Kurt Aram
An den Ufern des Araxes
Kurt Aram

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V.

Mühsam genug kam man vorwärts, denn immer tiefer ging es ins Gebirge hinein. Selbst die beiden Maulesel, von denen der eine vorne, der andere hinten an die Tragbahre geschirrt war, in der Manja lag, stolperten zuweilen, und es gehört viel dazu, um ein Maultier in seinem Gang unsicher zu machen. Zuweilen mußte Manja sogar aussteigen und einige Minuten gehen. Der Pfad wurde so schmal, daß man die Tragbahre nur vorwärts brachte, indem man sie über die Felsstücke hinweghob. Langsam kam man weiter, nur sehr langsam. Aber immer wieder trieb Hoijer alle an, heiterte sie durch Scherze auf, sprach ihnen zu und verhieß gutes Nachtquartier.

»Das kennen wir nun schon«, meinte Viktor, Hoijer mit der Hand drohend. »Damit bringen Sie uns nun nicht mehr schneller vorwärts, da müssen Sie sich schon etwas Neues ausdenken.« Alle lachten, Hoijer selbst am meisten.

»Ich versichere Euch, diesmal, nächste Nacht ist es besser. Nur müssen wir uns zuhalten, daß wir es auch erreichen, denn sonst müssen wir im Freien nächtigen, und das ist kein Vergnügen, wenn die Furage so mangelhaft ist wie die unsere und so knapp.«

»Was wird es sein? Eine Lehmhütte voll Ungeziefer und sonst nichts«, rief man.

»Wahr und wahrhaftig nicht. Ich will meinen geheiligten roten Bart auf der Stelle schwarz färben, wenn ich euch diesmal etwas Falsches verheiße. Wir werden diese Nacht, wenn wir tüchtig ausgreifen, in einer wirklichen Karawanserei nächtigen. Da wird es frische, kühle Milch, Eier, Fleisch und so weiter geben. Und eine Quelle ist da, eine Quelle, sage ich Euch. Das beste Wasser in ganz Nordpersien.«

»Wie kommt denn eine Karawanserei in diese Wüstenei?« fragte Viktor ungläubig.

Alle hörten gierig zu, denn die Sonne brannte und dörrte den Gaumen aus. Eine gute Quelle, das war das höchste hierzulande, was es gab.

»Das kommt so, und zwar sehr einfach«, entgegnete Hoijer ruhig. »Dort, wohin wir wollen, führt nämlich in der Nähe die große Karawanenstraße vorbei, die von Trapezunt nach Persien führt. Daher die Karawanserei.«

»Fast sollte man glauben, es sei wahr«, meinte Djanian lächelnd.

»Es ist wahr, ich versichere Euch. Nur zuhalten müssen wir uns, nicht lange Ruhepausen machen. Und dann will ich Euch noch eins verraten. Erreichen wir die Karawanserei heute noch, so können wir morgen im Kloster des Heiligen Thomas nächtigen und übermorgen in Maku. Von dort aber sind es nur noch zwei Tage bis an den Araxes.«

Keiner sprach mehr ein Wort, alle schritten rüstiger aus, wie sehr auch die Sonne brannte, wie auch die Zunge lechzte. Und wirklich spät am Abend, als es schon dunkel geworden, erreichte man die Karawanserei.

»Schäbig genug sieht es aus«, brummte Viktor, als man sich dem Lehmgemäuer näherte.

»Ja, erwartet Ihr denn hier einen Palast? Da müßt Ihr Euch schon gedulden, bis Ihr nach Maku kommt. Da werdet Ihr einen finden«, sagte Hoijer.

Die Armenier stießen sich an. Nun macht er uns schon Appetit für morgen und übermorgen, dachten sie. Aber sie sagten nichts. Sie waren zu müde, zu zerschlagen. Jeder ließ sich im Hofe der Karawanserei niederfallen, wo er gerade stand, ohne für eine Weile ein Glied zu rühren. Bald aber trieb der Durst den einen oder andern wieder auf, und da sich hier wirklich eine gute Quelle fand, versammelten sich bald alle um sie und schlürften und schlürften, als gälte es, glühende, tiefe, ausgebrannte Krater in wenigen Minuten wieder zu füllen. Dann brachte der Wirt, ein alter Kurde, Milch und Eier und Brot herbei.

»Wahrhaftig, Ihr habt nicht gelogen!« sagte Djanian ganz erstaunt zu Hoijer.

»Wenn es nicht unbedingt nötig ist, tue ich es grundsätzlich nicht«, erwiderte der Schwede unter großer Heiterkeit.

Manja, Viktor und Hoijer erhielten sogar ein recht geräumiges Zimmer für die Nacht. Hoijer wollte davon abstehen, mit hineinzugehen. Er tat es aber dann doch, weil Manja, als er nicht mit ins Zimmer wollte, ziemlich hilflos dreinsah und auch keine Anstalten machte, einzutreten.

Auf dem Boden lag ein Teppich, an den Wänden Kissen. So machte man es sich denn so bequem wie möglich. Verschließbare Fenster gab es nicht. Nach Süden war der Raum einfach offen, und man konnte auf freies Feld, ein paar Pappeln und einen schmalen Pfad sehen, den die Kamele getreten hatten auf ihren Wanderungen von und nach Trapezunt.

Bald wurde es ruhig im Hause. Der Mond ging auf. Hoijer tat, als ob er schliefe. Er wollte die beiden, die sich, seitdem sie sich gefunden, fast nie allein sehen und sprechen konnten, nicht stören. Es mußte für sie doch geradezu eine Wohltat sein, einmal ein paar Stunden mit sich allein zu sein. Und da sie schwiegen, wohl weil sie dachten, er sei noch wach, oder sie wollten ihn wenigstens nicht im Einschlafen stören, fing er an zu schnarchen. Nicht zu laut, denn das wäre ihm vor einer Dame doch unangenehm gewesen, aber ein wenig. O, er konnte dies gut nachmachen. Sie glaubten auch wirklich, er sei eingeschlafen, und begannen leise miteinander zu flüstern.

»Wie wunderschön! Eine Märchennacht!« flüsterte Viktor und hielt Manjas Hände.

Leise tönte aus der Ferne eine Glocke. Wie sonderbar! Hier gab es ja doch keine Kirchen, sie waren ja im Lande der Kurden! Und doch, sie hatten sich nicht getäuscht. Zu ihnen drang schon näher der Ton einer kleinen Glocke. Sie sahen sich an. Was war das nur in der Zaubernacht da draußen? Feenmärchen kamen ihnen in den Sinn, Elfen, die mit Blütenglocken läuteten. Immer deutlicher hörten sie die helle Glocke. Und nun vernahmen sie auch eine mit tieferem Ton. Nach einer Weile noch mehr Glocken. Alle aufeinander gestimmt. Wie ein Glockenspiel vom Turm einer alten, stillen deutschen Stadt tönte es durch die Mondnacht. Nun tauchten nicht allzu ferne riesengroße, seltsam geformte Schatten auf. Sie kamen lautlos näher, ganz gespenstig. Und nun zog es da drüben auf dem Pfad vorüber, langsam, lautlos, eine große Karawane nach Trapezunt. Kein Ton war zu hören außer dem der Glocken. Nichts zu sehen als die riesengroßen, schattenhaften Leiber der Kamele, die gar seltsam, lautlos, wie Schiffe hin und her schwankten. So zog der Zug langsam vorbei. Und als er längst ihren Blicken entschwunden, tönte die Nacht noch vom Klang der kleinen Glocken am Halse der Kamele und leuchtete im Silberglanz des Mondes. Ergreifend schön war das. Das war der Orient. So hatte ihn Viktor sich gedacht. Und doch, nur in den Augenblicken dieser Nacht war er wirklich so, wie er ihn sich Tag und Nacht vorgestellt hatte.

Am nächsten Morgen aber, da die Sonne aufging, war der Orient wieder da, so wie er wirklich Tag und Nacht ist, der Orient mit der brennenden Sonne, die den Boden ausdörrt, daß er daliegt wie eine alte gegerbte Haut, der Orient ohne Wasser, ohne Grün, aber hier voll kahler, unwegsamer Berge.

Wieder gab es einen äußerst anstrengenden Marsch, der erst spät am Abend sein Ende fand, als man endlich das Kloster des Heiligen Thomas hoch oben auf einem nackten Felsen erreichte. Als man Einlaß begehrte, öffneten zwei Armenier, mit Flinten bewaffnet, Pistolen im Gürtel, den Dolch an der Seite. Auch in dem weiten Klosterhofe stieß man überall auf Bewaffnete, so daß man sich eher wie in einer Kaserne als in einem Kloster fühlte.

Djanian, der ins Innere gegangen, erschien wieder mit der Botschaft, der Abt freue sich, die Fremden heute noch begrüßen zu können.

Also begab man sich in das Innere des Klosters, das einen höchst ungemütlichen, feuchten, unbewohnten Eindruck machte. Zunächst ging es durch eine Reihe finsterer Zellen, in denen armenische Bewaffnete lagerten, dann durch einen langen, schmalen niedrigen Gang. »Die reine Räuberhöhle«, meinte Viktor. Und nun wurde eine Decke zurückgeschlagen, man befand sich im Empfangszimmer des Abtes, einem armseligen, schmalen Raum!

Der Abt lag auf einem dürftigen Lager, mit vielen Teppichen zugedeckt, schnatterte mit den Zähnen, zitterte an allen Gliedern und fror augenscheinlich entsetzlich.

»Er hat gerade einen heftigen Malariaanfall,« flüsterte Hoijer, »der arme Kerl, er wird alt und gebrechlich.«

Allerdings, wie ein Häuflein Unglück lag der grauhaarige Mann da auf seinem Lager, ohne vor Fieber sprechen zu können.

»Wir hätten ihn wirklich nicht noch aufsuchen sollen«, sagte Manja mitleidig.

»Da kennen Sie den Orientalen schlecht. Und wenn er im Sterben liegt, heißt er erst den Gast noch willkommen.«

Nun ließ das Fieber ein wenig nach. Der Abt richtete sich auf. Wie entsetzlich mager, verhungert er aussah. Aber Feuer hatte er in den Augen und ein wildes, verwegenes Gesicht.

Er hieß die Gäste willkommen und bat, Platz zu nehmen, was einige Schwierigkeit machte, da nur wenige Sitzgelegenheiten da waren. Hoijer setzte sich einfach auf des Abtes Lager, Djanian auch.

Während der Abt eine kleine Ansprache hielt, in der er seiner Freude darüber Ausdruck gab, hier gute Freunde und Helfer seines Volkes begrüßen zu dürfen, hatten Manja und Viktor Gelegenheit, ihn sich ein wenig genauer anzusehen. Über die ganze rechte Wange, die ihnen zugekehrt war, lief eine breite, tiefe Narbe, die wohl von einem Säbelhieb herrührte. Die Stirn war von Falten und Narben gefurcht. Beim Sprechen hob er den linken Arm, so daß der Ärmel weit zurückfiel. Dicht am Handgelenk, ganz nahe dem Puls, sah man eine kleine, runzlige, runde Narbe. An der Stelle war eine Kugel durch den Arm gegangen. Noch nie hatte Viktor einen durch Wunden so zugerichteten Körper gesehen. So mochten einst die Landsknechte ausgesehen haben, wenn sie zwanzig, dreißig Jahre lang alle Schlachten Europas mitgeschlagen hatten.

Als Hoijer den Abt fragte, wie es ihm in den letzten Jahren ergangen, wurde er lebhaft und erzählte. Wie scharf das Auge dreinsah, wie es noch funkeln konnte. Wie die schmalen Wangen sich röteten. Das alte Feuer war wieder erwacht in dem von der Malaria verwüsteten Körper. An ihm erkannte man, wie er in seiner Jugend, in seinen gesunden Mannesjahren ein flammender Gesell gewesen sein mußte.

Als ein neuer Fieberanfall kam, verabschiedeten die Gäste sich und wurden in eine recht dumpfe, aber kühle Klosterzelle geführt, wohin man ihnen Brot, Tee und ein wenig Hammelfleisch brachte. Mehr gab es auch hier nicht. »Wie armselig es bei ihm aussieht«, meinte Manja, indem sie sich niederließ.

»Für einen Kirchenfürsten gar zu power«, stimmte Viktor ein.

»Und doch, trotz seiner Armut, Ihr ahnt nicht, welche Macht dieser alte, hinfällige Mann noch ist«, sagte Hoijer. »Freilich, man muß wissen, was er in der Vergangenheit bedeutete, um zu begreifen, daß er nächst dem Katholikos in Edschmiadzin der einflußreichste Kleriker in ganz Armenien ist.«

Als man am anderen Morgen sich wieder zum Aufbruch bereitmachte, waren Manja und Viktor nicht wenig erstaunt, als sie den Abt, in einen violettseidenen Mantel gehüllt, auf dem Haupt eine violettseidene hohe Kapuze, um den Hals eine Kette voll funkelnder Edelsteine, aus der Tür treten sahen. So sah er freilich anders aus als gestern abend. Er ließ sich einen prachtvollen schwarzen Hengst vorführen, denn er hatte beschlossen, mit nach Maku zu reiten.

Wie wundervoll er zu Pferde saß! Wie hoheitsvoll er sich in seinem Prunkgewand ausnahm! »Kleider machen wahrhaftig Leute!« scherzte Viktor.

»Und doch, seht Euch sein Gesicht an«, meinte Hoijer, »es macht nicht gerade einen geistlichen Eindruck.«

In der Tat, dies wilde, verwitterte, hagere Gesicht mit den scharfen Augen, der kühnen Nase, den vielen Narben, einem Reiterführer, einem berühmten, verwegenen Räuber mochte es gehören, geistlich sah er wahrlich nicht aus.

Und wie frisch und guter Dinge er blieb den ganzen langen, heißen Tag über, unter dem alle andern matt und matter wurden. Am liebsten hatte er es sichtlich mit Manja zu tun, der er regelrecht die Cour machte, was Viktor höchlichst amüsierte. Wieviel Anmut in den Bewegungen, wieviel Salz in der Unterhaltung er aufbrachte, um Manja zu gefallen.

Aber immer wieder stiegen ganz andere Gedanken in Manja auf. Sie seufzte schwer. Gott mochte wissen, wie es jetzt um ihre Sache, um ihre Freunde in Moskau stand und was ihr noch bevorstand, wenn sie erst wieder dort war. Manchmal beschlich sie ein geheimes Grauen. Aber sie war fest entschlossen, nicht deshalb, weil sie Viktor liebte, einfach ihre Lebensarbeit aufzugeben.

In der gleichen Weise wie bisher konnte sie sie freilich nicht weiterführen. Aber ihr ganz und so auf einmal und nur deshalb, weil sie ihr Herz an einen andern gehangen, entsagen, das vermochte sie nicht, das durfte sie nicht. Sie sah scheu auf Viktor. Wie er sich wohl stellen würde, wenn erst die Auseinandersetzung mit ihm kam, die unvermeidlich war.

»Seht Ihr da drüben das Wasser? Dort liegt Maku, die Hauptstadt des Fürstentums gleichen Namens.«

Halb geistesabwesend sah sie auf Hoijer, der ihr mit diesen Worten zwischen ihre Grübeleien gefahren war.

»Doch dürft Ihr Euch diese Hauptstadt nicht vorstellen wie Moskau oder dergleichen. Es ist ein Dorf, sogar ein häßliches, schmutziges. Auch wohnt der Fürst selbst nicht in ihm, sondern eine halbe Stunde entfernt.«

Vorsichtig setzten die Maultiere Fuß vor Fuß, denn es ging ziemlich steil bergab, und der schmale Pfad lag voll Geröll und Steinen, die leicht ins Gleiten kamen, und dann alles, was auf sie trat, mit ihnen. Viktor stieg von seinem Pferd. Auch Hoijer. Es war unmöglich für sie, ohne ihre und ihrer Gäule Knochen in Gefahr zu bringen, weiter zu reiten. Nur der Abt tat nichts dergleichen, er blieb hoch zu Roß, und schien ihm eine Stelle gar zu bedenklich, ließ er seinen Hengst langsam, vorsichtig im Zickzack, wie die Ziegen zu klettern pflegen, vorwärts gehen. Halsbrecherisch sah es trotzdem aus, und Manja atmete erleichtert auf, als sie alle glücklich im Tale waren, ohne Schaden genommen zu haben.

»Noch ein halbes Stündchen, und wir sind da«, ermunterte Hoijer und trieb die müde Reisegesellschaft wieder an. Nur der Abt hörte nicht auf, seinen Hengst kurbettieren, steigen, tänzeln zu lassen. Unglaublich, was für eine Lebenszähigkeit in dem alten Menschen steckt, der nur noch aus Haut und Knochen und Narben besteht, dachte Viktor und schämte sich ein wenig seiner jungen Glieder, die schwer waren wie Eisen und todmüde.

Gott sei Dank, da waren schon die ersten Häuser der »Hauptstadt«. Großartig sah sie wahrhaftig nicht aus. Hoijer hatte recht: ein elendes, schmutziges Nest mit einer höchst primitiven, schmierigen Karawanserei, der man sich aber anvertrauen mußte, da es zu spät geworden war, um heute noch den Fürsten aufzusuchen.

»Merkwürdig,« meinte Viktor, als man es sich so bequem wie möglich gemacht hatte und der Samowar brodelte, »sonderbar, daß so wenig Europäer hierher kommen, trotzdem diese sogenannte Stadt Maku ja nur zwei Tagereisen von der russischen Grenze entfernt liegt.«

»Die Russen interessieren sich nicht für dies Fürstentum«, erwiderte Hoijer. »Und so bleiben sie halt weg. Erst wenn es für sie politisch von Interesse wird, werden sie sich ihm zuwenden. Andere Europäer, außer denen, die einer Botschaft oder einem Konsulat attachiert sind, verlieren sich überhaupt selten nach Persien.«

»Es liegt uns näher als Afrika und ist eigentlich viel unbekannter.«

»Da habt Ihr schon recht«, entgegnete Hoijer. »Aber mir ist's lieb. Doch wenigstens noch ein Land, wo man nicht auf Schritt und Tritt Europäer sieht.«

»Ihr liebt sie wirklich nicht sehr?«

»Gar nicht«, sagte Hoijer trocken.

Die andern lachten und wollten Hoijer darüber ausfragen, kamen aber nicht dazu, weil sie in ihrer Ruhe aufgestört wurden. Der Karawansereibesitzer trieb nämlich auf einmal ganz gemütlich zwei Büffel durch den Raum, in dem man lagerte. Da galt es aufzupassen, daß einem die schweren Tiere nicht auf die Knochen traten.

»Ja, was tun denn aber die Büffel hier in dem Zimmer?« fragte Manja erstaunt. Endlich erfuhr man, daß man nur durch diesen Raum zu dem Büffelstall gelangen konnte, der sich unmittelbar daneben befand.

»Das sind ja reizende Zustände!«

»Recht gemütliche Aussichten für die Nacht, denn die Tür zu dem Büffelstall scheint überhaupt nicht verschließbar«, meinte Viktor, der sich an der Tür bemühte. Die andern eilten herbei, und wirklich, die höchst primitive Tür lehnte nur an. Es gab nicht die Spur einer Vorrichtung, sie zu schließen.

Hoijer lachte. »Wenn es den Büffeln heute nacht zu langweilig nebenan werden sollte, oder wenn sie plötzlich das Bedürfnis nach frischer Luft empfinden sollten, können wir unsere Glieder in acht nehmen, denn wo die Biester hintreten, da knackt es, darauf können wir uns verlassen.«

Man rief den Karawansereibesitzer von seinen Büffeln herein. Der begriff gar nicht, weshalb man sich aufregte, denn es sei noch nie etwas passiert.

»Wenn wir Pech haben, so werden wir halt die ersten sein, denen etwas passiert«, warf Viktor ein.

Außerdem seien die Tiere viel zu faul, um sich nachts zu bewegen, sie seien froh, wenn sie Ruhe hätten.

Das war alles sehr schön und gut, aber trotzdem, man bemühte sich, die Tür möglichst zu verbarrikadieren. Auch lehnte man die Flinten und Gläser an sie. Ging sie wirklich auf, mußte es einen großen Spektakel geben, so daß man wenigstens gewarnt war.

Endlich begab man sich zur Ruhe. Einige legten sich einfach auf den Hof, weil es ihnen in dem Raume zu heiß war. Auch geschah es mit Rücksicht auf die Europäer, die es sowieso schon eng genug hatten in dem kleinen Zimmer, das sie alle beherbergen mußte. Man hätte es Manja gegönnt, daß sie es sich endlich einmal etwas bequemer hätte machen können, denn schon viele Tage hatte sie keinen Raum für sich, aber es ging nicht, sie mußte auch heute wieder den Raum mit Viktor, Hoijer und Djanian teilen.

Am andern Morgen schon in aller Frühe – man war gerade wach geworden, da die beiden Büffel wieder durchs Zimmer ins Freie getrieben wurden – kam ein Bote vom Fürsten von Maku, der sie einlud, da der Fürst erfahren, daß Europäer angelangt seien. Der Bote sagte, in einer Viertelstunde würde ein Wagen da sein, sie abzuholen. Er sei ihm schnell vorausgeritten.

»O weh, o weh!« rief Hoijer. »Habt Ihr gemerkt, wie stolz er von dem Wagen spricht? O weh, o weh!«

»Was habt Ihr denn?«

»Es wird eine gestohlene Kalesche sein, die nie benutzt wird. Ihr Kutscher wird also nicht kutschieren können, Fahrwege gibt es auch nicht, das wird, wie mir scheinen will, eine Fahrt mit Hindernissen werden.«

»Wir haben ja schon manches überstanden, werden eine solche Fahrt wohl auch noch überleben«, sagte Manja lächelnd.

Da hörte man auch schon auf der Straße ein gewaltiges Hallo, Pferdegetrampel und Rädergerassel. »Wie lange wir den Ton nicht mehr gehört haben!« sagte Viktor, auf das Geräusch der Räder horchend.

Man begab sich zum Tor. Da stand der Wagen auch schon, mit vier Pferden bespannt, zwei Vorreitern, und neben dem Kutscher, der ein recht ängstliches Gesicht machte, ein Diener auf dem Bock. Manja mußte laut lachen, denn der Diener sowohl wie die Vorreiter hatten zwar keine Schuhe und keine Strümpfe, dafür aber weiße, baumwollene Handschuhe an den Händen, die sich sehr ungeschickt ausnahmen.

»Gott sei Dank, es ist nur eine russische Kareta,« meinte Hoijer, indem er prüfend um das Gefährt herumging, »wenigstens kein hoher Jagdwagen oder dergleichen, wo man ohne Schwierigkeiten den Hals brechen kann, wenn die Geschichte kippt.«

»Wer von uns muß denn fahren?« fragte Viktor.

Hoijer lachte. »Die beiden Vornehmsten natürlich, denn ihnen ist es zugedacht. Die Dame und Ihr, Herr von Gandern. Und jetzt gilt es, Toilette zu machen.«

»Was, Toilette?«

»Wir müssen dem Kurden doch imponieren.«

»Aber wie sollen wir das anfangen?« fragte Manja und wies auf den einzigen Koffer, der bestaubt im Hofe stand.

»Möglichst europäisch, damit werdet Ihr dem Kurden am meisten imponieren. So wie es bei Visiten in Europa Brauch ist.«

»Ich habe von all diesen Dingen aber nur einen Chapeau claque.«

»Das genügt vollkommen, damit werdet Ihr Effekt machen.«

»Und ich,« sagte Manja, »nur ein schwarzes Spitzenkleid.«

»Das ist ja ausgezeichnet, gerade für hier, wo man schwarze Kleider nicht kennt, sondern nur bunte. Das wird dem Fürsten sehr imponieren, verlaßt Euch darauf.«

So machte man denn Toilette und kam bald in recht heiterer Stimmung wieder zusammen. Hoijer ließ sich sein Pferd satteln, Djanian nahm Viktors Tier, und da erschien auch der Abt auf seinem Hengst. Er hatte bei einem Armenier genächtigt und war von der Ankunft des Wagens sofort benachrichtigt worden. Manja und Viktor stiegen in den Wagen. »Also bitte, immer sprungbereit«, ermahnte Hoijer und näherte sich dem Kutscher, auf den er eifrig einredete.

Der Kutscher nickte und hielt die Gäule möglichst kurz. Aber dicker Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Zu beiden Seiten des Weges standen dicht gedrängt die Bewohner der »Hauptstadt« und staunten den Wagen und seine Insassen an. Aber sie blieben in respektvoller Entfernung, denn die beiden Spitzenreiter stießen jedem höchst unsanft den Speer in die Seite, der nicht Platz genug ließ.

Nun kam man ins Freie, und der Wagen begann stark zu ächzen, denn es war für ihn in der Tat keine Kleinigkeit, hier vorwärtszukommen, wo es einfach geradeaus durch die Gegend ging, da ein Weg nicht vorhanden war. Die Gegend aber war merkwürdig wellig und uneben. Das bekamen Manja und Viktor jetzt reichlich zu spüren. Unglaublich, wie das auf und nieder ging.

Nun sprengten die Vorreiter eine Strecke voraus, weil sie das Schrittreiten einfach nicht länger aushielten. Kaum sahen das aber die vier Pferde vor dem Wagen, so waren sie nicht mehr zu halten und begannen auch zu galoppieren. Der Kutscher, der denken mochte: nun ist doch alles gleich, wenn wir nur möglichst schnell weiterkommen, hieb auf die Gäule ein, daß sie erst recht wild wurden. Es dauerte denn auch noch nicht eine Minute, da lagen Manja und Viktor draußen, Manja war zur Rechten, Viktor zur Linken hinausgeflogen. Sofort hielt alles an. »Ist ein Bein oder ein Arm gebrochen?« rief Hoijer schon von weitem und eilte herbei.

»Mir ist nichts passiert«, rief Manja. »Bei mir auch nicht«, bemerkte Viktor und erhob sich. »Jedenfalls aber habe ich keine Lust, mich dem noch einmal auszusetzen«, sagte Manja. »Ich bin dafür, wir gehen einfach zu Fuß neben dem Wagen her. Allzuweit wird es ja nicht mehr sein bis zum sogenannten Schloß des Fürsten von Maku.«

»Noch zweihundert Schritte. Dort vorne, wo es um den Berg herumgeht, da liegt das Schloß, ganz nahe, wenn wir es eben auch noch nicht sehen«, erklärte der Abt, um den Fußgängern Mut zu machen.

»Nehmen Sie's mir nicht übel, aber ich kann nicht mehr!« rief Hoijer. »Ich muß lachen.« Er hielt an und lachte laut hinaus, ohne daß Manja und Viktor gleich begriffen, weshalb eigentlich.

Als er sich wieder gefaßt hatte, sagte er: »Es sieht zu drollig aus, wie Ihr, Herr von Gandern, im Chapeau claque hier in Persien, in der Wildnis, durch den Sand watet.« Er lachte wieder.

Der Kutscher seufzte immer kläglicher, und als man in die Nähe des Berges kam, hielt er an, und alle sahen, wie ihm dicke Tränen übers Gesicht liefen.

»So beruhigen Sie doch den Mann!« bat Manja.

»Was fehlt dir denn, du Dummkopf?« fragte Hoijer. Er ächzte und murmelte immer denselben Satz.

»Was sagt er?« fragte Viktor.

»Es brennt mich, es brennt mich«, erwiderte Hoijer.

»Was heißt denn das?«

»Das heißt, daß ihm jetzt schon der Rücken brennt, weil er die Prügel schon spürt, die seiner warten.« Er trat wieder dicht zu dem Kutscher und redete ihm zu. Aufmerksam lauschte der seinen Worten und wollte erst gar nicht glauben, daß die vornehmen Fremden ihn zu schonen beabsichtigten. Was würde denn aber der Fürst sagen, wenn die hohen Fremden zu Fuß ankämen? Da würde er sofort alles merken, da entginge er der Züchtigung doch nicht, und wenn man noch so viel gute Worte für ihn einlege.

Das leuchtete Hoijer ein, und so bat er denn Manja, wenn sie wirklich wolle, daß der arme Kerl der Strafe entginge, nochmals sich dem Gefährt anzuvertrauen, nur noch die wenigen Schritte, da man ja gleich da sei. Darauf stiegen Manja und Viktor wieder ein, und langsam, daß nur ja nicht wieder etwas passiere, ging es um die Spitze des Berges herum. Kaum war das geschehen, sprang Viktor im Wagen auf und starrte auf das Gebäude, das dicht vor seinen Augen lag. »Wie kommt denn das hierher? Das ist ja unglaublich. Das sieht ja genau aus wie eine englische Villa, ich meine ein altes, vornehmes Landhaus, wie man sie in Schottland sieht.«

Auch Manja sah verwundert auf den Bau.

Langsam kam man näher. Der stattliche Bau war von einem Garten umgeben, der voll war von hohen, grünenden Bäumen. Vor einem Gartentor machte man halt, und Manja und Viktor stiegen aus. Trommeln wirbelten, Soldaten präsentierten. »Der reine europäische Fürstenempfang«, wandte sich Viktor an Hoijer. »Das hat er offenbar den Russen abgesehen«, meinte Hoijer. Ein junger Offizier in prunkender Uniform trat grüßend näher. »Bscht, das ist nicht der Fürst, das ist nur der Führer dieses Soldatentrupps. Nur keine große Liebenswürdigkeit«, flüsterte Hoijer. Man schritt die Front ab und gelangte tiefer in den Garten, in dem ungezählte graue Zelte aufgeschlagen waren. Mitten unter ihnen ragte ein weißes Zelt hervor. »In ihm befindet sich offenbar der Fürst, dort wird man uns empfangen«, sagte Hoijer.

So war es auch. Viktor, Manja und Hoijer wurden in das Zelt geleitet. An einem kleinen Tisch saßen drei Kurden, der mittelste von ihnen trug einen weißen Mantel, genial um die Schultern geschlungen. »Das ist der Fürst«, flüsterte Hoijer und verneigte sich. Manja und Viktor taten desgleichen. Der Fürst erwiderte die Verbeugung leicht, höflich, und zugleich lag etwas wirklich Fürstliches in der Gebärde, mit der er die drei einlud, sich auf den bereitstehenden Stühlen niederzulassen. Viktor traute seinen Augen nicht. Es waren wirkliche, wahrhaftige, europäische Stühle, wie er sie seit Wochen nicht mehr gesehen. –

Langsam kam ein Gespräch in Gang, das eigentlich recht monoton und langweilig war, da es nur in höflichen Redensarten und Redewendungen bestand. Schließlich ließ der Fürst Viktor fragen, woher er sei. »Aus Deutschland«, erwiderte Viktor. »Das sagt Ihr so leichthin, als sei damit etwas gesagt«, brummte Hoijer. »Aber der Mann hat keine Ahnung, was Deutschland ist. Ich muß ihm etwas sagen, was ihm imponiert. Rußland, das wäre einfach, das liegt ihm nahe, dessen Macht fühlt und kennt er. Aber Deutschland. Doch halt!« Hoijer strahlte. »Ich hab's! Ich werde ihm sagen, Ihr seid aus dem Lande Bismarcks. Es sollte mich wundern, wenn er den Namen nicht kennte, wenn ihm das nicht imponierte.« Hoijer tat, wie er gesagt, und in den Augen des Kurdenfürsten, die bisher ruhig, fast ein wenig schläfrig dreingesehen, flammte es plötzlich auf. Bismarck! Das imponierte ihm gewaltig, das war für ihn der größte Mann, der je gelebt. Daß er tot war, wußte er nicht. Für ihn lebte er und repräsentierte alles, was Macht, Klugheit und Größe bedeutet. Viktor errötete vor Stolz, als er merkte, wie dieser eine Name wirkte. Auch hier, selbst in Persien, in einem Kurdenfürstentum, selbst da funkeln die Augen, werden die Geister lebendig, wenn man das eine Wort Bismarck ausspricht.

Ganz lebhaft wurde der Fürst, vergaß Manja und alles andere und fragte Viktor nur nach Bismarck aus. Auch die beiden anderen Kurden, offenbar Verwandte des Fürsten, waren ganz Aufmerksamkeit. Und Viktor erzählte, ließ sich immer mehr hinreißen. Hoijer, angesteckt von Viktors Eifer, dolmetschte so gewandt und feurig, daß es eine Art hatte. Das ganze Zelt war erfüllt von einem Interesse, von einem Namen: Bismarck. Und Viktor hatte, während er sprach, die Empfindung, als erzähle er aus grauer Vorzeit eine germanische Heldensage, wie er sie als Kind gelesen, die Sage von Dietrich von Bern oder vom gewaltigen, grimmen Hagen. Noch nie war ihm die Größe jener Zeit, da Bismarck das Ruder führte, so zum Bewußtsein gekommen, als hier in diesem Kurdenzelt. Er verstummte plötzlich und sah sich um. Träumte er oder wachte er? Funkelten die schwarzen Kurdenaugen wirklich so, weil von Bismarck die Rede ging?

»Wie seid Ihr zu beneiden«, sagte Manja leise zu Viktor. Er drückte ihr verstohlen die Hand.

Aber der Fürst wollte noch mehr von Bismarck hören, und Viktor begann wieder von ihm zu erzählen. Sollte er auch von seinem Ende sprechen, von seinem Tode? Denn die Kurden glaubten offenbar, er lebe noch. Aber warum sollte er ihnen den Glauben nehmen? War er denn tot, wenn er selbst noch hier in diesem verlassenen Winkel, im Kurdenfürstentum Maku, so lebendig war?

Man erhob sich, und der Fürst geleitete seine Gäste ins Haus. Man betrat zuerst einen Raum von großer Pracht. Es war das Bad, das zur Zeit nicht benutzt wurde. Ein achteckiger, saalartiger Raum, der Boden mit Marmor bedeckt. Die Wände bestanden aus kleinen achteckigen, in Silber gefaßten Spiegelscheiben. Sie gingen bis unter das Dach, zwei Stockwerke hoch. In der Höhe jedes Stockwerkes war eine kleine Galerie angebracht aus schwarzem Holz, mit Silber beschlagen, von wo aus man auf den weißen Marmor hinab und in das Bad sehen konnte.

»Das ist wirklich einmal orientalische Pracht, so wie ich sie mir vorgestellt, aber bis jetzt noch nirgends gefunden habe«, sagte Viktor entzückt. Eilig dolmetschte das Hoijer. Der Fürst lächelte leicht, sichtlich geschmeichelt.

Dann geleitete man die Gäste, während der Fürst sich für einen Augenblick entschuldigte, da er die Gesandtschaft des Schahs empfangen müsse, die eben angekommen sei, in den ersten Stock, in einen durchaus europäisch gehaltenen Salon mit rosafarbenen Seidenmöbeln. Hier ließ man sie allein.

»Nun sagen Sie mir nur,« wandte sich Manja an Hoijer, »wie kommt ein Kurdenfürst zu solcher Einrichtung?«

»Ich weiß es wirklich nicht genau, wir müssen ihn halt fragen. Als ich zum letztenmal hier war, gab es dies Zimmer noch nicht. Wenigstens erinnere ich mich nicht, es gesehen zu haben.«

»Nein, das ist wirklich wie ein Märchen!« rief Viktor und zog Manja mit sich. »Ich glaube es einfach nicht, daß wir in Maku sind. Wir sind in irgend einem europäischen Palais.« Er deutete auf die weißseidenen Gardinen an den Fenstern. »Ist das Orient?«

»Gewiß nicht.«

»Halt!« rief Manja. »Was ist denn in diese Vorhänge hineingewebt?« Sie trat dicht an sie heran. Viktor sah genauer zu und griff sich an den Kopf. »Aber man sieht es ja ganz deutlich, in diese Vorhänge ist das bekannte Bild von Paul Thumann hineingewebt: ›Die drei Parzen‹!«

»Es ist wahrhaftig so!« bestätigte Manja kopfschüttelnd.

»Mit rechten Dingen geht das nicht zu«, meinte Viktor.

»Das glaube ich selbst«, lächelte Hoijer. »Und wenn Ihr noch daran zweifelt, wir seien im Orient, so schaut nur zur Decke empor, dann werden Euch die letzten Zweifel schwinden.«

Auch Manja hob die Augen und lachte laut auf über das, was sie sah. Wo die rosaseidene Tapete an die Decke stieß, hatte man sie an allen vier Wänden her mit Reklamebildern geschmückt, wie sie in Europa in den Kaufläden hängen. Da prangte Stollwercks Schokoladendame, van Houtens Kakaomädchen, Henkells Sektflasche, Zigarren- und Zigarettenreklamen. Es sah fürchterlich aus auf der wundervollen Seidentapete inmitten dieser Möbel.

»Das ist so Kurdengeschmack«, meinte Hoijer, indem er lächelnd auf Manja und Viktor blickte, die sich noch nicht wieder fassen konnten.

»Das ist ja grauenhaft, barbarisch, scheußlich!« rief Viktor.

»Bitte, nicht so laut, denn ich bin überzeugt, daß der Fürst sehr stolz darauf ist, stolzer als auf alle seine Soldaten, die wirklich ausgezeichnet sind. Ich glaube sogar, daß er uns nur, um diese Bilder zu bewundern, hierher hat führen lassen.«

»Und wie kommt er zu dem Zeug?«

»Gestohlen, geraubt, was weiß ich.«

Der Fürst erschien wieder, und Viktor sah ihn jetzt ganz anders. Er war halt doch nur ein Barbar.

Er erkundigte sich sofort, wie dieser Raum gefiele, insbesondere auch die schönen Bilder an der Decke.

»Ganz gut«, sagte Viktor.

»Ein Segen, daß Ihr nicht persisch sprecht,« flüsterte Hoijer, »daß ich dolmetschen kann, wie es mir gut scheint. Bei Euren kargen Lobesworten kämen wir nicht weit.«

Hoijer hielt dem Fürsten eine lange Lobesrede, die er sehr erfreut aufnahm, während der er sich wiederholt dankend vor Manja und Viktor verneigte. Und sofort sprach er lebhaft auf Hoijer ein, der erfreut zuhörte und sich dann an Manja wandte: »Der Fürst sagt mir eben, daß er Euch gerne seinen Frauen vorstellen möchte. Ob Ihr wohl bereit dazu seid, mit ihm in den Harem zu gehen?«

»Aber gewiß!« erwiderte Manja interessiert. »So sehe ich doch wenigstens einen größeren Harem, bevor ich nach Rußland zurückkehre. Aber wie soll ich mich dort verständigen? Denn Ihr dürft schwerlich mit hinein.«

»Leider Gottes habt Ihr da recht«, lachte Hoijer. »Ich darf nicht hinein, so sehr es mich auch interessiert.«

Auf eine diesbezügliche Frage erklärte der Fürst, daß die Fürstin russisch rede, sie stamme aus Eriwan.

»Dann geht es ja ganz gut,« erwiderte Manja, »dann kann ich mich ja leicht verständigen. Doch was redet der Fürst auf einmal von einer Fürstin? Ich dächte, er hätte mehrere Frauen.«

»Allerdings. Aber eine Lieblingsfrau, und die nennt er eben Fürstin, vielleicht auch außerdem noch deshalb, weil sie auch aus fürstlichem Geschlecht stammt.«

Der Fürst erhob sich und winkte Manja. Aber Hoijer meinte lachend, das sei nicht die Art, wie man in Europa mit Damen verkehre. Denen winke man nicht, man biete ihnen den Arm und geleite sie. Der Fürst war begierig, das zu lernen. Endlich verstand er es und reichte stolz und galant Manja seinen Arm. Im Hinausgehen rief er, mit einem Blick auf Viktor, Hoijer noch etwas zu, indem er laut dazu lachte. Hoijer entgegnete in derselben Weise.

»Was meinte er?« fragte Viktor, ein wenig beunruhigt, als er Manja am Arm des Kurden verschwinden sah.

»Er hat einen naheliegenden Witz gemacht«, erwiderte Hoijer. »Ich solle Euch sagen, er habe nicht übel Lust, die Dame bei dieser Gelegenheit gleich seinem Harem einzuverleiben.« Als Viktor ein erschrockenes, unruhiges Gesicht machte, lachte Hoijer wieder laut. »Ihr habt doch keine Angst, Ihr nehmt das doch nicht ernst? Ihr könnt ganz ruhig sein. Wir sind ja seine Gäste, und so lange wir seine Gäste sind, sind wir sicher wie in Abrahams Schoß. Da könnt Ihr wirklich ganz ruhig kein.«

Inzwischen war Manja am Arm des Fürsten die Treppe hinuntergeschritten und in den Baderaum eingetreten, der in der Mitte lag zwischen dem Flügel, in dem der Fürst und die Männer wohnten, und dem Teil des Hauses, wo der Harem war. Sie gelangten zunächst in einen nicht großen, aber äußerst prunkvoll ausgestatteten Raum. Wie ein Boudoir sah er aus, nur fehlten Tischchen und weiche Sessel, wohl aber fand sich ein prachtvoller, riesengroßer Spiegel, überall auf dem mit schweren Teppichen bedeckten Boden wunderbar schöne, seidene Kissen in den üppigsten, leuchtendsten Farben, und in der einen Wand war eine große Marmorplatte eingelassen, auf der ungezählte kleine, goldene Phiolen und Büchsen mit allen möglichen, wohlduftenden Wassern, Essenzen und Pasten standen.

Der Fürst freute sich sehr, als er merkte, wie das auf Manja Eindruck machte. Er begann auch sofort sehr eifrig, ihr alles zu erklären, bis beide plötzlich lachen mußten, hatte er doch im Eifer ganz vergessen, daß Manja kein Wort verstand von alledem, was er da auseinandersetzte.

Der Fürst öffnete wieder eine Tür. Man befand sich in einem großen, ziemlich kahlen, hallenartigen Raum, in dem an einer Wand auf einem Kissen eine offenbar noch sehr junge Frau saß, die sich sofort erhob und, sich leicht verneigend, auf den Fürsten zuging. Nachdem sie einige Worte mit dem Fürsten gewechselt, sprach sie Manja russisch an, es war die Lieblingsfrau des Fürsten. Nun konnte man sich wenigstens unterhalten, und während man sich ausfragte über ganz dieselben Dinge, über die man auch in Europa zu sprechen pflegt, wenn man sich kennenlernt, nahm Manja die Gelegenheit wahr, die junge Fürstin ein wenig genauer anzusehen. Vor allem fiel ihr deren merkwürdige Tracht auf. Sonderbar genug sah sie aus. Die Fürstin steckte in einem eng anschließenden, blauseidenen Kleide, das am Hals dicht geschlossen, dessen Ärmel, fest an den schönen Armen anliegend, bis zum Handgelenk gingen, das sie ebenfalls fest umschlossen. Dagegen war das Kleid sehr kurz, es ging nur bis an die Knie. Wie eine Balletteuse schaut sie aus, dachte Manja und war ordentlich erleichtert, daß sie endlich wußte, woran sie diese absonderliche Tracht erinnerte. Genau wie eine Balletteuse in ihrem kurzen Röckchen mit den hohen, trikotartig die Beine umschließenden Strümpfen. Auch an Schmuck fehlte es nicht, was ja auch die Ballerinen lieben. Um den Hals fiel eine schwere goldene Kette, um die Arme waren Bänder geschlungen, die nur so funkelten von edlen Steinen, von diesen Armbändern hingen kleine Kettchen mit einzelnen Edelsteinen herab, die bei jeder Bewegung aneinander schlugen, daß es klang, als läuteten kleine Glöckchen.

Nach wenigen Minuten verließ der Fürst die beiden, und kaum hatte sich Manja neben der Fürstin auf einem Kissen niedergelassen, huschten plötzlich hinter den Vorhängen immer neue Frauen und Mädchen hervor, die, nachdem ihnen die Fürstin die Erlaubnis dazu gegeben, sich ebenfalls niederließen, aber in respektvoller Entfernung von den beiden, und nachdem sie sich vorsichtig umgeschaut, die Schleier vom Gesicht zurückschlugen. Wunderschön waren manche der jüngeren. Selten hatte Manja so schöne Menschen gesehen. Nur daß auch sie dieselbe Tracht wie die Fürstin trugen, wenn auch weniger mit Edelsteinen besetzt. Das machte auf Manja immer wieder einen etwas grotesken Eindruck, diese Fülle von Balletteusen, wie sie sie kurzweg jetzt bei sich nannte. Dann erschienen auch alte Frauen, die allerdings gräßlich und häßlich waren, weil übermäßig fett und unförmig, da sie den ganzen Tag herumsaßen, Süßigkeiten aßen und nichts zu tun hatten. Diese alten standen offenbar in hohem Ansehen bei den jüngeren Frauen, trotzdem sie so häßlich waren. Als Manja fragte, wer diese alten Frauen seien, erzählte ihr die Fürstin, es wären die Kinderfrauen und Ammen der Frauen des Fürsten, die in jedem Harem ein besonderes Ansehen genießen. »Warum eigentlich?« fragte Manja. Die Fürstin sann einen Augenblick, verwundert über diese Frage, die sie sich noch nie gestellt, nach und erklärte dann lächelnd, daß sie eigentlich selbst nicht wisse, weshalb. Jedenfalls sei es immer so gewesen.

Nun brachten einige junge Mädchen, Dienerinnen, die sich alle durch körperliche Schönheit auszeichneten, Tee, Zigaretten und Backwerk. Man gruppierte sich, aber immer in einiger Entfernung von der Fürstin und Manja, um den Tee, begann zu rauchen, zu trinken und zu schwatzen. Auch die Alten hatten sich schwerfällig niedergelassen. Ihnen brachten die jungen Mädchen nicht Zigaretten, sondern die Galianpfeife, aus der sie bald qualmten, daß das Wasser in den Glasbebehältern nur so quirlte und sprudelte. Da Manja vor allem gern gewußt hätte, worüber diese Frauen und Mädchen, die doch nie aus diesen Räumen herauskamen, redeten, fragte sie die Fürstin, ob man nicht ein wenig zu ihnen rücken könne? Die Fürstin nickte, es schien ihr selbst angenehm zu sein, und bald saßen die beiden bei einer der Gruppen um einen Samowar.

Wovon sprachen die Mädchen und Frauen? Von den Kindern, die sich nebenan tummelten. Man hörte sie zuweilen lachen und schreien. Von ihren Rivalinnen, die bei einer anderen Gruppe saßen. Sie machten sich aufmerksam auf der andern Schönheitsfehler, auf der andern Bosheit und Niedertracht. Das füllte ihre Gespräche aus. Die Alten aber stöhnten gar viel und ächzten vor Langerweile und mancherlei Körperbeschwerden, von denen sie höchst eingehende Schilderungen entwarfen, wonach man hätte glauben können, daß sie in vierundzwanzig Stunden sterben müßten. So kläglich und grausig war das anzuhören.

Manja hätte zuweilen laut lachen, zuweilen weinen mögen. Lachen über die selbstzufriedene Einfalt dieser schönen, aber hohlen Geschöpfe. Weinen, wenn sie daran dachte, daß es Frauen, daß es ihre Schwestern waren. Wie entsetzlich, so ein Haremsleben! Nichts als Klatsch, Eifersüchteleien, jahraus, jahrein!

Plötzlich sprang eine der jüngsten Frauen auf und lief zu einem kleinen Fenster. Sie sah eifrig hinaus und winkte einer andern, die eilig zu ihr trat. Dadurch wurden andre aufmerksam, und bald darauf drängte sich alles um das kleine Fensterchen. Auch die Fürstin war mit Manja dorthin gegangen.

Und was gab es zu sehen? Der Fürst geleitete seine Gäste in den Garten. Voran schritten die Perser. Die Frauen rümpften die Nasen und machten spöttische Bemerkungen über sie. Dann erschien der Abt und Djanian. Die fanden sie schon interessanter, namentlich Djanian gefiel ihnen. Sie sahen neugierig auf Manja. Man merkte ihnen an, daß sie eine Frage auf den Lippen hatten, aber doch nicht recht wagten, sie auszusprechen. Dann kam Hoijer. Besonders sein roter Bart erregte Bewunderung. Und wieder sah man fragend auf Manja. Was wollte man wohl von ihr? Sie fragte die Fürstin, die lächelte, nicht gleich mit der Sprache heraus wollte, dann aber Manja dichter ans Fenster zog, und als Viktor von Gandern an der Seite des Fürsten erschien und allgemeine Bewunderung erregte, leise Manja fragte: »Sagt, welches ist Euer Lieblingsmann?«

Manja starrte die Fürstin an. Was sollte das heißen? Sie wußte nicht, was diese Frage bedeutete.

Alle sahen gespannt auf sie, und die Fürstin sagte: »Wir möchten gerne wissen, welcher Euer Lieblingsmann ist von denen da draußen?«

Manja griff sich an den Kopf. Endlich verstand sie. Sie lachte laut auf. Diese Frauen dachten augenscheinlich, in Europa herrsche die umgekehrte Sitte wie in Persien. Wie man in Persien mehrere Frauen habe und unter diesen eine Lieblingsfrau, so herrsche in Europa der Brauch, daß die Europäerin mehrere Männer ihr eigen nenne, unter denen es dann natürlich auch einen Lieblingsmann gab. Voll Übermut deutete sie auf Viktor und sagte: »Das ist mein Lieblingsmann.« Die Fürstin meinte: »Es ist auch der schönste.« Alle sahen ihm aufmerksam nach, und merkwürdig, während all diese Frauenaugen auf ihm ruhten, sah ihn Manja eigentlich auch zum erstenmal so, wie eine Frau den geliebten Mann sieht. Zum erstenmal ging ihr eigentlich auf, was für ein hübscher Mensch Viktor war.

Als der Fürst sie bald darauf abholte und ebenfalls in den Garten führte, eilte ihr Viktor schon von weitem entgegen. Auch Hoijer war aufgestanden. Der Fürst lächelte dünn. Er deutete auf Viktor und ließ Manja sagen: »Er hat sich schon Sorge um Euch gemacht, er fürchtete, ich könnte Euch zurückbehalten.«

Während sie neben Viktor Platz nahm, sah er zuweilen erstaunt, verwundert zu ihr hinüber. Was war mit ihr vorgegangen? Sie hatte etwas Verlegenes und zugleich so etwas Weiches im Blick, in der ganzen Art, wie sie ihn jetzt behandelte.

Viktor wollte natürlich wissen, wie es in dem Harem ausgesehen, und fragte sie weidlich aus. Ob die Frauen schön seien? Wie sonderbar sie diese Frage, die doch so natürlich war, berührte. Sie schämte sich, denn sie spürte, wie fast etwas wie Eifersucht in ihr lebendig wurde bei dieser Frage. Und immer wieder mußte sie ihn ansehen, während sie erzählte. Wie merkwürdig das ist, dachte sie, seitdem mich die Frauen auf ihn aufmerksam gemacht, habe ich ganz andere Augen bekommen. Wie hübsche Hände er hat! So männlich und doch zugleich gepflegt. Sie erschrak förmlich, wie auf einem Unrecht ertappt, als er sie vom Tisch zurückzog.

Als dann Manja nach Tisch wieder in den Harem ging, weil sie eine seltsame Scheu verspürte, bei all den Menschen immer mit Viktor zusammen zu sein, fand sie die Frauen ganz anders als am Morgen. Die Kinder waren bei ihnen, daran lag es offenbar. Mit ihnen wurden sie selbst wieder Kinder. Sie spielten und scherzten, Eifersucht, Langeweile und Stöhnen gab es nicht mehr. Selbst die alten Ammen hatten alle Gebresten vergessen. Wie reizend all diese jungen und älteren Frauen jetzt anzusehen waren. Und wie warm es in den Augen der Fürstin aufleuchtete, als sie Manja ihren Sohn hinreichte. Es war ein schwächliches blasses Kind, dessen kleiner Kopf ordentlich zur Seite gedrückt wurde von dem schweren Silberdiadem, das über der schmalen Kinderstirn lag. Luft, Sonne hätte das Kind gebraucht, hätten all die Kleinen nötig gehabt. Aber solange sie im Harem blieben, kamen sie nicht ins Freie. Erst wenn sie den Frauen entzogen wurden, lernten sie Sonne, Wind und Regen kennen. Solange mußten sich schon die kleinen Körper gedulden. Dann aber blühten sie auch auf einmal auf, dann wurden aus diesen schwächlichen Wesen mit der Stubenfarbe die kräftigen, hübschen Menschen, die so viel aushalten konnten.

Manja war jetzt viel herzlicher mit all den Frauen, die so kinderlieb und harmlos waren. Infolgedessen wurden auch sie zutraulicher, ja, wie die Kinder dreist. Sie betasteten sie, denn schon am Morgen war es ihnen aufgefallen, daß die Fremde viel schlanker war als sie. Sie befühlten vor allem mit kindlicher Neugier den Stoff ihres Kleides und bewunderten seine Farbe.

Endlich brach man wieder auf, da man morgen in der Frühe weiter wollte, denn Manja drängte, nach Moskau zu kommen. Der Fürst bat zwar immer aufs neue, man möge doch wenigstens noch einen Tag bleiben. Aber Manja konnte sich nicht dazu entschließen. Bis sie nach Moskau kämen, würden doch noch zehn Tage vergehen, wenn nicht noch unvorhergesehene Schwierigkeiten einträten und die Weiterreise verzögerten. Aus Rohdens Brief aber sprach so viel Sorge und verhaltene Angst, es könne in Moskau ein Unglück geschehen, wenn Manja sich nicht beeile, daß sie keinen Tag unnütz versäumen wollte. Außerdem sehnte sie sich heraus aus diesem Land, sehnte sich heiß nach ihrer Mutter, nach einer Frau, die sie verstand, bei der sie ihr Herz ausschütten konnte.

Neun Tage später saßen Manja und Viktor allein in einem bequemen Abteil erster Klasse in dem Zuge, der sie von Wladikawkas nach Moskau bringen sollte.

»Wenn ich denke, wie ich damals, als ich zum erstenmal nach Wladikawkas kam, glaubte, schlimmer, orientalischer, als es hier ist, kann es nicht mehr werden. Und jetzt? Jetzt will es mir scheinen, als seien wir schon hier umgeben von allem europäischen Komfort.« Er lehnte sich behaglich auf seinem Sessel zurück. »In der Wildnis gewesen sein, hat auch seine Vorzüge. Man lernt dann erst so recht die Vorteile der Kultur schätzen, die man oft so ungerecht gering wertet.«

»Und was für prächtige Menschen haben wir kennengelernt,« meinte Manja, »für die einzutreten es sich lohnt.«

»Gewiß, du hast ganz recht. Diese Armenier!«

»Nicht wahr, es ist schrecklich, daß man sie so unter den Türkenhänden verbluten läßt.«

»Sicherlich ist das schrecklich, aber man darf auch nicht vergessen, wie wenig man von ihnen in Europa weiß, wie falsch man sie beurteilt nach den paar hundert Spitzbuben in Konstantinopel und in anderen Großstädten.«

»Man sollte Europa aufklären darüber«, meinte Manja.

Viktor wurde es ungemütlich bei dieser Wendung, die ihn daran erinnerte, daß noch so manches zwischen ihnen lag, was sich nun bald klären mußte, wenn sie erst in Moskau waren.

Auch Manja schwieg. Es war ihr so herausgefahren, denn im allgemeinen vermied auch sie alles, was auf ihre früheren Pläne und Absichten hindeutete, von denen sie sich auch jetzt noch nicht ganz trennen konnte, ohne aber zu wissen, wie sie diese Pläne mit ihrem Verhältnis zu Viktor vereinbaren sollte.

Da ihr das Verstummen Viktors peinlich wurde, sagte sie: »Denke nur an den Katholikos in Edschmiadzin, welch ein prächtiger Mensch!«

»Und wie prächtig haben ihn die Russen in einen goldenen Käfig eingesperrt«, fiel Viktor erregt ein. »Es ist ein Jammer!«

»Wie die kleinen armenischen Schulknaben in Edschmiadzin plötzlich den »Kampf mit dem Drachen« von Schiller deklamierten, wie hat dich das berührt?«

Viktor richtete sich auf. »Fast weh hat es mir getan, denn ich mußte immer denken: Da leben an der Grenze Asiens diese Menschen von deutscher Kultur, kennen Schiller und Goethe, Kant und Fichte, die deutsche Geschichte, halten deutsche Zeitschriften und Zeitungen, und wir, wir wissen eigentlich gar nichts davon. Was sind unsere militärischen Eroberungen gegen die des Geistes!«

»Und wie ehrwürdig, ergreifend es war, als der Katholikos uns empfing.«

Wieder schwiegen sie eine Weile. Dann lachte Viktor plötzlich. »Weißt du noch, als wir nach Tiflis kamen und welch Gesicht Frau Richter machte, als wir Unterkunft im Hotel London begehrten?«

»Gräßlich heruntergekommen müssen wir ausgesehen haben«, meinte Manja leicht lächelnd.

»Sie verweigerte mir ja direkt den Eintritt in den Salon, bevor ich nicht ein Bad genommen.« Er lachte wieder laut und herzlich.

»Ich sah aber auch,« fiel Manja ein, »wie entsetzt sie dir nachstarrte und wie ihr die Augen feucht wurden vor Mitleid über dein Aussehen. Sie konnte sich gar nicht beruhigen, wie mager du geworden, wie elend du aussähest.«

»Die gute Frau Richter. Sie beurteilt halt doch alles ein wenig wie einen Hammelbraten. Saftig und dick muß man sein, wenn man gesund ist. Na ja, so unrecht hat sie nicht. Elend genug sahen wir drein und merkten es eigentlich selbst erst, als wir wieder unter zivilisierten Menschen waren.«

Der Zug hielt. Beide stiegen aus und begaben sich ans Büfett. »Das ist wirklich großartig bei euch in Rußland,« meinte Viktor, »diese Büfetts. Auch auf der kleinsten Station kann man sich mit Vergnügen satt essen.«

»Es freut mich wirklich, daß du auch an Rußland mal etwas Gutes findest.«

»Aber ich bitte dich«, fiel Viktor lebhaft ein. »Hab' ich nicht viel mehr zu loben und zu preisen als du? Ich finde es ganz vortrefflich in Rußland. Nirgends ißt und fährt man so gut.«

Manja lächelte. »Da hast du recht. Aber nichts ist auch für die Kultur so unwichtig wie Essen und Fahren.«

»Erlaube, das ist ein Irrtum, daran hängt sehr viel. Denke an England.«

»Nun, so berühren sich in diesem Punkt einmal höchste Kultur und die Barbarei.«

Immer wieder näherten sich ihre Gespräche dem Punkte, von dem aus es nicht weiterging, ohne daß es zu einer Auseinandersetzung kam über Manjas soziale Zukunftspläne. Aber jedesmal brachen sie wieder ab.

Manja reichte ihm diesmal die Hand und sagte: »Ich danke dir, Lieber, daß du so taktvoll wartest und dich geduldest. Ich weiß sehr wohl, daß es dir nicht leicht wird, daß es dich drängt, mir einiges zu sagen.«

Viktor wollte schon beginnen, aber sie verschloß ihm den Mund. »Ich weiß ja, was du sagen willst.«

Viktor nahm ihre Hand, küßte sie, sah sie ernst an und sagte: »Und wie lange soll diese Ungewißheit für mich noch dauern, denn daß ich nicht ruhig sein kann, bis ich weiß, daß du dich von den gewissen Freunden und Gesinnungsgenossen in Moskau losgesagt hast, das weißt du ja wohl?«

Manja nickte. Sie fuhr ihm leicht über die Wange. »Verderben wir uns diese Reise nicht, wo wir wirklich einmal allein sind, warten wir mit alledem, bis wir bei deinem Onkel sind. Vielleicht? ...« Manja sah sinnend vor sich hin.

»Vielleicht?«

»Wer weiß, was bis dahin geschehen ist«, sagte sie, leise erschauernd. »Ich bin nicht abergläubisch, aber wenn ich an Moskau denke, schaudert mich, ich weiß nicht, warum, aber ... es ist nun einmal so, ich fühle, daß da etwas im Gange ist, was auch für unser Leben sehr wichtig sein wird.«

»Rohdens Brief gibt dir diese Stimmung und Besorgnis ein. Aber wer weiß, ob er nicht nur deshalb so schwarz gemalt, weil er dich gerne möglichst bald wieder in Moskau haben will.«

Viktor sagte das in einem so eigentümlichen Tone, daß Manja aufsah. Sie lächelte. »Sage einmal ehrlich, bist du eifersüchtig auf Rohden?«

Viktor wich einer direkten Antwort aus und erwiderte: »In welchem Verhältnis steht ihr eigentlich zueinander? Etwas merkwürdig ist es doch in der Tat, wie du zugeben wirst, daß Rohden dir auf Schritt und Tritt wie ein getreuer Knappe folgt. Darüber kann man sich schon Gedanken machen.«

Es läutete zum zweitenmal. Sie stiegen wieder in den Zug.

Kaum saßen sie, sagte Manja: »Ich denke, es ist Zeit, und ich begehe auch kein Unrecht, wenn ich dich über Rohden und unser Verhältnis aufkläre. Rohden liebt Olga.«

»Deshalb suchte er sie nie auf, wenn ich mich wenigstens recht erinnere, ist dafür aber immer um dich beschäftigt«, warf Viktor trocken ein.

Manja mußte unwillkürlich lächeln. »Es ist doch so, wie ich sage. Daß er nicht in deines Onkels Haus kommt, liegt daran, weil der Onkel ihn nicht mag.«

»Das wird wohl seine Gründe haben.«

»Allerdings. Rohden war bis vor kurzem ein Bruder Leichtfuß, der in der deutschen Kolonie in Moskau eine große Rolle spielte, denn das wirst du wohl zugeben, daß er ein vortrefflicher Gesellschafter, überhaupt ein Mensch ist, der bestechen kann, wenn er will.«

»Das bezweifle ich nicht. Aber du schweifst ab. Also ein Leichtfuß.«

»Ja, er war vor allem leicht entflammt, machte überall den Hof, und außerdem spielte und hasardierte er gewaltig. Beides ist dem soliden Papa gräßlich. Er sprach oft über ihn und nie sehr liebenswürdig. Als Rohden aber plötzlich anfing, bei uns mehr zu verkehren, sich um Olga zu bemühen, wurde der Papa unausstehlich, so daß Rohden schließlich nicht wiederkam, da er sehr empfindlich ist und damals recht verwöhnt war. Jedenfalls berührte ihn diese Behandlung sehr ungewohnt. Es ärgerte und kränkte ihn gewaltig. Bald hörte man, daß er nicht mehr spiele. Papa machte seine Glossen darüber und meinte, das sei auch nur eine Rohdensche Pose, die nicht lange vorhalten würde.«

»Und Olga?« unterbrach sie Viktor.

»Olga hatte ja auch manch Übles über ihn gehört. Sie wagte nicht, für ihn Partei zu ergreifen, noch weniger, gegen den Papa laut zu werden.«

»Und was glaubst du?«

»Er liebt sie wirklich, und sie schwärmt für ihn«, fiel Manja ein. »Sie hat ihr ganzes Herz an ihn gehängt.«

»Mir schien es allerdings manchmal auch so, als interessiere sie sich für ihn«, meinte Viktor nachdenklich.

»Wie vorsichtig du deine Ausdrücke wählst. Sie lieben sich und machen sich doch das Leben schwer. Er aus Trotz und aus verletztem Stolz, sie, weil sie nicht offen sich zu ihm bekennt.«

»Würdest du das tun? Es ist doch keine Kleinigkeit für ein Mädchen.«

»Gewiß nicht. Aber ich täte es unbedingt. Doch Olga, sie ist anders, sie ist weicher, unselbständiger als ich.«

»Und weshalb folgt er nun dir auf Schritt und Tritt?«

»Weil er von mir manchmal etwas über Olga hört, weil er weiß, wie sie an mir hängt, wie er gar nichts Besseres tun kann, um sie für sich zu gewinnen, als wenn er mich schützt und behütet.«

»Und du läßt dir das gefallen?«

»Aber gewiß. Weshalb auch nicht? Ich helfe dadurch ja, wie ich bestimmt hoffe, zwei Menschen zu ihrem Glück. Und wenn ich wieder in Moskau bin, werde ich dem Papa ernstlich ins Gewissen reden, daß er dem grausamen Spiel ein Ende bereitet, bei dem Olga nur unglücklich wird und sich aufreibt.«

Viktor seufzte. »Hoijer hat ganz recht, ihr Frauen, o, ihr Frauen!«

Wieder schwiegen sie.

»Wo mag er jetzt sein?« fragte Viktor plötzlich.

»In Persien, in der Türkei, wo Bewegung, wo Aufruhr ist.«

»Schrecklich, ein solches Leben, für einen solchen Menschen!« seufzte Viktor. »Und die andern, Djanian und seine Leute ...«

»Wieder in dem furchtbaren Lande, unter Mohammedanern und Kurden, wieder allen Leiden und Gefahren ausgesetzt. Furchtbar, wenn man denkt, wie es all diese Menschen verdienten, glücklich und zufrieden zu sein. Statt dessen ... Auch Manja blickte traurig vor sich hin. »Womit haben wir ein besseres Los verdient vor ihnen?«

»Es ist doch merkwürdig«, sagte Viktor nach einer Weile. »Bloß, weil wir Europäer sind, haben wir es besser. Was können Leute wie Djanian und die andern dafür, daß sie als Armenier auf die Welt kamen und deshalb als Unglücksmenschen, die nirgends Ruhe und Behagen finden.«

»Kismet, sagen die Mohammedaner.«

»Ein Wort für eine Sache, die wir nicht verstehen und erklären können.«

»Warum müssen unsere russischen Bauern, die so prächtige Menschen sind, hungern und darben, während einige Tausende, die oft gar keine prächtigen Menschen sind, schwelgen und alles im Überfluß haben? Warum werden die ideal Gesinnten eingesperrt und nach Sibirien verschickt, die Kriecher und Streber belohnt und ausgezeichnet?«

»Ja, warum all das Unrecht auf der Welt?« sagte Viktor melancholisch.

»Begreifst du, wie man sich da zur Wehr setzen kann, wie man das nicht ruhig mit ansehen kann? Wie man zugreifen muß und die Hände rühren?«

»Gewiß begreife ich das. Ich begreife nur nicht, wie deine Moskauer Freunde ...«

Manja hob bittend die Hand und lächelte trübe. Viktor brach ab.

Die Gegend, durch die man fuhr, hatte etwas unsagbar Melancholisches. Magere Steppe, so weit man sah. Dürftig mit Gras bewachsen. Kaum einmal ein Vogel, den das Fauchen der Lokomotive aus seinem Nest, von seinem Zweig aufscheuchte. Stunden um Stunden fuhr man, ohne eine Hütte, einen Menschen zu sehen.

»Eins ist mir schwer geworden in Tiflis«, sagte Viktor leise. »Mich von meinem Gaul zu trennen.«

Manja sah ihn freundlich an. »Das weiß ich, Liebster.«

»Wenn man so denkt, wie treu das Tier war, aus wie manchen Schwierigkeiten es mir geholfen. Und jetzt ist es wieder in Persien; wer weiß, wie es behandelt wird.«

»Wie Djanian, wie Hoijer, wie die andern alle, die ein besseres Los verdienen.«

»Es erinnert mich an ein Wort, das in der Bibel steht ...«

»Die seufzende Kreatur«, fiel Manja ein. Viktor nickte.

»Weißt du noch,« sagte Manja nach einer Weile, um Viktor auf andere Gedanken zu bringen, »weißt du noch, als wir von Delivan kamen und uns vor den Räubern fürchteten, die auf dem Wege sein sollten, von denen man uns Schauerdinge erzählte?«

»Und weißt du noch, wie wir erleichtert aufatmeten, als wir eine Station weiter erfuhren, daß man sie gerade vor zwei Stunden aufgehängt hatte? Offen gestanden, etwas anderes als Erleichterung empfand ich damals nicht. Daß diese Räuber schließlich auch Menschen waren wie wir, für die das Aufgehängtwerden am Ende auch kein Vergnügen gewesen, daran dachte ich nicht einen Augenblick. So egoistisch ist der Mensch.«

»Mir scheint,« sagte Manja, »die russische Erde hat dich schon angesteckt mit ihrem Mitleid um jeden Preis. Deutsch ist das nicht, was du da eben sagtest.«

Viktor sah sie einen Moment erstaunt an, dann erwiderte er: »Wahrhaftig, du hast recht. Merkwürdig. Wie komme ich als deutscher Offizier zu solchen Gedanken.«

»Die russische Luft, die russische Luft!«

»Erinnerst du dich noch, wie sich Djanian von uns verabschiedete? Wie wehmütig das war. Je weiter wir uns von Persien entfernen, um so schwerer wird mir das Herz, wenn ich an all die Leute denke, die einem so lieb geworden. Um so wunderbarer, ja fast unbegreiflich aber wird es mir zugleich, daß einem so viele Menschen in so kurzer Zeit so nahe kommen konnten.«

»Erinnerst du dich noch?« fiel Manja ein. Und wohl hundertmal ging dies »Erinnerst du dich noch?« zwischen den beiden hin und her, während sie der Zug langsam Moskau näherbrachte. Wie lange kannten sie sich eigentlich? Beide erstaunten, als sie sich das fragten. Erst wenige Wochen kannten sie sich. Aber wie viel hatten sie seit jenem Augenblick, da Viktor von Gandern in Minsk zu Manja ins Abteil gestiegen war, in diesen Wochen erlebt, durchgemacht! Weit mehr, als zwei Menschen in Europa auf Jahre hinaus beschieden ist. Kein Wunder, daß sie sich nach so kurzer Zeit schon so viel waren. Hatte doch das Schicksal unzählige gemeinsame Fäden um sie geschlungen. So gemeinsam Erlebtes hält fest, macht vertraut, vertrauter als viele Jahre Bälle, Schlittschuhlaufen, Radfahren und Tennisspielen in Europa.

Der Zug hielt wieder auf einer größeren Station. Es herrschte merkwürdig viel Leben. Besonders fiel es beiden auf, wieviel Militär und Gendarmerie sich auf dem Bahnhof befand.

»Entweder fuhren wir bisher mit irgendeiner hohen Persönlichkeit, ohne es zu wissen«, meinte Manja, »oder es steigt hier etwas Besonderes zu uns.« Sie wandte sich an einen Schaffner, dann an den Zugführer. Beide aber wußten nichts, oder taten wenigstens so, als wüßten sie nichts. »Das ist immer das sicherste Zeichen, daß ein Würdenträger erwartet wird, wenn sie sich so dumm stellen.«

Längst hatten alle Passagiere Platz genommen, der Zug wartete immer noch. Da hörte man das Nahen eines Wagens, Hurrarufen, und eilig betrat ein älterer Herr den Bahnsteig. Viktor sah nur ganz flüchtig die ordenbesäte Brust, da war er auch schon in einem Abteil erster Klasse verschwunden, das sich dicht neben dem ihren befand.

»Es ist der Minister des Innern, auch der Polizeiminister genannt, besonders unbeliebt bei der Jugend und allen fortschrittlich gesinnten Elementen«, flüsterte Manja. »Es sind schon verschiedene Attentate auf ihn gemacht worden.«

»Davon habe ich aber nie etwas gelesen.«

»Meinst du, so was käme in die Presse? Wenn es irgend angeht, wird das totgeschwiegen, und es gelingt auch meistens, wenn das Attentat mißlingt oder wenigstens keine allzu schweren Folgen hat.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, wenn der Betreffende nicht schwer verwundet wird oder so.« Manja seufzte tief auf. Ihr war auf einmal wieder so schwer ums Herz.

»Und welcher Art sind solche Attentate meist?«

»Meist mit der Waffe oder Eisenbahnattentate.«

»Angenehm, mit so einem beliebten Minister in demselben Zuge zu fahren, das muß ich sagen.«

Manjas Augen wurden unruhig.

»Verzeihe, ich wollte dich nicht ängstigen.«

»Schwer ist mir das Herz, wie Blei liegt es mir auf der Brust. Je mehr wir uns Moskau nähern, um so schlimmer wird es«, flüsterte Manja.

»So beunruhige dich doch nicht so sehr!«

»O, du kennst unsere Fanatiker nicht. Ahnen sie etwas von dieser Fahrt des Ministers, du kannst sicher sein, daß sie alles versuchen, um ihn und damit den Kaiser in Schrecken zu setzen.«

»Es wäre allerdings eine ganz nette Ironie des Schicksals, wenn du zum Dank dafür, daß du dich so lange bemüht hast, deine Genossen von Gewalttaten abzuhalten, nun selbst unter einer Gewalttat zu leiden hättest.«

Manja sah ihn erschrocken an.

»Ach was, du steckst mich an mit deinem erschrockenen Gesicht!« sagte Viktor wieder lächelnd. »Komm, wir wollen nicht schwarz sehen.«

»Es ist nicht Angst um mich. Es ist der Schrecken vor jeder Gewalttat, der mir auf einmal in die Glieder gefahren ist. Und dann, mir war immer noch Moskau so fern, und jetzt ist es so nah'. Ich möchte den Zug und all das Schwere, was dort meiner wartet, so fern, anhalten, zurückhalten, daß er langsam, langsamer fährt.« Sie schüttelte sich. »Mir graut vor Moskau.« Sie lehnte sich wie hilfesuchend an ihn. Viktor strich ihr sanft übers Haar. Wie hatte sie sich verändert, sie, die bisher so stark, so selbständig und unabhängig gewesen. Er empfand es mit tiefer Rührung. Wie merkwürdig das doch bei der Frau ist, dachte er und sprach ihr leise zu. Selbst die Stärkste wird anlehnungsbedürftig, sobald sie liebt, sobald sie den Mann gefunden hat.

»Du hast recht, ich bin ganz töricht. Was kommen soll, kommt doch. Und was es auch sein mag, wir wollen ihm tapfer ins Auge sehen, nicht wahr?«

Er nickte, und sie sprachen wieder von Persien und den Armeniern. Immer wieder kam dann ihr Gespräch auch auf Hoijer. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, sie bis Tiflis zu begleiten. »Eher habe ich doch keine Ruhe, bis ich euch bei der Frau Richter in Sicherheit weiß. Und dann ist es mir auch selbst angenehm, bevor ich für längere Zeit nach Persien zurückkehre, noch einmal nach dem Rechten gesehen zu haben in meinem Tifliser Laden.« Wohin er denn wolle? Hoijer lächelte nur, gab aber keine bestimmte Auskunft. »Ich kann, auch wenn ich wollte, nichts Genaues sagen, denn ich bin mir über die Einzelheiten meines Planes selbst noch nicht recht klar. Nur eins kann ich sagen: er gilt meinen Freunden, den Armeniern. Vielleicht hört ihr dann ja selbst in Deutschland eines schönen Tages davon. Wenn nicht, denkt, daß ich wieder herumwandere oder tot bin. Es ist ja gleich. Wie es kommt, wird's gefressen.«

Es sollte lustig klingen, klang aber recht wehmütig. Man merkte Hoijer zuweilen doch an, daß er ganz gern ein anderes Leben geführt hätte. Aber weder Manja noch Viktor brachten es über sich, ihn von seinem Plan abzubringen. Er war ja so viel älter als sie. Auch empfanden sie es als taktlos und zudringlich, wenn er selbst nichts mehr sagte, weiter in ihn zu dringen.

Manja machte sich jetzt zuweilen Vorwürfe deshalb. Sie meinte, es komme am Ende nicht nur auf den sogenannten Takt an, wenn es einen Menschen gelte. Aber sie mußte sich dann doch immer wieder sagen, daß Hoijer eben nicht zu helfen war, wenigstens nicht von ihnen.

In Tiflis waren sie dann noch öfter in den drei Tagen zusammengewesen, die Manja und Viktor nötig hatten, um sich ein bißchen zu restaurieren. Auch ließ sie Frau Richter früher einfach nicht weg. Als dann der letzte Tag da war, hatte Hoijer ihnen noch einen möglichst bequemen Wagen für die Fahrt über den Kaukasus besorgt, dem Kutscher, den er kannte, viele Reden gehalten, wie er alles machen sollte, alle möglichen guten Dinge noch für die beiden besorgt. »Ihr denkt ja doch an nichts, außer an euch selbst«, hatte er mit gutmütigem Lächeln gemeint, als ihm Viktor wegen seiner Einkäufe Vorwürfe machte. »Ihr kämt ja nicht einmal heil über den Kaukasus, so vergeßt ihr die ganze Welt über euch. Da muß man schon für euch sorgen, als wäret ihr Kinder. Mein Gott, und täte ich es nicht, so täte es Frau Richter, auf die ich sowieso schon eifersüchtig bin.«

Als dann die Abschiedsstunde kam, warteten Manja und Viktor auf Hoijer, der versprochen hatte, zur Stelle zu sein. Ungeduldig scharrten die Pferde vor dem Reisewagen, ungeduldig blies der Kutscher ins Horn, aber Hoijer kam nicht. Statt seiner erschien ein kleiner Perser mit einem großen Blumenstrauß für Manja. Hoijer schickte ihn. Das war sein Abschiedsgruß.

Manja wurden jetzt noch die Augen feucht, wenn sie an jene Stunde dachte. Er wollte ihnen den Abschied so leicht wie möglich machen, deshalb war er weggeblieben.

»Wir werden ihn wohl nie wiedersehen, ihm nie vergelten können, was er alles an uns getan hat«, flüsterte Manja. Viktor nickte nur. Auch ihm gab es jedesmal einen Stich ins Herz, wenn er an seinen »alten Schweden« dachte, den Mann mit dem Kindergemüt, das er sich durch alle Fährnisse seines Lebens hindurch gerettet. Auch ihm stiegen plötzlich Tränen auf, denn wie eine Vision, und doch zum Greifen deutlich, sah er in diesem Augenblick Hoijer. Allein, einsam ritt er durch eine öde, ach so öde persische Ebene, vornübergebeugt, in Gedanken versunken, wie er so manchmal reiten konnte, wenn er sich unbeachtet glaubte. Trostlos sah es aus, wie dieser einsame Mann dahinritt. Woran dachte er wohl, wenn er so vornübergebeugt, mit schlaffen Zügeln, ins Leere sah. Viktor wußte es. An sein verlorenes Glück. Aber er sprach nicht mit Manja davon. Hoijer hatte es vermieden, er wollte es also nicht, deshalb gab er dies tiefste und schwerste Erlebnis seines Lebens auch Manja nicht preis. Es wäre ihm wie ein Unrecht Hoijer gegenüber vorgekommen. Lange sah er den einsamen Reiter vor sich. Da näherten sich ihm andere Reiter. Sofort nahm Hoijer wieder seine gewohnte, gerade Haltung an und war ganz Aufmerksamkeit für alles, was die andern anging. Und wahrhaftig, da schlug er sich schon wieder nach seiner Gewohnheit aufs Knie. Viktor lauschte. Wahrhaftig, er hatte ihn lachen gehört, dies kindliche, herzliche Lachen, ein Lachen, das es heute gar nicht mehr gab, das er in Europa nie gehört hatte, so urwüchsig, kräftig und harmlos war es.

Der Zug verlangsamte seine Fahrt, man näherte sich Moskau.

»Ich will meinem Schöpfer danken, wenn wir glücklich in Moskau sind«, flüsterte Manja unruhig.

»Und wenn wir nun da sind, wohin ...?«

»Sie sind noch auf dem Lande, wir fahren gleich hinaus«, unterbrach ihn Manja.

»Wird es deine Mutter nicht zu sehr erschrecken, wenn wir so plötzlich vor ihr stehen?«

Manja lächelte. »Der Mensch erträgt ja so viel Leid, er kann auch eine große Freude vertragen.«

Der Zug hielt. Mit ungestümer Hast, wie man sie nur in Rußland sieht, weil man nirgends so lange in einem Zuge sitzen muß wie dort, verließen die Reisenden ihre Abteile.

»Lassen wir das Gepäck später besorgen,« flüsterte Manja, mit unruhigen Augen hin und her sehend, »machen wir schnell, daß wir in einen Wagen kommen.«

Es wimmelte von Militär und Gendarmerie. Die beiden hielten sich dicht hinter dem Minister. So kamen sie am schnellsten vorwärts. Vor der Bahnhofshalle erwartete eine Troika den Minister. Auch hier wimmelte es von Gendarmen und Geheimpolizisten. Der Minister sprang in den Wagen, der sich aber nur langsam in Bewegung setzen konnte, da zu viel Menschen sich vor dem Bahnhof stauten. Manja lehnte an einer Säule am Portal. Ganz bleich sah sie aus. Sie wußte sich selbst nicht zu erklären, weshalb sie gerade dies so erregte. Aber ihr Herz klopfte unruhig und hastig. »Wenn er doch schneller weiterkäme!« flüsterte sie erregt, immer die Augen auf den Wagen des Ministers gerichtet, der allerdings immer noch auffallend langsam von der Stelle kam. Da! Die Pferde bäumten sich. Ein Schuß krachte. Wie ein wilder Schrei tönte es über die Straße. Viktor sah deutlich einen vorgestreckten Arm mit einer Pistole. Manja zuckte zusammen und schrie leise auf. Auch Viktor erschrak heftig, denn der ausgestreckte Arm wurde hastig zur Seite geschleudert, so daß die zweite Kugel in die Luft ging. Es war Rohden, der den Arm zur Seite geschleudert hatte. Fast im selben Augenblick aber, während sich der Minister unversehrt im Wagen aufrichtete, um sich dem Volk zu zeigen, stürzten Gendarmen auf den Attentäter und Rohden los. Die beiden verschwanden in dem Knäuel von Bewaffneten, die auf sie eindrangen.

Manja lehnte halb ohnmächtig mit zitternden Knien an der Säule. Fort, nur fort, dachte Viktor und rief immer wieder, immer lauter nach einem Wagen. Endlich kam einer trotz der allgemeinen Verwirrung herangaloppiert. Schnell hob Viktor Manja hinein, und fort ging es in wildem Galopp, denn den Gäulen lagen noch die Schüsse in den Ohren, schwirrte noch die unruhige Menge vor den Augen, die immer noch schrie und tobte.

 


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