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Scholem Alejchem: Die Durchsuchung

»Halt!« meldete sich ein Mann mit runden Ochsenaugen, der die ganze Zeit in der Ecke am Fenster gesessen und rauchend den Gesprächen über Diebstähle, Raubanfälle und ähnliche Verbrechen zugehört hatte. »Nun will ich euch eine schöne Geschichte von einem Diebstahl erzählen, der bei uns passiert ist, und ausgerechnet im Bejßmedresch und dazu noch an einem Jojmkipper! Ihr könnt zuhören:

Unser Städtchen Kasrilewka – ich bin nämlich ein Kasrilewker – ist ein armes, kleines Städtchen, und es gibt bei uns keine Diebe. Man stiehlt bei uns nicht, denn man hat nicht, bei wem zu stehlen und was zu stehlen. Und schließlich und endlich ist doch der Jude kein Dieb. Das heißt, der Jude ist im Grunde genommen doch ein Dieb, aber keiner, der durchs Fenster in eine Wohnung steigt oder einen Menschen mit dem Messer überfällt. Drehen, hineindrehen, verdrehen und einem den Kopf abdrehen, das kann der Jude; aber die Hand in eine fremde Tasche stecken, so daß man ihn erwischt und einsperrt – das paßt wohl für einen Verbrecher, aber für keinen Juden... Nun stellt euch vor: bei uns in Kasrilewka gab es einmal doch einen Diebstahl, und was für einen Diebstahl! Achtzehnhundert Rubel auf einen Schlag!

Eines Tages kommt zu uns in die Stadt ein Fremder, irgendein Bauunternehmer aus Litauen. Er kommt gerade am Vorabend von Jojmkipper um die Stunde des Nachmittagsgebets. Er steigt natürlich im Gasthause ab, läßt dort sein Gepäck zurück und begibt sich direkt ins alte Bejßmedresch. Wie er zum Nachmittagsgebet ins Bejßmedresch kommt, sitzen die Gabbojim vor der Geldschüssel. ›Friede sei mit Euch!‹ – ›Auch mit Euch sei Friede!‹ – ›Woher kommt Ihr?‹ – ›Aus Litauen.‹ – ›Wie heißt Ihr?‹ – ›Was geht's Euch an?‹ – ›Ihr wollt doch in die Schul?‹ – ›Wohin soll ich denn wollen?‹ – ›Ihr wollt wohl bei uns beten?‹ – ›Bleibt mir denn was anderes übrig?‹ – ›Dann müßt Ihr doch etwas in die Schüssel geben.‹ – ›Was denn sonst? Werde ich bei Euch umsonst beten?‹

Kurz und gut, der Fremde zieht drei silberne Rubel aus der Tasche und legt sie in die große Schüssel. Außerdem einen Rubel in den Teller des Chasens, einen Rubel für die Talmud-Thora, einen Rubel für den Row, einen halben Rubel für die Armen, außer dem Kleingeld, das er unter den Bettlern vor der Türe verteilt hat. Wir haben nämlich, unberufen, so viele Bettler, daß man das Vermögen eines Rothschilds haben müßte, um sich mit ihnen ordentlich abzugeben.

Als man sah, daß man es mit so einem Menschen zu tun hatte, trat man ihm einen Platz an der Misrachwand ab. Werdet ihr fragen, wo man den Platz hergenommen hat, da doch alle Plätze in festen Händen sind? Das ist gar keine Frage. Genau dasselbe ist doch bei einer Hochzeit oder bei einem Briß: es ist gesteckt voll, und plötzlich kommen alle in Bewegung. Was ist los? Der reiche Mann ist gekommen! Drückt man sich so zusammen, daß es einen Platz für den Reichen gibt. Das Drücken ist nämlich eine jüdische Sache: wenn sie niemand anderer drückt, so drücken sie sich selbst...«

Der Mann mit den runden Augen macht eine Pause, läßt den Blick über Zuhörer schweifen, um festzustellen, welchen Eindruck auf sie der Witz machte, und fährt fort.

»Kurz und gut, unser Fremder bekam einen Ehrenplatz und ließ sich vom Schammes ein Betpult geben. Zu Kolniddre zog er sich Talis und Kittel an und stellte sich beten. Und er betete und betete und setzte sich für keinen Augenblick hin; vom Hinlegen rede ich schon gar nicht! Für keinen Augenblick ging der Litwak von seinem Betpult weg, außer wenn man Schmojneessre betete oder niederknien mußte... Vierundzwanzig Stunden fasten und sich für keinen Augenblick hinsetzen – das kann eben nur ein Litwak!...

Erst nach dem letzten Schojferblasen, wie man mit dem gewöhnlichen Abendgebet beginnt, und Chajim-Chane der Melammed (Chajim-Chane hat seit undenklicher Zeit das Vorrecht, am Jojmkipperausgang das Abendgebet vorzubeten) mit seiner Ziegenstimme ›Der du die Abende dämmern läßt‹ anstimmt, hört man ein entsetzliches Geschrei: ›Gewalt! Gewalt!‹ Man schaut hin – der Litwak liegt ohnmächtig da. Man begießt ihn mit Wasser – es nützt nichts! Was ist das für eine Geschichte? Eine schöne Geschichte. Er hatte bei sich, der Litwak meine ich, achtzehnhundert Rubel gehabt. Er hatte Angst, sagt er, sie im Gasthaus zurückzulassen – es ist doch wirklich kein Spaß – achtzehnhundert Rubel! Wem kann man eine solche Riesensumme in einer wildfremden Stadt anvertrauen? Das Geld am Jojmkipper in der Tasche zu haben – schickt sich nicht. Also kam er auf den Einfall, sagt er, das Geld unbemerkt in das Betpult hineinzulegen – was ein Litwak nicht alles kann! Jetzt versteht ihr schon, warum er für keinen Augenblick vom Betpult wegging? ... Aber bei der Schmojneessre oder beim Niederknien hat wohl jemand das Geld herausgenommen.

Kurz und gut, er schreit und jammert und ist ganz außer sich: Was soll er jetzt anfangen? Es ist, sagt er, fremdes Geld, es ist nicht sein Geld, er ist nur Bevollmächtigter von einem Kontor, er selbst ist ein Bettler, sagt er, mit Kindern gesegnet! Es bleibt ihm, sagt er, nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen oder sich aufzuhängen, sagt er, und zwar hier gleich in der Schul, vor aller Augen!!...

Als die Leute diese Worte hörten, erstarrten sie zu Stein. Man vergaß sogar, daß man den ganzen Tag gefastet hatte und nach Hause eilen mußte, um sich zu stärken. Wir schämten uns vor dem Fremden und vor uns selbst. So ein Diebstahl – ganze achtzehnhundert Rubel! Und wo? Im Bejßmedresch, im alten Kasrilewker Bejßmedresch! Und wann? Am Jojmkipper! So etwas hat man doch noch nicht gehört, seit die Welt steht!

›Schammes, schließ die Tür!‹ ertönt plötzlich die Stimme von unserm Row. Unser Row, er heißt Reb Jusifl, ist ein ordentlicher, frommer Mann, eine reine Seele; vielleicht nicht übermäßig klug, aber ein guter Charakter, ein Mensch ohne Galle. Manchmal hat er Einfälle, auf die kein Mensch kommen kann, und wenn er auch achtzehn Köpfe hat! Sobald man die Tür vom Bejßmedresch geschlossen hat, wendet sich Reb Jusifl zur ganzen Gemeinde. Er ist blaß wie die Wand, und die Hände zittern ihm und die Augen brennen:

›Rabojssai, hört mich an. Es ist eine häßliche Geschichte. So was hat man noch nicht gehört, seit die Welt steht. Daß bei uns in Kasrilewka sich ein Sünder finden soll, ein Verbrecher in Israel, der einem wildfremden Menschen, einem Familienvater so eine Summe stiehlt! Und wann? An einem so heiligen Tag wie Jojmkipper, vielleicht sogar während der Nile. So was hat man noch nicht gehört, seit die Welt steht! Ich kann mir es gar nicht denken, es ist einfach unmöglich! Wenn sich vielleicht doch jemand gefunden hat, den es nach Geld gelüstete, und dazu nach einer solchen Summe wie achtzehnhundert Rubel – der böse Trieb ist ja, Gott sei es geklagt, mächtig genug –, wenn jemand von uns gestrauchelt ist, wenn jemand, nebbich, das Unglück beschert war, an einem solchen Tag so eine Sünde zu begehen, so müssen wir uns Mühe geben, die Sache zu untersuchen und zu ergründen. Himmel und Erde haben geschworen, daß die Wahrheit wie Baumöl auf dem Wasser an die Oberfläche kommen muß. Darum‹, sagt er, ›müssen wir einander durchsuchen, betasten, uns die Taschen heraus wenden, vom reichsten Bürger‹, sagt er, ›bis zum Schammes, ohne jemand auszunehmen. Kommt, Juden, durchsucht mich!‹

So sprach unser Row, Reb Jusifl, und mit diesen Worten löste er sich den Gürtel und wendete alle Taschen heraus. Seinem Beispiel folgend, nahmen sich alle Bürger die Gürtel ab, knöpften sich die Kaftans auf und wendeten die Taschen heraus. Und man durchsuchte, betastete und durchschüttelte einander, bis die Reihe an Lejser-Jossel kam. Und als die Reihe an Lejser-Jossel kam, fing er an, lange Geschichten zu machen und erklärte vor allen Dingen, daß der Fremde ein Schwindler ist: der Litwak hat die Geschichte glatt erfunden, niemand hat bei ihm das Geld gesehen, alles ist Lug und Trug! ›Seht Ihr denn nicht selbst, daß es ein Schwindel ist?‹

Machten die Leute großen Lärm: ›Was soll das heißen? Die vornehmsten Bürger ließen sich durchsuchen, warum soll man plötzlich bei Lejser-Jossel eine Ausnahme machen? Hier gibt es keine Aristokraten! Durchsuchen! Durchsuchen!‹

Wie Lejser-Jossel merkt, daß die Sache schlimm für ihn steht, beginnt er mit Tränen in den Augen zu flehen, daß man ihn doch nicht durchsuchen möchte. Er beteuert mit allen Eiden, daß er ebenso rein von allem Übel sein möchte, wie rein er von dieser Sünde ist. Er schämt sich aber, sagt er, sich durchsuchen zu lassen. Man möchte Erbarmen mit seinen jungen Jahren haben und ihm diese Schande nicht antun. ›Tut mit mir‹, sagt er, ›was ihr wollt, durchsucht mich aber nicht.‹ Wie gefällt euch so ein Kerl? Glaubt ihr vielleicht, daß man auf ihn gehört hat? Daß man ihm diese Ehre erwies?...

Aber halt! Ich vergaß euch zu sagen, wer Lejser-Jossel ist. Dieser Lejser-Jossel ist eigentlich kein Kasrilewker, der Teufel weiß, wo er zu Hause ist, aber er hatte nach Kasrilewka geheiratet. Unser Reicher hatte diesen Edelstein irgendwo für seine Tochter aufgegabelt, nach Kasrilewka gebracht und mit ihm geprahlt: er kann tausend Blatt Talmud auswendig, kennt sich gut in der ganzen Schrift aus, kann gut Hebräisch, Rechnen und Algebra, und ist ein großer Schreibkünstler – kurz ein Edelstein mit allen siebzehn Vorzügen! Als er diese Kostbarkeit nach Kasrilewka gebracht hatte, kamen die Leute herbei, das Wunder anzustaunen. Wenn man ihn bloß von außen anschaut, kann man nichts sagen: ein ganz gewöhnlicher junger Mann, nicht häßlich, wenn auch die Nase etwas zu lang ist. Die Augen leuchten wie zwei brennende Kohlen, und das Mundwerk – Pech und Schwefel! Man fühlte ihm auf den Zahn, ließ sich von ihm ein Blatt Talmud, ein Stück aus der Schrift, eine Stelle aus dem Maimonides erklären – flammendes Feuer! Der Hund kennt sich in allen Dingen so gut aus, wie der Goj in den Psalmen. Wo man ihn nur antippt – überall ist er zu Hause! Reb Jusifl selbst sagte von ihm, daß er in jeder beliebigen jüdischen Gemeinde Row sein könnte... Und von den modernen Wissenschaften rede ich schon gar nicht. Wir haben im Städtchen einen Philosophen, einen ganz verdrehten Kerl, Sejdel Reb Schajes heißt er, und dieser ist ein Hund gegen Lejser-Jossel! Und wie er Schach spielen kann – so einen Schachspieler gibt es nicht auf der ganzen Welt. Was soll ich euch viel erzählen – ich sage euch ja, ein geratener junger Mann!

Natürlich beneiden alle Leute unsern Reichen um so einen Schatz, obwohl man munkelt, daß der Schatz doch nicht so ganz prima ist. Es gefällt nämlich den Leuten nicht, daß er zu klug ist (alles, was ›zu‹ ist, ist von Übel) und zu wenig Stolz hat: er gibt sich mit jedem ab wie mit seinesgleichen, selbst mit dem Geringsten, mit jedem Burschen, auch mit einem Mädel und sogar mit einer verheirateten Frau... Dann gefallen seine Manieren nicht: immer ist er zerstreut, kommt in die Schul später als alle, wirft sich den Talis um, nimmt irgendeinen ›Quell lebenden Wassers‹ oder ein anderes Buch vor und studiert und denkt gar nicht ans Beten! Man kann nicht sagen, daß man an ihm etwas Schlechtes gesehen hätte, aber man munkelt, daß er nicht übermäßig gottesfürchtig ist. Es gibt eben keinen Menschen, der alle Vorzüge und gar keine Fehler hätte!

Und als dieser Lejser-Jossel sich weigerte, sich durchsuchen zu lassen, war es ja allen klar, daß er das Geld hat. Sagt er, man soll ihn foltern, man soll ihn schneiden, stechen, braten, brennen, nur nicht durchsuchen. Da geriet sogar unser Reb Jusifl, obwohl er ein Mensch ohne Galle ist, außer sich und fing zu schreien an:

›Du so einer und so einer! Du verdienst, daß man dich, ich weiß nicht was! Unerhört! Du siehst, wie man den Juden das Blut abzapft, wie alle sich aus der Schande nichts machen und sich durchsuchen lassen, und du willst dich von der Gemeinschaft ausschließen?! So oder so: entweder gestehst du und gibst das Geld heraus, oder du zeigst deine Taschen her! Du willst einer ganzen Gemeinde, unberufen, trotzen? Man wird dich doch gleich, ich weiß nicht was!‹

Kurz und gut, die Leute fielen über ihn her, legten ihn gewaltsam hin und begannen ihn zu durchsuchen, zu betasten und zu schütteln, und man fand in seinen Taschen ... Nun, ratet einmal, was man gefunden hat? Abgenagte Knochen von einem Viertelhuhn und ein Dutzend ganz frische Kerne von eben erst gegessenen Pflaumen. Am Jojmkipper darf der Jude während 24 Stunden nichts genießen. Ihr versteht doch, wie schön es sich machte, als man bei unserm Edelstein diese Dinge fand? ... Ihr versteht, wie er dastand und was für Gesichter sein Schwiegervater und der Row, nebbich, machten? Unser Row Reb Jusifl wandte sich verschämt weg und konnte niemand in die Augen schauen. Und als die Leute später aus dem Bejßmedresch nach Hause gingen, um sich zu stärken, hörten sie gar nicht auf, über den Schatz zu sprechen, den man in seinen Taschen gefunden hatte. Und alle schüttelten sich vor Lachen! Reb Jusifl ging ganz allein, den Kopf auf die Brust gesenkt, seufzte und ächzte und schämte sich, als ob man alle diese Sachen in seinen Taschen gefunden hätte ...«

Der Mann war mit seiner Geschichte anscheinend fertig. Denn er fing wieder zu rauchen an.

»Nun, und das Geld?« fragten ihn alle wie aus einem Munde.

»Was für Geld?« Er stellt sich einfältig und bläst den Rauch vor sich hin.

»Was heißt, was für Geld? Die achtzehnhundert Rubel ...«

»Ach so«, sagt er gedehnt, »die achtzehnhundert Rubel?«

»Hat man sie gefunden?«

»Die waren weg.«


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