Sagen aus Griechenland
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Der trojanische Krieg

Die Belagerung Trojas

Am Anfang des unglückseligen Krieges um Troja standen Zwietracht und weibliche Eitelkeit.

Drei Göttinnen, Hera, Aphrodite und Athene, stritten sich darum, welcher von ihnen der Preis der Schönheit gebühre. Eris, die Göttin der Zwietracht, hatte diesen Streit entfacht, weil man sie zur Hochzeit des phrygischen Königs Peleus und der Meernymphe Thetis nicht eingeladen hatte. Damals warf sie einen goldenen Apfel unter die fröhlich Feiernden mit den Worten: »Für die Schönste«!

Jede der drei Göttinnen hatte den Preis für sich beansprucht, und nach Zeus' Gebot sollte Paris, ein Sohn des Trojanerkönigs Priamos, den Streit schlichten. Der Jüngling sprach ihn der Liebesgöttin Aphrodite zu; denn sie verhieß ihm die schönste Frau der Welt als Belohnung. Hera und Athene aber hatte Paris sich durch seinen Schiedsspruch zu unerbittlichen Feindinnen gemacht.

Paris setzte zu Schiff nach Griechenland über und weilte dort lange als Gastfreund des Königs Menelaos in Sparta. Aber er vergalt die freundliche Aufnahme mit schändlichem Undank; denn er verführte des Königs Gattin Helena, die als die schönste Frau weit und breit galt, und floh mit ihr in seine troische Heimat.

Dieser Frevel gegen das heilige Recht der Gastfreundschaft empörte die Fürsten Griechenlands. Willig ließen sie sich von dem schwergekränkten Menelaos bestimmen, ihn auf einem Rachefeldzug gegen Troja zu begleiten.

So versammelten sich dann der greise, vielerfahrene Nestor und der listenreiche Odysseus von Ithaka, der göttergleiche Achilleus, der starke Held Diomedes und der lanzengewaltige Ajax, der greise Seher Kalchas und viele tapfere Königssöhne, die sich nach kühnen Kriegstaten und Abenteuern sehnten. Dem mächtigen Agamemnon, König von Mykene und Bruder des Menelaos, übertrug man den Oberbefehl über das gewaltige Heer.

In Aulis, einem Hafen in der Bucht von Böotien, lagen mehr als tausend Schiffe zur Ausfahrt bereit. Doch vergeblich wartete man auf günstigen Wind. Lähmende Stille lag über dem Hafen, und das versammelte Kriegsvolk mit Schiffen, Roß und Wagen war zu untätiger Muße verurteilt.

»Göttlicher Wille hindert die Ausfahrt«, erklärte der Seher Kalchas, den sie in ihrer Ratlosigkeit befragten, »denn Agamemnon hat auf der Jagd eine heilige Hirschkuh der Artemis erlegt. Nun verlangt die Göttin Agamemnons äIteste Tochter Iphigenie als Sühneopfer!«

Nach hartem inneren Kampfe gab König Agamemnon seine Einwilligung, daß man Iphigenie nach Aulis hole. Man führte sie zum Altar, doch die Göttin zeigte sich jetzt durch Agamemnons Gehorsam versöhnt. Als der Priester zum Todesstoß gegen das unschuldige Opfer ausholte, entführte Artemis das Mädchen in einer Wolke und schob eine Hirschkuh an seine Stelle. Iphigenie wurde nach Tauris entrückt, der Göttin als Priesterin zu dienen. Klytemnaistra aber, Iphigeniens Mutter, verzieh ihrem Gatten niemals, daß er ihr Kind auf dem Altare hatte opfern wollen.

Günstiger Fahrtwind führte nun die Griechenflotte aus dem Hafen, und in wenigen Tagen landeten die Schiffe an Trojas Küste. Dort lag auf hohem Hügel die fest gebaute Stadt, die der greise König Priamos beherrschte. Mit fünfzig Söhnen hatten ihn die Götter gesegnet, von denen Hektor als der ruhmreichste Held bekannt war.

Jahr um Jahr wogte nun der erbitterte Kampf hin und her. Aber vergeblich forderten die Griechen ihre Gegner durch wilde Schmähreden zum offenen Kampfe heraus, vergeblich berannten sie die turmbewehrten Mauern der Stadt, hinter denen die Troer sich in Sicherheit wußten.

Unzufriedenheit verbreitete sich im Schiffslager, das die Griechen am Ufer des Skamandros errichtet hatten. Zehn Jahre währte schon der zermürbende Krieg, und nun schien sich das Glück endgültig von den Angreifern abzuwenden. Denn zur Not des Krieges, die in jedem die Sehnsucht nach der Heimat weckte, kam noch ein wilder Zwist zwischen den beiden mächtigsten Männern des Griechenheeres, Agamemnon und Achilleus, die sich bitter feind geworden waren.

Achilleus hatte auf einem der vielen Beutezüge, bei denen die Griechen das Land ausplünderten, ein Städtchen erobert und dabei die schöne Chryseïs gewaltsam entführt, die er Agamemnon als Sklavin überließ. Tief bekümmert erschien nun der Vater des Mädchens, Chryses, ein frommer Priester des Apollon, mit reichen Lösegeschenken im Griechenlager, um seine Tochter freizubitten.

Aber Agamemnon wollte nicht von der schönen Jungfrau lassen. Ohne Scheu vor dem heiligen Gewand des Priesters fuhr er zornig auf und verjagte den Alten. »Läßt du dich noch einmal hier vor mir sehen«, drohte er, »so werden dich nicht Stab noch Priesterbinde schützen!«

Klagend und in Verzweiflung irrte der Greis am Gestade des Meeres umher. In inbrünstigem Gebet hob er die Hände zu Apollon, dem er so lange in Treue gedient hatte, und bat ihn um Hilfe und um Rache. »Vergilt mit deinen Geschossen«, schloß er sein Gebet, »die Schmach, die Agamemnon deinem Priester angetan hat.«

Der Gott erhörte sein Gebet. Er verließ den Göttersitz OIympos, setzte sich in einiger Entfernung von den Schiffen nieder und richtete seine todbringenden Pfeile auf das Heerlager der Griechen. Wen Apollons Geschoß traf, den raffte die tödliche Pest dahin.

Neun Tage wütete schon die schreckliche Seuche, ringsum im Lager loderten die Scheiterhaufen, auf denen die Toten verbrannt wurden. Mit Entsetzen sahen die Griechen ihre Heeresmacht dahinschwinden. Sollte dies das Ende ihres ruhmvollen Kriegszuges sein?

Erregt drängte sich das Kriegsvolk auf der Lagerversammlung, die Achilleus einberufen hatte. Wen mochte die Schuld treffen an dem schrecklichen Unglück? Immer wieder klang diese Frage auf.

Kalchas, der Opferpriester, gab die Antwort: »Erst dann wird die Pest von uns weichen«, so verkündete er, »wenn Agamemnon dem Priester des Apollon die geraubte Tochter zurückgegeben hat!«

In grimmigem Zorn vernahm der Fürst der Griechen den göttlichen Willen. »Ich füge mich« erklärte er schließlich voller Unmut; »doch als Ersatz verlange ich die schöne Briseïs, die Achilleus einst als Anteil der Beute erhalten hat!«

So entbrannte der erbitterte Streit zwischen den beiden Fürsten. Heftige, schmähende Worte gingen hin und her, schon griff Achill im blinden Zorn zum Schwerte. Niemand sah, daß es die göttliche Athene war, die ihn vor unbesonnenem Tun bewahrte.

»Besänftigt euren Zorn und haltet Frieden!« mahnte der vielerfahrene Nestor. Und wirklich, Achill ließ sich bewegen, die Forderung des stolzen Agamemnon zu erfüllen. Aber in Verbitterung und Groll hielt er sich fortan vom Kampfe zurück; finster vor sich hinstarrend, saß er im Zelte. Er klagte Thetis, seiner göttlichen Mutter, das ihm angetane Unrecht. Sie versprach ihm ihre Hilfe und erwirkte bei Zeus, daß er den Griechen so lange den Sieg versage, bis sie das Unrecht, das sie ihrem Sohn zugefügt hatten, einsähen.

Alles Glück war von dem Griechenheer gewichen, seit der strahlende Achilleus sich vom Kampfe fernhielt. Das Ringen wurde erbitterter als zuvor; denn aus dem Schutze ihrer Mauern wagten sich die Troer immer häufiger und kühner zur offenen Feldschlacht hervor, und immer mehr schwand bei diesen Kämpfen das Kriegsglück der Griechen. Schon vernahm man Stimmen, die zur Abfahrt rieten. War es nicht besser, den nutzlosen Kampf aufzugeben, da ihnen die Götter offenbar die Eroberung der Stadt versagten?

Zweikämpfe

Da gedachte Agamemnon, durch einen lockenden Traum verführt, das Schicksal auf die Seite der Griechen zu zwingen. In einer Entscheidungsschlacht wollte er den unseligen Krieg mit dem Siege der Griechenheere zu einem glücklichen Ende führen.

Die beiden Heerhaufen standen sich schon mit Roß und Wagen kampfbereit gegenüber, da sprang der starke Hektor vor die Schlachtreihen der Troer und gebot dem ungestümen Eifer der Vordrängenden Einhalt. »Höret mich, ihr Griechen und ihr Troer!« rief er. Und dann machte er den Griechen ein Angebot, den langjährigen Völkerstreit zu beenden: sein Bruder Paris sei bereit, mit Menelaos die Waffen zu kreuzen und durch das Gottesurteil des Zweikampfes den Krieg zu entscheiden.

Nach Hektors Rede herrschte lange Stillschweigen. Schließlich nahm Menelaos das Wort. »Nun, hoffe ich, werdet ihr, Griechen und Trojaner, versöhnt voneinander scheiden, nachdem ihr so viel Schlimmes erduldet habt. Einer von beiden, welchen auch das Schicksal auserkoren hat, wird sterben, ihr andern aber sollt in Frieden auseinandergehen. Laßt uns opfern und schwören, dann mag der Zweikampf beginnen!«

Freudig und in neugeweckter Hoffnung stimmten alle ihm bei: nun sollte der lang währende Kampf in schneller Entscheidung sein Ende finden!

König Priamos wurde aus Troja herbeigerufen, und während die Krieger sich hüben und drüben lagerten, besiegelte man unter feierlichen Opfern den Vertrag. Priamos selber fuhr in die Stadt zurück, denn er ertrug es nicht, mit eigenen Augen zu schauen, wie sein geliebter Sohn mit dem Fürsten Menelaos auf Leben und Tod kämpfte.

Auf den Zinnen von Trojas Mauern, am Skäischen Tor, waren die Ältesten des trojanischen Volkes versammelt, um dem Entscheidungskampfe zuzusehen. Auch Helena hatte das Frauengemach verlassen. Mit wehmütigem Gefühl und ihr Handeln bitter bereuend, erblickte sie auf dem Schlachtfeld vor den Toren der Stadt die Männer aus ihrer griechischen Heimat, unter ihnen König Menelaos, der ihr in seinem prächtigen Waffenschmuck herrlicher als je zuvor erschien. Der greise Priamos sprach ihr tröstend zu, auch die Ratgeber des Königs sahen Helenas Schönheit mit Wohlgefallen und sprachen: »Nicht verwunderlich ist es, daß die tapferen Griechen und wir Troer um ein solches Weib soviel Elend ertragen!«

Von den Griechen war Odysseus, auf Seiten der Troer Hektor zu Ordnern und Hütern für den Zweikampf bestellt. Sie schritten den Kampfplatz ab, warfen die Lose und entschieden damit, wem der erste Wurf zustehe. Das Los des Paris sprang aus dem Helm.

Die beiden Streiter traten nun in die Mitte des abgemessenen Raumes und schwangen in Kampfeszorn ihre Waffen. Dann schleuderte Paris als erster seinen Speer auf den Gegner. Doch an dessen eisenbeschlagenem Schild prallte das Geschoß ab. Nun warf Menelaos seine Lanze, die den Schild des Paris durchdrang und sein Gewand zerschnitt. Menelaos ging zum Angriff über, doch zersprang sein Schwert an der undurchdringlichen Rüstung des Gegners. Auf Paris einstürmend, ergriff Menelaos den Helmbusch des Troers, und er hätte den Jüngling zu Boden geworfen, wenn die Göttin Aphrodite nicht ihrem Liebling in diesem Augenblick höchster Not zu Hilfe gekommen wäre. Sie zerschnitt den Kinnriemen des Paris, so daß Menelaos den leeren Helm in der Hand hielt. Paris aber, von der Göttin in eine Nebelwolke gehüllt, nutzte diesen Augenblick, um dem sicheren Tode zu entfliehen; er war im Gedränge seiner Landsleute verschwunden, ehe Menelaos ihm seinen Speer nachschleudern konnte.

Für die Griechen gab es keinen Zweifel, wem der Sieg zustehe. Deshalb verlangte Agamemnon von den Troern die Erfüllung des Vertrages.

»Gebt uns Helena zurück«, rief er, »samt allen geraubten Schätzen und gelobt dazu einen fortdauernden Tribut für die lange Kriegsnot, die wir ertragen haben!«

Die Griechen antworteten mit Triumphgeschrei – die Trojaner schwiegen.

Im Rate der Götter wurde indessen Trojas Untergang beschlossen. Auf Athenes Geheiß richtete Pandaros, einer der besten troischen Schützen, seinen Bogen auf Menelaos. Doch lenkte die Göttin den Pfeil so, daß der Held unverwundet blieb.

Nun schien eine Versöhnung nicht mehr möglich. Empört über den Vertragsbruch, stürzten sich die Griechen auf die Trojaner. Auf beiden Seiten wurde so erbittert gekämpft, daß die Götter selbst in den Kampf eingriffen. Ares, der Kriegsgott, nahm die Partei der Troer und führte sie gegen die Griechen, daß diese bis in ihr Schiffslager zurückweichen mußten, obwohl auf ihrer Seite die Göttin Pallas Athene mitkämpfte.

Tagelang wogte die Schlacht hin und her, nur die Nacht zwang die Kämpfenden zu kurzer Waffenruhe.

Hektor, der tapferste der Troer, sah die Entscheidung herannahen und eilte in die Stadt zurück, um seine Mutter zu einem Bittopfer zu veranlassen. Dann suchte er Paris auf, der nach dem Zweikampf in seinen Gemächern Schutz gesucht hatte und sich vom Kampf fernhielt. »Schämst du dich nicht in deiner Lässigkeit, Bruder?« schalt Hektor ihn. »Wir alle stehen um deinetwillen im Kampf auf Leben und Tod! Nur du bist saumselig und zögerst, die Stadt zu verteidigen.«

Auch Helena, die dem ungleichen Kampfe von der Mauerzinne aus zugesehen hatte, schämte sich des schimpflichen Ausgangs. Da versprach Paris, sogleich wieder auf dem Kampfplatz zu erscheinen.

»Nun gönne du dir etwas Ruhe, Schwager« bat Helena den edlen Hektor; »denn auf deinen Schultern lastet zumeist die Bürde des Kampfes.«

Hektor jedoch eilte davon, um seine Gemahlin Andromache und sein zartes Söhnchen noch einmal zu sehen. Als er seinen Palast erreichte, fand er Andromache nicht daheim. Auf dem Weg zum Kampfplatz am Skäischen Tor traf er

sie mit einer Dienerin, die den unmündigen Astyanax auf dem Arme trug. Andromache, das Herz voll schwerer Sorgen, weinte vor Traurigkeit beim Anblick ihres Gemahls. Sanft nahm sie ihn bei der Hand. »Entsetzlicher Mann«, sagte sie mit leise mahnendem Vorwurf, »dich rafft sicherlich noch dein Mut dahin. Kennst du denn gar kein Erbarmen mit deinem zarten Sohne und deinem unglücklichen Weibe? Bleib doch hier auf dem Turm und leite von hier aus die Schlacht.«

Mit behutsamen Worten suchte Hektor ihre Sorgen und Vorwürfe zu zerstreuen. Er hatte längst erkannt, daß alles tapfere Mühen vergeblich war. »Einst wird der Tag kommen, da das heilige Ilion in den Staub sinkt«, sagte er mit tiefbetrübtem Herzen. »Mit Grauen denke ich an den Tag, da einer der Griechen dich als Sklavin hinwegführt. Möge mich der Grabhügel decken, ehe ich diesen Jammer erleben muß!«,

Bekümmert blickte Hektor auf den kleinen Astyanax. Als er die Arme nach dem Kinde ausstreckte, schrak es vor dem flatternden Helmbusch zurück und schrie furchtsam. Erst als der Vater den Helm vom Haupte nahm und dem Knaben freundlich zusprach, ließ er sich willig in die Arme nehmen. Zärtlich hielt Hektor seinen Astyanax umfangen und flehte den Segen der Götter auf ihn herab.

Dann nahm er Abschied von Frau und Kind und eilte davon. Auch Andromache schritt dem Hause zu, oft hielt sie noch inne, wandte sich um und blickte mit Tränen in den Augen dem herrlichen Helden nach.

Vergeblich hatten die Griechen den göttlichen Achill gebeten, seinen Groll zu verwinden und wieder am Kampfe teilzunehmen. In seinem starren Trotz verweigerte der Held jede Waffenhilfe. Auf der Gegenseite waren inzwischen Hektor und Paris auf dem Schlachtfelde erschienen und gaben den verzweifelten Trojanern neuen Mut. Auf Geheiß des troischen Sehers Helenos forderte Hektor den tapfersten der Griechen zum Zweikampfe heraus.

Da wurde es still in der Schlachtreihe der Griechen. Wer sollte es wagen, sich mit dem stärksten der Troer zu messen? Auf Nestors Rat ließen sie das Los entscheiden. Es fiel auf Ajax, den König von Salamis. Während er sich zum Kampfe rüstete, beteten die Griechen in der Stille zu den Göttern.

Dann begann der Kampf. Mit der Lanze, mit dem Schwert und mit den Kräften ihres Armes maßen sich die beiden tapferen Krieger. Erst als die Dämmerung hereinbrach, trennten sie sich, einander ebenbürtig an Mut und Waffengewandtheit.

Als am Morgen die Schlacht von neuem entbrannte, saß Achill, unbekümmert um das verzweifelte Ringen, noch immer in seinem Zelte. Die Schlachtreihen der Griechen wurden erschüttert, immer kühner drangen die Troer vor; schon hatten sie das Tor des Schiffslagers erreicht, schon begann Hektor, Brände in die Schiffe zu schleudern! Da wandte sich der alte Nestor, dessen weiser Rat zu allen Zeiten den Griechen nützlich gewesen war, an Patroklos, den Freund des Achilleus. »Bitter unrecht tut Achilleus, daß er über der Not der Griechen seine persönliche Kränkung nicht zu vergessen vermag!«

Patroklos bemühte sich, den Freund umzustimmen: »Wenn wir jetzt nicht helfend eingreifen, ist alles verloren. Ich kann nicht länger untätig zusehen, wie die Griechen verderben. Wenn du immer noch unbeugsam auf deinem Groll beharren willst, so laß wenigstens deine Krieger, die Myrmidonen, in den Kampf ziehen, das Ärgste abzuwehren. Und noch um eins bitte ich dich: Gib mir deine Rüstung! Vielleicht werden die Trojaner erschrecken, wenn sie glauben, daß du selber wieder am Kampf teilnimmst!«

Achilleus gewährte dem Jugendfreunde und Waffenbruder die Bitte und gab ihm die Rüstung. Die Krieger des Achilleus kämpften die schwer bedrängten Schiffe wieder frei. Allen voran verfolgte Patroklos auf Achills Streitwagen die Fliehenden. Furcht und Schrecken hatte die Troer ergriffen, weil sie glaubten, den tapferen Achilleus vor sich zu sehen.

Bis vor Trojas Stadttore drang Patroklos mit unwiderstehlicher Gewalt vor. Da trat Apollon ihm in den Weg. Er wehrte dem Vordringen des Helden und mahnte zugleich Hektor, der bis zum Skäischen Tor gewichen war, in den Kampf zurückzukehren und Patroklos zu bestehen. »Ich selber werde dir den Sieg verleihen«, versprach der Gott. Er lähmte dem Waffenfreund Achills mit einem kräftigen Schlage die Rechte und machte es dadurch dem Troer leicht, den tödlichen Stoß zu führen. Von Hektors wuchtiger Lanze durchbohrt, sank Patroklos entseelt zu Boden.

Selbst die mutigsten der Griechen erbebten vor Furcht, als sie den Helden in den Staub sinken sahen.

In wildem Triumph zog Hektor dem Gefallenen die Rüstung aus, legte sie selber an und führte dann einen erbitterten Kampf mit Menelaos und Ajax, die heranstürmten, um den toten Patroklos zu bergen. Nur mühsam brachten sie den Leichnam an sich und trugen ihn ins Schiffslager.

In namenlosem Schmerz vernahm Achill die Botschaft vom Tode des geliebten Freundes. Er warf sich in den Staub, er raufte sich das Haar. Vergebens rief er zu den Göttern; nur Thetis, seine göttliche Mutter, hörte auf dem Meeresgrund seine Klage. In sorgender Teilnahme entstieg sie den Wellen und suchte ihn zu trösten. Achilleus aber kannte nur einen Trost: Rache an Hektor, der ihm den Freund geraubt hatte!

»Gedulde dich bis morgen, mein Sohn«, sagte Thetis, »ich will zum Götterschmied Hephaistos gehen und ihn bitten, dir eine neue Rüstung zu schaffen. Bei Sonnenaufgang werde ich zurück sein!«

Achilleus vernahm unterdessen den Kampflärm der Männer, die dicht vor dem Lager noch einmal um die Leiche des Patroklos streiten mußten. Da sprang er waffenlos, wie er war, auf den Lagerwall, und mit lauter Stimme schleuderte er Drohworte hinüber, daß die Trojaner, als sie ihn nun sahen und sein Geschrei hörten, von Furcht ergriffen wurden. Selbst Hektor ließ den Leichnam fahren, und er kehrte mit den Seinen zur Stadt zurück.

Mit gesenktem Haupte stand Achilleus vor der Leiche des erschlagenen Freundes. Wie reute ihn beim Anblick des gräßlich Entstellten, daß er ihn hatte hinausziehen lassen, während er selbst tatenlos im Zelte geblieben war!

Hektors Tod

Die Morgenröte stieg golden herauf, als Thetis mit den Waffen, die Hephaistos geschmiedet hatte, zurückkehrte. Voll Staunen und grimmiger Freude stand Achill vor dem Wunderwerk aus der Hand des Gottes. Es war die herrlichste Rüstung, die jemals ein Held getragen hatte.

Achilleus schritt durch das Schiffslager und scheuchte die Griechen mit lautem Weckruf vom Lager auf. Wie freuten sich die Helden, die so lange vermißte Stimme zu hören! In aller Eile erschienen sie auf dem Versammlungsplatz. Aufgeregt scharten sie sich um ihre Anführer.

Als endlich Ruhe eingetreten war, wandte sich Achilleus an Agamemnon: »Sohn des Atreus,«, sprach er, »laß uns den Streit beenden. Das Vergangene mag vergessen sein!«

»Auch ich bin bereit zu büßen, was ich gefehlt«, erwiderte Agamemnon, »ich biete dir Sühne, Achilleus, soviel du begehrst!«

Glücklich waren die Krieger zu hören, daß Achill sich nicht mehr fernhielt und daß er nun zum Kampfe drängte. Willig reichte Agamemnon ihm die Hand zur Versöhnung und ließ alle Beutestücke, die man Achill einst vorenthalten hatte, in dessen Zelt zurücktragen.

Dann rüstete sich Achilleus mit den göttlichen Geschenken des Hephaistos und bestieg seinen Streitwagen.

Damit Achilleus nun nicht gegen das von den Göttern verhängte Schicksal Troja auf der Stelle eroberte, erlaubte Zeus jetzt den olympischen Göttern, sich am Kampfe zu beteiligen und, nach eines jeden Gesinnung, den Griechen oder den Trojanern zu helfen.

Im Getümmel des heranziehenden Trojanerheeres versuchte Achilleus, Hektor zu erspähen und ihn zum Zweikampf zu stellen. Als er ihn nirgends entdecken konnte, stieß er mitten in die Reihen der Troer hinein und trieb sie in Scharen vor sich her in die Fluten des Skamandros. Bald war der Fluß angefüllt mit den Leichen der Erschlagenen, bis der Flußgott Skamander ingrimmig dem Wüten des Helden Einhalt gebot.

Von der Höhe der Stadtmauer beobachtete Priamos die Flucht der Seinen und ließ denen, die zur Stadt zurückflohen, die schützenden Tore öffnen. Hektor aber blieb auf dem Kampfplatze, ob Mutter und Vater ihn auch unter Tränen baten, sich zu schonen. Scham um die Flucht seiner Landsleute und wilde Streitlust trieben ihn, sich mit dem besten der Griechen im Kampfe zu messen.

Schon stürmte Achill heran, dem Kriegsgott gleich. Als Hektor seinem schrecklichen Blick begegnete und das Hohngeschrei vernahm, verlor er pIötzlich allen Mut, und er wandte sich zur Flucht. Wütend verfolgte Achill den Fliehenden und jagte ihn um die Stadt. Dreimal umkreisten sie die Mauer, und wenn Hektor im Tore Schutz zu finden hoffte, so schnitt der schnelle Achill ihm in diesem Rennen auf Leben und Tod den Fluchtweg ab.

Auf beiden Seiten ließen die Kämpfenden die Waffen sinken und starrten auf das erregende Schauspiel. Auch die Götter im Olymp verfolgten mit Anteilnahme den Kampf. Keiner von ihnen durfte helfend eingreifen, denn Hektors Stunde war gekommen. Zeus selber nahm die goldene Schicksalswaage zur Hand und legte zwei Todeslose hinein. Da sank die Waagschale des troischen Helden tief zum Schattenreich hinab.

Endlich stellte sich Hektor zum Streite. Er wollte mit seinem Gegner einen ehrenvollen Entscheidungskampf ausmachen. Doch Achill fuhr ihn heftig an. »Nichts von Verträgen!« schrie er. »Beschwört etwa der Wolf mit dem Lamm einen Vertrag, ehe er es zerreißt?«

Da griff Hektor zur Lanze. Er zeigte sich des Rufes würdig, der ihn seit je den tapfersten der Troer nannte.

Der göttlichen Kraft des Griechen aber mußte Hektor erliegen. Als er, von Achills Lanze zu Tode getroffen, in den Staub sank, umfingen ihn das Jubelgeschrei der Griechen und die haßerfüllten Triumphworte des unversöhnlichen Feindes. Sterbend bat er den Sieger: »Laß mich nicht den Hunden zum Fraße liegen, edler Achilleus, sondern gib mich meinen Eltern zurück, daß sie mich ehrenvoll bestatten!«,

»Schweig und stirb!« herrschte Achill ihn an. »Kein Lösegeld wird hoch genug sein, dich freizukaufen!« Er kannte kein Erbarmen mit dem gefallenen Gegner, in dem er den Mörder seines Freundes sah.

In unmenschlichem Rachedurst band der grausame Sieger Hektors Leichnam an seinen Streitwagen und schleifte ihn in wildem Jagen durch den Sand und Staub, rings um Trojas Mauern!

Welch ein Anblick war das für die greisen Eltern! Hekuba riß sich, wie von Sinnen in ihrem Mutterschmerz, den Schleier vom Haupte; Priamos ließ sich nur mit Mühe von seinen Getreuen zurückhalten, zum Tor hinauszustürzen, um der schimpflichen Behandlung des Gefallenen Einhalt zu gebieten.

Als letzte erfuhr Andromache das grausige Geschehen. Sie eilte auf die Mauer – und ein Blick offenbarte ihr das Entsetzliche: vor ihren Augen wurde der geliebte Gatte von Achills Rossen durch den Sand geschleift. Dunkel umhüllte ihre Sinne, in tiefer Ohnmacht sank sie zu Boden.

Das Antlitz zur Erde gekehrt, lag Hektors Leiche unbestattet im Griechenlager, während Achilleus seinem toten Freund Patroklos eine prunkvolle Totenfeier rüsten ließ. Das ganze Heer gab dem Toten in feierlichem Zuge das Geleit bis zu dem gewaltigen Scheiterhaufen, der am Meeresstrand errichtet war. In goldener Urne setzte Achill die Asche des Freundes bei.

Auf die Bestattung folgten Leichenspiele zu Patroklos, Ehren, und in wildem, ingrimmigem Haß bestieg Achill sodann seinen Streitwagen und schleifte den toten Hektor dreimal um das frische Grab des Freundes.

In der Nacht erschien, mit reichen Lösegeschenken versehen, der greise Priamos im Zelte des Achilleus. Apollon hatte ihn durch ein Traumbild zu solchem Tun ermutigt, und der Götterbote Hermes hatte ihn sicher ins feindliche Lager geleitet. Von Gram gebeugt, warf sich der greise König vor dem Griechen auf die Knie.

»Edler Achilleus«, bat Priamos, »gedenke deines Vaters, der gealtert ist wie ich, vielleicht auch in Not und Bedrängnis wie ich. Doch immer noch bleibt ihm die Hoffnung, seinen geliebten Sohn wiederzusehen. Ich aber habe durch deine Hand den Sohn verloren, der mir nicht wiederkehrt!«

Achilleus wurde von dem Flehen des gebrochenen Greises so bewegt, daß er mit ihm Hektors Tod beweinte und Priamos, Bitte erfüllte. Während er den König gastfrei bewirtete, ließ er Hektors entstellte Leiche waschen, salben und in saubere Tücher betten.

»Zürne mir nicht, Patroklos«, bat er den gefallenen Freund, bevor er dem Priamos die Leiche zurückgab. Den Troern gewährte er Waffenruhe, damit sie ihren Helden ungestört bestatten könnten.

Unter dem Schutze des Hermes verließ König Priamos, unbemerkt von den Wachen, mit seiner kostbaren Last das griechische Lager. Neun Tage währte die Totenfeier für Hektor, den tapfersten Helden der Trojaner.

Nach dem Beschluß der Götter war es Achilleus bestimmt, bald nach Hektors Tode im Kampfe zu fallen. Nun sollte sich das Schicksal an ihm erfüllen. Denn obwohl Sohn einer Göttin, war Achilleus nicht unsterblich. Als Thetis ihn nach seiner Geburt ins Feuer des Hephaistos und ins Wasser des Styx eingetaucht hatte, um ihn unverwundbar zu machen, blieb die Ferse, an der die Göttin den Knaben gehalten hatte, von Feuer und Wasser unberührt. Daß Achilleus an dieser Stelle verwundbar war, blieb aber ein Geheimnis der Götter.

Immer erbitterter tobte der Kampf um Troja. Bis an die Stadttore trieb Achilleus die Feinde zurück, und schon schickte er sich an, die Doppelflügel des Skäischen Tores aus den Angeln zu heben, um seinen Kampfgenossen Eingang in die bewehrte Stadt zu erzwingen.

Nun konnte Phoibos Apollon nicht mehr müßig bleiben, da es um das Schicksal der von ihm beschützten Stadt ging.

Den Köcher auf dem Rücken, stieg er vom OIympos herab, und unverhüllt trat er dem Rasenden entgegen: ,»Laß ab von den Troern! Und hüte dich, daß dich nicht einer der Unsterblichen vernichte!«

Achilleus jedoch ließ sich in seiner Kampfeswut nicht mehr zurückhalten. Er scheute sich nicht, den Gott zu schmähen, und bedrohte ihn gar mit dem Speer. Da wandte Phoibos Apollon sich zornig ab, und, in schützendem Gewölk verborgen, schoß er seinen unfehlbaren Pfeil auf Achills verwundbare Ferse. Bis ans Herz hinan durchfuhr den Helden ein stechender Schmerz. Er stöhnte auf und fiel zu Boden.

Dann aber zog Achilleus den Pfeil des unsichtbaren Schützen aus der tödlichen Wunde, noch einmal stürzte er sich ins Kampfgewühl und erschlug viele Feinde – doch dann verließ ihn die Kraft.

So sank der göttergleiche Achilleus, den kein Sterblicher hatte besiegen können, in den Staub. Nur mit Mühe bargen seine treuen Kampfgenossen, Ajax und Odysseus, die Leiche des toten Helden.

Tiefe Trauer herrschte im Griechenlager, unaufhörlich stieg das Klagegeschrei zum Himmel empor. Dann errichtete man einen Scheiterhaufen, wie er noch keinem Helden zuteil geworden war, schichtete um ihn die Beuterüstungen der Erschlagenen auf und tat unzählige Geschenke hinzu. Die Helden schnitten ihr Haar ab, auch die schöne Briseïs brachte ihrem Gebieter Locken von ihrem Haupthaar als letztes Geschenk und als Totenopfer.

Unter dem Wehklagen der Krieger schlug die verzehrende Flamme empor. Der Windgott fuhr in die aufgeschichteten Bäume und entzündete sie zu heller Glut.

Die Gebeine des Helden bargen die Waffenfreunde und senkten sie in ein Grab zur Seite seines Freundes Patroklos.

Das hölzerne Pferd

Seit Achilleus gefallen war, schwand den Griechen fast alle Hoffnung, die feindliche Stadt jemals zu bezwingen. Auch den lanzengewaltigen Ajax mußten sie betrauern, der sich, von Pallas Athene mit Wahnsinn geschlagen, selber das Leben nahm.

In den Reihen der Troer hatte Paris im Kampfe den Tod gefunden, doch neue Kämpfer erstanden: An Achilleus' Stelle trat sein junger Sohn Neoptolemos, und auf Seiten der Verteidiger tat sich der göttliche Äneas immer strahlender durch seine Heldentaten hervor.

Noch war kein Ende des Krieges abzusehen. Tapfer schlugen die Troer von ihren hohen Mauern aus jeden Angriff zurück.

Da gab Kalchas, der Seher, den Griechen den Rat, klug zu sein wie der Sperber, der die Taube fängt, und so folgten sie dem Plane, den Odysseus, der listenreiche Sohn des Laërtes, ersonnen hatte: sie erbauten ein kunstvolles, riesiges Pferd aus Fichtenholz und ließen die tapfersten Helden sich darin verbergen.

Die anderen Krieger brachen die Zelte ab, als ob sie zur Heimfahrt rüsteten, und segelten davon. Zurück blieb nur das hölzerne Pferd, das groß und einsam vor der Mauer Trojas stand.

Doch als die Flotte außer Sicht der Trojaner war, wandten die Griechen den Bug nach Süden und gingen im Schutze der kleinen Insel Tenedos vor Anker.

Von der Höhe ihrer Zinnen waren die Troer mit ungläubigem Staunen dem Aufbruch der Feinde gefolgt. Bedeutete er wirklich das Ende des unseligen Krieges?

Voll Freuden strömten sie zur Stadt hinaus. Kein Grieche zeigte sich mehr ringsum. Sie schritten über den Platz, wo das Schiffslager der Feinde gestanden hatte, das zu erobern ihnen nie vergönnt gewesen war.

Doch was bedeutete das riesige Pferd, das sich schreckenerregend auf dem Platze erhob?

»Schafft es in die Stadt und stellt es als Siegesdenkmal auf der Burg auf!« riefen die einen. »Wagt euch nicht an das unheimliche Geschenk der Achaier!« warnten die andern. Sie hielten es für das beste, das hölzerne Pferd zu verbrennen oder ins Meer zu werfen.

Während man unschlüssig hin und her stritt, trat Laokoon, der Priester Apollons, mitten unter das gaffende Volk. »Welcher Wahnsinn treibt euch, Mitbürger?« rief er laut. »Glaubt ihr denn wirklich, die Griechen seien auf und davon und ihre Gabe sei ehrlich gemeint? Kennt ihr den listenreichen Odysseus nicht besser? Was es auch sein mag, traut den Griechen nicht und nicht dem trügerischen Geschenk!«

Damit entriß er einem Krieger die Lanze und schleuderte sie wuchtig gegen den Bauch des Tieres. Zitternd blieb der Speer im Holze haften, und aus der Tiefe ertönte ein Widerhall – wie von Waffengeklirr!

Aber die Trojaner beachteten die deutliche Warnung nicht!

In diesem Augenblick brachten Hirten einen Griechen herbei, den sie im Schilf des Skamandros aufgestöbert hatten, und schleppten ihn vor König Priamos. Flehend und unter Schluchzen streckte der Jüngling, der sich Sinon nannte, die Hände zum Himmel: »Weh mir, wohin soll ich Unglücklicher mich wenden? Die Griechen haben mich ausgestoßen, und die Trojaner werden mich erschlagen!«

Teilnehmend fragte man ihn nach seinem Schicksal und hörte aus seinem Munde, daß die Griechen beschlossen hätten, ihn zu opfern, um sich eine glückliche Heimkehr zu sichern; doch es sei ihm gelungen, sich aus den Fesseln zu lösen und zu entfliehen. »In mein Vaterland und zu meinen Landsleuten kann ich nicht zurück«, schloß Sinon, »und von eurer Großmut hängt es ab, ob ich mein Leben verwirkt habe!«

Priamos sprach dem Griechen Trost zu. »Wir werden dir Gastfreundschaft und Asyl gewähren« sagte er milde, »wenn du uns das Geheimnis des hölzernen Pferdes offenbarst.«

Niemand ahnte, daß Sinons Erzählungen und Beteuerungen ein feingesponnenes Lügengewebe waren, mit dem er die Troer zu ihrem Verderben zu umstricken gedachte. Er scheute sich nicht, die Götter zu Zeugen anzurufen, daß es sich um ein Weihgeschenk für die Göttin Athene handele, mit dem die Griechen den Zorn ihrer Schutzgöttin versöhnen wollten.

»Seht die gewaltige Höhe des Tieres«, sagte Sinon, »sie soll euch Troer hindern, es durch die Tore in die Stadt zu schaffen, weil euch die Göttin alsdann ihren Schutz zuteil werden ließe. Doch wenn ihr dem Pferde Gewalt antut, so wird die Rache der Göttin eurer Stadt schreckliches Verderben bringen!«

So glaubhaft wußte der schlaue Grieche seine Worte zu setzen, daß niemand zögerte, ihm Vertrauen zu schenken. Am Ende nahmen die Götter, die Trojas Untergang beschlossen hatten, auch dem Ungläubigen den letzten Zweifel: von der Insel Tenedos her kamen pIötzlich in gewaltigen Windungen zwei Schlangen, die pfeilschnell dem Ufer zustrebten. Ihr Ziel war der Uferaltar des Poseidon, wo Laokoon mit seinen beiden Söhnen beim Opfer beschäftigt war. Sie schossen auf die Knaben zu, wanden sich um ihre Glieder und schlugen die Giftzähne in ihr Fleisch. Als nun der Vater, das Schwert in der Hand, den Söhnen zu Hilfe eilte, ergriffen die Schlangen auch ihn und ringelten sich um seinen Leib, daß er wehrlos ersticken mußte.

Schreckensbleich sahen die Trojaner die Schlangen in Pallas Athenes Tempel verschwinden. Jetzt bestand für sie kein Zweifel mehr, wie sie mit dem Pferde zu verfahren hätten. Sie rissen die Stadtmauern ein, setzten das mächtige Tier auf Rollen und zogen es im Triumph in die Stadt. Es gab ein Freudenfest, wie noch niemand es erlebt hatte. Überall gaben sich die Einwohner bei Schmaus und Gelage dem Jubel hin, überall erklangen Gesang und Saitenspiel, und als es auf Mitternacht ging, waren die Trojaner, von der unendlichen Freude und vom Weine berauscht, in tiefen Schlaf gesunken.

Nur die Seherin Kassandra, des Priamos Tochter, hatte an dem Jubel nicht Anteil. Ruhelos irrte sie durch die Gassen und verkündete drohendes Verderben. Vergeblich, niemand hörte und achtete in dem Freudentaumel auf ihre warnende Stimme!

Trojas Untergang

Sinon, der schlaue Späher, der mit den Troern geschmaust und getrunken hatte, bemerkte mit Genugtuung, daß niemand ringsum mehr bei wachen Sinnen war. Da erhob er sich vom Lager, auf dem er sich, Schlaf vortäuschend, ausgestreckt hatte, schlich vor das Tor und schwenkte weithin sichtbar eine Fackel durch die Nacht. So gab er den Schiffen hinter der Insel Tenedos das verabredete Zeichen. Dann löschte er das Feuer, schlich sich zum hölzernen Pferde hin und pochte, wie ihn Odysseus geheißen hatte, leise an die Flanke. Lautlos entstieg ein Held nach dem andern dem geräumigen Bauche. Behutsam nahmen sie ihre Lanzen auf, zogen ihre Schwerter und eilten in die unbewachte, schlafende Stadt. Überall in den Straßen entstand unter den wehrlosen Trojanern ein ganz gräßliches Gemetzel. In ihrem Rachedurst schonten die Griechen weder Mann noch Greis, weder Frau noch Kind. Feuerbrände fielen auf die Dächer, und bald loderte ringsum das Flammenmeer. Nun war auch die Griechenflotte wieder am Strande eingetroffen; ein unaufhaltsamer Strom des Verderbens wälzte sich durch die breite Mauerlücke, die die verblendeten Troer für das hölzerne Pferd gebrochen hatten, in die Stadt.

Jetzt wurde die Vernichtung vollendet. Leichen und Trümmer, Brandschutt und Sterbende füllten die Straßen, und wen von den Troern das schreckliche Morden am Leben ließ, dessen Klagen und Entsetzensschreie drangen schauerlich zum brandgeröteten Himmel empor.

Unter den erbarmungslosen Streichen des Neoptolemos fiel der greise Priamos, der vor Zeus, Altar auf den Knien lag. Hektors zarten Sohn Astyanax rissen rohe Krieger aus den Armen der Mutter, und in wildem Haß gegen Hektor und sein Geschlecht schleuderten sie ihn von der Höhe der Burg hinab. Die verzweifelte Andromache wurde gefesselt hinweggeführt.

Nur wenige entrannen dem schrecklichen Morden, und fast alle, die das Leben retteten, traf das harte Los der Sklaverei.

Unter den Flüchtlingen befand sich auch Äneas, der nach Hektor ruhmreichste trojanische Held. Ihm gelang es, eine Anzahl von Schiffen zu bemannen und dem Untergang zu entkommen. Nach langer Irrfahrt erreichte er Karthago in Nordafrika, wo ihn die Königin Dido festzuhalten suchte, und von dort gelangte er schließlich nach Italien. Sein Sohn Askanius wurde der Stammvater des nachmals berühmten römischen Geschlechts der Julier.

König Menelaos hatte das Ziel seiner Wünsche erreicht: Endlich war der Raub Helenas, der der Anlaß zum Trojanischen Kriege gewesen war, gerächt. Glücklich kehrte er mit seiner Gattin, der er Verzeihung gewährte, in das heimatliche Sparta zurück.

Hoch erhob sich die Flammensäule über dem Trümmerhaufen, wo einst die herrliche Stadt Troja mit festen Mauern und Tempeln, mit prächtigen Palästen und Häusern gestanden hatte. Troja hatte aufgehört zu bestehen.

 


 


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