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Von Arthur Obst.
Aus »Landen und Stranden.« Erzählungen von der Wasserkante von Arthur Obst. Niedersachsen-Verlag. Carl Schünemann, Bremen.
Wie der Föhn pfeift der steife Nordwest um den allen Leuchtturm der Insel Neuwerk; er saust um den wettergehärteten Bau der Vorzeit, läßt die Scheiben erklirren und singt wunderbare Melodien um den Leuchtapparat, dessen Reflektoren glanzlos in das öde Grau, das sie rings umgibt, hinausstarren. Denn noch ist es Tag, wenn auch dämmeriger, unfreundlicher Nachmittag eines Oktobertages, wo schon die ersten Feuer im Ofen prasseln, und sich der Mensch der angenehmen Wärme freut. Der Turmvogt steigt eben die ausgetretene Wendeltreppe hinauf und begibt sich auf den obersten Boden, dicht unter der allnächtlich leuchtenden Strahlenkrone. Hier ist die Schlafkammer der Blüsener. Mürrisch erhebt sich der Wächter von seinem Strohsack.
»Was in Sicht?« fragte er gähnend.
»Mir scheint's so, Grube«, sagt der Vogt und rollt das große Fernrohr an das nach Westen gehende Turmfenster. Er stellt es ein, und nachdem er eine Weile durchgesehen hat, murmelt er halb vor sich hin:
»Da sitzt ein Schoner auf Scharhörn-Riff!«
Ein Ruck, und Grube steht auf den Füßen. Der alte Strandräuber, der in ihm als sicherstes Erbteil seiner Ahnen wohnt, ist erwacht.
»Dann wird's Zeit«, ruft er, indem er in die Hosen fährt und in die großen mit Schafpelz gefütterten Holzschuhe schlürft, »die Tide ist bald da!«
Der Vogt ist in die Amtsstube hinabgestiegen und ruft seiner Frau zu: »Mutter, den Südwester und den Ölrock! Grube, sag' den andern Bescheid!«
»Gottes Barmherzigkeit«, ruft die Frau, »wo sitzt er denn?«
»Auf Scharhörn!«
Ein kurzer Abschiedskuß an Mutter und Kind, dann geht's hinaus auf die Laube.
»Eibe!« ruft Vogt Follmer dem Knecht zu, der schon von dem Blüsener erfahren hat, was los ist, »schirr' den leichten Wattwagen und den Braunen mit dem Falben an!«
Der Vogt steigt die hundert und mehr Treppenstufen hinab, die vom Turm hinunterführen.
Auf dem Hofplatz sammeln sich indessen beim Soot, dem einzigen Brunnen der Insel, die Männer, wetterfeste, kernige Gestalten. Follmer gibt kurze Anweisungen; dann besteigen zwei mit ihm den Wattwagen, auf dem auch Eibe Platz genommen hat. Die anderen gehen auf ihre Höfe zurück, um je mit einem Pferde wiederzukommen und sich einem Hause zuzuwenden, an dessen Front ein rotes Kreuz auf weißem Grunde gemalt ist. Die grünen Flügeltüren werden geöffnet, und vor der langen Deichsel des Wagens mit dem Rettungsboot spannen sie ihre zwölf Pferde, sechs auf jeder Seite. Grube führt hier das Kommando; er ist in das Boot gekrochen und ruft nun, als alle angespannt haben: »Hüh!« Ein Krachen, dann ein Ruck, und das Boot wird aus seiner Behausung herausgezogen. Die Peitschen knallen; Landmann Griebel, der auf dem Leitpferd reitet, führt den Zug den Deich hinan und dann wieder hinunter, über den Butendiek, den Hahnentrapp direkt ins Duhner Watt hinein. Zehn Minuten etwa fahren sie; wenn die Pferde auch noch hin und wieder mit ihren Hufen den Gischt hoch aufspritzen, so ist das Wasser doch schon ziemlich abgelaufen. »Bis an Eitzens Loch!« ruft Griebel, sich rückwärts wendend und schlägt mit seinen Wasserstiefeln die Flanken des Pferdes, das rüstig weiter trabt.
Eitzens Loch! Durch das zwischen Duhnen, dem alten, unfreundlichen Stranddorf, und der Insel Neuwerk liegende Watt ziehen sich Tillen und Priele, die allesamt von einer traurigen Taufe zu reden wissen; Eitzens Loch – ja, alte Leute wollen wissen, daß am Anfange dieses Jahrhunderts die Westerbake noch von grünen Wiesen umgeben gewesen ist und die Insel bis weit über Eitzens Loch hinaus sich dem Festlande genähert hat. Die Großväter dieser alten Leute erzählten sich zwar, daß die Entfernung zwischen dem Duhner und Neuwerker Außendeich so gering gewesen sei, daß die Hirten hüben und drüben Zwiesprach halten konnten, doch das ist zweifellos märchenhaft, – aber, wenn im Gedächtnis der Alten sich Sage und Wahrheit nicht verwoben hat, so hat hier, wo jetzt der Ebbstrom durch Eitzens Loch rast, dereinst ein freundliches Wohnwesen gestanden, das eine Sturmflut mit Deich und Wiesen hinweggerissen hat; nach dem einstmaligen Besitzer, von dem man wissen wollte, daß er, auf dem Dachfirst seines Hauses reitend, mit Weib und Kind elbaufwärts getrieben sei, aber wurde die Stelle benannt. Und so knüpft sich auch an Stickers Gatt eine dunkle Sage. Zwei Landleute auf Neuwerk liebten ein Mädchen in Duhnen. Als sie einst die Kühe der Festlandsbauern, welche auf dem Neuwerker Außendeich den Sommer über geweidet hatten, übers Watt heimgetrieben hatten und nun zurückkehrten, wandte sich plötzlich einer derselben, Follmer mit Namen, an den mit ihm reitenden Sticker und fing Streit um die Dirne an. Beide wurden heiß, und mitten im Watt angekommen, schlug Sticker vor, sie wollten den Streit hier vor Gottes Antlitz austragen. Sie griffen zu den Messern; nach heißem Kampfe unterlag Sticker, der verwundet vom Pferde sank. Inzwischen war aber die Flut zurückgekehrt, und Follmers scharfes Auge sah, daß nur sein gutes Pferd ihn vor sicherem Untergange retten konnte. Mit verhängtem Zügel sprengte er auf die Insel zurück; dort erzählte er, ihm sei der Gefährte im Nebel abhanden gekommen. Das blutige Messer begrub er nächtlicher Weile auf dem »Kirchhof der Namenlosen«, wo die am Strande aufgefundenen Leichen ruhen.
An die alte, düstere Sage muß Griebel denken, als er bei Eitzens Loch nach dem Lande hinüberzuspähen sucht und dann den Zug wendend, den Wagen so stellt, daß nur die Stützen losgeschlagen zu werden brauchen, damit das Boot in den Priel hinabgleitet.
»Über Stickers Gatt liegt heute Nebel«, sagt er, als der Zug hält, »die Flut wird heute früh wiederkommen.«
»Des alten Follmers Geist sucht nach dem Messer«, läßt sich der Blüsener aus dem Boot vernehmen, »da ist heute nicht gut sein!«
»Hat Muhme Rebecca dir wieder Ammenmärchen erzählt?« spottet einer der Landleute, heiter lachend.
Durch einen schwachen Schuß wird das Gespräch gestört.
»Der Schoner gibt Notsignale«, meint Osterndorf, indem er ein kleines Fernrohr aus der Tasche zieht und nach Nordwesten lugt.
»Der Vogt ist schon an der Bake!« sagt er befriedigt und steckt das Rohr wieder ein.
*
Es war ein spanischer Schoner, der auf Scharhörn-Riff gestrandet war; als der Kanonenschuß gelöst worden war, hatte die Besatzung bereits eingesehen, daß das Schiff nicht mehr zu retten war. Sie hatte also das Boot klar gemacht und es bestiegen. Als sie sich der Scharhörn-Bake näherten, fanden sie dort den Vogt mit seinen Leuten, der ihnen gebot, sich schleunigst auf den Wagen zu begeben, auf den er aus dem Häuschen der Bake Stroh und wärmenden Wein gepackt hatte. Der Lotse setzte sich neben ihn auf den Bock, und dann ging es, so rasch nur die Pferde laufen konnten, der Insel zu.
Der Lotse hatte mit Follmer ein Gespräch angefangen.
»Können wir heute noch an Land?« fragte er den Vogt.
»Nein!« sagte er kurz.
»Wir müssen aber!«
»Weshalb?«
»Eine Bark hat uns angerannt, so daß wir unser Schiff an Strand setzen mußten, um nicht mit Mann und Maus zu versaufen –«
»Und?« fragte der Vogt gedehnt, indem er dem ganz verklamten Seemann die Portweinflasche reichte und auf die Pferde einhieb.
»Wir wissen den Namen der Bark nicht. Es ist nun möglich, daß der Kapitän einen kleinen Hafen anläuft, notdürftig repariert und verduftet, ehe wir Schadenersatz haben.«
Der Vogt blickt sinnend in die Ferne, wo jetzt der kleine und dann der große Leuchtturm Neuwerks aus dem immer stärker werdenden Nebel auftauchte; es war eine richtige Friesengestalt, dieser Follmer, hellblonder Vollbart und eben solches Haar, wasserblaue Augen und lange, hagere Figur. Der Wagemut seiner Stammesgenossen, der dem Meer lieber traute als dem festen Lande, erwachte in seiner Brust; der schwere Wein und die Aufregung, die mit der ganzen Fahrt verbunden war, ließ sein Blut gewaltsamer zum Kopf strömen und ließ Gedanken in ihm erwachen, die er längst schlummernd gewähnt hatte.
»In einer nach dem Riff und vom Wrack ans Land –«, murmelte er vor sich hin.
»Vogt«, sagte der Lotse, der die Worte vernommen hatte, schnell, »das wäre eine Tat, die noch keiner vor Euch gewagt hätte!«
In des Vogtes Augen leuchtete es auf; beinahe hätte er sein Gefährt nicht vorsichtig an jener gefährlichen Stelle vorübergeleitet, wo Pfahlmuscheln ihm den Mahlsand anzeigten. Dann aber trieb er die Pferde durch Zuruf an, und laut rasselnd fuhr der Wagen über den festen Meeresboden dahin.
*
Als Follmer mit seinem Gespann auf der Hochstelle beim Turm anlangte, waren die anderen, welche gesehen hatten, daß eine Hilfeleistung mit dem Rettungsboot nicht mehr nötig sei, schon dorthin zurückgekehrt. Der Vogt sprang vom Wagen, und indem er begann, die Pferde loszuschirren, rief er Eibe zu:
»Schnell! Die beiden Schimmel aus dem Stall und dann den anderen Braunen vor die Deichsel!«
Alle waren wie angedonnert, nur aus den Augen des Lotsen leuchtete es freudig und verständnisinnig.
Griebel fand zuerst Worte.
»Vogt, was willst du beginnen?«
»Ans Land!«
»Unmöglich, das Feuerschiff schwoit schon.«
»Eibe, spute dich!« antwortete Follmer ruhig; »wer Mut hat, komme mit.«
Der Blüsener kraulte sich hinter den Ohren.
»In Stickers Gatt ist's nicht geheuer«, meinte er.
»Memme«, donnerte der Vogt, »es hat dich noch niemand gebeten, dein teures Leben zu wagen; krauch wieder auf deinen Strohsack und nimm die Schnapsflasche als Liebste in den Arm.«
Nichts kränkt den Friesen mehr, als der Vorwurf der Feigheit. Das kupferbraune Gesicht Grubes färbte sich dunkelrot.
»Dir werd' ich's beweisen!« rief er und gesellte sich zu dem Knecht, der die Pferde vor den Wattwagen führte.
Des Vogts Frau war inzwischen vom Turm herabgestiegen und hatte vernommen, um was es sich handelte.
»Christian«, sagte sie und legte die Hand auf seine Schulter, »denk' an Frau und Kinder, die Flut tritt früh ein.«
Einen Augenblick zögerte er, aber auch nur einen Augenblick, dann trat er vor.
»Wer kommt mit?« fragte er.
Griebel und Osterndorf traten vor.
»Follmer«, sprach Griebel, »'s ist zwar Torheit, was du willst, aber du hast mich damals bei dem Amtmann 'rausgehauen, als wir wegen Strandraubs verklagt waren; heute will ich's dir vergelten.«
»Brav so, Lüder;« der Vogt klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich an seine Frau.
»Meila, er hat auch Frau und Kinder!«
Die aber hatte sich weinend abgewandt.
Die Rosse stampften vor dem Wagen; der Vogt untersuchte die Stricke, warf der weinenden Gattin eine Kußhand zu und schwang sich auf den Bock, während der Blüsener das Leitpferd bestieg und der Lotse, Kapitän, zwei Steuerleute, Griebel und Osterndorf in das Innere des Wagens krochen. Follmer knallte, und hurtig ging es fort über den Deich ins Watt hinein.
Die Frau ging mit den Kindern auf den Turm zurück. In der Amtsstube sagte sie zu ihnen, sie sollten ruhig sein und beten. Sie stieg aber die Wendeltreppe hinauf und stellte das Fernrohr auf das Duhner Watt ein.
*
Die Pferde griffen munter aus. Eitzens Loch war bald erreicht; es war schon ziemlich viel Wasser in der Tille, und der Flutstrom war schon recht stark. Der Braune des Blüsener scheute, aber sein Reiter schlug ihm die schweren Wasserstiefeln in die Flanken und schrie:
»Vorwärts, Brauner, wenn du keine Memme sein willst; der Vogt will es so!«
Follmer lachte gezwungen. »Sieh zu, daß er ebenso durch Stickers Gatt kommt!«
»Vor dem hüt' dich, Spötter!« brummte Grube.
»Kehr' um, Vogt«, raunte Griebel dem Turmherrn ins Ohr, »noch ist's Zeit umzukehren, über'm Gatt liegt Nebel ...«
»'s ist deines Ahnen Geist«, rief der Blüsener, dessen Pferd das Ufer der Tille erklommen hatte, »vielleicht kannst du ihm bald das Messer suchen helfen!«
Der Vogt erblaßte; dann aber rief er, von einem Rippenstoß des hinter ihm sitzenden Lotsen angestachelt: »Ich hab' mein Wort verpfändet! Vorwärts!«
Wieder waren sie eine Weile gefahren.
Plötzlich rief Grube:
»Ich kann die Baken nicht mehr sehen, der Nebel kommt näher!«
Der Vogt riß seinen Kompaß aus der Westentasche. »Etwas mehr östlich halten!« rief er, und der Wattlotse – so nennt man den Vorreiter – gehorchte.
»Verdammt!« ließ sich da der Blüsener plötzlich wieder vernehmen, »ich glaub', wir sind an die Baken vom vorigen Sommer geraten; die führen gerade auf eine Schlickstelle zu!«
»So reite weiter rechts!« kommandierte Follmer.
So ging's weiter – dann plötzlich hielt der Wagen still, mit einem Male.
»Stickers Gatt!« Der Schreckensruf kam von aller Lippen.
Es nützte nichts, daß Follmer wütend auf die Pferde einschlug, daß Grube die Seiten seines Braunen mit dem Stiefelhacken peitschte – vom Flutstrom erfaßt, wurde der Wagen seitwärts getrieben. Starres Entsetzen packte alle. Des Blüseners Pferd, von wütenden Schmerzen gepeinigt, durch die Salzflut scheu gemacht, bäumte hoch auf, überschlug sich und begrub den Reiter unter seinem schweren Körper.
»Schneide die Schindmähre los!« schrie Griebel. Der Vogt sprang vom Wagen, während Osterndorf die Zügel erfaßte.
Noch war das Leitpferd nicht frei, da stand der Wagen im Treiben mit einem Ruck still und begann zu sinken.
»Das ist Mahlsand!« rief Griebel laut und warf die Leitseile weg. »Rette sich, wer kann!«
Auch Follmer hatte den Schreckensruf vernommen, er versuchte sich auf das soeben losgeschnittene Pferd zu schwingen, da traf ihn der Hinterhuf des Gaules an der Schläfe, und besinnungslos sank er unter.
Griebel, Osterndorf und der Lotse hatten auch versucht, auf die Schimmel zu gelangen, die sie aus der salzigen Flut, die von Minute zu Minute höher stieg, heraustragen sollten. Aber vergebens! Die Spanier, von demselben Streben erfüllt, stießen sie hinunter und bemächtigten sich der endlich von dem versinkenden Wagen freikommenden Rosse. Im Kampfe um sein Leben ist jeder sich der Nächste.
*
Inzwischen hatte man von Duhnen aus bemerkt, daß das Gespann vom richtigen Pfad abgekommen war, und hatte, sobald das Wasser nur hoch genug gestiegen war, das Rettungsboot klar gemacht. Als sie in die Nähe von Stickers Gatt kamen, fanden sie die Spanier, die sich durch Schwimmen zu retten suchten, ein bei dem starken Flutstrom vergebliches Unternehmen, wenn nicht die Duhner ihnen zu Hilfe gekommen wären.
Von Follmer, dem Blüsener und den Neuwerkern hat man nie wieder etwas gesehen; die Flut hatte sie gewiß in die Elbe hinein- und dann die Ebbe ins unendliche Meer hinausgetragen. Viele aber wollen wissen, daß die Schuld des Ahnen durch den Enkel gebüßt worden sei, denn von jener Zeit an versandete Stickers Gatt, und der Flutstrom suchte sich andere Wege auf.