der Braten auf den Tisch kommt, schaue ich zufällig die Dora an und sehe, wie sie ganz rot ist und furchtbar schluckt. Da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und sagte: »Ich kann keine Kalbsbrust essen, denn am Begräbnistag – – –«, da konnte ich gar nicht weiterreden und der Papa stand gleich auf und kam zu mir und die Dora und die Tante Dora weinten auch furchtbar. Und nach dem Essen versprach uns die Tante, daß wir nie wieder im Leben Kalbsbrust haben werden. Die Tante hat dann zur Jause einen Ulmerkuchen holen lassen, weil wir zu Mittag fast nichts gegessen hatten.

26. Mai: Heute hat die Dora schriftliche Matura, den ersten Tag. Der Papa wollte, daß sie austritt, weil sie sehr schlecht aussieht, aber sie sagte, nein, es sei ihr eine Zerstreuung und sie möchte schon das Lyzeum fertig machen. Denn nächstes Jahr will sie ins Reformlyzeum gehen und fürs Gymnasium weiterlernen. Eigentlich hätte sie sollen in eine Tanzschule gehen, weil sie doch schon 17 wird, aber wegen der Trauer ist das ganz unmöglich und überdies will sie selbst nicht; selbstverständlich. Die Frau Direktorin glaubte auch, die Dora wird am Ende austreten, weil sie so nervös ist, aber sie wollte durchaus nicht. Gott, die Lehrkräfte waren alle so lieb zu uns nach dem Tode der Mama, nämlich die Damen. Die Professoren kümmern sich nicht um unsere häuslichen Angelegenheiten, denn sie kommen immer nur auf 1 oder 2 Stunden. Die Frau Dr. Steiner, die wir heuer nicht einmal haben, war großartig; ich sah deutlich, daß sie Tränen in den Augen hatte, und die Frau Dr. M., also mein Gott, die ist eben immer ein Engel! Beim Frühlingsfest am 20. Mai waren wir nicht, obwohl der Papa es uns freistellte. Die Hella und die Anneliese haben mir furchtbar zugeredet; aber ich ging nicht und werde mich wohl nie mehr unterhalten. Für die andern soll es sehr lustig gewesen sein, aber für die Dora und mich wäre es entsetzlich gewesen. Oft denke ich mir am Abend, es ist gar nicht wahr, die Mama ist bloß in Franzensbad und kommt wieder. Und dann weine ich so lange, bis ich Kopfweh habe oder bis die Dora sagt: »Ich bitt dich, Gretl, hör auf, das ist schrecklich.« Aber sie weint ja selber auch oft, ich höre es ganz gut, nur sage ich nie etwas.

4. Juni: Also die Dora sieht den Tod der Mama als eine Strafe Gottes für den Papa an! Aber was können denn wir dafür? Sie sagt, o ja auch, denn wir haben manches getan, was wir hätten nicht tun dürfen und vor allem andern haben wir vor der Mama Heimlichkeiten gehabt. Und das ist jetzt die Strafe Gottes. Das ist gräßlich und ich fürchte mich jetzt so, weil sie immer vom Auge und vom Finger Gottes redet, in ein finsteres Zimmer zu gehen, weil ich immer das Gefühl habe, es ist jemand drin, der mich furchtbar anschaut und mich anfassen will.

8. Juni: Der Papa ist wütend über die Dora; ich habe nämlich unabsichtlich gestern abends, wie ich die Salontür aufmache und der Papa herauskommt, furchtbar aufgeschrien, und wie der Papa fragt, was ich habe, habe ich ihm das von der Strafe Gottes erzählt; nur das von ihm habe ich nicht gesagt, sondern nur von der Dora und mir. Und da war der Papa furchtbar böse, zum erstenmal seit dem Tode der Mama, und hat zur Dora gesagt, sie soll nicht sich und mich krank machen mit ihren Hirngespinsten und da hat die Dora beinahe einen Herzkrampf bekommen, so daß der Doktor kommen mußte. Die Tante schlief bei uns im Zimmer und wir mußten beide Brompulver nehmen. Und heute war der Papa riesig lieb zu uns und sagte: »Kinder, Ihr habt euch keine Vorwürfe zu machen, ihr wart immer gute brave Mädeln und werdet es auch hoffentlich bleiben.« Ja, das will ich wohl, denn das Auge der Mama wacht über uns. Die Hella findet, daß ich elend aussehe und sie fragte mich heute, ob vielleicht ...?? Aber ich sagte ihr, ich will von solchen Sachen nichts mehr reden, das bin ich dem Andenken meiner Mama schuldig. Sie wollte noch etwas sagen, aber ich sagte: »Nein, Hella, davon rede ich absolut nicht mehr. Das kannst du nicht verstehen, weil du eben deine Mama noch hast.«

12. Juni: Gott, das ist gräßlich; jetzt wollte ich nie mehr an solche Dinge denken und jetzt kommt eine solche Affäre! jetzt sitz ich unschuldig drin in der Patsche. Heute gleich nach 9 kommt eine aus der II. in die Mathematikstunde und sagt: »Die Frau Direktorin läßt bitten, die Lainer, die Bruckner und die Franke sollen sofort in die Kanzlei kommen. Alle Mädchen schauen uns an, aber wir wissen nicht, warum. Wie wir in die Kanzlei kommen, ist die Tür von der Frau Dir. zu und das Fräulein N. sagt, wir sollen warten. Dann kommt die Frau Dir. hinaus und ruft mich hinein. Drin sitzt eine Dame, die schaut mich mit dem Lorgnon an. »Gehst du öfters mit der Zerkwitz?« fragt die Frau Direktorin. Ja, sag ich, und es ahnt mir gleich nichts Gutes. »Diese Dame ist die Mama der Zerkwitz, sie beschwert sich darüber, daß du mit ihrer Tochter sehr unpassende Sachen redest; ist dies so?« »Wir, die Hella und ich, haben ihr nie etwas sagen wollen; aber sie hat uns sehr gebeten und dann glaubten wir auch, sie wisse es ohnehin schon und stellt sich nur so.« » Was soll sie wissen und was habt ihr gesprochen?« fährt die Mama von der Anneliese los. »Bitte«, sagt die Direktorin, »ich werde die Mädchen verhören; also die Bruckner war auch dabei?« »Nur ganz selten«, sage ich. »Ja, die Hauptschuldige ist die Lainer, deren Mama erst vor kurzem gestorben ist.« Da habe ich die Tränen verbissen und gesagt: »Wenn die Anneliese nicht immer wieder angefangen hätte, hätten wir kein Wort von diesen Sachen geredet.« Und dann habe ich überhaupt keine Antwort mehr gegeben. Jetzt mußte die Hella hereinkommen. Sie hat mir dann gesagt, wie sie mich angeschaut hat, hat sie gleich gewußt, wieviel es geschlagen hat. »Was habt ihr mit der Zerkwitz; geredet?« Zuerst wollte die Hella nichts sagen, aber dann sagte sie ganz kurz: »Vom Kinderkriegen und von dem Verheiratetsein!« »Gott im Himmel, solche Küken und sprechen von solchen Dingen«, sagte die Mama von der Anneliese. »Solche verdorbene Geschöpfe.« »Wir haben nicht geglaubt, daß die Anneliese wirklich nichts weiß, sonst hätten wir nichts mit ihr geredet«, sagte auch Hella; sie war großartig. »Was den Alfred betrifft, so sind wir ganz unbeteiligt und wir haben ihr oft abgeraten, sich von der Schule abholen zu lassen; aber sie hörte nicht auf unsern guten Rat.« »Ich spreche jetzt von euren Gesprächen, durch die ihr das arme unschuldige Kind verdorben habt«, sagte die Frau v. Zerkwitz. »Sie muß unbedingt schon etwas gewußt haben, sonst wäre sie nicht mit dem Alfred gegangen und auch nicht mit uns«, sagte die Hella. »Ach, du himmlischer Vater, das ist ja die weit Ärgere; eine solche Verdorbenheit!« Dann mußten wir hinausgehen. Draußen hat die Hella furchtbar geweint und ich auch, weil wir uns fürchten wegen zuhause. Wir konnten gar nicht in die Mathematikstunde gehen, weil wir ganz verweint waren. In der Pause ging die Hella an der Anneliese vorbei und sagte ganz laut: »Verräterin« und spuckte vor ihr aus. Deswegen mußte sie aus der Reihe treten. Ich trat auch aus der Reihe und wie die Frau Professor Kreindl sagte: »Du Lainer nicht, gehe nur weiter«, sagte ich: »Bitte, ich habe auch ausgespuckt« und stellte mich neben die Hella. Alle Mädchen schauten uns an. Die Frau Prof. Kreindl weiß offenbar schon alles, denn sie sagte nichts weiter. In der Deutschstunde von 11-12 sagte die Frau Dr. M.: »Kinder, könnt ihr denn keinen Frieden halten? Diese ewigen Anstände sind entsetzlich und dabei kommt nichts heraus als Aufregungen für euch und eure Eltern und uns«. Knapp vor 12 Uhr wurde ich nochmals mit der Hella zur Frau Direktorin gerufen. »Mädchen«, sagte sie, »was habt ihr für abscheuliche Sachen? Was müßt ihr denn das, was eure Phantasie vorzeitig vergiftet, andern auch noch sagen? Und du Lainer, schämst du dich nicht, vor wenigen Wochen wurde deine Mama begraben, und jetzt hört man solche Dinge von dir?« »Bitte«, sagt die Hella; »dies war alles schon im Frühling und noch im Winter; denn da sind wir noch aufs Eis gegangen. Da war die Mama der Rita noch ziemlich gesund. Und die Zerkwitz hat uns schrecklich sekkiert, ihr alles zu sagen. Ich habe die Rita oft gewarnt und gesagt: »Trau ihr nicht«, aber sie war ganz vernarrt in die Zerkwitz. Bitte Frau Direktorin, sagen Sie nichts davon dem Papa der Rita; denn er würde sich sehr kränken.«

Die Hella war einfach großartig, ich werde ihr das nie vergessen. Sie will mich das nicht schreiben lassen; wir schreiben nämlich zusammen. Die Hella meint, wir müssen alles wörtlich niederschreiben, man kann nie wissen, wozu man es braucht. Die Hella ist eine Freundin, wie es keine zweite gibt, und dabei so mutig und gescheit. »Du bist geradeso gescheit«, sagt sie zu mir, »aber nur bist du gleich so eingeschüchtert und dann bist noch von deiner Mama Ihrem Tod sehr nervös. Wenn nur dein Papa nichts erfährt.« Die dumme Gans hat auch die alte Sauce von den zwei Studenten am Eis aufgewärmt, die längst vorüber ist. »Nur niemanden sich anvertrauen«, sagt die Hella und da hat sie wirklich recht. Ich hätte das der Anneliese niemals zugetraut. Was mit der Franke war, wissen wir noch nicht. Wie sie heraufkam, legte sie Finger an die Lippen, daß sollte natürlich heißen: »Nichts verraten!«

15. Juni: Heute war der Herr Landesschulinspektor da. Ich war grad in der Mathematikstunde an der Tafel, da klopft es und herein kommt die Frau Direktorin und der Herr L.-I. Im ersten Moment glaubte ich, er komme deswegen und werde totenblaß (d. h. das haben dann alle Mädchen gesagt; die Hella sagt, ich habe wie eine trauernde Niobe ausgesehen). Gott sei Dank, die Rechnung war nicht schwer und dann kann ich ja immer alle Rechnungen; in Math. und Französisch bin ich ja die beste. Aber der Herr Insp. sah, daß ich Tränen in den Augen hatte und sagte etwas zur Direktorin; da sagte die Direktiorin: »Sie hat vor kurzem ihre Mama verloren«. Da lobte mich der Herr Insp. und ich blödes Dinge fang zu heulen an. Die Direktorin sagt: »Setz dich nur, L.,« und streicht mir über die Haare. Sie ist so lieb und ich hoffe, daß sie und die Frau Dr. M. in der Konferenz für mich reden werden. Und daß der Papa nichts erfährt; denn er würde mir natürlich auch schreckliche Vorwürfe machen, weil dies alles so knapp nach dem Tode der Mama kam. Aber eigentlich war ja alles schon viel früher. Herausgekommen ist es ja nur, weil die Mama der Hella zu ihrer verheirateten Nichte, zu der Emmy fuhr, die ihr erstes Kind bekam. Und da sagten wir eben dem »reinen Kind« (so nennen wir jetzt die Falsche) alles. Die Hella ist noch immer der Meinung, daß sich das »reine Kind« verstellt hat. Das ist schon möglich, denn schließlich ist sie auch schon bald vierzehn Jahre; und mit 14 weiß man bestimmt schon sehr vieles; das gibt es nicht, daß man da noch an den Storch glaubt, wie die Anneliese es angeblich!!! getan hat. Die Hella meint, ich werde jetzt auch bald »entwickelt« sein, weil ich immer so blaue Ringe unter den Augen habe. Daß die Frau v. Zerkwitz gesagt hat, »solche Fratzen«, habe ich ganz überhört; aber die Hella sagt, die Frau Direktorin habe es durch ein Räuspern zurückgewiesen. Über den Ausdruck »solche Küken« hat sich die Hella gewunden vor Lachen, weil ihre Mama bei solchen Sachen auch immer sagt: »Ihr Küken, das geht euch noch nichts an,« Gott, wann soll man denn alles erfahren, als wenn man bald 14 ist! Wir beide, die Hella und ich, haben eigentlich diese Sachen sehr früh erfahren und geschadet hat es uns gar nicht. Die Mama der Hella sagt immer, wenn man solche Sachen schon zu früh weiß, bekommt man ein altes Gesicht; aber das ist natürlich nicht wahr. Aber warum die Mütter nicht wollen, daß wir es wissen? Sie müssen sich rein genieren.

16. Juni: Gestern abends, wie wir schon im Bett liegen, sagt die Dora: »Was hast du denn eigentlich mit der Z. oder wie sie heißt, geredet? Die Frau Direktorin hat mich heute in die Kanzlei gerufen und hat mir gesagt, daß du so unpassende Sachen sprichst. Ich solle auf dich aufpassen an Mutters Stelle!« Na also, das könnte mir passen! Übrigens ist ja das alles gewesen, wie die Mama noch lebte. Das weiß ja nie eine Mutter, was die Kinder untereinander reden. Die Dora glaubt, daß ich in der Konferenz einen Tadelbrief bekomme. Das wäre mir schrecklich unangenehm wegen dem Papa; das gäbe wieder einmal einen Mortsskandal; obwohl der Papa eigentlich jetzt immer nur sehr lieb ist; seit der Krankheit der Mama hab ich nicht ein einzigesmal einen Verdruß gehabt. Das ist wahr, der Tod macht die Menschen mild, aber warum? Eigentlich sollte man doch böse werden, weil man sich ja sehr kränkt. Vorige Woche ist der Grabstein aufgestellt worden und da waren wir alle draußen. Ich möchte sehr gern einmal allein am Friedhof gehen, weil man sich doch vor den andern sehr geniert zu weinen.

18. Juni: Das »reine Kind« kommt nicht mehr ins Turnen, wenigstens war sie seit damals nicht mehr da. Wir glauben, sie traut sich nicht, obwohl wir ohnehin nichts sagen würden. Wir strafen sie mit stummer Verachtung, das ist am fühbarsten. Und am Tennisplatz kommt sie, Gott sei Dank, nicht. Ein falscher Mensch, das ist das Ärgste, denn da weiß man nie, wie man dran ist. Wenn eine recht aufschneidet, so kann ich ihr wenigstens sagen: Geh, bitt dich, lüg nicht so dick aufgetragen; ich bin ja auch nicht auf den Kopf gefallen. Aber gegen die Falschheit gibt es kein Mittel. Drum kann ich auch die Katzen nicht leiden. Wir nennen das »reine Kind« auch »rote Katze«. Ich glaube, sie weiß es. Übermorgen ist der Lyzeumsausflug nach Carnuntum. Ich freue mich riesig. Um halb 8 müssen wir an der Schiffsstation sein.

21. Juni: Der Ausflug war riesig nett. Die Hella sollte mich abholen. Sie verspätete sich aber sehr und so nahm ihre Mama ein Auto und glücklicherweise hatte ich gewartet. Ich fahre für mein Leben gern im Auto. Die Dora wollte nicht warten und fuhr schon um ¾7 mit der Elektrischen. Um ¼8 Uhr kam die Hella mit dem Auto und gerade, ehe das Schiff die Anker lichtete (mir scheint, das kann man nur von einem Segelschiff auf dem Meere sagen, aber das schadet nichts, ich bin ja nicht die Marina, die alles von der Marine weiß) also gerade zurecht kamen wir an. Es haben uns doch alle sehr angeschaut, wie wir mit dem Auto angerast kamen. Beim Aussteigen fiel ich hin, das war dumm; aber ich glaube, es haben es nicht alle bemerkt. Die Tante Dora hatte gesagt, für den einen Tag sollen wir die Trauer ablegen und der Papa sagte es auch und so zogen wir die weißen gestickten Kleider an und die Tante Dora war so gut und machte uns schwarze Schärpen als Gürtel; das sieht riesig elegant aus und in Amerika soll man so Trauer tragen. Ich schwärme für Amerika, das Land der Freiheit. Dort gehen Knaben (d. h. junge Burschen) und Mädchen zusammen in die Schule!! – – – Ja, also lieber vom Ausflug. Beim Fahren saßen wir im Schiffe neben der Frau Dr. M.; sie war kolossal nett; rechts die Hella, links ich, so nahe, daß sie sagte: »Kinder, ihr zerquetscht mich oder mindestens mein Kleid!« Sie hatte nämlich auch ein weißes Kleid an und um den Hals eine Korallenschnur, die ihr einfach großartig steht. Wie wir schon bald in Hainburg waren, ist der Hella der Hut in die Donau gefallen und alle Mädchen schrien auf, weil sie meinten, ein Kind sei ins Wasser gestürzt. Aber es war Gott sei Dank nur der Hut. Wir gingen auf den Schloßberg und hatten eine schöne Aussicht, d. h. ich habe nur die Frau Dr. M. angeschaut, weil sie so schön war; der Professor Wilke war auch mit und ist immer mit ihr gegangen. Alle Mädchen sagen, er wird sie wahrscheinlich heiraten, vielleicht schon in den Ferien. Gott, wenn das wahr wäre, das wäre entsetzlich. Die Hella meint zwar, das sei doch ganz ausgeschlossen wegen des deutschen Professors; sie müßte höchstens doch lieber den Professor W. heiraten als den andern, weil er ein Jude sein soll. »Nun ja, aber all das Übrige, das drum und dran hängt, ist doch bei jedem gleich,« sagte ich. »Das ist eben die Hauptsache, du Eserl«, sagt die Hella. Und die Frau Dr. M. sagt: »So, das läßt du dir gefallen von deiner Intima? Was ist denn die Hauptsache?« Ich will gerade sagen: »Das können wir nicht sagen,« da merkt es die Hella und sagt: »Eben weil ich ihre Intima bin, darf ich es sagen; von einer andern würde sie es sich nicht gefallen lassen.« Dann gingen wir essen. Leider saßen wir nicht neben » Ihr«. Wir ließen uns Schnitzel und viermal Schokoladetorte geben und der Herr Religionsprof. ging gerade vorbei und sagte: »Wie lange habt denn ihr euch schon ausgehungert?« Vor dem Essen gingen wir ins Museum, die Funde besichtigen. Die Frau Direktorin und das Fräulein V. erklärten alles. Wir haben unser Wissen sehr bereichert. Nachmittags gingen wir nach Deutsch-Altenburg. Bei der Jause war es riesig lustig. Da spielten wir Gesellschaftsspiele und alle Lehrkräfte mit, die fünfte Klasse hat ein lustiges Theaterstück von einer Schülerin einstudiert. Wir kugelten uns vor Lachen. Da kam auf einmal ein ganzer Trupp Offiziere vom Flugkorps, furchtbar fesch und einer setzte sich zum Klavier und spielte Tanzmusik. Und einer kam zur Frau Direktorin und bat, daß sie erlaube, daß die »Fräulein« tanzen dürfen. Die Direktorin wollte erst nicht, aber alle von der fünften und sechsten Klasse baten riesig und der Herr Rel.-Prof. sagte: »Aber, Frau Direktorin, lassen Sie ihnen die unschuldige Freude«, und da durften sie richtig tanzen. Wir andern tanzten entweder miteinander oder wir sahen zu. Und auf einmal standen wir, die Hella und ich, ganz vorn und da kam ein herrlicher Leutnant und sagt: »Darf ich die beiden Freundinnen auf ein Tänzchen trennen?« »O bitte«, sage ich, und schon flog ich mit ihm dahin. Mit einem Leutnant tanzen, ist herrlich. Dann tanzte derselbe Leutnant mit der Hella und sie sagte am Abend beim Nachhausefahren, daß der Leutnant eigentlich zuerst mit ihr tanzen wollte, aber ich habe gleich gesagt: »O bitte« und habe die Hand auf seine Schulter gelegt. Das ist natürlich nicht wahr, aber deshalb streitet man nicht mit seiner besten Freundin. Und schließlich hat er ja doch mit beiden getanzt. Leider durften wir nicht lange tanzen, weil wir so erhitzt waren. Ja, das hätte ich bald bald vergessen, ein Hauptmann mit einem schwarzen Schnurrbart begrüßte die Frau Dr. M., denn er kannte sie. Sie wurde feuerrot; also wird es wahrscheinlich der sein und nicht der Herr Prof. Wilke und nicht der jüdische Professor, den sie heiraten wird. Mir gefiele er auch entschieden besser. Gott, sie waren alle so fesch! Bevor wir weggingen, brachte ein Oberleutnant einen ganzen Strauß Rosen und die Offiziere gaben jeder Lehrkraft, nämlich den Damen, eine. Und da passierte etwas sehr Komisches. In der Sechsten ist ein Mädchen, die schaut schon so alt aus, als ob sie 24 Jahre wäre und der gab »unser« Leutnant auch eine Rose. Da sagte sie: »Danke, ich bin keine Lehrkraft, ich gehe in die Sechste.« Und da lachten alle furchtbar und sie genierte sich sehr, weil der Leutnant sie für eine Lehrkraft angesehen hatte. Und der Herr Rel.-Prof. sagte zu ihr: »Tschapperl, hättest sie schon nehmen können.« Aber eigentlich hat sie ganz recht gehabt. Ich glaube, es waren mindestens 20 Offiziere. Die Hella hat dem Leutnant natürlich gesagt, daß sie eine Oberstenstochter ist. Ob wir ihn je wiedersehen.

Ich schreibe jetzt schon vier Tage an dem Ausflug. Gestern sagte mir die Dora, daß der Herr Rel.-Prof. zur Frau Direktorin, als ich in den Armen des Leutnants lag, sagte: »Da schauen Sie die kleine Lainer an; das ist ein Hakerl, die Augen, die sie machte« Wieso Augen macht? ich ich habe gar keine Augen gemacht, überhaupt was soll das heißen: Augen machen!! Natürlich habe ich sie nicht zugemacht; da wär ich höchstens hingefallen und dann hätten alle gelacht. Aber auslachen lasse ich mich nicht gern. Die Dora habe ich eigentlich am ganzen Ausflug gar nicht gesehen und getanzt hat sie auch nicht. Sie sagte sehr anzüglich: »Natürlich nicht, da wir ja doch in Trauer sind, auch wenn wir weiße Kleider anhatten; Du bist eben ein Kind, dem man so etwas nicht übel nimmt.« So etwas, ich dürfte weiß Gott was getan haben! Deswegen habe ich die Mama doch lieb und vergesse sie nicht. Da war der Papa ganz anders; vorgestern abends sagt er: »So so, mein Hexerl hat eine Eroberung gemacht; na, du fängst ja schon früh an. Aber mit einem Offizier ist's nichts, mein Hexerl, die kosten viel Geld.« Na, den Leutnant möchte ich schon, da würde ich mit ihm im Aeroplan in die Luft hinauf, hinauf fahren, bis uns beiden ganz schwindlig wird. Gestern in der Religionsstunde, wie der Herr Prof. hereinkommt, lacht er riesig und sagt: »Na, Lainer, dreht sich noch die ganze Welt um dich? Der Herr Leutnant kann gar nimmermehr schlafen.« Er muß ihn also kennen. Nämlich das weiß ich schon, daß er nicht meinethalben nicht schlafen kann, aber daß er sich ihn gemerkt hat. Wenn ich nur wüßte, wie er heißt, vielleicht Leo oder Romeo; ja Romeo, das paßte herrlich für ihn!

26. Juni: Gerade, wie ich gestern im besten Schreiben war, kommt die Tante Alma mit der Marina und dem Balg, dem Erwin, der damals eigentlich Schuld war an dem Tratsch. Seit dem Tode der Mama verkehren wir nämlich wieder. Ich glaube, die Mama hat die Tante Alma nicht besonders mögen, und sie sie auch nicht. Gerade so wie der Papa und die Tante Dora einander nicht gerade innig lieben. Das ist übrigens in den meisten Familien so, der Vater mag die Schwestern und Brüder der Mutter nicht, und umgekehrt. Aber warum eigentlich? Ob Er eine Braut hat, wahrscheinlich, und wie sie aussieht? Ich möchte wissen, ob Er für Braun oder Blond oder Schwarz schwärmt. Ja also, der Besuch! Wir waren natürlich sehr kühl gegeneinander, die Marina und ich. Sie bildet sich soviel darauf ein, daß sie in die Lehrerinnenanstalt geht. Als ob das so etwas Großartiges wäre! Da ist das Lyzeum entschieden mehr, denn vom Lyzeum kommt man an die Universität, und nach der Lehrerinnenanstalt nicht; und sie lernen auch nicht Englisch und Französisch nicht ordentlich, nämlich nur wer will. Weil die Tante Alma weiß, daß es den Papa ärgert, wenn jemand sagt, wir sehen nicht gut aus, so sagte sie: »Gott, die Dora schaut aus, ganz überarbeitet; Gott sei Dank, daß sie bald fertig ist, eigentlich hat sie nicht viel davon, da ist es doch besser, wenn ein Mädchen Lehrerin wird.« Der Erwin räkelte auf dem Sessel herum und sagte zu mir: »Glaubst du, ich traue mich auf den Teppich spucken; glaubst du es nicht?« »Ungezogen bist du genug dazu; ich begreife nur nicht, daß die Marina, die künftige Lehrerin, dir nicht ein paar auf deinen kecken Schnabel gibt«, sag' ich. Na und die Tante Alma: »Aber Kinder, was ist denn? Was treibt ihr denn für Spaß?« »Es ist gar kein Spaß; der Erwin will auf den Teppich spucken und das schaut ihm ganz gleich.« Da sagte die Tante etwas auf Italienisch zu ihm und er machte mir dann hinter dem Rücken vom Papa eine lange Nase, was ich einfach ignorierte; so ein Fratz, das ist auch ein Kusin! Der Kamillo soll auch so frech gewesen sein als Bub. Aber der war noch nie bei uns, denn er ist seit zwei Jahren in Japan als Fähnrich. Der Marina steht die Trauer entschieden nicht gut; sie hat etwas Provinzlerisches und das wird sie absolut nicht los. Ihre Kleider sind zu lang und B... hat sie nicht die Spur, obwohl sie im Dezember schon 17 Jahre wurde; sie ist ekelhaft mager.

27. Juni: Heute war der Herr L.-Sch.-Insp. bei uns, u. zw. im Französischen. Die Frau Dr. Dunker ist immer furchtbar aufgeregt und sie sagte zu Beginn der Stunde: »Kinder, heute kommt der Herr Inspektor; nehmt Euch zusammen; ich bitte Euch, laßt mich nicht im Stiche.« Es muß also doch wahr sein, was der Oswald immer sagte, daß die Inspektoren wegen der Lehrer kommen und nicht wegen der Schüler. »Bei der Inspektion, sagte der Oswald oft, hat jeder Schüler den Professor in der Hand.« Als Erste kam natürlich ich dran und da fiel mir absolut nicht ein, was trotteur heißt. Trottel wollte ich nicht sagen und so sagte ich garnichts. Da drehte sich die Anneliese um und sagte es mir ein, aber ich sagte es natürlich nicht nach, sondern blieb stumm wie ein Fisch. Endlich sagte der Herr Inspektor: »Übersetzen Sie nur den Satz zu Ende, dann wird es Ihnen der Sinn ergeben.« Aber ich finde, das ist nicht wahr; wenn ich ein Wort nicht weiß, so hat der Satz eben keinen Sinn, oder wenigstens nicht den Sinn, den er haben soll. Wenn die Hella nicht heute wegen – – gefehlt hätte, hätte ja vielleicht sie mir einsagen können. Nachher machte mir die Frau Dr. Dunker Vorwürfe, daß man sich auf niemanden verlassen könne und daß ich eigentlich keine Eins verdiene. »Und das Dümmste war, daß du gelacht hast, wenn du schon ein so einfaches Vokabel nicht weißt.« Ich konnte ihr doch nicht sagen, daß ich im ersten Moment »Trottel« übersetzen wollte. Das blöde aus dem Stegreifübersetzen ist eben zu schwer für uns.

28. Juni: Heute ist die Abschlußkonferenz. Ich bin furchtbar aufgeregt, ob ich einen Tadel oder am Ende eine mindere Sittennote bekomme. Das wäre gräßlich. Die Hella macht sich nicht soviel draus, weil ihr Papa jetzt gerade zu den Manövern nach Ungarn oder Bosnien fährt und da bleibt er so lange fort, daß indessen schon die Ferien begonnen haben und niemand mehr ans Zeugnis denkt. Also morgen erfahr' ichs. Nein, Herrgott, morgen ist Feiertag und übermorgen ist Sonntag, also noch 2½ Tage muß ich »hangen und bangen in schwebender Pein«, aber in einer anderen, als Goethe meint.

30. Juni: Wegen der Matura der Dora, Martura sagte immer der Oswald, waren wir gestern und heute nachmittags zuhause. Die Bruckner sind nach Breitenstein gefahren, eine Tante besuchen, die im Erholungsheim ist und deshalb konnte ich nicht mitfahren. Abends gingen wir in den Türkenschanzpark nachtmahlen, aber es war nichts los. Ja, das habe ich noch gar nicht geschrieben von dem »reinen Kind« beim Ausflug. Schon auf dem Schiff strich sie ein paarmal um die Hella und mich herum und wollte sich ins Gespräch mischen, indirekt natürlich! Aber es gelang ihr nicht; besonders die Hella ist großartig in dieser Hinsicht; sie schaut einfach über sie weg. Mir hat sie eigentlich leid getan, weil sie keine rechte Freundin hat außer uns beiden; aber die Hella sagte: »Hast du noch nicht genug? Willst du noch einmal in eine solche Sauce kommen?« Und wie der Hella der Hut ins Wasser fiel, stand auf einmal, wie wir noch dem Hut nachschauen und wahnsinnig lachen, die Anneliese hinter uns und bietet der Hella ein feines Spitzentuch an, das sie für den Abend mithatte, weil sie gleich immer Ohrenstechen bekommt. »Willst du vielleicht das Spitzentuch, damit du in Wien nicht ohne Hut gehen mußt?« »Bitte sich nicht zu bemühen, ich bin gewöhnt mit bloßem Kopf zu gehen«, aber wie sie das sagte, wie eine Königin! Das muß ich von ihr lernen. Sie ist ja eher kleiner als ich, aber da schaut sie aus wie eine ganz erwachsene Dame. Ich sagte ihr das auch und sie erwiderte: »Liebste Rita, das läßt sich nicht lernen; das ist angeboren.« Das hat mich eigentlich geärgert, daß sie immer glaubt, eine Offizierstochter ist etwas Besonderes.

1. Juli: Gott sei Dank, es ist alles ohne Skandal abgelaufen. Die Frau Dr. M. sagte auf dem Gang zu mir: »Du Lainer, du bist hart an einer bösen Sache vorbeigerutscht. Wenn sich nicht Stimmen zu deinem Gunsten geltend gemacht hätten, dann weiß ich nicht – – –« Da sagte ich: »Ich weiß es, Frau Dr., Sie allein haben mich vor der Sittennote bewahrt«, und ich küßte ihr schnell die Hand. »Geh, du Kindskopf, auf der einen Seite wie ein Kind und auf der andern voller Gedanken, die in dem Alter mindestens überflüssig sind.«

Also schließlich, für seine Gedanken kann man doch wirklich nichts, und in Hinkunft werden wir uns die Leute besser anschauen, mit denen wir so etwas reden. Das habe ich noch nicht geschrieben vom Ausflug: Wie wir in Wien mit der Bahn ankommen, holten die meisten Eltern ihre Kinder ab; unser Papa war auch da und auch die Mama von dem »reinen Kind«. Gott sei Dank, daß sie den Papa nicht kannte. Also wie wir aussteigen, ist ein großes Gedränge, weil alle zu ihren Eltern wollen und auf einmal höre ich die Stimme der Hella: »Nein, gnädige Frau, Ihr Kind befindet sich nicht in unserer schlechten Gesellschaft«. Ich drehe mich gleich um und da steht die Hella vor der Frau v. Zerkwitz. Die fragte sie nämlich: »Ah, Sie, wo ist denn meine kleine Anneliese?« Die Antwort war herrlich; das brächte ich nie zusammen; mir fallen die guten Antworten immer erst hinterdrein ein. Drum hat auch damals der alte Herr im Theater, wie er die Hella fragte, ob sie allein da sei und sie ihn anschnauzte, gesagt: Frech wie eine Jüdin, oder freche Jüdin! Das ist zu blöd, erstens ist das nicht frech, wenn man eine gute Antwort weiß, und zweitens muß man dazu doch nicht eine Jüdin sein. Drum sagte damals auch die Hella drauf: »Nein, Sie irren, Sie sind nicht an Ihresgleichen geraten.«

Am 6. ist schon Schluß; aber wegen der Matura der Dora müssen wir bis zum 11. hierbleiben. Dann fahren wir nach Fieberbrunn in Tirol und werden heuer im Hotel wohnen, worauf ich mich riesig freue. Da hat sich die Hella voriges Jahr so großartig unterhalten.

2. Juli: Gott, heute hab ich ... na, ich kann es nicht so hinschreiben. Mitten in der Physikstunde bei der Wiederholung, wie ich an gar nichts denke, kommt das Fräulein N. mit einem Akt herein zum Unterschreiben. Wie wir aufstehen, denk ich mir: Was ist den das? Und dann fällt mir gleich ein: Aha!! In der Pause fragt mich die Hella, warum ich so blutrot geworden bin in der Physikstunde, ob ich Zuckerln mithatte. Ich wollte ihr doch nicht gleich den wahren Grund sagen und so sagte ich: »Nein, ich bin beinahe eingeschlafen vor Langeweile und wie das Fräulein N. hereinkam, bin ich zusammengefahren.« Beim Nachhausegehen war ich sehr wortkarg und ging so langsam, (man soll nämlich nicht schnell gehen, wenn ...) da sagt die Hella: »Ja sag mir, was hast denn du heute, daß du so feierlich bist? Bist du ohne mein Wissen verliebt oder am Ende gar ...?« Da sage ich: » Oder am Ende gar!« und sie sagt: »Na also, jetzt bist du mir wieder ebenbürtig« und gibt mir mitten auf der Straße ein Bussel. Da gehen gerade zwei Studenten vorbei und der eine sagte: »Mir auch eins«. Und die Hella sagt: »Ja, eine auf die Wange, die brennt.« Da sind sie schnell abgeschoben. Wir hätten sie auch wirklich nicht brauchen können; heute!! Die Hella wollte, ich solle ihr alles genau sagen; aber ich hatte wirklich nichts zu sagen und doch glaubt sie, ich wollte nichts sagen. Es ist wirklich sehr unangenehm und dann muß ich heute abends beim Ausziehen riesig achtgeben vor der Dora. Aber der Tante muß ich es sagen, wegen einer Lunab... Das ist mir greulich peinlich. Bei der Hella war das eben anders, erstens weil sie vorher solche greuliche Krämpfe hatte und ihre Mama dadurch schon alles wußte und zweitens, eben weil es ihre Mama ist. Der Dora sag ich's auf keinen Fall, da geniere ich mich noch mehr. Und eine Lunab... würde ich mir nie selber kaufen und wenn ich 80 Jahre alt wäre. Und wenn der Papa das erst wüßte, das wäre entsetzlich. Ob die Männer das überhaupt wissen; von ihrer Frau eher, aber von den Töchtern doch absolut nicht.

3. Juli: Jetzt weiß es die Dora doch. Ich drehte nämlich das Licht ab vor dem Ausziehen und da schimpfte die Dora: »Was sind das für blöde Witze, dreh sofort auf.« »Fällt mir gar nicht ein.« Da kommt sie herüber und will aufdrehen; »Ich bitt dich, laß, bis ich im Bett liege.« »Ah soooo«, sagt die Dora, »warum sagst du denn das nicht gleich; ich borg dir indessen meinen Billroth-B... und du hast ja noch gar keine B...« Und dann redeten wir noch sehr lang und viel miteinander und sie sagte mir, daß die Mama ihr aufgetragen habe, mir alles zu sagen, wenn ... Ihr hat es die Mama gesagt, aber sie sagte, am besten sagt es ein Mädl dem andern, weil man sich am wenigsten geniert. Die Mama wußte auch, daß die Hella schon im Jänner ... Aber wieso? ich habe nie etwas davon verraten! Es war schon 12 Uhr, wie wir das Licht abdrehten.

6. Juli: Gott, ich bin so unglücklich; heute wie wir die Zeugnisse bekommen und uns bei der Frau Dr. M. verabschieden, d. h. bedanken, ist sie furchtbar lieb und nett und zum Schluß sagt sie: »Ich hoffe, daß Ihr mir bei meiner Nachfolgerin oder meinem Nachfolger nicht allzu viel Schande bereitet.« Zuerst verstehen wir sie gar nicht gleich und meinen, sie meint, es sei doch immer unsicher, ob eine Lehrkraft eine Klasse behält, aber da sagt sie schon: »Ich scheide nämlich von der Anstalt, weil ich mich verheirate.« Mir gab's einen Stich ins Herz und ich sagte: »Gott, das ist doch nicht möglich.« »Ja, ja, Lainer, es ist doch so.« Und alle Kinder drängten sich zu ihr und wollten ihr die Hand küssen. Und da war es einen Augenblick ganz still und da sagte die Hella: »Frau Doktor, darf ich um etwas fragen? Aber sind Sie ja nicht böse!« »Na, so frag nur!« »Ist es der Herr Hauptmann von Carnuntum?« Zuerst schaute sie ganz verwundert und dann lachte sie hellauf: »Nein, Bruckner, der ist es nicht, der hat ja schon eine Frau.« Und die Gilly, die doch nie gar so schwärmte wie die Hella und ich, sagte: »Bitte, sagen Sie uns Frau Doktor, wen Sie heiraten.« »Das ist kein Geheimnis, ich heirate einen Professor nach Heidelberg.« Und darum muß sie auch vom Lyzeum weg. Mir sind die ganzen Ferien verpatzt. Die Hella hat Prachtideen. Die Kinder wollten alle gar nicht weggehen und wollten die Frau Doktor nachhause begleiten. Da sagte sie: »Liebe Kinder, das geht nicht, ich fahre ja nach Purkersdorf zu meinen Eltern.« Und jetzt kommt die göttliche Idee der Hella. Alle sagen: »Bitte, wir begleiten Sie auf die Stadtbahn«, und endlich erlaubt sie's. Die Hella aber sagt: »Komm'« und wir rennen auf die Stadtbahn voraus und nehmen uns Karten bis Hütteldorf, damit wir rechtzeitig zurückfahren können, und auf einmal wie wir schon am Perron warten, kommt sie und alle Kinder mit ihr bis zum Einlaß. Da stürzen wir auf sie zu und steigen in den Zug ein, der gerade kommt. Natürlich hatten wir Zweite Klasse-Karten, da die Hella als Offizierstochter nur Zweite Klasse fahren darf und die Frau Doktor M. fährt auch immer Zweiter. Und wir setzen uns zu Dreien auf einen Zweiersitz, trotzdem es furchtbar heiß war. Sie war riesig nett; ich bat sie um eine Photographie und sie versprach uns eine zu schicken. Dann kam leider schon Hütteldorf. »Kinder, Ihr müßt jetzt aussteigen.« Und dann weinten wir beide furchtbar und da küßte sie uns! Nie werde ich diesen Augenblick voll Seligkeit vergessen und diese göttliche Fahrt! Solang man den Zug noch gesehen hat, winkten wir in einer Tour und sie winkte ebenfalls! Als wir unsere Karten abgeben wollten beim Hinausgehen, suchte die Hella überall ihr Portemonnaie und fand es nicht; sie muß es am Schalter liegen gelassen haben. Glücklicher Weise hatte ich noch mein ganzes Taschengeld vom Juli und so mußte ich davon die Strafe zahlen. Und da war einmal ich die Klügere; ich sagte, wir seien Dritter gefahren und nur durch die zweite durchgegangen; so haben wir nicht soviel Strafzahlen müssen; und es hat ja niemand was davon, so einen Betrug kann man sich schon erlauben. Natürlich fuhren wir zurück wirklich Dritter; obwohl die Hella sagte, das störe ihr sehr die Erinnerung. Mir macht das gar nichts, ich bin nicht so auf das » Milieu« wie die Hella. Wir kamen erst um ¼2 Uhr nachhause und die Tante Dora zankte furchtbar. Ich sagte, ich hätte bei der Frau Dr. Bibliotheksbücher geordnet, aber die Dora war um 12 Uhr im Lyzeum nachfragen, und da war niemand da. Da seien wir gerade fortgegangen und hätten die Frau Dr. M. ein Stück begleitet, da sie wegen ihrer Verheiratung wegkommt. Da war die Dora ganz erstaunt und sagte: »Ah, jetzt versteh ich.« Wie sie neulich ins Konferenzzimmer kam, redeten die Lehrkräfte gerade von einer Verlobung und das Fräulein Thim sagte: »Jede hat nicht so ein Glück, daß sie einen Universitätsprofessor kriegt.« Das ging auf Sie. Na, die Thim kriegt bestimmt keinen, nicht einmal einen Schuldiener. Heute, ich schreibe nämlich schon zwei Tage an dem, hatte ich eine wahnsinnige Freude; Sie schickte mir ihre Photographie, einfach himmlisch!! Der Papa sagt, am Bild ist sie schöner als in Wirklichkeit. Das ist aber nicht wahr, sie ist wunderbar, diese Augen und dieser seelenvolle Blick! Die Hella hat natürlich auch eine Phot. bekommen. Wir lassen uns kleine Ledertäschchen mit Ausschnitt machen eigens für das Bild, damit wir es immer bei uns tragen können. Aber wir müssen damit bis nach den Ferien warten, weil ja die Hella ihr Geld verloren hat und ich das meine für die Strafzahlung beinahe ganz hergeben mußte. Und 3 K wird so ein Täschchen schon kosten. Aber der Papa hat durchsichtige unzerreißbare Kuverts und da bitte ich ihn um zwei und aus denen kleben wir uns »Notbehelfe«.

Morgen hat die Dora Matura, sie ist schon sehr aufgeregt, obwohl sie doch ohnehin alles kann. Aber sie meint, passieren kann einem immer etwas. Der Papa ist aber gar nicht aufgeregt, nur beim Oswald voriges Jahr, da war er wohl aufgeregt und die liebe arme Mama hat sich auch furchtbar gesorgt um ihn: »Pah«, hat der Oswald gesagt, »ich werd ihnen's schon zeigen, daß sie mir nichts anhaben können; nur frech muß man sein bei der Martura, das ist der ganze Witz!« Und dann hat er nichts telegraphiert als »Durch« und die arme Mama hat immer noch Angst gehabt und gemeint, daß kann auch heißen Durchgefallen. Aber natürlich hieß es schon durchgekommen, weil indessen doch das zweite Telegramm schon da war. Und damals hat der Papa zwei Flaschen echten Champagner mit nach Rodaun gebracht, wie der Oswald dann zurückkam. Nach der Dora ihrer Matura geht das nicht, weil die Mama nicht mehr da ist; o das ist so schrecklich, wenn ich so denke, noch vor 2½ Monaten war sie da und jetzt – – – – – – – – – – – – – – – – – –

9. Juli: Heute vormittag, während die Dora Matura machte (sie hat Auszeichnung bekommen), war ich ganz allein am Friedhof. Zur Tante Dora sagte ich, ich gehe mit der Hella und ihrer Mama Einkäufe besorgen und zur Hella sagte ich, ich gehe mit der Tante fort und so bin ich nach Pötzleinsdorf hinausgefahren und dann auf den Friedhof gegangen. Es soll jeder immer nur allein auf den Friedhof gehen. Gar niemand war außer mir am Friedhof. Ich traute mich nicht, lange dort zu bleiben, damit ich nicht zu spät nachhause komme. Es ist so riesig weit nach Pötzleinsdorf, und wenn man allein fährt, kommt einem jeder Weg so lang vor. Und wie ich wegging, ging ich in die falsche Richtung und kam auf eine ganz öde Straße gegen die Türkenschanze. So etwas ist sehr unangenehm und zuerst war auch weit und breit niemand zu sehen, den ich hätte fragen können. Dann kam zum Glück eine alte Frau und die fragte ich um den Weg und da sagte sie mir, ich solle nur durch die nächste Gasse, die kommt, hinuntergehen, da komme ich zur Elektrischen. Und dies war auch richtig, da kam gerade ein Pötzleinsdorfer, in den stieg ich ein und kam noch lange vor der Dora nachhause. Aber am Nachmittag hätte mich die Hella bald unabsichtlich verraten. Aber weil alle nur von der Matura redeten, so konnte ich es verwischen. Jetzt, wo die Dora die Matura hinter sich hat, muß sie mir noch vieles in gewisser Hinsicht sagen. Das versprach sie mir. Vor der Matura war sie immer so müde von dem vielen Ochsen, aber das ist ja jetzt vorbei und ich lerne in den Ferien überhaupt nie etwas. Wozu sind die Ferien da! Die Frau Doktor Dunker hat mir richtig nur Befriedigend gegeben, das ist wirklich eine Gemeinheit; und bei der muß man noch drei Jahre lang lernen, pfui! Ich weiß bestimmt, daß ich mir jetzt gar keine Mühe nehmen werde im Französischen, denn einen Pik hat sie jetzt schon einmal auf mich, und wenn eine Lehrkraft ein Pik auf einen hat, nützt alles Lernen nichts. Wie anders war doch die Frau Dr. M.!! Jetzt habe ich solange ihr Bild angeschaut, daß mich die Augen greulich brennen; aber das muß ich noch schreiben: Auch wenn man einmal oder zweimal nichts konnte, nie hat sie es einem nachgetragen, nie, nie, nie – – die Süße, Göttliche!

10. Juli: Morgen fahren wir fort nach F.; ich freue mich schon sehr. Es ist gräßlich fad heute, da die Hella gestern schon weggefahren ist nach Berchtesgaden für 6 Wochen, und auf der Rückfahrt kommen sie nach Salzburg und vielleicht fährt die Tante Dora für 2 Tage mit mir nach Salzburg, damit wir uns sehen können, ehe die Hella nach Ungarn fährt. Die Glückliche! Leider kann ich heuer nicht nach K... M... fahren, weil wir bis halben September in F. bleiben. Ich habe schon heute meine Namenstagsgeschenke bekommen, weil sie für die Reise gehörten: ein schwarzes Touristentäschchen mit schwarzen Ledergürtel und ½ Dutzend Trauertaschentücher mit ganz feinem schwarzen Rand und für Brandmalerei und eine große Düte Reisebonbons von der Hella. Ohne der Hella ist es greulich auf der Welt. Hoffentlich heiraten wir einmal am selben Tag; denn die Mama sagte immer: »Die besten Mädchenfreundschaften gehen auseinander, wenn die eine heiratet.« Wahrscheinlich, weil die andere sich doch ärgert, daß sie noch nicht heiratet. Wie das bei der Hochzeit von der Frau Dr. M. sein wird! Und ob sie alles schon weiß; wahrscheinlich und wenn nicht, so muß es ihr ihre Mama vorher sagen. Die Dora sagte gestern zu mir, daß die Mama zu ihr einmal sagte: »Ein Mädchen stellt sich immer alles falsch vor; in Wirklichkeit kommt es ganz anders.« Also bei uns ist das nicht so, denn wir wissen wirklich schon alles ganz genau, sogar das vom Nacktausziehen; o Gott, der Anblick damals! – Am 20. kommt der Oswald, aber zuerst macht er einen Abstecher nach München.

12. Juli: Hier ist es herrlich; Berge und Berge ringsherum und da werden wir überall hinaufsteigen; Gott, wie ich mich freue! Da kann ich unmöglich täglich Tagebuch schreiben; nun so wird's halt ein Wochenbuch. Denn der Hella muß ich unbedingt jeden zweiten Tag schreiben. Wir wohnen in der Pension Edelweiß; es sind ungefähr 40 Personen da, wenigstens haben wir's zu Mittag so gezählt. Im Vestibül ist eine Gast-Liste aufgehängt, die muß ich eingehend studieren. Von der Fahrt habe ich nichts gehabt, weil die Dora greulich Kopfweh gehabt hatte und da konnte man die ganze Nacht nichts reden. Die halbe Nacht stand ich im Gang. In einem Ort in Salzburg war ein furchtbares Feuer; aber es löschte niemand; es muß niemand etwas gewußt haben davon. Es ist sehr fein in der Pension, alles mit Teppichen belegt; in der Halle sind fünf oder sechs Gruppen arrangiert. Wir sind sehr zufrieden. Zu Mittag sind 4 Gänge, am Abend zwei. Auf jedem Tisch stehen Blumen. Der Papa sagt, man muß erst sehen, wie lange sie stehen. Der Papa hat einen neuen Touristenanzug, der ihm großartig steht, weil er so groß und aristokratisch aussieht. Wir haben ganz leichte schwarze Etaminkleider und schwarze Spitzenblusen und auch weiße Blusen und die weißen Kleider mit und hellgraue Touristenkostüme. Denn da hat der Papa wohl recht: Die Trauer sitzt innen und nicht außen. Vorläufig gehen wir aber doch in Schwarz, nur für den Fall der großen Hitze haben wir die weißen Sachen mit. Heute haben wir gar nicht weit vom Haus auf einem Abhang ein ganzes Bouquet Alpenrosen gepflückt. Die Dora hat das Bild der Mama mitgenommen und die Blumen davor gestellt; ich habe leider meins vergessen. Ich möchte sehr gerne eine Hochtour machen auf das Wildeck oder sonst wo hin. Selber Edelweiß pflücken wäre herrlich. Aber der Papa sagt, das ist in unserem Alter nicht zuträglich. Das Bad soll hier immer sehr kalt sein, meist nur 10 höchstens 12°. Der Herr Dr. Klein hat gesagt, wir sollen nur bei wirklich warmen Wasser baden gehen. Da wird nicht viel werden. Bekanntschaften haben wir noch keine gemacht; aber die zwei Mädchen am zweiten Tisch von uns mit den bosnischen Blusen gefallen mir sehr gut. Vielleicht, daß wir uns kennen lernen. Etwas ist vorläufig zu Wasser geworden. Ich wollte die Dora am Abend noch mancherlei Wichtiges fragen, aber dadurch, daß die Tante Dora mit uns in einem Zimmer schläft, geht das nicht. Und das ist auch dumm; das Zimmer vom Papa hat einen herrlichen Balkon gerade auf die Promenade und unser Zimmer geht in einen Garten. Die Aussicht ist ja sehr schön, aber Papas Zimmer wäre mir entschieden lieber, aber für drei Personen wäre es viel zu klein; es ist bloß ein Bett darinnen und eine Garnitur von anno dazumal. Solche Garnituren sind mir ein Greuel; die Dame, der die Pension gehört, nennt das Empire!! Die muß noch nie eine Empire-Einrichtung gesehen haben.

15. Juli: Gestern hat mir die Dora beim Spaziergehen sehr viel von Tante Dora erzählt. Ich habe eigentlich nie recht gewußt, ob der Onkel Richard in der Irrenanstalt angestellt ist oder ob er selber drin ist; das letztere ist der Fall. Er ist rückenmarkleidend und ganz verblödet und manchmal hat er Tobsuchtsanfälle. Wie er noch heraußen war, hat er einmal die Tante Dora gewürgt und dann hat er sie in anderer Hinsicht ganz heruntergebracht!!! Ich weiß nicht recht wieso, denn Kinder hat die Tante Dora nie gehabt. Warum eigentlich das vom Onkel Richard so verheimlicht wird! und wenn ich so denke, hat auch nie jemand von der Krankeit der Mama reden wollen. Dieses Verheimlichen hat doch keinen Sinn, denn erstens denkt man erst recht darüber nach und zweitens erfährt man ja doch die Wahrheit. Zuletzt hat sich die Tante Dora so gefürchtet vor dem Onkel, daß sie alle Türen zu ihrem Zimmer absperrte. Einen tobsüchtigen Mann haben, muß wohl gräßlich sein. Der Papa sagte einmal zur Dora: Die Tante Dora kann einen schon tobsüchtig machen mit ihren Tücken und Nücken. Das war natürlich nur bildlich gemeint, aber ich muß doch aufpassen, was die Tante eigentlich tut, was einen so aufbringen kann. Höchstwahrscheinlich in dieser Hinsicht. Mir scheint, daß Tante Alma viel mehr Tücken und Nücken hat, und der Onkel Franz ist doch noch nicht tobsüchtig geworden. Die Dora sagt, der Onkel Richard kann noch 20 Jahre leben und ihr tut die Tante Dora sehr leid, daß sie an ein solches Ungeheuer gekettet ist. Wieso gekettet? Er ist doch im Irrenhaus und kann ihr nichts tun. Die Dora wußte das auch alles nicht, die Tante hat es ihr erst nach dem Tode der Mama erzählt. Die Dora meint, es ist am besten, man heiratet gar nicht, wenn man nicht einen Mann rasend liebt. Und dann nur mit Ehekontrakt!! Da ist nämlich das ausgeschlossen. Ich habe immer geglaubt, ein Ehekontrakt wird wegen der Mitgift und des Geldes überhaupt gemacht; aber daß das den Zweck hat, hätte ich nie geglaubt. Die Frau vom Oberförster Mayer, die wir vor zwei Jahren im Sommer kennen gelernt haben, hat ihren Mann nur unter dieser Bedingung geheiratet. Ich verstehe nur nicht, wenn das die Hauptsache ist beim Heiraten, worauf alle Männer brennen, so kann doch eigentlich keiner mit einem Ehekontrakt einverstanden sein. Das muß doch anders sein, vielleicht ist das auch nur bei den Juden so, denn die Mayers waren Juden.

21. Juli: Nein, das hätte ich nie gedacht, daß die Hella in der Hinsicht Recht behält. Heute schrieb mir die Anneliese einen 8 Seiten langen Brief. Wie damals die Hella fünf Tage zuhausebleiben mußte, hat sie geglaubt, die Anneliese werde wieder anbandeln. Aber offenbar traute sie sich nicht. Also sie schrieb mir: Einzig geliebte Rita! Du bist die einzige Freundin meines Lebens; alle Mädchen und Leute haben mich gern, wohin ich komme und nur du hast dich in Groll von mir abgewendet. Was tat ich dir – – –? Na also, getan hat sie mir schon etwas; denn es hätte können eine schöne Geschichte entstehen, wenn nicht die Frau Dr. M. gewesen wäre, dieser Engel in Menschengestalt! Sie schreibt, sie ist so einsam und traurig; sie ist nämlich mit ihrer Mama in der Kaltwasserheilanstalt Gratsch bei Meran oder Bozen, das hab ich vergessen, da muß ich nachschauen, wenn ich ihr antworte. Denn ich habe der Hella auf mein Ehrenwort versprochen, daß ich mich nie wieder mit dem »reinen Kind« aussöhne. Aber schließlich eine Antwort ist eine Höflichkeit und bedeutet noch lange keine Aussöhnung und am wenigsten eine Freundschaft. Dort in Gratsch sind gar keine jungen Mädchen, lauter Damen und alte Herren, der jüngste ist 32 Jahre! brr, das glaube ich, daß sie sich erbärmlich langweilt. Also schreiben werde ich jedenfalls, aber sehr, schon sehr kühl. Zum Schlüsse schreibt sie: Erhöre das Flehen einer Unglücklichen und laß dein Herz nicht von hartem Erz werden gegen die, die dich immer wahrhaft geliebt hat. Das ist eigentlich sehr schön und die Anneliese hatte auch immer die besten Aufsätze; die Frau Dr. M. lobte sie oft und ihren gewählten Stil, aber leiden hat sie sie dann später nicht können. Sie sagte ihr oft, sie solle nicht so affektiert sein, sonst verlernt sie noch das Reden vor lauter Affektation. Ich werde nicht augenblicklich schreiben, sondern erst nach ein paar Tagen, und wie gesagt sehr kühl.

23. Juli: Heute bin ich mit den zwei Mädchen bekannt geworden, sie heißen Olga und Nelly, die eine ist 15, die andere 13 Jahre; ihren Zunamen weiß ich nicht, nur daß sie ein Lederwarengeschäft auf der Mariahilferstr. haben. Ihre Mama hat schon ganz graues Haar, ihr Papa kommt erst am 8. August. Wir haben einen Spaziergang für heute um 4 Uhr verabredet nach Brennfelden.

26. Juli: Ich habe mir vorgenommen, alle Tage vor dem Essen zu schreiben, denn nach dem Essen gehen wir alle mit unseren Hängematten in den Wald. Ich habe doch gleich vorvorgestern an die Anneliese geschrieben, damit sie weiß, wie sie dran ist. Der Hella schrieb ich noch nichts davon, weil ich doch nicht weiß, was die Anneliese antwortet. Die Hella unterhält sich in Innichen königlich; aber leider schrieb sie nicht, wieso königlich; sie schrieb auch nur knapp 3 Seiten mit dem Schluß, natürlich schrieb ich auch nicht soviel wie sonst.

27. Juli: Der Dora gefallen die Weiner nicht besonders; sie findet sie furchtbar aufgeblasen. Am Lande trägt man keine goldenen Armbänder und Ketten und am wenigsten zu Dirndlkostümen. Da hat sie wohl recht, aber mir gefallen die zwei Mädeln ganz gut, besonders die kleinere, die Olga; die Nelly tut so großartig; sie gehen auch ins Lyzeum, aber ins Hietzinger Lyzeum; die Olga kommt aber erst in die zweite und die Nelly in die fünfte. Die Dora sagt, das Pulver haben beide nicht erfunden. Das ist auch garnicht notwendig, das hat zum Glück schon wer anderer erfunden. Wir haben uns gestern beim Spazierengehen sehr gut unterhalten. Heute gehe nur ich mit ihnen. Der Papa sagt: »Nur nicht alle Tage beisammenstecken; der Schluß ist dann immer ein Verdruß.« Na, aber mit den Weiners nicht, das glaube ich wohl nicht.

29. Juli: Morgen ist mein Geburtstag. Was ich bekommen werde. Etwas habe ich schon in Wien bekommen, nämlich 3 Paar à jour Strümpfe, von der Tante pickfein, da sieht der Fuß so elegant aus. Aber ich muß riesig sparen damit und achtgeben. Die Tante sagte: »Da wirst du dir hoffentlich das Faltenziehen an den Strümpfen beim Lernen abgewöhnen.« Als ob ich in den Ferien überhaupt lernen würde.


 << zurück weiter >>