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An einem Jom-Kippur kam der heilige Baal-Schem nicht zu der frühen Morgenstunde ins Bethaus, wie er es sonst zu tun pflegte, und die ganze Gemeinde betete nicht, sondern wartete auf seine Ankunft. Erst als es schon recht spät am Tage war, kam er ins Bethaus, setzte sich auf seinen Platz und legte seinen Kopf auf das Betpult, ohne zu beten. Nach einer Weile hob er den Kopf und legte ihn dann wieder aufs Betpult, und so dauerte es eine ganze Weile. Endlich gab er ein Zeichen, daß man mit dem Beten anfangen solle, und alle beteten den ersten Teil des Morgengebets.
Den zweiten Teil des Morgengebets, den Mussaf, pflegte am Jom-Kippur immer Rabbi Dovid Pirkos vorzubeten. Der Baal-Schem rief aber aus: »Wer wird heute den Mussaf vorbeten?« Die Gemeinde wußte zwar, daß Rabbi Dovid vorbeten sollte, fürchtete aber, es dem heiligen Baal-Schem zu sagen, und alle schwiegen. Er wiederholte immer wieder die Frage: »Wer wird den Mussaf vorbeten?« Und man antwortete ihm schließlich: »Rabbi Dovid pflegt den Mussaf vorzubeten.«
Da begann der heilige Baal-Schem auf Rabbi Dovid zu schreien: »Du, Rabbi Dovid, willst am Jom-Kippur den Mussaf vorbeten? Wie kommst du dazu?« Und er schimpfte auf ihn etwa eine halbe Stunde, daß es gar nicht zu beschreiben ist. Es verdroß die Gemeinde sehr, daß der heilige Rabbi einen Menschen so beschimpfte, und dazu noch einen so frommen und gelehrten Mann, und das an einem Jom-Kippur. Doch vor großer Angst wagte niemand ein Wort zu sagen.
Schließlich sagte der Baal-Schem: »Wenn niemand anderer vorbeten kann, so bete du vor, Rabbi Dovid!« Rabbi Dovid war sehr betrübt, denn er glaubte, daß der Baal-Schem auf ihn einen Zorn habe oder auf seiner Stirne irgendeine große Sünde gelesen hätte. Und er stellte sich vor das Vorbeterpult und begann vorzubeten mit großer Zerknirschung, und weinte während des Gebets so sehr, daß man es gar nicht beschreiben kann. Am Abend, nach Jom-Kippur-Ausgang, versammelten sich alle, wie es alljährlich Sitte war, beim Baal-Schem, und er erzählte vor der ganzen Gemeinde, was sich zugetragen hatte:
»Rabbi Dovid hat sich vor Jom-Kippur durch Kasteiungen und lange Fasten, die von Sabbat zu Sabbat währten, auf das Mussaf-Gebet am Jom-Kippur vorbereitet, denn er hatte in Sinnen, während dieses Gebets mit aller Gewalt darauf zu bestehen, daß der Messias noch in diesem Jahre kommen sollte. Kein Mensch hat von diesem Entschluß des Rabbi Dovid gewußt. Doch der Satan hat auch einen Entschluß gefaßt und hat sich mit andern bösen Geistern an den Straßen, auf denen die Gebete zum Himmel hinaufsteigen, aufgestellt, um alle Gebete abzufangen. Darum ging ich nicht ins Bethaus, denn ich wollte nicht, daß die Gebete dem Satan dargebracht werden. Erst als es mir gelungen war, einen neuen Weg für die Gebete zu bahnen, ging ich ins Bethaus.
Und als es zum Mussaf kam, fürchtete ich, daß, wenn Rabbi Dovid das Gebet, auf das er sich so sehr vorbereitet hatte, sprechen würde, auch der Satan seine ganze Kraft zusammennehmen würde, um dem ganzen Volke Israel etwas Arges anzutun. Denn es ist noch nicht die Zeit für den Messias, und man muß jetzt andere Mittel suchen, um dem Volke Israel ein erträgliches Leben zwischen den andern Völkern zu verschaffen. Darum mußte ich Rabbi Dovid von seinem Vorhaben und von jedem Gedanken an den Messias abbringen, und ich beschimpfte ihn, damit er glaubte, daß ich auf seiner Stirne eine Sünde gelesen hätte. Nun sage ich es vor allen, daß ich nur an das Wohl des ganzen Volkes Israel dachte. Da Rabbi Dovid ein Mann von großer Frömmigkeit ist, würde der Satan vor seinem Gebet große Angst haben und alles aufwenden, um dem Volke Israel zu schaden. Darum soll mir nachgesehen werden, daß ich Rabbi Dovid so sehr beschämt habe.
Und Rabbi Dovid bestätigte alles, was der Baal-Schem von seinem Vorhaben und seinen Vorbereitungen zum Mussaf-Gebet erzählt hatte.