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Erzählung von Jakob Bosshart
Die Wildberger Susann rückte sich die schwarze Sonntagshaube zurecht und musterte sich im Spiegel, der an einem Fensterstock aufgehängt war. Von ihrem Gesicht ging ein festlich heiterer Glanz aus, der sich erhöhte, je länger sie sich in dem Glase betrachtete. Sie wollte festlich erscheinen, denn der Sonntag war ihr ein hoher Tag, da durfte sie ins Dorf hinabsteigen, aus der Einsamkeit des entlegenen Hofes wieder einmal zu Menschen gehen, die mit vollen Backen ihre Neuigkeiten ausbliesen, da durfte sie in der Kirche nach der Dürftigkeit der sechs Werkeltage ein Stück innerer Auferbauung erfahren, was ihr in einem sechzigjährigen Leben ein allwöchentliches Bedürfnis geworden war, wie das Brot ein alltägliches.
Draussen vor dem Fenster klapperte ihr Mann, der Wildberger Felix, in den helltönenden Holzschuhen her und hin, stark, schwach, stark, schwach, denn er hinkte. Susann warf einen Blick an dem Spiegel vorbei ins Freie und murmelte kopfschüttelnd: »Er will sich wieder um die Kirche herumdrücken! Weiss Gott, er hat's wie die Kinder!« Sie öffnete das Fensterflügelchen und rief hinaus: »Felix, ich bin schon lange fertig, komm schnell und zieh dich an!«
Von draussen antwortete eine etwas dünne Stimme: »Du weisst doch, dass ich nicht mag!«
»Ja, leider Gottes weiss ich es! Seit einem Vierteljahr weiss ich's! Man muss in die Kirche gehen, solange man noch gehen kann! Denk' an den Abraham in der Kammer droben! Der ginge jetzt gerne, wenn er könnte.«
»Grad an den Abraham denk' ich«, schallte es zurück.
»Tu mir's zu Gefallen«, bat sie. »Was müssen die Leute und der Pfarrer von dir denken!«
»Ich will keinen gezwungenen Dienst tun«, wiederholte er hartnäckig und klapperte unebenmässig davon, über die Hofreite in die Scheune. Die Frau nahm mit einem unergebenen Seufzer das Gesangbuch aus dem Wandschrank und schritt zu Felix hinüber. Sie redete ihm wohlmeinend und kräftig zu, sie sprach ihre Angst aus, er möchte in seinen alten Tagen noch gottlos werden, sie malte ihm das Bild ihres ältesten Sohnes vor Augen, bei dem es auch damit begonnen hatte, dass er auf dem Kirchplatz links nach dem »Wilden Mann« abbog. Felix nestelte an einem Kleiesack herum und schwieg. Sie hob die Stimme höher: »Ich weiss es schon, du bist nur zu bequem, du willst lieber mit dem Abraham den Tag verschwatzen, als ein gutes Wort hören.«
»Mag sein,« brummte Felix, »und ich sag' dir's jetzt zum drittenmal, ich will keinen gezwungenen Dienst tun.«
Sie gab die Hoffnung auf und wandte sich mit einem vorwurfsvollen schnaubenden Atemzug von ihm ab. Sie öffnete nochmals die Haustüre und rief: »Klärlein, schau mir gut zum Feuer!« Dann schritt sie, vor sich hinmurmelnd, durch den knirschenden Schnee davon, bemüht, die üble Laune, in die sie der verstockte Mann versetzt hatte, in Sonntagsfreudigkeit umzukehren. Felix sah ihr nach, bis sie hinter dem Rain verschwunden war, und hinkte dann in den Stall. Er legte »Bless«, der Braunkuh, einen Strick um die Hörner und führte sie ins Freie. Er kraute ihr hinter den Ohren und sprach zu ihr wie zu einem Menschen: »Der Fuss tut dir weh, gelt? Du hinkst ja fast stärker als dein Meister, du alte Melktante! Schämst du dich nicht? Nein, ich sollte mich schämen! Ich hätte schon lange nachsehen sollen, aber schau, seit der Bub' im Militärdienst ist und der Abraham das Bett hütet, hab' ich dreimal soviel Arbeit als Hände und ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Du bist noch ein Maidlein dagegen. Und so ist es eben Sonntag geworden.« Er band die Kuh vor dem Stall an einen Ring, legte ihr ein Stricklein über dem Knie ins Bein, und zog mit einem Scheit zu, bis sich der Fuss wie gelähmt von selber hob. Er legte ihn sich aufs Knie und begann ihn mit Wasser und mit seinem Sackmesser zu bearbeiten. Nach einiger Zeit fand er den Nagel, den sich das Tier in den Huf getreten hatte und zog ihn sorgfältig heraus. »So, nun wird es bald nicht mehr wehtun, Bless! Könnte man meinen Fuss so einfach doktern, ich gäb' ein Paar alte Hosen drum!«
In diesem Augenblick schlotterte ein Schatten um die Hausecke und eine rostige Stimme grüsste: »Guten Tag, Felix, und ich wünsch' dir dann auch ein glückhaftiges neues Jahr.«
Felix richtete sich auf: »Ach so, du bist's, Löter? Aber mit deinem Neujahrswunsch kommst du etwas ausser Zeit! Wir haben, denk, den achtzehnten.«
»Ja, schon,« lachte der andere, »aber sieh, ich kenne so viele Leute, denen ich etwas Gutes wünschen möchte, dass ich mit dem Neujahrstag lang nicht auskomme und noch zwei, manchmal drei Wochen vom Jänner dazunehmen muss.«
Felix lächelte und warf einen Blick auf den misslichen Anzug des Landstreichers. »Es geht dir nicht zum Besten, Löter.«
»Es geht mir so schlecht, wie es keinem alten Hund geht. Der hat doch ein ganzes Fell, und bekommt es einen Riss, so heilt er von selber wieder zu. Wenn's nur wieder Sommer wär'. Da kann man barfuss gehen. Mit dem Leib geht's ja noch, man ist doch keine Kindbetterin, und die Hände kann man in die Taschen stecken. Aber die Füsse bei der Kälte! Augenblicklich habe ich gar kein Gefühl drin und das ist noch das beste.« Seine Schuhe sahen aus wie ein Hecht mit zwei oder drei Mäulern, vorn schielte die Zehe heraus.
Felix versorgte den Bless im Stall und ging dann mit dem Löter in die Stube hinüber, wo er ihm Brot und ein Schöpplein Most vorsetzte.
»Wie geht es deinem Bruder? Ich habe gehört, er stehe an der Halde«, forschte der Löter.
»Red' nicht so!« gebot Felix. »Es ist leider wahr, es geht ihm nicht zum Besten, er liegt seit drei Monaten in der Kammer.« Wie um dem Gespräch auszuweichen, hinkte er in die Nebenstube hinüber und kehrte nach einiger Zeit mit einem Paar Stiefel zurück. »Schau, ob sie dir dienen; sie sind nicht mehr neu, sonst könnte ich sie dir nicht geben, aber sie sperren doch wenigstens nirgends ein Maul auf.«
Der Löter strahlte. Er förderte seine frostbeuligen blauen Füsse zutage und rieb sie mit den Händen, um sie zu erwärmen.
»Es ist schon grausig, so herumzulaufen«, brummte Felix und stöberte hinter dem Kachelofen ein Paar Strümpfe auf. »Da, nimm auch das, aber lass dich bis zum Sommer nicht mehr sehen, es ist wegen der Susann.«
»Keine Angst!« lachte der Löter verständnisvoll mit seinem zahnlosen Mund.
Draussen schnob ein Schlitten auf die Hofreite herein. Felix sah hinaus. »Du Donners Maidlein!« zürnte er und öffnete das Fenster. »Wer hat dich schlitteln heissen, du Stadtmolch?« Molch war sein stärkster Ausdruck. Der Löter schaute durchs Fenster: »Hast du eins angenommen?«
»Es ist meinem Ältesten in der Stadt. Der Krieg – du weisst ja!«
»Ja, ja, der Krieg frisst uns das Brot weg«, bestätigte der Löter, philosophisch mit dem Kopfe nickend.
»Was stehst du noch da draussen wie ein Ölgötz? Was hat die Grossmutter gesagt? Wegen dem Feuer, mein' ich?« rief Felix wieder durchs Fenster. Das Mädchen stand unbeweglich und still bittend neben dem Schlitten.
»Sei doch kein so grober Donnerhagel mit dem Kind, es scheint kein übles zu sein«, meinte der Löter.
»Nein, es ist kein übles, aber folgen tut's, wie eine Geiss neben dem Krautgarten. Drum muss ich dann und wann etwas donnerwettern.« Damit schlug er das Fenster zu und brummte: »Ich hab' als Bub auch lieber geschlittelt als gearbeitet, und so werd' ich jetzt zur Strafe das Feuer selber gaumen müssen.« Er verschwand in die Küche und der Löter hörte ihn Holz zerkleinern, das Herdtürchen aufreissen und ins Feuer blasen.
»Wär' ich Meister auf dem Wildberger Hof und hätte eine Frau und so ein Angenommenes, ich wollt' auch ins Feuer blasen, ich! Die Susann hat ihn ganz zu Mus gemacht«, überlegte der Landstreicher und stolzierte in des Wildbergers Stiefeln in der Stube auf und ab, hoffärtig wie ein Storch im Ried. Als er sich überzeugt hatte, dass das Schuhwerk ihm passte, wie schon lange keines mehr, streckte er den Kopf in die Küche hinaus und sagte: »So adie, Felix, ich geh jetzt, und dem Abraham lass ich auch ein gutes Neujahr wünschen.«
Felix hatte kaum Zeit, seinen Gruss zu erwidern, er blies mit vollen Backen ins Herdloch und schloss die Augen, weil ihm Asche ins Gesicht flog. Endlich prasselte das Feuer. Felix stieg die schmale Treppe in den Kammerboden hinauf und stiess eine Türe auf. »Ich komme lange nicht, Abraham, es war den ganzen Morgen etwas Teufels los! Aber jetzt wollen wir's gemütlich haben, wir alten Knaben. Wie geht es dir heut?«
»Wie soll's gehen?« erwiderte eine matte Stimme aus den Kissen. Felix warf einen Blick auf den Bruder. »Wie lang seine Nase geworden ist«, dachte er, »wie ein Stiel an einer Haue.« Abraham drehte sich im Bett etwas herum und sagte: »Ist im Stall alles in Ordnung?«
»Wie's sein kann,« erwiderte Felix, »ich meine manchmal, der Spiegel und der Bless haben Heimweh nach dir!«
»Wird nicht sein!«
Damit war der Gesprächsstoff für einmal erschöpft. Die beiden Brüder sahen sich eine Weile in die Augen und dann jeder in der eigenen Richtung, Abraham zur Decke hinauf, und Felix auf den Boden. Aber sie dachten dasselbe: »Muss es nun wirklich sein?« Und sie überschlugen ihr Leben.
Sie waren vor fünfundsechzig Jahren am gleichen Tage zur Welt gekommen, Felix eine Stunde früher als Abraham, und sie hatten all die Zeit friedfertig miteinander gelebt, einer des andern Trag- und Schleppgeselle, jeder die Sorgen des andern teilend. Als die Zeit des Heiratens gekommen war, hatte Abraham zu Felix gesagt: »Mach' du mir's vor, du bist der Ältere, vielleicht folg' ich nach, vielleicht auch nicht.« Er folgte nicht nach, er war freiwillig der Knecht und Helfer im Haus, denn er sah wohl, dass seine Arme und Hände nötig waren.
»Weisst du, dass heute unser Geburtstag ist?« begann Abraham nach langer Pause wieder zu reden.
»Ich kann den ganzen Morgen nichts anderes sinnen. Wenn man sich's so überlegt, wird es einem ganz spassig.«
»Wenn man denkt, dass man zusammen von der Mutter neun Monate getragen und dann miteinander genährt wurde, der eine rechts, der andere links! Muss man so nicht für's Leben zusammenwachsen?«
»Und wenn man sieht, wie andere Brüder etwa zusammen sind, dann versteht man's nicht.«
»Es ist ein allmächtiges Glück, dass wir es nicht verstehen! Aber nun muss ich bald gehen, Felix, ich merke es wohl.«
Felix suchte zu lachen: »Ach, red' nicht so närrisch! Ich bin doch der Ältere und muss es dir vormachen. Mein Karren ist auch halb zerschlagen oder ganz! Wir haben beide ein schwaches Herz, du und ich, das kommt von unserer Mutter. Und dann der Fuss! Es wird immer schlimmer! Jeder Schritt ist mir ein Kreuz.«
»Es war aber auch ein Einfall von dir. Wegen einem Kanarienvogel! Man sollt's nicht glauben!«
»Das Kind hat so geweint bei der Feuersbrunst, weil sein Vögelchen verbrennen sollte! Ärgerlich ist nur, dass es für die Katze war; das Tierchen war ja schon erstickt, und ich musste mir dann noch den Fuss verteufeln, als ich aus dem Fenster sprang. Aber das sind nun alte Geschichten, wir reden besser nicht davon, es wird alles seine Absicht haben.«
»Ich bin froh, dass du da bist«, begann Abraham nach langem Sinnen wieder. »Es ist mir, es gehe mir jetzt viel leichter, und beim Tüggeler, ich hätte fast Lust, wieder einmal die Pfeife zu rauchen. Soll ich oder soll ich nicht?«
»Warum solltest du nicht? Das ist ein gutes Zeichen, wenn du wieder rauchen magst. Wart, ich stopf' dir eine. Brenn' nur kein Loch ins Bettlaken, die Susann hat für dergleichen nicht die rechte Seelenruhe.« Er griff nach Abrahams Holzpfeife, die an der Wand hing und machte sie rauchfertig. Abraham steckte sie mit zitternden Händen an und blies dann vergnügt-andächtig seine Rauchwolken in die Luft. Der Bruder sah ihm glücklich zu, nur die Sorge vor Brandschaden beunruhigte ihn etwas. Abraham war wirklich auch gar zitterig geworden. Die Pfeife war kaum zur Hälfte ausgebrannt, als der Raucher sie aus dem Munde nahm. »Es ist wie beim Most«, lächelte er bitter, »die ersten Züge sind die besten. Häng' sie wieder auf! – Hast du auch schon einmal daran gedacht, dass man alles einmal zum letztenmal tut?« Er reichte Felix die Pfeife mit seinen unsicheren Händen, und dabei geschah das Unglück: ein Glutfetzchen fiel auf den Bettüberzug, und obgleich Felix rasch mit der Hand darnach fuhr, entstand doch ein Löchlein. Abraham war unglücklich; Felix tröstete ihn, rieb die kleine Wunde im Stoff, bis nichts Schwarzes oder Braunes mehr zu sehen war, und versicherte: »Sie sieht das gar nicht; mir scheint, dass sie in letzter Zeit etwas kurzsichtig geworden ist. Und das Loch ist ja nicht grösser als das in einer Nadel. Entdeckt sie's aber, so nehm' ich alles auf mich! Warum hab' ich dir die Pfeife nicht geschickter aus der Hand genommen!«
Abraham lehnte solchen Beistand ab und im Kummer wurden sein Gesicht und seine Nase noch länger, als sie schon waren. Felix sann auf Ablenkung: »Du hattest ein Gelüst zum Rauchen, ich hab' ein Gelüst, das viel närrischer ist, kalbernärrisch! Soll ich's dir sagen? Ich möchte wieder einmal mit dir singen, wie wir's als Buben und auch später taten, weisst du noch? Du die erste Stimme und ich die zweite.«
Abraham lächelte in der Erinnerung an jene gute Zeit und erwiderte: »Wenn du meinst, können wir's ja noch einmal probieren.«
»Was für eines wollen wir nehmen?« fragte Felix. Abraham sann den Tönen nach, die einst durch seine Jugend klangen. Er hatte gerne und gut gesungen. »Wie wär's mit der Abendsonne?« Felix nickte zustimmend und die beiden welken Greise sangen: »Gold'ne Abendsonne, wie bist du so schön …« Ihre Augen leuchteten, aber ihre Stimmen waren matt und zitterig. Hätten sie die glanzlosen, sterbensmüden Töne gehört, sie hätten erschreckt abgebrochen, aber sie hörten ihre Stimmen, wie sie vor mehr als fünfzig Jahren geklungen und frohlockt hatten.
Sie hielten an, sie mussten ihren Blasebalg sich erholen lassen. Dann stimmte Abraham an: »Am Rosenhügel hob ich mich empor …« Felix fand sich zuerst nicht zurecht und fiel erst beim Kehrreim ein: »Das Leben ist ja nur ein Traum.« Sie stockten wie auf ein Zeichen und sannen dem Lied nach. »War's wirklich nur ein Traum?« grübelte Felix. Abraham fand eine Antwort: »Unser Leben einmal nicht. Es war Sorgen und Werken und manchmal etwas Besseres, so scheint mir.«
»Viel Sorgen und hart Werken und manchmal etwas Besseres«, bestätigte Felix und fasste die Hand des Bruders. In dieser zuckte bei dem Drucke etwas wie Begeisterung auf und er sang, so fest er konnte: »Brüder, reicht die Hand zum Bunde, diese schöne Feierstunde führ' uns hin zu lichten Höh'n.« Er hatte sich zu viel zugetraut, seine Stimme verschlug sich und er fühlte seine Augen feucht werden. Mit Felix war es ganz gleich bestellt. Beide ermannten sich rasch, sie wollten sich nicht gegenseitig schwach machen. »Zu lichten Höh'n!« scherzte Felix gezwungen, »Ja, Schwefelholz! In die Rauchküche hinunter muss ich, ich muss das Feuer gaumen! Herrschaft von Ober-, Nieder- und Neppenhasli, haben wir's aber vergnügt gehabt, Abrahämlein!«
In diesem Augenblick ertönte vor dem Haus ein verzweifeltes Geschrei. »Was hat wohl das Maidlein angestellt?« ängstigte Felix und eilte hinaus. Beim Brunnen fand er das Klärlein. Das Kind lag fassungslos im Schnee neben dem umgeworfenen Schlitten. Felix sah gleich, wie es stand. »Du allmächtiger Stadtunverstand, hast mir ein Bein gebrochen! Da hast du jetzt die Butter aufs Brot!« Er trug das Mädchen ins Haus und legte es behutsam aufs Bett in der Nebenkammer. »Lieg jetzt still und brüll' nicht mehr wie ein Kälblein am Messer, in einer Stunde bin ich mit dem Doktor da!« Er zog ächzend die Sonntagsstiefel an, schlüpfte in den besseren Barchentkittel und verständigte Abraham. Dann hinkte er davon, so rasch er vermochte. »Des Donners, des Donners,« redete er vor sich hin, »hätt' ich nur so schnelle Füsse wie das Unglück! Ich fürchte, ich laufe in die Kirchgänger hinein, was wird die Susann sagen! Des Donners, des Donners!«
Als er im Dorf ankam, traten eben die Leute aus der Kirche und er schlüpfte wie ein Dieb ins Doktorhaus. Der Doktor war ausgegangen, nach dem Mooshof, wo Scharlach ausgebrochen war, wie ihm die freundliche Doktorsfrau berichtete. Also nach dem Mooshof! Aber der Fuss! Felix meinte, es stecken hundert Nadeln darin und nun ging's wieder bergan, im tiefen Schnee. Er kam durch den Riedhof. »Da hab' ich mir vor vier Jahren den Fuss verstaucht!« brummte er. Beim Anblick des neuaufgebauten Hauses focht ihn etwas wie Unwillen an. »Ich war doch ein rechter Esel! Wegen einem Vögelein! Wer so ein Haus bauen kann, konnte auch wieder einen Kanarienvogel kaufen.« Eine Schwäche überfiel ihn. Fast sank er vor Müdigkeit hin, aber er dachte an das Kind zu Hause und stapfte tapfer weiter. Im Mooshof erfuhr er, dass der Doktor vor zwanzig Minuten fortgegangen sei nach dem Lindberg. »Ich kann nicht mehr«, seufze Felix. Er war zum Sterben müde und der Fuss brannte wie ein glühender Holzklotz. – »Wenn ich mich nicht spute, ist der Doktor wieder fort, bis ich nach Lindberg komme!« Und er schleppte sich weiter. Der Schweiss lief trotz der Kälte an ihm herunter und in der Herzgegend stellte sich ein beklemmender Schmerz ein. Der Atem stiess kurz aus und ein. In Lindberg kam er in dem Augenblicke an, als der Doktor rasch vom Hofe bergab schritt. Felix schickte ihm die Stimme nach, bis er stillstand und wartete. Der Arzt zog die Uhr und brummte etwas von Hunger und Mittagessen, aber das Pflichtgefühl siegte doch in ihm. »So kommt!«
Der Doktor war ein junger Mann und hatte einen ausgiebigen Schritt, den der Hunger noch streckte. Felix mühte sich verzweifelt ab, ihm auf den Fersen zu bleiben. Er meinte jeden Augenblick, vom Schlag gerührt zu werden. »Der Weg nach Wildberg ist heut' ein Weg in die Ewigkeit«, stöhnte er. Endlich tauchten Kamin und Giebel seines Hauses hinter dem Haselrain auf.
Susann sah aus der Stube die beiden nahen. Sie hatte ihren strengsten Kopf aufgesetzt. Sie trat vor die Haustüre und führte den Arzt ins Haus. Auf Felix wartete sie nicht, sie hatte mehr als einen Grund, ihm zu grollen. Ihm war ihr Benehmen recht. Nur nicht reden müssen, nur Ruhe! Er setzte sich auf die Haustreppe, er konnte nicht mehr weiter. Als er sich etwas erholt hatte, kroch er ins Haus. In der Nebenstube brachte der Arzt das Bein in die Richtung. Das Klärlein schrie und wimmerte abwechslungsweise, und Susann schalt und tröstete, je nach Bedürfnis. Sie war in jeder Lebenslage eine anstellige und tüchtige Frau.
»Hier kann ich nichts helfen,« dachte Felix, »ich will nach dem Abraham sehen.« Er tappte die Treppe hinauf. Er musste auf jeder Stufe anhalten. »Ich bin wie eine Uhr mit zerbrochener Feder. Man schüttelt sie, sie tickt wieder ein paarmal, aber sie kommt nicht mehr recht in Gang.« Behutsam öffnete er Abrahams Kammertüre. Vielleicht schlief er. Im Bett regte sich nichts. Das Gesicht des Bruders war gegen die Wand gekehrt. Felix rührte Abrahams Hand, die unter der Decke heraushing, sachte an. Sie war kalt. »Ach Gott«, seufzte Felix und sank auf den Stuhl nieder, auf dem er vor drei Stunden so vergnüglich gesessen hatte. Die Füsse trugen ihn nicht mehr. Aber er fühlte keine Trauer, nichts als Liebe. »Nun bist du mir doch vorausgegangen. Hast nicht mehr warten mögen, du guter Bruder. Ist der Traum nun aus? Und was hat angefangen? – Und wie wir gesungen haben! Es ist nicht zum glauben. Leb' wohl, ich leg' mich nun auch zu Bett, wie du am Gallitag.«
Felix hörte, dass unten der Arzt ging. Er drückte dem toten Bruder nochmals die Hand und sah ihm ins Gesicht. Dann wandte er sich zur Türe und hinkte in seine Kammer hinüber. Er wollte sich die Stiefel ausziehen, aber es ging nicht. So streckte er sich in den Kleidern aufs Bett. »Nun ist er gestorben, und ich war nicht einmal dabei«, ging es ihm schwer und dunkel durch den Sinn, und dann erwachte auch der Schmerz und schnürte ihm den Hals zu. Unten hörte er Susann nach ihm rufen. Er klopfte mit der Hand an die Wand, dass sie ihn höre. Sie stieg herauf und trat heftig ein, sie hatte vieles zu sagen: über den Unfall des Kindes, vom verdorbenen Mittagessen, von dem ganz missratenen Feiertag. Die Neuigkeiten, die sie im Dorf erfahren hatte, wollte sie auf morgen versparen. Eine kleine Strafe musste sein. – »Red' nicht so laut,« flüsterte Felix, »man soll jetzt nicht laut reden in dem Haus.«
»Natürlich, man soll immer schweigen! Und wie man den Sonntag in diesem Haus heiligen kann, das ist zum Grünwerden!« fuhr sie heraus. Er lächelte, er dachte daran, wie er mit Abraham vor ein paar Stunden so selig gesungen hatte. »Schön haben wir's gekonnt,« sagte er für sich, »und nun?«
Susann konnte nicht verstehen und sah in ihrem Ärger nichts. »Komm jetzt herunter zum Essen, es ist über zwei Uhr!«
»Ich mag nicht, ich möchte am liebsten noch einmal singen.« Und wirklich musste die erstaunte Frau wahrnehmen, dass er wie im Fieberwahn zu singen begann: »Das Leben ist ja nur ein Traum. Nein, nein, es ist …« Die Stimme brach ab und erlosch rasch wie ein Docht, nachdem das Licht ausgeblasen ist. Dem halbgeöffneten Mund entfloh ein tiefer Seufzer, der in ein schweres Röcheln überging. Die Augen des Sterbenden starrten wie verklärt zur Decke empor.