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Es waren aber zu derselben Zeit etliche dabei, die verkündigten ihm von den Galiläern, welcher Blut Pilatus samt ihrem Opfer vermischt hatte.
Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meinet ihr, daß diese Galiläer von allen Galiläern Sünder gewesen sind, dieweil sie das erlitten haben?
Ich sage: Nein; sondern, so ihr euch nicht bessert, werdet ihr alle auch also umkommen.
Luk. 13, 1-3.
Auf der Treppe hatte sich, in der Dämmerungsstunde, vom Erdgeschoß bis hinauf unters Dach ein schwarzer, undurchdringlicher Nebel zusammengeballt; die Fenster auf den Treppenabsätzen waren in trübe Flecke zerronnen. Da läutete irgend jemand vor einer Wohnung.
Hinter der klebrigen, mit Wachstuchfetzen beschlagenen Tür schluchzte die alte Glocke zornig auf und konnte sich lange nicht beruhigen; ihr feines versterbendes Summen, wie das einer Fliege, die sich in einem Spinnennetz verfangen hat, klagte noch lange über ihr bitteres Los.
Niemand kam; der Mann stand regungslos und gerade wie ein Pfahl. Seine Gestalt hob sich in tieferem Schwarz von der Dunkelheit ab. Eine magere Katze, die unsichtbar am Geländer hinunterglitt, schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, so still stand er. Etwas Unheimliches lag in ihm: gute und fröhliche Menschen, die mit offenem Herzen kommen, stehen nicht so da.
Lautlos und kalt war es auf der Treppe, und in der öden Dunkelheit stieg muffiger Dunst auf; die übelriechenden Ausdünstungen einer riesigen Mietskaserne, die von den Kellern bis zu den Dachstuben mit schmutzigen, kranken, hungrigen und betrunkenen Menschen vollgefüllt ist. Je höher man kam, um so dichter wogte der Nebel, und es schien, daß er selbst den unheimlichen, schwarzen Schatten erzeugt hatte, indem er sich zu einer menschlichen Gestalt verdichtete.
In der Ferne rasselten Droschken, klingelten Straßenbahnwagen; aus der Tiefe des bodenlosen Schachts her – vom Hof – drangen rasche verbitterte Stimmen; hier oben jedoch war es tot und still. Dann schlug unten die Haustür zu, und das dröhnende Echo hallte, an den Treppenfluren zersplitternd, im ganzen Hause wieder. Tritte ertönten. Man hörte, wie jemand höher und höher stieg, hastig auf den Treppenabsätzen umbog und dann wieder mit jedem Schritt zwei Stufen auf einmal nahm. Als diese Schritte bereits auf dem letzten Absatz angekommen waren und an dem trüben Flecken, wo das Fenster saß, eine dunkle Silhouette vorbeiglitt, machte der Mann vor der Tür eine Bewegung auf sie zu.
»Wer ist da,« schrie unwillkürlich der Kommende in einem Ton, aus dem mehr als einfaches Erschrecken klang.
»Ist hier ein Zimmer zu vermieten? Wissen Sie vielleicht?« fragte scharf, bestimmt der Mann an der Tür.
»Ah! Ein Zimmer? … Ich weiß wirklich nicht … Ich glaube, ja. So klingeln Sie doch!«
»Ich habe schon geklingelt.«
»O, bei uns muß man das ganz besonders machen. Sehen Sie, so!«
Er griff tastend nach der Glocke und riß aus Leibeskräften daran. Die Glocke erzitterte gar nicht erst, sondern schrie geradezu auf und verstummte dann plötzlich, als ob eine Blechbüchse mit Erbsen, die die Treppe herunterkullerte, von einer Wand aufgefangen worden wäre. Dann raschelte es, und durch den Spalt der sich öffnenden Tür zeigte sich in einem Streifen gelben Lichtes der graue Kopf eines alten Weibes.
»Maksimowa, hier fragt jemand nach Ihrem Zimmer,« erklärte der Angekommene, ein langer hagerer Student. Er ging als erster durch den Korridor, in dem die Luft sauer und dampferfüllt war, wie in dem schmutzigen Vorraum einer Badeanstalt. Er hörte nicht weiter auf das, was die Greisin sprach, schob sich durch den Korridor, an Koffern und Vorhängen, hinter denen sich irgend etwas rührte, vorbei und verschwand in seinem Zimmer. Erst als er seine Sachen abgelegt hatte und in roter Bauernbluse mit offnem Kragen ohne Gürtel dastand, fiel ihm der neue Mieter wieder ein und er fragte die Alte, die ihm einen siedenden Ssamowar brachte:
»Nun, Maksimowa, sind Sie das Zimmer losgeworden?«
»Vermietet, Gott sei Dank, Ssergej Iwanowitsch. Für sechs Rubel vermietet. Ich glaube, das ist ein ruhiger Mieter.«
»Warum denn?«
Die Alte sah ihn mit ihren weißen, fast erblindeten Augen an und sagte, indem sie die ausgetrockneten dünnen Lippen einzog:
»Seit fünfundsechzig Jahren schon, Ssergej Iwanowitsch, lebe ich in der Welt, habe da allerlei Volk gesehen. Bin ja blind geworden, beim Zugucken,« fügte sie bitter hinzu und machte eine grämliche Handbewegung.
Der Student blickte unwillkürlich auf ihre Augen, wollte etwas sagen, stockte aber wieder, doch als sie fort war, klopfte er an die Nebentür und rief:
»Sie, Herr Nachbar, wollen Sie nicht ein Gläschen Tee zum Umzug, wie?«
»Mit Vergnügen,« antwortete die scharfe Stimme.
»Dann kommen Sie bitte herüber.«
Der Student setzte sich an den Tisch, goß zwei Gläser blassen Tee ein, rückte den Zucker heran und wandte sich zur Tür.
Ein mittelgroßer, hagerer, äußerst blonder junger Mann trat ein. Seine Gestalt rief den sonderlichen Eindruck hervor, als wenn er sich die ganze Zeit über absichtlich in die Höhe recken und den Kopf in den Nacken werfen wolle.
»Nikolai Schewyrjow,« sagte er mit harter Deutlichkeit.
»Aladjew,« antwortete der Wirt und drückte freundlich lächelnd die Hand seines Gastes.
Er tat es ganz bäurisch: etwas ungeschlacht freundlich und länger als nötig. Auch im übrigen war er durch seinen gekrümmten, kräftigen Rücken, die herabhängenden Schultern, die langen Arme und breiten Hände und ein langnasiges Profil, wie das eines Heiligenbildes, mit dünnem Kinnbärtchen und rundgeschnittenen Haaren einem einfachen Bauernburschen, irgend einem Zimmermann aus Pskow oder Nowgorod ähnlich. Mit etwas dumpfer Baßstimme, die äußerst bestimmt klang, und doch gutmütig, sagte er:
»Schön, nehmen Sie Platz, wir werden Tee trinken und Reden schwingen.«
Schewyrjow setzte sich; er bewegte sich dabei rasch und bestimmt, doch blieb sein Wesen immer noch steif und ablehnend.
Seine grauen metallenen Augen blickten kalt und undurchdringlich. In ihm war auch nicht eine Spur jener befangenen Neugierde, die sich selbst der ungebundensten Leute bemächtigt, wenn sie sich zum ersten Mal bei gänzlich Unbekannten aufhalten. Und Aladjew dachte, während er ihn betrachtete, daß dieser Schewyrjow sich selbst und dem besonderen Etwas, das in der Tiefe seiner verschlossenen Seele liegt, unter keinen Umständen untreu werden würde.
– Der Bursche ist interessant, dachte er.
»Nun, und Sie – – wie? Erst angekommen?« fragte er.
»Ja – erst heute aus Helsingfors.«
»Und wo sind Ihre Sachen?«
»Sachen habe ich überhaupt nicht. Nur … so, ein Kissen, eine Decke, ein paar Bücher.«
Bei den letzten Worten sah Aladjew den Gast besonders aufmerksam und freundlich an.
»Und … wenn ich fragen darf … womit beschäftigen Sie sich eigentlich?«
»Gewiß dürfen Sie … Ich bin Arbeiter, Metalldreher. Bin hergekommen, Arbeit zu suchen. Die Fabrik wurde zufällig geschlossen.«
»Soll heißen – – arbeitslos?«
»Ja,« antwortete Schewyrjow, seine Stimme nahm eine eigentümliche Nuance an.
»Augenblicklich sitzen viele ohne Arbeit da,« bemerkte Aladjew mit Teilnahme, »ist jetzt schwer für Sie.«
»Schwer ist's immer,« erwiderte Schewyrjow gleichgültig, »bald wird's aber auch denen schwer werden, die es jetzt leicht haben,« fügte er mit drohendem Klang hinzu.
Aladjew sah ihn neugierig an.
– – Lalala! dachte er, der Kerl ist nicht ganz sauber. Der Sache muß man auf den Grund kommen. Die Fratze ist verdächtig. –
Schewyrjow bemerkte offenbar den eigentümlichen Ausdruck, mit welchem die klugen Bauernäuglein des Wirtes sein Gesicht streiften und senkte es auf das Glas.
»… Sie sind wohl Student. Und schreiben auch was?« meinte er rasch.
Aladjew errötete ein wenig.
»Warum glauben Sie das? Nämlich, daß ich schreibe?«
Schewyrjow lächelte unvermittelt und das Lächeln war viel freundlicher, als man es nach seiner selbstbewußten Miene erwarten konnte.
»Das ist nicht schwer,« erklärte er: »an den Wänden haben Sie Bilder von Dichtern, auf den Wandbrettern eine Menge Bücher, auf dem Tisch beschriebenes Papier, unter dem Tisch zerknüllte und zerrissene Blätter. Daran sieht man's.«
Aladjew lachte auf, faßte ihn aber noch aufmerksamer ins Auge.
Sein Blick wurde listig, doch wiederum nach Bauernart: es war zu sehen, daß er schlau sein wollte. »Richtig, stimmt … Sie sind aber, wie ich sehe, ein guter Beobachter.«
Schewyrjow schwieg.
Aladjew zündete sich eine dicke Zigarette an und beobachtete den Gast aufmerksam durch den Rauch.
Schewyrjow saß aufrecht da und drehte die ganze Zeit über mit den Daumen. In seinem Aeußern lag etwas ganz Besonderes, was ihn den tausenden Gesichtern, die man täglich zu sehen bekommt, unähnlich machte. Und die klugen Bauernäuglein Aldajews fingen sofort dieses Eigentümliche auf: einen Zug unbegreiflicher Einschlossenheit und verborgener Ueberlegung. Schon der Gegensatz zwischen der steinernen Unbeweglichkeit des ganzen Körpers und der fast unmerklichen aber sonderlich raschen Fingerbeweglichkeit war ihm aufgefallen. Und je mehr er darauf acht gab, desto schärfer erwachte sein Argwohn und um so tiefer schlich sich unbewußte Sympathie und instinktive Achtung vor diesem fremden Menschen in seine Seele.
Er kniff die Augen wie im Rauch zusammen und sagte scheinbar obenhin, aber doch zweideutig:
»Beobachtungsgabe ist ein seltenes Talent …«
Schewyrjow antwortete nicht gleich; nur seine Finger gerieten in raschere Bewegung. Es sah aus, als ob er gar nicht antworten wolle, aber nach kurzem Schweigen warf er plötzlich den Kopf hoch, blickte Aladjew unverwandt kalt an und sagte, ein wenig die Lippen verschiebend:
»Ich verstehe Sie.«
»Wieso?« Aladjew wurde gegen seinen Willen verwirrt.
»Sie geben sich Mühe, rauszukriegen, ob ich nicht Spitzel bin … Nein, seien Sie unbesorgt. Warum auch … wo zwinge ich Sie etwa zum Reden und ich bin auch nicht von alleine zu Ihnen gekommen.«
»Ach, was reden Sie sich ein,« fiel Aladjew hitzig ein, wurde aber dunkelrot.
Schewyrjow lächelte wieder. Entschieden, sein Gesicht wurde beim Lächeln ganz anders, weich und fast zärtlich.
»Nein, warum auch nicht … Das liegt auf der Hand … Aber wenn ich ein Spitzel wäre, so müßte ich nach Ihrem Ausfragen schon wissen, daß Sie Grund haben, was zu fürchten.«
Aladjew sah ihn wohl eine Minute lang ganz verdutzt an, strich sich dann den Nacken, lächelte breit und machte eine hoffnungslose Handbewegung.
»Na, mögen Sie recht haben. Ich bin schuldig. Da läßt sich nicht streiten … Sie wissen ja selbst, wie es heute steht … Aber zu verstecken habe ich nichts.«
»Ich sagte fürchten, Sie aber sprechen von verstecken. Also, haben Sie doch etwas.«
Schewyrjow lächelte.
Aladjew sperrte weit die Augen auf und dachte nach.
»Tja …« sagte er langsam. »Aber doch, entschuldigen Sie, aus Ihnen könnte ein prächtiger Spitzel werden. Einer mit Psychologie!«
»Kann sein,« gab Schewyrjow ernst, doch mit durchklingender Unzufriedenheit zu. »Und was schreiben Sie?« fragte er mit dem offensichtlichen Bestreben, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
Aladjew errötete, als ob man ihn auf frischer Tat ertappt hätte. »Ja – so … ich fange ja erst an. Zwei Erzählungen sind übrigens schon gedruckt …. es geht an, man lobt sie.« Die letzten Worte fügte er ohne aufzublicken und mit scheinbarer Gleichgültigkeit hinzu, aber eine naive stolze Freude zeigte sich gegen seinen Willen deutlich genug in seiner Stimme.
»Weiß ich. Habe sie gelesen. Dachte erst nicht daran; habe mich dann Ihres Namens erinnert. Sie schreiben vom Bauernleben. Erinnere mich.«
Wirt und Gast schwiegen eine Weile. Schewyrjow starrte regungslos aufs Glas und spielte schnell, kaum merklich, mit den Fingern der auf dem Knie ruhenden Hand. Aladjew war sichtlich erregt. Er hatte große Lust, zu fragen, wie Schewyrjow seine Erzählungen gefielen. Er war vollkommen überzeugt, daß er nicht für das gebildete Publikum, sondern gerade für Arbeiter und Bauern schreibe. Ein paarmal öffnete er sogar den Mund, konnte sich aber nicht dazu entschließen. Dann steckte er sich eine Zigarette an, zwinkerte mit den Augen und beobachtete überaus aufmerksam die Flamme; aber, noch bevor er zu rauchen begann, fragte er mit gemachter Nachlässigkeit:
»Nun, wie haben Ihnen meine Sachen gefallen?«
»Warum nicht,« meinte Schewyrjow, »sie sind sehr eindrucksvoll geschrieben … Saftig!«
Aladjew errötete, und suchte vergebens ein strahlendes kindliches Lächeln zu unterdrücken.
»Nur idealisieren Sie die Menschen zu sehr,« fügte Schewyrjow hinzu.
»Das heißt?« fragte Aladjew aufgeregt.
»Wenn ich nicht irre, gehen Sie von dem Standpunkt aus, daß es bei gesundem Verstand und klarer Urteilsfähigkeit keine bösen Menschen gibt. Daß nur äußerliche, wegzuräumende Umstände die Menschen hindern, gut zu sein. Ich kann daran nicht glauben. Der Mensch ist von Natur widerwärtig. Im Gegenteil, gerade ungünstige Umstände sind erforderlich, um aus einigen … aber nur wenigen … gute Menschen zu machen.«
Aladjew war empört. Das war sein wunder Punkt; hierin lag der Grundzug seiner gesamten zukünftigen Schreiberei und er glaubte fest und einfach, ohne Beweise zu fordern, an seine Idee, wie ein Bauer an Gott glaubt.
»Was reden Sie da!« schrie er auf.
»So denke ich,« antwortete Schewyrjow mit eiserner Unerschütterlichkeit. »Ich bin ein Arbeiter, und kenne das gut.«
In seiner Stimme zitterte, gewaltsam unterdrückte, schmerzliche Bitterkeit, und mit einem Mal tat er Aladjew leid.
»Sie haben wahrscheinlich ein sehr schweres Leben hinter sich … und das hat Sie verbittert. Sie können unmöglich an das glauben was Sie behaupten. Das sieht ja, verzeihen Sie, nach Menschenhaß aus!«
»Ich fürchte dieses Wort nicht,« erwiderte er kühl: »ich hasse die Menschen in der Tat, aber das was Sie mit verbittert bezeichnen, nenne ich erfahren.«
»Worin?«
»Die Wahrheit zu sehen, die die Menschen hartnäckig vor sich selbst zu verbergen suchen.«
»Warum sollten sie sie verbergen, wenn alle so sind? Und was verstehen Sie unter dieser Wahrheit?«
»Sie muß unterdrückt werden, damit die einen auf Kosten der andern leben können. Das ist der gewöhnlichste Betrug … Wahrheit ist, daß alle Begierden des Menschen nur Raubtierinstinkte sind …«
»Was reden Sie!! Alle!« schrie Aladjew aufgeregt. »Und Liebe, und Selbstaufopferung, und Mitleid?«
»Ich glaube nicht an sie. Sie sind nur der Deckmantel, um die häßliche Blöße zu verbergen und die räuberischen Instinkte, die jedes Leben unmöglich machen, niederzuhalten. Ein Produkt menschlicher Ideen; es liegt gar nicht in der menschlichen Natur … Dressurstücke! … Wären Liebe – allerdings nicht die Geschlechtsliebe –, Mitleid und Selbstlosigkeit wirklich instinktiv in uns, so wie der Trieb zum Rauben, so hätten wir jetzt an Stelle des Kapitalismus die christliche Republik, die Satten könnten es nicht mitansehen, wie die Hungrigen sterben, und es würde keine Herren und Knechte geben, weil alle gegenseitig Opfer brächten und alles gleich wäre. Das aber haben wir nicht.«
Aladjew sprang aufgeregt empor und lief mit schweren Schritten durchs Zimmer als ginge er über aufgerissenen Schollen hinter dem Pflug her.
»Im Menschen leben zwei Prinzipien – das göttliche und das teuflische, wenn wir die Worte unserer Mystiker gebrauchen wollen. Der Fortschritt ist nur ein Kampf der beiden Prinzipien und nicht, wie Sie …«
»Ich meine, daß wenn die beiden Prinzipien, in ihrer reinsten Form genommen, der menschlichen Natur in gleichem Maße innewohnen sollten, das Leben nicht so widerwärtig sein könnte, wie es jetzt ist … In keinem Fall … Der bloße Kampf ums Dasein hat diese Stichworte erfunden, wie er Lokomotiven, Telephone und Medizin erfunden hat.«
»Nun gut … zugegeben … Folglich ist der Mensch doch imstande, seine Psyche zu beeinflussen, – warum glauben Sie dann nicht an den endlichen Sieg dieser Prinzipien über den Raubier-Instinkt? Die Ideale durchdringen das Leben langsam, aber sicher und nachdem sie den Sieg davongetragen und die Rechte aller Menschen gleich gemacht haben …«
»Das wird niemals geschehen,« – erwiderte Schewyrjow kühl: »in gleichem Maße wie dieser Fortschritt wächst auch die Mannigfaltigkeit des Lebens … Der Kampf ums Dasein ist ein ewiges Gesetz, er wird nicht eher aufhören, als das Dasein selbst.«
»Sie glauben also nicht an eine Verbesserung der Lebensformen?«
»An neue – ja, aber an bessere – nicht.«
»Warum das?«
»Der Mensch ist nicht glücklich oder unglücklich, weil ihm Gutes oder Böses zugefügt wird, sondern weil ihm die Fähigkeit zu Leid und Freude angeboren ist. Hätte ein Mensch des steinernen Zeitalters unsere Welt im Traum sehen können, so wäre sie ihm wie ein Paradies auf Erden vorgekommen. Und wir erleben nun seinen Traum, und sind doch ganz genau so, wenn nicht noch unglücklicher als er … Ich glaube an kein goldenes Zeitalter.«
»Na, wissen Sie,« sagte Aladjew, den es unwillkürlich durchfröstelte, »das ist ja ein dämonischer Unglaube. Verzeihen Sie, ich kann mir aber nicht vorstellen, daß Sie es wirklich so meinen …«
»Schade« – lächelte Schewyrjow kalt.
»Na, ich danke, das ist ja furchtbar.«
»Ich sage auch nicht daß es gut wäre.«
Aladjew verstummte und sah sein Gegenüber mit aufrichtigem Mitleid an. Jetzt begriff er woher die Klarheit und Kühle des Blicks, woher die schreckliche Ruhe kamen. In der Seele dieses Menschen war nichts als Finsternis und Oede. Vielleicht war noch heftiger Ekel und Rachsucht, doch auch nur unpersönliche Rachsucht zurückgeblieben.
Schewyrjow fing an, rascher mit dem Finger zu spielen, sann nach und stand plötzlich auf.
»Auf Wiedersehen,« sagte er, »ich bin von der Reise noch müde … und ich spreche selten so viel …«
Nachdenklich drückte ihm Aladjew die Hand. Doch als Schewyrjow die Tür öffnete, fragte er rasch:
»Ach, sagen Sie … Sind Sie wirklich ein Arbeiter?«
Schewyrjow lächelte. »Was ist da verwunderlich? Gewiß.«
Und er ging hinaus, die Tür fest hinter sich ins Schloß drückend.
Aladjew ging noch lange im Zimmer auf und ab, rauchte erbittert Zigaretten und setzte in Gedanken den Streit fort. Jetzt, da sein Gegner schwieg, schienen ihm seine eigenen Einwände unwiderlegbar; allmählich kam er ins Träumen. Das zukünftige Leben stieg gleich einer undeutlichen, aber sonnenhellen Vision vor ihm auf.
Vor seine Augen trat das unübersehbare Bild der Felder, Wälder und Dörfer, grau, traurig und ärmlich, in deren Endlosigkeit ein großes duldendes Volk seine einfältige Wahrheit, die Wahrheit eines künftigen gerechten Lebens still und verborgen hegt.
Aladjew wünschte etwas Gewaltiges zu schreiben: in einem Wurf durch ganze Berge von Bildern voller Kraft und Wahrheit, die von einer großen inneren Idee zusammengehalten werden, das auszudrücken, was ihn quälte und freute. Sein Kopf glühte, in seine Augen traten Tränen; es schien ihm nahe und erreichbar. Aber das bebende Bewußtsein seiner Kraftlosigkeit entflügelte seine Seele.
»Wie käme ich dazu.«
Er seufzte schwer und dachte mit einer Demut, die ihm das Herz erleichterte:
»Nun, was schon, wenn nicht ich, so ein anderer. Ich werde das meine tun!«
Eine Weile stand er noch im Zimmer, und starrte gedankenlos mit feuchten Augen auf das Bild Tolstojs, das ihn scharfseherisch und durchdringend von der Wand ansah.
Dann stellte er Zigaretten und Lampe auf den mit Zeitungspapier bedeckten Schreibtisch, reckte sich mit dem ganzen Körper und setzte sich nieder.
Er saß lange, fast bis zum Morgen, und schrieb ununterbrochen.
Voll Liebe und Inbrunst schilderte er, wie Bauern, die für ihre Ueberzeugung hingerichtet werden, sterben: schlicht, ohne Worte, ohne daraus eine Heldentat zu machen, ohne begeisterte Hymnen zu erwarten, gesammelt und ruhig, gleichsam als wüßten sie etwas, was anderen verborgen ist. Der Zigarettenrauch glitt langsam in dichten Wolken an der Lampe empor und verlor sich in der Dämmerung. In der Wohnung schwieg alles, nur schwarze Nacht schaute ins Fenster hinein. Man hätte sich kaum vorstellen können, daß ihre tote Finsternis Täuschung sei, und daß irgendwo hinter den Häusern, Dächern, auf den breiten Straßen Tausende lebender Feuer leuchten und eine eilende schwatzende Menge sich hinwälzt, Restaurants geöffnet stehen, nackte Schultern auf Bällen flimmern, in Theatern schöne Stimmen tönen; daß Menschen reden, sich verlieben, ums Leben kämpfen, Leben genießen und sterben.
Hinter der Wand, auf dem harten Bett, lag unbeweglich Schewyrjow, und seine kühlen, weit geöffneten Augen blickten mit unbeugsamem Ausdruck in die Finsternis.
Das einzige Fenster in Schewyrjows Zimmer ging auf eine Mauer hinaus, über der sich ein schmaler Streifen grauen Himmels, durchschnitten von verräucherten Schornsteinen hinzog. Das Zimmer hatte einen besonderen Charakter: infolge der vollständig kahlen Wände schien es zu hell und kalt, auf dem Fußboden war kein Stäubchen sichtbar, auf dem Tisch lag kein Buch, und wäre darin nicht Schewyrjow selbst, der ganz unsinnigerweise nicht am Fenster oder am Tisch, sondern vor der verschlossenen Tür zum Nebenzimmer saß, gewesen, so würde man gar nicht geglaubt haben, daß hier jemand wohne.
Kerzengerade und regungslos nur mit den Fingern leise auf die Knie trommelnd, saß Schewyrjow mit dem Rücken an der Tür, auf dem einzigen Stuhl, den er sich selbst dort hingestellt hatte. Seine Augen blickten teilnahmslos, als studiere er mechanisch seine Bettstelle, aber an den kaum merklichen Bewegungen, mit denen er auf jeden Laut reagierte, konnte man sehen, daß er gespannt auf alles horchte, was in der Wohnung vorging. Zuerst hörte er, wie Aladjew Tee trank, dann ausging; weiter fuhr er fort, die fernen Laute zu überwachen, die ihm schüchtern und schwach von dem grauen Leben Nachricht gaben, das sich um ihn bewegte.
Hinter der Tür, vor der er saß, wohnte – das wußte Schewyrjow bereits – eine blutjunge, naive und etwas taube Näherin. Er erriet das an ihrer frischen Stimme, dem stillen Schnurren der Maschine, an jenem mütterlichen Tone, in dem ihr die alte Wirtin über irgendetwas Vorwürfe machte und an dem stetigen Fragen der zaghaften und rührend hilflosen Stimme: »Wie?«
Weiter im Korridor, hinter dem Vorhang, wühlten zwei alte Leute in Haufen von Lumpen, wie Würmer im Aas, sich fortwährend im Flüstertöne etwas zurufend. Dieses ängstliche Hin- und Herraunen, das mitunter abriß, als wenn die Alten etwas Beunruhigendes aufgestört hätte, klang widerwärtig durch die Stille.
Einmal kam die Wirtin zu Schewyrjow herein, eine magere Greisin, mit trüben, erloschenen Augen. Als Schewyrjow ihr die Miete gab, betrachtete sie das Geld lange und betastete es mit den dürren Fingern.
»Bin blind geworden …,« sagte sie mit trauriger Ruhe, und später hörte Schewyrjow, wie sie das Geld der Näherin zeigte und diese ihr silberhell und laut, wie alle Tauben, die nicht verstehen, daß sie gehört werden, antwortete:
»Es stimmt, stimmt, Maksimowa!«
So saß Schewyrjow gegen drei Stunden, ohne auch nur einmal die Stellung zu ändern, und nur seine Finger bewegten sich schneller und schneller. Aufmerksam und ernst sog er zu irgend einem Zwecke alle diese farblosen Töne, die ohne Worte erzählten, wie arm und elend ein menschliches Leben sein kann, in sich ein.
Dann stand er rasch auf, zog sich an und ging fort.
Schewyrjow stand auf dem Fabrikhof und schaute durch das riesige Fenster mit eisernem Kreuz in den Maschinensaal.
Dort, im Innern, summte und rasselte es, und die Scheiben klirrten leise mit. Die umgebenden Fenster ließen wahrscheinlich eine Menge Licht nach innen durch, aber vom Hofe aus über den sich hoch und hell der freie Himmel spannte, machte es den Eindruck, als herrsche darin ewige Dämmerung. Man sah, wie Ketten gespenstisch hinauf- und herunterkrochen, wie Schwungräder stürmisch, und doch scheinbar lautlos hin- und herschwirrten und endlose Riemen ins Dunkel liefen. Alles drehte sich, wälzte sich, war in Eile, nur Menschen waren fast gar nicht zu sehen. Ab und zu erschien mitten unter schwarzen, kühl glänzenden Ungeheuern ein blasses Menschengesicht mit Augen wie die eines Leichnams und versank gleich wieder in der trüben, mit Dröhnen und Bewegung erfüllten Dämmerung. Dieses schreckliche Dröhnen schien immer stärker und stärker anzuschwellen, und blieb sich doch immer gleich wuchtig und eintönig. Und die staubigen Fensterscheiben ließen alles in einem farblosen Ton, flach und grau, wie auf der Leinwand eines gigantischen Kinematographen, zerrinnen.
Dicht am Fenster, auf dem Hintergrund der mit ungelenker Gewandtheit laufenden schwarzen Hebel, Räder und Kolben drehte ein kleines feingegliedertes Wunderding aus Stahl und Eisen mit abstoßenden zuckenden Bewegungen hastig an einem Messingbecken und feine goldene Späne entfielen seinen scharfen metallenen Zähnchen.
Ueber ihm schaukelte sich ein gekrümmter menschlicher Rücken; schmutzige große Hände bewegten sich hin und her.
Dieses Schaukeln war gleichmäßig, monoton und ging in ausfallender Weise in die Bewegungen der kleinen Maschine über.
Gerade auf dieses Wunderding war Schewyrjows aufmerksamer Blick gerichtet. Es war ebensolch eine Drehbank, wie die, hinter der er sich einst, voll von unerfüllbaren Hoffnungen, gestellt hatte, hinter der er dann tagaus, tagein, von früh bis spät, fünf lange Jahre gestanden hatte. Gestanden, ob gesund oder krank, traurig oder froh, verliebt oder von bangen Gedanken an die, zu denen ihn seine Seele zog, gequält.
Hätte jemand jetzt Schewyrjows Auge gesehen, so wäre er über den sonderbaren Ausdruck in ihm erstaunt gewesen: es war nicht mehr kalt und klar, wie sonst; eine gewisse zarte Trauer glimmte darin, und scharf loderte mitunter unversöhnlicher, eiserner Haß auf. Mitunter zuckten seine Lippen, aber es war nicht zu erkennen, – ist es Lächeln, oder flüstert er lautlos etwas vor sich hin?
So stand er lange, wandte sich dann jäh um, wie auf Kommando, und ging mit festen Schritten fort.
»Wo ist das Kontor?« fragte er den ersten Arbeiter, der ihm in den Weg kam.
»Drüben. Zweiter Eingang,« antwortete der Arbeiter und blieb stehen. »Sich einschreiben lassen? Niemand wird eingestellt,« setzte er halb mitfühlend, halb schadenfroh hinzu und lächelte, wobei unter den dünnen bläulichen Lippen große, hungrige Zähne, weiß wie bei einem Neger, zum Vorschein kamen.
Schewyrjow sah ihm gerade ins Gesicht, als wollte er sagen: »– – Weiß schon …« Er öffnete die Tür und trat ins Kontor. Drinnen warteten schon gegen zehn Mann, die unter zwei hohen weißgestrichenen Fenstern saßen. Auf dem hellen Hintergrund konnte man nur schwarze Schatten sehen; auf irgend einer glatten Glatze, spiegelte sich wie auf einem Totenschädel ein bläulicher Lichttropfen. Die mienen- und augenlosen Schatten wandten sich Schewyrjow zu und verfielen dann wieder in das gewohnte geduldige Abwarten. Schewyrjow blieb aufrecht an der Tür stehen.
Es war lange still. Endlich klappte die innere Tür, und ein dicker kurzhalsiger Mann trat schnell ins Kontor.
»Nikophorow, die Strafliste!« befahl er mit selbstsicherer angeschwollener Stimme.
Der Schreiber warf die Feder hin und fing an, in einem Haufen blauer Bücher herumzustöbern, gleichzeitig schoben sich die glatten Schatten, die sich beim Eintritt des Meisters erhoben hatten, von allen Seiten auf ihn zu und drängten sich alle auf einmal an ihn heran. Abgetragene Jacken, durchlöcherte Mützen, schmutzbedeckte Stiefel, fahle Gesichter mit hungrigen Augen und herabhängende sehnige Arme traten ins Licht.
»Herr Meister!« begannen gleichzeitig einige heisere Stimmen.
Der dicke Mann riß grob und gereizt das Buch aus der Hand des Schreibers und drehte sich zu ihnen um.
»Schon wieder!« schrie er unnatürlich laut. »Draußen hängt doch der Anschlag! He!«
»Erlauben Sie zu erklären,« ein alter Mann versuchte, sich vorschiebend, den Meister milder zu stimmen.
»Was da noch erklären! Keine Arbeit – fertig! Keine Aufträge … Also bald lassen wir auch Unsre Schicht machen. Ist ja klar!«
Für einen Augenblick verstummten alle, als zögen sie sich in sich zusammen. Aber der alte Mann begann mit Tränen in der zitternden Stimme:
»Wir verstehen ja … Freilich, wenn es keine Arbeit gibt … was ist da viel zu tun. Aber es ist nicht zum Aushalten … Wir verhungern… Wenn wir bloß den Ingenieur Pustowojtow sprechen dürften … der Herr hat uns voriges Mal versprochen nachzusehen … ob …«
Seine glänzenden hungrigen Augen richteten sich voll Flehen und Angst auf den Meister.
»Nein!« schnitt ihm der, ganz plötzlich in Wut geratend, das Wort ab.
»Fjodor Karlowitsch …« bat beharrlich der Alte, als wenn er nichts gehört hätte.
»Ich habe euch hundertmal gesagt,« sagte der Meister mit stark hervortretendem deutschen Akzent, den man vorher nicht so stark herausgehört hatte, aber weniger laut: »Daß der Ingenieur damit nichts zu tun hat!«
»Aber der Herr …«
»Der ist augenblicklich gar nicht in der Fabrik,« fiel ihm der Deutsche ins Wort und drehte sich um.
»Wieso denn, da steht doch die Equipage des Herrn vor dem Eingang …« bemerkte einer aus dem Häuflein.
Der Meister wandte sich rasch dorthin; auf sein Gesicht trat kalte Wut.
»So … laßt sie nur stehen! Um so besser für euch!« warf er spöttisch hin und machte wieder einen Schritt auf die Tür zu.
»Fjodor Karlowitsch!« rief eilig der Alte mit einer Bewegung, als wollte er ihm nachlaufen.
Der Deutsche ließ eine Sekunde lang den Blick auf seinem Gesicht, oder vielmehr nicht auf dem Gesicht, sondern auf der Glatze ruhen.
»Du überhaupt …« sagte er langsam und schadenfroh; »brauchst gar nicht erst zu kommen. Was bist du für ein Arbeiter!«
»Fjodor Karlowitsch,« rief der Alte verzweifelt: »erbarmen Sie sich … bin ich denn … ich hab' mich doch immer gut gehalten.«
»Das war, und das ist,« warf der Meister mit gemachter Gelassenheit ein, »bist eben alt geworden, Bruder, Zeit zur Ruhe … Komm lieber gar nicht erst her, ist zwecklos!«
Er faßte den Griff der Tür.
»Erbarmen Sie sich, ich bin doch …«
Aber die Tür schlug zu, und die Worte des Alten prallten gegen die gelbe gleichsam spöttische Wand. Der Alte blieb stehen, schlug die Arme auseinander und wandte sich um, als wenn er sagen wollte:
»Na, gut … und was nun?«
Ganz plötzlich begannen alle die Mützen aufzustülpen und hinauszugehen.
Sie gingen aber nicht auseinander, sondern drängten sich am Eingang wie eine kleine Herde, mit den Köpfen nach innen, zusammen, wahrscheinlich hatten viele keinen Fleck, wohin sie hätten gehen können, so ziellos, verwirrt apathisch sahen sie auf ihre Füße. Einer zündete sich eine Zigarette an, die anderen verfolgten es aufmerksam mit den Blicken. Die zerknickte Zigarette wollte lange nicht anrauchen.
»Stell dich doch nicht grad' in den Wind,« bemerkte einer friedlich.
»Ah … leck mir …!« rief plötzlich der Rauchende, schleuderte die Zigarette mit ganzer Kraft gegen die Wand und blieb stehen, als wüßte er nicht, was er anfangen solle.
»Nu sieh, was soll man tun … ich habe ja seit drei Tagen nichts gegessen …« murmelte ein fahler Bursche und lächelte unvermittelt, als erwartete er Beifall für einen gelungenen Scherz.
»Wirst auch den vierten nichts essen!« gab ganz gleichgültig der zurück, der zu rauchen versucht hatte.
In diesem Augenblicke trat aus einem anderen Eingang mit schnellen, eleganten Schritten ein voller hellblonder Herr mit aufgedrehtem buschigem Schnurrbart. Bei seinem Erscheinen lief eine unfaßbare Bewegung durch das Häuslein der Arbeiter. Sie zuckten nervös zusammen, machten ein paar Schritte vorwärts und blieben stehen. Nur der Alte zog die Mütze und entblößte seine schmutzige Glatze. Ueber das feste Gesicht des Ingenieurs glitt ein leiser Schatten. Er schien etwas sagen zu wollen, zuckte jedoch nur mit den Schultern, blickte vorwurfsvoll nach oben und rief gereizt:
»Sstefan! Hierher! Zum Teufel nochmal …!«
Der dicke Kutscher mit einer Uhr am Gürtel wendete das Pferd nach dem Eingang zu. Der Ingenieur sprang rasch und gewandt auf den Tritt des Wagens und ließ sich auf den knackenden Ledersitz nieder. Der fuchsrote Traber zog mit einem Ruck, spielend, an; das schillernde Haar flimmerte, die Gummireifen beschrieben einen weichen Halbkreis und der Wagen fuhr leicht zum Fabriktor hinaus. Er funkelte noch einmal im Licht auf und verschwand.
Die Arbeiter liefen auseinander.
Schewyrjow ging als letzter fort. Er steckte die Hände in die Taschen, reckte sich, richtete den Kopf hoch auf und ging schnell die Straße herunter.
In dem wasserhellen Licht des Herbsttages erschien die große Stadt noch schmutziger und kälter als gewöhnlich. Die pfeilgeraden nassen Straßen tauchten in dem bläulichen Nebel unter, und weit hinten, wo Menschen, Pferde, Häuser und Laternen in trübem Blau zusammenschmolzen glitzerte gespenstisch, wie in der Luft schwebend, die dünne goldene Spitze des Admiralitätsturms.
In dem Kellerwirtshaus, wo Schewyrjow zu Mittag aß, ging es lärmend her und das Gemisch von Tabaksqualm, Schweiß und Küchendunst ballte sich in einem dichten klebrigen Dunst zusammen, daß die Menschen darin wie in einem Sumpfnebel verschwanden.
Schewyrjow saß hinter einem Fenster, vor dem menschliche Beine in unaufhörlichem Zuge hin und her liefen, schaute, die Ellbogen auf das fettdurchweichte Tischtuch gestemmt, teilnahmslos in das Nebenzimmer hinüber, wo sich im Tabaksrauch irgendwelche Schatten an dem wackligen Billard bewegten. Trockenes Krachen, lautes Lachen und Schimpfen tönte von dort herüber. Am Nebentisch saß eine Gesellschaft angeheiterter Schustergesellen. Einer von ihnen, ein hagerer Bursche von desperatem Aeußern, mit einem Ring im Ohr, sorgte für die Belustigung der andern, indem er sich über ein einfältiges Bäuerlein lustig machte, das ihm mit gedankenlos interessierten Augen auf die Lippen blickte. Der Bursche log ihm etwas vor, log mit Begeisterung, verschluckte sich vor Vergnügen, konnte es aber manchmal selber nicht aushalten, schlug sich dann entzückt auf die Knie und rief zum Publikum, gewendet, mit Seligkeit in der Stimme:
»Aber das ist doch ein Dummkopf, Brüderchen! Ich beschwindele ihn ohne Ende, schwindele ohne Ende und, er glaubt alles! … Wahrhaftig alles glaubt er, Brüderchen.«
Das Bäuerlein lächelte verlegen, machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand und wandte sich ab, aber der Bursche mit dem Ohrring legte sich wieder mit der Brust auf den Tisch, öffnete weit den Mund und begann von neuem mit feierlichem Ausdruck:
»Aber dann erst, als ich in Pensa wohnte …«
Das Bäuerlein zuckte, streckte den Hals aus und richtete seinen Blick unterwürfig auf die Lippen des Erzählers.
Jeden Augenblick knarrte die Tür und ließ zugleich mit den Nebelschwaden immer neue und neue Gäste herein, deren Fluchen man schon von draußen, von der Treppe her hören konnte.
Die Dämmerung wurde dichter, der Nebel wurde dichter, und der Lärm lag schwer unter der niedrigen Decke. Der Lärm, der Gestank, der Rauch, die Menschen und die Flüche verschlangen sich zu einem albdruckartigen Schmutzknäuel, in dem man nichts einzelnes mehr zu unterscheiden vermochte.
An dasselbe Tischchen, an dem Schewyrjow saß, ließ sich bald nach ihm ein hagerer langhalsiger Mensch mit einem äußerst dunklen und ganz verzückten Gesicht nieder. Er befand sich offensichtlich die ganze Zeit über in schrecklicher Aufregung. Bald stützte er den Kopf auf die Hände, bald sah er sich um oder drehte sich auf dem Sitz hin und her und suchte etwas in allen Taschen, fand aber nichts. Manchmal blickte er auf Schewyrjow und schien ein Gespräch anfangen zu wollen, wagte es aber nicht. Schewyrjow bemerkte es zwar, sah ihn aber kühl an und erleichterte es ihm nicht. Schließlich, nach einem besonders witzigen Einfall des Burschen mit dem Ohrring, der ein Donnergelächter der Handwerker entfesselte und das leichtgläubige Bäuerlein in endgültige Verwirrung gebracht hatte, wandte sich der langhalsige Mann zu Schewyrjow und wies verbindlich lächelnd auf den Burschen hin:
»Das wird wohl auch so ein Durchgänger sein!«
»Ja …« Schewyrjow erwiderte nur ungern.
Der langhalsige Mann drehte sich, wie wenn er nur darauf gewartet hätte, entschlossen zu ihm um und sagte mit einem Gesichtsausdruck, als stürze er sich ins Wasser:
»Genosse, Sie sind einer von uns, was … ein Arbeiter?«
»Ja« antwortete Schewyrjow ebenso kurz.
Der langhalsige Mann zuckte mit dem ganzen Körper.
»Hören Sie, ich möchte Sie bitten … es sind erst drei Tage, daß ich in der Hauptstadt bin … Wissen Sie nicht, wie ich mir Arbeit verschaffen kann … Ich bin Schlosser … was?«
Seine Augen sahen Schewyrjow bittend an, sein Gesicht bewahrte dabei den früheren verzückten Ausdruck.
Schewyrjow schwieg eine Weile.
»Ich weiß nicht,« antwortete er: »Ich bin selber arbeitslos. Ist keine Arbeit zu finden … Stillstand. In der Stadt gibt es jetzt ein paar Zehntausender Arbeitslose …«
Der Mann mit dem verzückten Gesicht starrte Schewyrjow an; sein Mund war halb geöffnet. Dann begann sich sein Gesicht zu verändern, blaß und entkräftet zu werden, es nahm plötzlich den Ausdruck naiver wehrloser Verzweiflung an. Er warf den Rücken gegen die Stuhllehne und schlug die Hände hoffnungslos auseinander.
»Wozu sind Sie hergekommen?« fragte Schewyrjow unerwartet, fast wütend. »Hatten Sie denn keine Ahnung, was hier zusammengehungert wird. Säßen Sie doch, wo Sie waren.«
Der Mann schlug wieder die Hände auseinander.
»Es ging nicht … Kam in die schwarze Liste, als ich aufhörte … Was sollte ich da machen?«
»Aus welchem Grunde?« fragte Schewyrjow gleichgültig.
»So. Wurde gestreikt. Ich war von den Genossen in den Ausschuß gewählt worden … Damals wagte man nicht, zu maßregeln, jetzt aber, wo's wieder ruhig ist, ist's ihnen wieder eingefallen. Na, – – und raus!«
»Wo arbeiteten Sie?«
»In den Gruben … Ging als Schlosser.«
»Sie waren im Ausschuß? … Warum sind denn die Genossen nicht für Sie eingetreten?«
Schewyrjow erkundigte sich mit ganz besonderer, harter Betonung danach, hörte aber trotzdem aufmerksam zur Seite auf die neuen Lügen des Burschen mit dem Ohrring.
Der Schlosser sah Schewyrjow verwundert an.
»Was konnte das Eintreten helfen! … Drei Kompagnien Soldaten haben sie geholt, ein Maschinengewehr aufgestellt … damit Schluß!«
»Haben Sie sich nicht vorher gedacht, daß es so enden wird?« …
»Das heißt … in der Zukunft, warten wir ab … vorläufig natürlich wußte ich's.«
»Warum machten Sie dann mit?«
»Das heißt … Wie – warum? Die Genossen haben mich gewählt …«
»Sie brauchten nicht annehmen,« erwiderte Schewyrjow, den teilnahmlosen Blick immer noch zur Seite gewendet.
»Nun, was wäre das! … Wenn das alle tun wollten, was denn?«
»Aber vor dem Maschinengewehr haben sich alle gedrückt?«
»Das ist was andres … in den Tod, – das ist nicht so einfach! Leute mit Familien, Frauen, Kindern.«
»Sie sind nicht verheiratet?«
Der Schlosser zuckte, senkte den Blick, rieb an seiner Stirn und antwortete leise:
»Habe eine Mutter …«
Er verstummte und sah in die Ecke; er schien jetzt auch auf den flotten Burschen mit dem Ohrring zu hören:
»Da wollte mir nun der Ingenieur seine Tochter zur Frau geben, ich habe mich aber bedankt.«
»W–weshalb denn?« fragte das Bäuerlein mitleidig und doch schon mißtrauisch, den entzückten Blick wieder auf die Lippen des Burschen gerichtet.
»Darum, mein Lieber, weil ich Arbeiter, Proletarier bin, und sie eine Adlige. Natürlich, gefallen hat sie mir auch, – und sehr, – aber so, nicht in die Hand. Zum Abschied sozusagen, brachte sie mir selber Champagner heraus und sagte: »Ich achte Sie sehr hoch, Jelisar Iwanitsch, und werde immer an Sie denken.« Na, und … einen goldenen Ring gab sie mir … Wie nichts.«
»Nun?« Das Bäuerlein rückte näher.
»Nun, was noch? Den Ring habe ich jetzt noch … liegt auf der Pfandleihe für fünf Rubelchen. Gerade jetzt bin ich blank, aber später hol' ich ihn raus, dann trag' ich ihn … Das muß man, – selbstverständlich, ist ein Andenken!«
»Was ich euch sage, Kinder!« wandte sich plötzlich der Bursche in ganz anderem Tone den übrigen Zuhörern zu: »Arbeite ich da in Pensa in einer englischen Fabrik, Gebrüder Morris ist die Firma. Das war 'n Ding, Brüder! Strafen keine, bei Krankheit ohne Abzüge, für die Arbeiter steinerne Häuser mit Möbeln … Nun, geradezu, ich war wie im Himmelreich angekommen … Der alte Engländer selber, immer mit Sie und jedem die Hand, ganz ein Genosse … Nicht wie bei uns, nein, das muß man sagen, dem Arbeiter war da menschliches Leben gegeben, und …«
»Na, genug mit dem Blech!« Das Bäuerlein wurde plötzlich wütend und schwenkte mit enttäuschter Miene die Hand. »Der quatscht, weiß selber nicht, was … Und ich Esel, höre zu …«
»Bei Gott, es ist wahr!« beteuerte der Bursche mit ernster Ueberzeugung.
»Ah, du – du!« das Bäuerlein geriet immer mehr in Wut. »Der schneidet auf. – Pfui, Teufel!«
Er stand zornig auf und ging in die Ecke, wo er sich eine Zigarette zu drehen begann, während er beleidigt vor sich hin murmelte.
Der Schlosser beugte sich rasch zu Schewyrjow hin und flüsterte ihm zu:
»Bin im sechsten Monat von Hause fort … vielleicht ist die Alte schon Hungers gestorben …«
Sein schwarzes Gesicht verzog sich.
»Ja, wenn das stimmt, daß auf Arbeit nicht zu rechnen ist, was bleibt dann übrig … von der Brücke ins Wasser …«
Er stützte kurz die Ellbogen auf die Tischplatte und vergrub die Finger im zottigen Haar.
»Was sonst?« Der Schlosser hob augenblicklich den Kopf. »Verhungern, was?«
Schewyrjow lächelte still und böse.
»Es heißt, der Tod durch Ertrinken ist der furchtbarste. Am Hunger krepieren ist vielleicht angenehmer …«
Die Augen des Schlossers öffneten sich weit im schwarzen Gesicht und richteten sich fragend auf Schewyrjow.
»Und was beweisen Sie dadurch, daß Sie ins Wasser gehen? … Einen Hungrigen weniger, um so besser für sie …«
»Was dann?«
»Suchen Sie Arbeit, wenn Sie nichts Besseres ausknobeln können,« warf Schewyrjow hin.
Der Schlosser machte eine verzweifelte Geste.
»Ich suche seit sechs Monaten … Werde nirgends eingestellt, weil ich ein ›Politischer‹ bin! … Nächtige in Asylen, habe manchmal drei Tage lang keinen Bissen … bekomme ich jetzt wirklich Arbeit, werde ich vielleicht keine Kräfte mehr haben. Vorgestern bin ich fechten gegangen … soweit bin ich schon!«
»Was?«,
»Ganz einfach … habe gebettelt, weiter nichts … Eine Dame ging vorbei, die habe ich angesprochen …«
»Hat sie was gegeben?«
»Nein. Sagte, sie hätte kein Kleingeld …«
Schewyrjow legte die Hand auf den Tisch und begann mit den Fingern zu trommeln. Der Schlosser betrachtete aufmerksam und hoffnungslos diese wirbelnde nervöse Bewegung. Ringsum wurde gelacht, gelärmt und geflucht, im Billardzimmer krachten dumpf die Bälle aneinander, und einer, offenbar zerschlagen, rollte mit einem Geräusch, als raßle irgendwo in der Ferne ein Zug, über das Tuch. Der Bursche mit dem Ohrring siedelte nach dem Billardzimmer über; man hörte von dort seine fröhliche Stimme. Hinter dem Fenster zuckten, wie vorher, Beine auf und nieder. Man hatte den Eindruck, daß es immer dieselben Menschen wären, die an diesem Fenster absichtlich vorbeigingen: gingen hin und kamen wieder, standen eine Zeitlang hinter der Ecke und liefen dann wieder vorbei.
»Nun gut, aber haben Sie mit der Geschichte wenigstens etwas erreicht?« fragte Schewyrjow.
»Gewiß!« rief der Schlosser.
Auf seinem schwarzen, hoffnungslosen Gesicht vollzog sich eine blitzartige Verwandlung: Die Augen fingen an zu glänzen, der Kopf richtete sich auf und der vorherige verzückte Ausdruck breitete sich über die ganze langaufgeschossene Gestalt.
»Wir hatten, wissen Sie, bei den Bergarbeitern zu tun. Das ist wirklich das allerstumpfsinnigste Volk. Ist ja auch nicht anders zu erwarten. Den ganzen Tag, von fünf Uhr früh bis abends acht unter Erde. Abends nach Hause gelaufen, gegessen und schlafen gegangen … Und um vier Uhr pfeift es schon wieder zum Aufstehen. Dreck, Nässe, Erkältungen, immer wieder Explosionen … Auf unserer Grube explodierte es zweimal: einmal achtzehn Mann getötet, das andere Mal zweihundertzweiundachtzig … Ein Leben wie im Zuchthaus … verschickt man einen Bergarbeiter nach Sibirien, so findet er es dort hundertmal schöner! Na, freilich, das Volk ist auch abgestumpft und gleichgültig bis zum Aeußersten. Nur die Arbeiter in unserer Bude – die gelernten – das war eine intelligente Gesellschaft … alle organisiert. Wir waren auch im Anfang die einzigen, die das Ding drehten … Es war keine leichte Sache. An allen Ecken Spitzel. Die geringste Kleinigkeit wurde dem Ingenieur zugetragen; Iwanow, Petrow, und wer sonst, sind nicht zuverlässig. Und darauf, binnen vierundzwanzig Stunden, per Schub – raus … Die Agitation war furchtbar schwer … Aber schließlich haben wir doch Bewegung in die Bude gebracht.«
Der Schlosser lächelte begeistert und stolz.
Man konnte sich eine Vorstellung machen, wieviel unmenschliche Mühe ihn diese »Bewegung« gekostet, wieviel Gefahr, Angst und Qual er erlebte, ehe er den ersten Erfolg sehen konnte.
Schewyrjow sah ihn aufmerksam an.
»Alles haben wir erkämpft; eine Arbeitervertretung, das Versammlungsrecht, die Wohnungsfrage geregelt, das Krankenhaus verbessert, den alten Arzt verjagt … Das war ein Viech … Eine Bibliothek haben wir eingerichtet und von uns einen hineingebracht.«
»Sind viele dabei niedergeknallt worden?« warf Schewyrjow scheinbar gleichgültig ein.
»Nein, damals ging es noch … Soldaten waren da, aber schießen zu lassen, wagte man nicht. Damals hatte man noch Angst … Später, allerdings …«
Der Schlosser machte eine verzweifelte Handbewegung, und der begeisterte Ausdruck schwand langsam von seinem mageren schwarzen Gesicht.
»Die schwarzen Hunderter Die schwarzen Hunderter = Mitglieder des Verbandes echt russischer Leute. kamen herein, wie immer … Es gab eine Spaltung, und die Verwaltung, sobald sie merkte, daß alles auseinanderfällt, benutzte die Gelegenheit und es ging los … Unsere Vertreter flogen aus dem Ausschuß, an ihre Stelle wurden Schwarzhunderter und Meister gesetzt, die Ausschußmitglieder ins Gefängnis gesteckt, die Bibliothek aufgelöst …«
»Und ihr habt ruhig zugeguckt?«
»Wir vom Ausschuß waren ja zumeist im Gefängnis.«
»Nicht die vom Ausschuß, sondern die Arbeiter selbst … bei denen ihr Bewegung hineingebracht hattet?«
»Ja … ich sagte eben, Maschinengewehre wurden vor der Grube aufgestellt.«
»Ach so … Maschinengewehre …« Schewyrjow dehnte mit unbestimmtem Ausdruck seine Stimme.
Der Schlosser schwieg eine Weile; sein Gesicht verzog sich mehr und mehr.
»Wissen Sie … was die getan haben, das weiß nur Gott allein. Alles hat's gegeben, Nagajka, Erschießen, Vergewaltigung der Frauen – Am bittersten ist es den Ausschußmitgliedern gegangen … Mit mir ging es noch, ich wurde unter den ersten verhaftet … die anderen haben es ganz anders abgekriegt … Unsern Bibliothekar hat ein Kosak an den Sattel gebunden und im Trab nach der Stadt gejagt. Die Arme waren ihm auf den Rücken gebunden, so daß ihm die Arme, wenn er zurückblieb, ausgedreht wurden, er in den Schmutz fiel und über die Erde geschleift wurde … Hinten aber ritt ein anderer Kosak und stach mit der Lanze, damit er aufstünde! Diese Schakale! … Geweint haben manche, als man ihn so sah …«
»Ach so, geweint!« wiederholte Schewyrjow.
In seiner kalten Stimme tönte eine wilde, unversöhnliche Verachtung. Sein Gesicht blieb jedoch regungslos wie immer, und nur die Finger trommelten rascher auf der Tischplatte.
Der Schlosser verstand offenbar, denn seine Augen flammten auf.
»Ja, geweint … und werden noch weiter weinen … Aber in den Tränen steckt Blut.«
Er hob die Hand und drohte mit dem schwarzen Finger. Sein ganzes Gesicht geriet in Verzückung, als wenn sich seine Seele in finsterer Begeisterung spannte.
Schewyrjow lächelte kühl.
»Ihr schätzt eure blutigen Tränen billig ein!« warf er verächtlich hin.
»Ob billig oder nicht, die Rache wird nicht ausbleiben!« erwiderte der Schlosser mit felsenfester, fast wahnwitziger Ueberzeugung.
»Ob sie nicht doch ausbleibt? … Und wann? … wenn Ihr vor Hunger krepiert seid?«
Der Schlosser blickte ihm erschrocken in die Augen. Ein schrecklicher Kampf zeigte sich auf dem ausgehungerten schwarzen Gesicht mit den brennenden phantastischen Augen. Wohl eine Minute hielten sie sich beide mit ihren Blicken fest. Schewyrjow bewegte sich nicht. Der Schlosser senkte plötzlich das Auge, sein langer Körper wurde schlaff, und den Kopf auf die Hände gelegt, antwortete er eigensinnig:
»Und wenn auch … Hat denn mein Leben irgendwelchen Wert im Vergleich …«
»Nein, es hat keinen Wert!« schnitt ihm Schewyrjow rauh das Wort ab und stand auf.
Der Schlosser hob rasch den Kopf, wollte etwas sagen, legte ihn aber wieder nieder.
»He, hat sich der einen Affen gekauft!« rief jemand am Nebentischchen und stieß ein trunkenes, idiotisches Lachen aus.
Schewyrjow stand eine Weile da, überlegte. Seine Lippen bewegten sich, er sagte aber nichts, lächelte nur verzerrt und schritt mit hoch erhobenem Kopf zum Ausgang.
Der schwarze Schlosser hatte sein Gesicht nicht erhoben.
Der breite, gerade Prospekt verlief sich, vom kalten Himmel überspannt, in der blauen Ferne. Und soweit das Auge reichte, sah es eine dunkle, scheckige, lebendige Menge sich eilend vorwärtsbewegen, zusammenfließen, drängen und stoßen, durch die endlose Kette der Equipagen und die Schienen der Straßenbahn in zwei Teile zerschnitten, ohne daß sie auch nur für eine Minute sich zu vermehren oder zu vermindern schien.
Prächtig sahen die Häuser aus, groß und spiegelnd die Schaufenster, leicht und elegant die Laternen und die Pfähle der elektrischen Straßenbahnleitung. Selbst die Luft und das Licht des Himmels schienen hier heller und reiner. Es atmete sich leichter, als im Freien, und das Blut rollte frischer durch die Adern.
Vor Schewyrjow, hinter und neben ihm, schoben sich in endloser Kette Menschen mit lebensvollen, festlichen Gesichtern. Von allen Seiten tönte Gelächter, Stimmengewirr, Knistern von Seidenstoff, und über dem ganzen bunten Lärm schwebten die Glockensignale der Straßenbahn und das weiche, bald wie Wellen anschwellende, bald sinkende Gedröhne der Equipagen.
Schewyrjow hatte die Hände in den Taschen vergraben, den Kopf trug er hoch ausgerichtet.
Vor ihm trottete ein korpulenter Herr, den Hut auf der Seite eingeknickt, den rosigen Doppelnacken, von einer weichen, wohlgepflegten Falte durchfurchtet. Sein Gang war solide und gleichzeitig leicht, die Hand im braunen Handschuh schwang den Spazierstock.
Der Kopf auf dem kurzen rosigen Hals drehte sich sorgenfrei nach allen Seiten, besonders die Frauen musterte er mit Behagen. Man sah ihm an, daß er soeben vom Diner kam, daß es ihm in seiner zufriedenen Stimmung Vergnügen machte, die frische Luft einzuatmen und die vom Essen angeregten Nerven durch den Anblick hübscher Frauengesichter kitzeln zu lasten.
Lange hatte ihn Schewyrjow nicht bemerkt, doch der rosige Nacken lag beharrlich vor seinen Augen und das appetitliche Fältchen am Halse zitterte faul bei jedem Schritt. So blieb sein schwerer und harter Blick endlich an ihm haften.
Ein drückender, stumpfer Gedanke setzte sich plötzlich in diesem Blick Schewyrjows fest; er zog ihn hinter dem Nacken her. Als eine Gruppe von Damen Schewyrjow den Weg verlegte, bog er rasch, obgleich noch ganz mechanisch, ab, stieß einen Offizier an, ging aber, ohne den empörten Ausruf »Tölpel« zu hören, weiter hinter dem rosigen Nacken her, langsam, beharrlich, unablässig.
In seinen hellen Augen spannte sich der sonderbare unheimliche Ausdruck noch straffer; die durchsichtige Klarheit einer schonungslosen Kraft lag darin.
Hätte sich der dicke Herr mit dem rosigen Nacken umgeschaut und diesen klaren Blick verstanden, so würde er sich in die Menge gestürzt, sich in ihre lebende Masse eingepreßt und verzweifelt, mit qualverzerrtem Gesicht um Hilfe geschrien haben.
Das Denken Schewyrjows wirbelte mit toller Geschwindigkeit in dem glühenden Hirn, zog immer engere und engere Kreise, und blieb zuletzt mit albdruckartiger Wut an dem rosigen Nacken hängen, wie ein zentnerschwerer Stein über dem Kopf eines Menschen. Hätte man versucht, den Kern dieser Gedanken in Worte zu fassen, so müßten sie gelautet haben:
»– – Du gehst … geh nur! … Aber merke dir, daß ich mir, wenn irgend ein Glücklicher, Satter, vor mir geht, sage: der ist satt, der ist glücklich, der lebt, nur weil ich es ihm erlaube! … vielleicht überlege ich es mir im selben Augenblick und dann sind ihm nur noch zwei Sekunden, eine, eine halbe zu leben gegeben … Vor mir können jetzt die armseligen Redensarten von dem heiligen Recht eines jeden Menschen auf Leben nicht mehr bestehen! Ich bin Herr über dein Leben! … Und niemand kann Stunde noch Tag wissen, da sich das Maß meiner Geduld erfüllt und ich komme, um euch alle, die ihr uns euer Leben lang bedrückt, uns der Sonne, Schönheit und Liebe beraubt, uns zu ewiger freudeloser Arbeitssklaverei verdammt, zu richten! Vielleicht werde ich dann gerade dir die Erlaubnis zu leben und zu genießen verweigern … Ich strecke die Hand aus – und aus deinem rosigen Schädel spritzt Blut und Hirn und klatscht auf die Platten des Trottoirs! … Ich bin allein Richter und Vollstrecker meiner Seele … Das Leben eines jeden Menschen ist in meiner Gewalt, und ich kann es in Staub und Schmutz werfen, sobald ich es will! … Merke dir das und sage es der ganzen Welt! … Das ist mein Wort.«
Eine furchtbare Wut packte Schewyrjow. Für einen Augenblick schwand alles aus seinen Augen, und nur der rosige Menschennacken beharrte wie ein leuchtender Punkt in der weißen Dämmerung; – – – das Empfinden des kalten Revolvergriffs, den die krampfhaft in der Tasche zusammengepreßten Finger umspannten, – und der rosige lebendige Punkt gegenüber …
Der Herr ging vor ihm, schwang den Stock; oberhalb des steifen schneeweißen Kragens zitterte naiv das rosige Fältchen.
Schewyrjow tat einen jähen Schritt und riß den Kopf impulsiv nach oben, als schleudere er einen tollen Wut- und Racheschrei in die Luft …
Doch ebenso plötzlich blieb er stehen.
Ein seltsames Lächeln kroch über seine dünnen, verzogenen Lippen, seine Finger lösten sich, und sich scharf umdrehend, ging er zurück.
Der Herr mit dem rosigen Fältchen unter dem flott eingeknickten Hut, lief, den Spazierstock schwingend, während er hübschen Frauen unter die Hüte guckte, weiter, und war bald in der lärmenden, hastenden Menge verschwunden.
Schewyrjow schritt quer über die Straße, wobei er beinahe unter die Räder der Straßenbahn gekommen wäre, ohne daß er es bemerkt hätte, und tauchte in den einsamen Gassen unter, die zu seiner leeren Stube führten, wie ein unheimlicher Schatten, der aus der Dunkelheit kommt und sich wieder in der Dunkelheit verliert. Seine Augen waren wie immer ruhig und hell.
Schon auf der Treppe hörte man verzweifeltes weibliches Kreischen; als Schewyrjow durch den dunklen Korridor ging, fiel ihm die offene Tür zu einem Zimmer, in dem er schon am Morgen hatte Kinder schreien hören, in die Augen. Trotzdem er schnell vorbeiging, bemerkte er doch Betten, Kisten, auf denen Haufen von Kleiderlumpen herumlagen; zwei kleine halbnackte Kinderchen saßen nebeneinander auf dem Bettrand mit hängenden Beinchen und erschrockenen Gesichtern; ein Mädchen von etwa sieben Jahren drückte sich an den Tisch, und ein großes mageres Weib strich sich mit beiden Händen verwirrte dünne Haare aus dem Gesicht.
»Was sollen wir jetzt anfangen? Hast du daran gedacht, du Dummkopf, du elender?« schrie sie durchdringend und verzweifelt.
Ohne sich aufzuhalten ging Schewyrjow in sein Zimmer, zog den Mantel ab und setzte sich auf den Bettrand. Er lauschte aufmerksam.
Die Frau schrie weiter, und ihre kränklichen Schmerzensschreie fuhren durch die ganze Wohnung, wie der Hilferuf einer Ertrinkenden. Es lag nicht einmal besonderer Haß in ihnen, obgleich sie fluchte, schimpfte, Vorwürfe machte. Es waren nur Schmerzensrufe äußerster wehrloser Verzweiflung.
»Wo sollen wir mit den Kindern hin? Auf der Straße verkommen? Betteln? Oder soll ich mich verkaufen, ja, damit deine Kinder Brot haben? Warum redest du denn nichts? … Woran hast du gedacht? … Wo sollen wir jetzt hin?«
Ihre Stimme wurde immer höher und höher, und die schrecklichen pfeifenden Töne der Schwindsucht drangen unheimlich durch.
»Ach, was die nicht erzählen! … Dieser Revolutionär! … Protest erheben! … Was für ein Recht hast du denn, Protest zu erheben, wenn du überhaupt nur aus Mitleid behalten wurdest! … Wer bist du denn eigentlich? Auch bessere Leute als du leben und dulden … Konntest nicht dulden? … Aber wenn man dir in die Schnauze gespuckt hätte, mußtest du auch schweigen … Dich erinnern, daß du fünf hungrige Mäuler zu Hause sitzen hast! … Ich bitte schön, der Stolz! … Was für einen Stolz kannst du haben, du Bettler! Brot solltest du haben und keinen Stolz … Ja, seht doch, ein Lehrer ist's Bücklinge machen vor den Tschinowniks nicht gewöhnt! … Schafskopf! … Idiot elender!«
Die Frauenstimme riß ab und röchelte, bis sie in einem qualvollen, alle Eingeweide zerreißenden Husten aufging. Sie verschluckte sich, krächzte, spuckte, und vollständig außer Atem gekommen, stöhnte sie auf, wie ein zu Tode gequetschter Hund.
»Maschenka, du solltest Gott fürchten,« murmelte kaum vernehmbar eine erbärmliche, niedergeschlagene Stimme, und Tränen der Verzweiflung und des sanftmütigen hilflosen Bewußtseins über die unverdiente Beleidigung tönten in ihr. – »Ich konnte doch nicht anders … ich bin ja doch ein Mensch und kein Hund …«
Die Frau brach in schrilles Lachen aus.
»Was bist du für ein Mensch! … Du bist eben ein Hund! … Hast du junge Hunde in die Welt gesetzt, so schweig und dulde wenigstens … Wärest du ein Mensch, so müßten wir nicht in diesem Loch hausen, und alle drei Tage einmal essen … Ich brauchte nicht barfuß herumzulaufen und fremde Lumpen zu waschen! Ein Mensch … So siehst du aus! … Verflucht sollst du mit deinem Menschentum werden! … Anderthalb Jahre haben wir gehungert, bis ich die Stelle mit meinen Tränen erbettelt hatte … Bin den Leuten vor den Füßen herumgerutscht, wie eine Bettlerin! … Hast ja schon einmal deinen Edelmut gezeigt … Rußland mitgerettet … Dabei selber beinahe hinter dem Zaune vor Hunger krepiert! … Seht einer den Helden an! … O Gott! Verflucht soll der Tag werden, wo ich dich zum ersten Mal gesehen habe! … Lump!«
»Maschenka, so fürchte doch Gott!« Durch ihre rasenden Ausrufe brach sich die verzweifelte männliche Stimme. »Konnte ich denn damals anders handeln? Alle gingen … alle hofften … Dachte ich denn, daß …«
»Du hättest eben denken müssen! Müssen! … Andere hatten vielleicht keine hungrigen Mäuler auf ihrem Rücken … Was für ein Recht hattest du, für andere zu riskieren? Hast du uns gefragt? Hast du die Kinder gefragt, ob sie für dein Rußland verhungern wollen? Hast du sie gefragt? …«
»Ich konnte doch nicht wissen … Ich habe doch wie alle ein besseres Leben gewollt … für euch doch, für dich doch …«
»Ein besseres Leben!« kreischte die Frau, vollständig hysterisch auf, »was hattest du für ein Recht von einem besseren Leben zu träumen, wo du schon kein schlechteres mehr haben konntest, wo wir im Dorf fast betteln gehen konnten! Wo ich … wo ich die Schwindsucht …«
Ein krachender, wie in Stücke zerrissener Husten erstickte ihre Klagen. Einige Minuten lang konnte man in dem Geröchel nichts unterscheiden, dann sagte sie in bemitleidenswertem, ohnmächtigen Flüsterton, der aber in der ganzen Wohnung zu hören war.
»Siehst du … ich sterbe schon …«
»Maschenka!« rief der Mann, und sein schwacher Schrei enthielt so viel auswegslose Trauer, Reue, Liebe, daß sich selbst Schewyrjows gleichmütiges Gesicht in einer krampfhaften Grimasse zusammenzog.
»Was Maschenka!« schrie wie triumphierend die Frau mit der Grausamkeit unglücklicher Menschen, »da hättest du früher »Maschenka« rufen sollen! … Was bin ich jetzt für eine Maschenka, – eine Leiche bin ich … verstehst du, eine Leiche! …«
»Mütterchen!« ertönte plötzlich eine kindliche Stimme, »rede nicht so! Mütterchen! …«
»Aber weine doch nicht … um Gotteswillen!« schrie der Mann. »Was denn – – was – – was – – ich konnte doch nicht … als man mir … ins Gesicht sagte: Rindvieh und Schafskopf – was – hör doch auf zu weinen … hör doch um Gotteswillen auf! … Ich … ich werde mich aufhängen … es ist doch …«
»Aha, sich aufhängen!« sagte die Frau mit furchtbarer Deutlichkeit, fast mit Ruhe: »Du hängst dich auf, und was soll aus uns werden? … Ich kann mich nicht einmal aufhängen … Du hängst dich auf und die hier mögen vor Hunger krepieren? Lisotschka mag auf den Newskij gehen, wie? … Schön, hänge dich auf, hänge dich auf! Aber das merke dir, noch in der Schlinge werde ich dich verfluchen! …«
Ein merkwürdiger dumpfer Schall, als würde ein Kopf gegen die Wand geschlagen, drang an Schewyrjows Ohr.
»Halt, laß das!« rief die Frau wild und stürzte sich auf ihn. »Laß, laß, Ljoscha! …«
Ruckweises, krampfhaftes Balgen klang herüber, ein Stuhl fiel um. Der Mann röchelte, und die wütenden dumpfen Schläge eines menschlichen Schädels gegen die Wand rissen sich durch Schreien und Röcheln.
»Ljoscha, Ljoschenka, laß doch, laß!« schrie gellend die Frau, und plötzlich hörte man ein neues Geräusch, als wenn der Kopf gegen etwas Weiches geschlagen hätte. Wahrscheinlich hatte sie ihre Hand zwischen den Kopf ihres Mannes und die Wand geschoben, so daß er in seinem furchtbaren, hysterischen Anfall gegen sie gerannt war.
Auf einmal begannen die Kinder zu weinen. Zuerst eine Stimme, wahrscheinlich die des älteren Mädchens, dann gleichzeitig die zwei der Knaben, die mit herabbaumelnden Beinchen auf dem Bettrand saßen.
»Ljoscha, Ljoschenka! …« murmelte wie im Fieber die Frau: »nicht doch, nicht doch … verzeihe mir … nicht doch! … Nun, es ist nichts … nichts irgendwie … nun wir werden schon sehen … natürlich … du konntest nicht anders, man hat dich beleidigt … Ljoschenka! …«
Und sie brach in klagendes, abgebrochenes Schluchzen aus.
Schewyrjow hatte den Hals nach jener Seite ausgereckt; über sein blasses Gesicht zogen schmerzliche Zuckungen.
Drüben wurde es still. Man hörte nur noch, wie jemand hilflos, kläglich schluchzte, doch war nicht zu unterscheiden, ob ein Erwachsener oder ein Kind.
Schon kam die Dämmerung, und in ihrem bläulichen Schein, der so haltlos wie Spinneweb in der Luft hing, wirkte dieses Schluchzen unerträglich bedrückend und herzzerreißend.
Dann verstummte auch das.
Im Korridor, hinter dem Vorhang wurde wieder hustendes verhaltenes Flüstern hörbar. Zwei dünne Stimmen, die in jedem Augenblick abbrachen, als wenn sie fürchteten, von jemandem belauscht zu werden, raunten sich, halb entsetzt, halb wie sterbend etwas zu, wovon Schewyrjow nur verstehen konnte: »Wollte sich nicht ducken lassen, He? … Gegen einen Beamten frech geworden … ein Beamter hat zu ihm Schafskopf gesagt … he? Keine Demut mehr im Menschen …? Keine Demut … he? … Nu sage an, gegen den Beamten … grob werden … seinen Wohltäter … he?«
Schewyrjows Finger trommelten immer rascher und rascher auf den Knieen. Im Flur ertönte scharfes Läuten. Die Alten wurden still. Niemand öffnete. Wieder ging die Glocke. Hinter dem Vorhang hörte man emsiges Flüstern, einer schob den andern, jeder weigerte sich. Die Glocke rief zum dritten Mal.
Dann schlürften vom Vorhang her schwankende Schritte über den Korridor.
»Warum macht niemand auf? Schlafen alle, was?« fragte Aladjew, als die Tür geöffnet wurde.
Mit breiten Schritten ging er durch den Korridor, öffnete die Tür zu seinem Zimmer und rief mit seinem fröhlichen und gutmütigem Baß:
»Maksimowa! … Für mich den Ssamowar, ja?«
Eigentümlich war es, diese lebensfrohe Stimme inmitten des beklommenen, ängstlichen Schweigens zu hören. Er bekam keine Antwort. Aladjew streckte den Kopf in den Korridor heraus und rief:
»Iwan Fedossjeitsch, ist Maksimowa nicht zu Hause?«
Eine ehrfurchtsvolle klebrige Stimme antwortete hinter dem Vorhang:
»Maksimowa sind für kurze Zeit ausgegangen, Ssergej Iwanowitsch, sind mit Olga Iwanowna nach der Kirche gegangen.«
»So–o,« meinte Aladjew tiefsinnig, »vielleicht werden Sie mir dann, Iwan Fedossjeitsch, einen Ssamowar anstellen?«
»Sofort,« rief der Alte hinter dem Vorhang dienstbeflissen zurück und schlürfte, an den bloßen Füßen Gummischuhe schlenkernd, in die Küche.
Aladjew sang etwas vor sich hin, gähnte darauf und klopfte dann bei Schewyrjow an.
»Nachbar, sind Sie zu Hause?« rief er laut. Er langweilte sich augenscheinlich und wollte mit jemanden sprechen.
Schewyrjow schwieg.
Aladjew wartete, ließ dann wieder sein lautes Gähnen hören und raschelte mit Papieren. Es blieb lange still. In der Küche hörte man das blecherne Klirren der Ssamowarröhre und das Rieseln des Wassers; es begann nach glimmenden Holzspähnchen zu riechen.
Die Greisin war ebenfalls hinter dem Vorhang hervorgekrochen und sah sich scheu nach dem Zimmer des Lehrers um. Von dort aus schien sich stumme, schwer lastende Verzweiflung auszubreiten und die ganze Wohnung anzufüllen. Wahrscheinlich fühlte auch Aladjew etwas Derartiges; denn er bewegte sich unruhig hin und her, stand mehrere Mal auf und seufzte anscheinend. Etwas schob sich durch die Luft und bedrückte alle. Die Alte kroch nach der Küche, klapperte mit den Tassen, und brachte Teegeschirr in Aladjews Zimmer.
»Wozu bemühen Sie sich, Marja Fedossjewna?« warf Aladjew freundlich aber faul hin.
»Warum denn nicht, Ssergej Iwanowitsch, ich bin Ihnen stets zu Diensten, wie sollten Sie das selber machen,« erwiderte die Greisin eilig, ein wenig singend. Sie blieb an der Tür des Zimmers stehen und sah Aladjew mit winzigen, einschmeichelnden Blicken an.
»Was ist denn los?« fragte Aladjew, der verstand, daß sie etwas erzählen wollte; er gähnte laut.
Die Alte kam sofort näher, und flüsterte kaum vernehmlich:
»Unsern Lehrer hat man doch aus dem Dienst gejagt …«
Sie sprach schüchtern, aber gleichzeitig fast mit einer gewissen Freude. Sagte es und erstarrte, Aladjew erschrocken anblickend.
»Was sagen Sie! Und warum?« fragte er teilnahmsvoll.
Die Greisin kam noch näher:
»Ist gegen den Vorgesetzten grob geworden … der Vorgesetzte machte so ein paar Redensarten und sie – statt demütig zu sein, sind grob geworden …«
»Ah … schade!« meinte Aladjew ärgerlich. »Was sollen sie jetzt anfangen? Sie haben ja gar nichts, – geradezu!«
»Stimmt, Ssergej Iwanowitsch, akkurat gar nichts!« sie nickte erfreut mit dem runzligen alten Köpfchen.
»Mir hat Maksimowa gestern erst geklagt, sie haben ihr für zwei Monate keine Miete bezahlt …« meinte nachdenklich Aladjew.
»Keine Miete bezahlt, keine Miete …«
»Eine schlimme Geschichte!« seufzte Aladjew, »gehen vollständig zugrunde.«
»Werden schon zugrunde gehen, Ssergej Iwanowitsch, werden schon zugrunde gehen … wie denn nicht zugrunde gehen … Er hätte sich vorsehen sollen, ruhig bleiben, man hätte vielleicht verziehen … Gott wollte es … Die aber … sind stolz; sagen noch – – wir sind edel … Damit fliegt man raus … Er hätte seinen Bückling machen sollen …«
»Wie kann einer Bücklinge machen, wenn er ins Gesicht hinein beschimpft wird,« meinte Aladjew ärgerlich, während er offenbar über etwas nachdachte.
»O, Väterchen! Kleine Leute … was heißt da beleidigen … Man muß es aushalten. Alles wäre gut … Wäre alles beim alten geblieben … Es geht doch nicht …«
»Man kann nicht alles aushalten …«
»Man kann schon, Väterchen, immer kann man … Kleine Leute müssen alles dulden. Ich war, als ich jung war, Zimmermädchen bei den Grafen Araksin … Die Grafen Araksins kennen Sie gewiß?«
»Mag sie der Teufel kennen!«
Die Greisin erschrak; sie wurde fast beleidigt.
»Wieso der Teufel … Der Graf selber sitzt im Senat, allein an Häusern hat er in Moskau und Piter Piter = Volksausdruck für Petersburg. ein paar …«
»Na also … was weiter? los?«
»Nun, da war beim älteren gnädigen Fräulein ein Armband verschwunden … hatten mich im Verdacht. Der Graf wurde zornig, einen Charakter hatten sie, einen heftigen, dreimal haben sie mich ins Gesicht gehauen, zwei Zähne ausgebrochen … Ein andrer wäre vielleicht zum Gericht gelaufen, ich habe es ertragen, – und was denken Sie bloß, Ssergej Iwanowitsch? Das Armband hatten der Herr Bruder, der Graf Nikolai Ignatjewitsch genommen … hatten tüchtig gebummelt und nahmen das Armband. Und als alles klar wurde, da gab mir der Graf selber hundert Rubel …«
Die Alte verschluckte sich beinahe vor Entzücken und ihr ganz verrunzeltes Gesicht zerfloß in einem triumphierenden Lächeln.
»Hätte ich es damals nicht ertragen, vom Grafen hätte ich nichts bekommen … Zeugen gab es außer Iwan Fedossjeitsch, er war damals Lakai bei ihnen, keine. Iwan Fedosjeitsch aber, der konnte doch gegen den Grafen selber nichts aussagen …«
»Warum denn nicht?« fragte Aladjew ärgerlich.
»Aber ich bitte Sie, wie gegen den Grafen? …«
»Nanu, Sie sagten, er war Ihr Bräutigam?«
»Nu, was schon, Bräutigam?« … Die Alte war sehr erstaunt. »Mein Bräutigam war er, aber gegen solche Aristokraten auftreten, wo ging das an? Er ist nur gering. Und ich dachte, besser, – ich halt's aus. – Und – ich hatte recht …«
»Pfui!« Aladjew spie zornig aus und wandte sich ab.
Die Alte sah ihn verdutzt an und aus ihren winzigen Aeuglein quollen sofort Tränchen des Schreckens hervor.
Da brachte der Greis, sich seitwärts durch die Tür schiebend, den Ssamowar herein. Nachdem er ihn auf den Tisch gestellt hatte, schaute er sich ängstlich nach seiner Frau um, sah den abgewendeten Aladjew und zupfte die Frau am Aermel.
Die Alte sah sich erschrocken nach ihm um. Die Mienen der beiden nahmen den Ausdruck völliger Ergebenheit an, und einer hinter dem andern schlürften sie in den Korridor, von wo dann gleich wieder ihr abgebrochenes eiliges Geflüster hinter dem Vorhang hervortönte.
Aladjew hatte sich Tee eingegossen und sich gerade zum Trinken hingesetzt, als es im Korridor läutete.
»Ist Aladjew zu Hause?« fragte eine kurze Männerstimme.
»Zu Hause, gnädiger Herr, ist's gefällig …« antwortete hastig der Greis, der die Tür geöffnet hatte.
Stürmische Schritte dröhnten, es wurde gegen Aladjews Tür gepocht.
»Herein,« rief der.
Ins Zimmer trat ein kleines schwarzes Männchen mit einem Habichtgesicht und runden Brillengläsern, die fast schreckhaft anmuteten.
»Ah!« rief Aladjew gedehnt, aus seiner Stimme war zu hören, daß er über den Besuch nicht sehr erfreut, eher verstimmt war.
»Guten Tag.«
»Guten Tag … wollen Sie Tee?«
»Was Tee, – hol's der Teufel!« erwiderte das Männchen böse.
Er legte behutsam den Ueberzieher ab und nahm irgendeinen stark in Papier gehüllten und mit Bindfaden verschnürten Gegenstand heraus.
»Warum das?« fragte Aladjew unfreundlich.
Das Männchen legte den Gegenstand auf den Tisch zurecht und umstellte ihn sorgfältig mit Büchern, damit er nicht auf den Boden falle. Aladjew sah unruhig zu.
»Ganz einfach … Sie haben mich beinahe am Kragen gehabt … bin mit schwerer Mühe weggekommen. Mag der Teufel einen Ort für so was suchen! Hab's zu Ihnen mitgebracht, verstehen Sie … und dies auch …« Er griff stürmisch in die Tasche, holte noch ein Paket hervor und legte es ebenfalls auf den Tisch. »Morgen hol ich's ab …«
Aladjew schwieg.
»Der Herr scheinen ungehalten zu sein?« sagte das Männchen ungezwungen und ein wenig verächtlich. »Diese kleine Gefälligkeit können Sie doch wirklich tun. Wo Sie jetzt in Sicherheit sind.«
Aladjew erhob sich und wanderte mit widerstreitenden Empfindungen in den Mienen durch das Zimmer.
»Sie sind allerdings jetzt ein Leisetreter, Idealist, beinahe ein Tolstojaner geworden!« Der Mensch mit dem Habichtsgesicht schüttete seine Worte wie aus einem Sack heraus, ohne für einen Augenblick ruhig zu bleiben.
»Sie bemühen sich vergeblich, mich zu verletzen, Viktor«, erwiderte Aladjew mit dem wuchtigen Groll des Bedauern, »dies hier nehme ich – natürlich … bis morgen … aber Sie müssen verstehen …«
»Sie nehmen's?« fragte rasch das Männchen, – »das ist das Wichtigste, das übrige ist Ihre Sache, und herumzanken brauchen wir uns nicht.«
»Doch, wir werden uns einmal auseinander setzen!« erwiderte Aladjew fest und wurde über und über rot. Seine Augen blitzten auf.
»Wozu?« meinte mit geheucheltem Gleichmut der andere und wandte sich gelangweilt ab.
»Grade deshalb,« sagte Aladjew ärgerlich, »weil wir so viele Jahre Freunde waren und nun …«
»O, lassen Sie … lohnt es sich denn, sich an solche Kleinigkeiten zu erinnern?«
Aladjew, immer mehr von quälender Röte überzogen, atmete schwer und zornig.
»Vielleicht sind es für Sie Kleinigkeiten … obgleich ich es nicht glaube … meinetwegen brüsten Sie sich damit … für mich sind das keine Kleinigkeiten, und ich will, daß Sie mich wenigstens einmal verstehen … werden wir uns klar …«
»Wissen Sie, mir ist eigentlich niemals …« erwiderte scheinbar naiv das Männchen, und seine durchdringenden Augen gerieten unter der Brille in hastige Bewegung: »wenn Sie aber durchaus wollen …«
»Ja, ich will es durchaus!«
Jener zuckte die Achseln und ließ sich augenblicklich nieder, als wäre er zu jedem Opfer bereit.
Aladjew sah es, überwand seine Empörung und fuhr mit erzwungener Ruhe fort:
»Vor allen Dingen bin ich von euch nicht aus Furcht weggegangen oder … das wissen Sie ganz genau, Viktor, seien Sie doch wenigstens einmal aufrichtig!«
»Das hat niemand angenommen,« warf das Männchen mit dem Habichtsgesicht leichthin ein.
»Folglich konnte ich mich von euch nur deshalb trennen, weil sich meine Ansichten von Grund auf und völlig klar geändert haben, nun, wenn nicht über die Idee, so zum mindesten über einige taktische Mittel … Ich habe begriffen …«
»Ach du lieber Gott!« Der Kleine sprang augenblicklich in die Höhe, »verschonen Sie mich damit … kennen wir … Sie haben begriffen … kennen wir … begriffen … daß man die Freiheit nicht mit Gewalt herbeiführen kann, daß man das Volk erziehen soll und so weiter … kennen wir …«
Die Worte fielen so schnell aus seinem Munde, daß es schien, als wären sie lange Zeit eingesperrt gewesen und nun auf einmal frei geworden. Er selbst stürmte im Zimmer herum, drehte sein Habichtgesicht nach allen Seiten und funkelte mit den runden Brillengläsern und schwang die Hände mit den klammerbereiten Vogelfingern.
Aladjew stand mitten im Zimmer und fand keine Gelegenheit, auch nur ein Wort einzuwerfen. Es war ihm undenkbar, daß er nicht nicht verstanden würde, daß ihm vor allem dieser Mensch, der solange mit ihm gelebt, ihn geliebt, an ihn geglaubt hatte, nicht verstehen solle. Und doch fühlte er mit jeder Minute deutlicher, daß zwischen ihnen eine unüberschreitbare Schwelle emporwuchs, an der alle Worte machtlos abgleiten.
Wie sonderbar sie, die sich vor kurzem noch so nahe waren, wie wenn sich ihre bloßen Herzen berührten, schienen mit einem Mal in fremden Sprachen zu sprechen, nur weil Aladjew klar geworden war, daß ein Mord stets ein Mord bleibt, in wessen Namen er auch geschehen möge. Nur Liebe, nur unendliche Geduld, die die Menschen im Laufe von Jahrhunderten Schritt für Schritt einander entgegenführt, kann den elementaren Kampf, die Gewalt und Unterdrückung aus der Geschichte entfernen. Was kann im Vergleich mit dieser titanischen, jahrhundertelangen Tätigkeit irgend ein Stückchen Metall und Dynamit ausmachen, das vom Arme eines Erbitterten geschleudert, zwei Zoll Erde mit Blut besprengt und Legionen von Kampf- und Rachegeistern wachruft? Aladjew seufzte schwer auf und preßte seine mächtigen Hände schmerzhaft zusammen.
»Ja, was tun … ich sehe selbst, daß wir uns nicht mehr verstehen werden,« sagte er schwermütig, ging an den Tisch und setzte sich mit gesenktem Kopf hin.
»Gewiß werden wir uns nicht verstehen,« stimmt ihm der andre stürmisch bei. »Ist auch überflüssig, noch Worte zu verschwenden …«
Aladjew knackte die Finger durch und schwieg.
Das Männchen blieb eine Minute unentschlossen stehen, Aladjew ins Gesicht starrend. Dann raffte er sich plötzlich zusammen und geriet sofort wieder in stürmische Bewegung.
»Auf jeden Fall kann wohl dieses Zeug bis morgen bei Ihnen bleiben?« fragte er eindringlich.
»Ach, Gott …« meinte Aladjew traurig: »Das ist ja ganz gleich … meinetwegen … Nebensächlich … Ob hier oder dort, das ist einerlei … Mir handelt sich's nicht darum …«
»Also, – vorzüglich … Und bis dahin – auf Wiedersehen … Morgen komme ich wieder …«
Das Männchen griff stürmisch nach dem Hut und streckte die scharfe Hand aus.
Aladjew reichte langsam die seine.
Unvermutet hielt der andre mit dem Druck zurück. Die runden Brillengläser schienen nachdenklich geworden zu sein. Aber im gleichen Augenblick hatte er schon Aladjews Hand nicht einfach losgelassen, sondern geradezu von sich fortgeschleudert; er sagte:
»Ich werde vielleicht nicht selbst kommen … jemand anders … Stichwort … von Iwan Iwanowitsch.«
»Gut …« antwortete Aladjew, ohne den Kopf zu heben.
»Dann auf Wiedersehen!«
Das Männchen stülpte den Hut auf sein rundes Vogelköpfchen und stürzte zur Tür. An der Tür blieb er plötzlich stehen:
»Schade ist's doch!« sagte er mit eigenartiger Stimme, und unter seinen funkelnden Brillengläsern wurden die kleinen scharfen Augen feucht und traurig. Er überwand sich aber sofort, nickte mit dem Kopf und sprang in den Flur hinaus. Dort sah er sich nach dem Vorhang um, warf einen Blick auf die eine und andere Tür, zog die Luft in sich ein, funkelte mit der Brille und verschwand auf der Treppe.
Aladjew saß schweigsam und bedrückt am Tisch.
Als die Dämmerung fiel, kam Maksimowa und die Näherin Oljenka aus der Kirche. Sie brachten den leichten Geruch von Weihrauch mit sich, und träumende Demut leuchtete noch auf ihren Gesichtern.
Oljenka nahm nicht einmal ihr Tuch ab, sondern ließ es nur auf die Schultern hinuntergleiten und setzte sich in völliger Entrücktheit an den Tisch; ihre blassen, dünnen Hände fielen auf die Knie. Maksimowa stand ebenfalls in stiller Versunkenheit, seufzte aber plötzlich, als ob sie zu sich käme, und begann ihr schweres türkisch buntes Umschlagetuch auseinanderzuschlagen. Ihr Gesicht wurde wie gewöhnlich besorgt und trocken. Sie musterte Oljenka und meinte wie vor sich hin:
»Man muß sich ein bischen zurechtmachen …«
»Was?« fragte das Mädchen zusammenschreckend zurück, hob die reinen hellen Augen zur Alten und wurde plötzlich von matter, blasser Röte durchleuchtet.
»Sich zurechtmachen, Liebchen, sage ich …« Maksimowa hob die Stimme. »Wassilij Sstepanowitsch versprach, gegen sieben Uhr zu kommen. Wenn du dich herausputztest. Wie?«
»Heute?« rief Oljenka mit hilflosem Entsetzen, und wurde plötzlich wieder durchsichtig blaß, als wenn alles Leben auf einmal ihren Körper verlassen und allein in den großen, von Wehmut und Scham erfüllten Augen haften geblieben wäre.
»Warum denn? Ist's nicht heute, dann morgen. Was ist da viel … Wirst sowieso nicht dem Schicksal entgehen, eine andre Gelegenheit find't sich nicht so bald. Solche wie du sind in der Stadt so viele gefällig … Nicht Gott weiß was für ein Schatz.«
Oljenkas Arme erzitterten bis in die zerstochenen Fingerspitzen. Sie sah die Alte flehend aus tränenerfüllten Augen an.
»Maksimowa … laß es besser auf morgen … Ich … ich habe Kopfschmerzen, Maksimowa!«
In ihrer naiven Stimme klang so furchtbar das auswegslose Entsetzen und so rührende Klage wieder, daß Schewyrjow, der hinter der Tür im dunklen Zimmer saß, den Kopf umwandte und aufmerksamer zuzuhören begann.
Maksimowa schwieg.
»Ach du, meine Arme!« sagte sie aufschluchzend. »Was wirst du tun … Ich weiß ja selbst …«
»Was dich erwartet!« wollte sie sagen, brach aber ab und wiederholte nur:
»Du wirst nichts tun!«
»Maksimowa,« sagte Oljenka mit zitternder Stimme, die Hände wie beim Gebet faltend, »ich … lieber werde ich arbeiten …«
»Wirst viel zusammenarbeiten …!« meinte mit bitterem Aerger die Maksimowa, »wozu taugst du? … Auch flottere als du gehen auf die Straße … du aber bist taub und dumm … Wirst ja noch nicht für einen Pfifferling zugrunde gehen. Höre lieber auf mich, schlimmer wird's auch nicht werden. Wenn ich sterbe oder ganz blind werde … was wird dann aus dir?«
»Dann werde ich ins Kloster gehen, Maksimowa. Ich möchte gern Nonne werden; im Kloster ist's so schön … still …«
Und plötzlich, ganz unvermutet, öffnete Oljenka groß die träumerischen Augen und sagte, den Blick nachdenklich und begeistert irgendwohin, weit hinter die Mauern gerichtet:
»Ich möchte ein großer weißer Vogel sein und irgendwohin weit – weit fliegen! … Daß unten die Blumen, die Wiesen lägen und oben der Himmel … wie es im Traum ist!«
Maksimowa seufzte.
»Du dummes Ding! … Und im Kloster nehmen sie dich überhaupt nicht an … Da heißt's Geld deponieren oder grobe Arbeiten machen. Was bist du für eine Arbeiterin!«
Die Alte machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Nein, was ist da zu reden … Gehe mit Wassilij Sstepanowitsch. Wirst wenigstens deine eigene Herrin und vielleicht unterstützt du mich auch … Wassilij Sstepanowitsch hat, sagen die Leute, gegen sieben Tausend auf der Bank.«
»Er ist schrecklich, Maksimowa,« murmelte Oljenka bebend, als wenn sie um Vergebung flehte: »Grob, ganz wie ein gemeiner Bauer!«
»Und für dich ist ein gnädiger Herr nötig? Die Herren sind nicht für uns, Oljenka … Mag er nur ein guter Mensch sein, und danke Gott.«
»Er hat garnichts gelesen, Maksimowa. Ich frage ihn: wie gefällt Ihnen Tschechow? und er sagt: ›Bei unserer Tätigkeit ist für Kindereien keine Zeit‹ …«
Oljenka ahmte irgend einem stumpfen, groben Baß nach. Ahmte ihm nach und weinte: ihre großen Augen füllten sich mit dicken hellen Tränen und die Hände bebten wieder.
»Was denn, er spricht vernünftig!« rief Maksimowa zänkisch; es war zu erkennen, daß sie sich Mühe gab, in Zorn zu kommen. »Denk mal an! Nichts gelesen! … wer hat denn Lesen nötig? Er ist Geschäftsmann, kein dummes Ding, wie du!«
Oljenka hörte auf zu weinen und öffnete wieder weit und träumerisch die Augen.
»Ach, Maksimowa, du verstehst nichts davon, redest aber. Auf der Welt das einzig Gute, das sind die Bücher. Tschechow, zum Beispiel! … Wenn du ihn liest, – einfach – man will weinen. So was Wunderbares … So was!«
Oljenka preßte beide Handflächen an die Backen und schüttelte den Kopf.
»Ah, geh du mit deinen Büchern!« fuhr sie die Alte böse und doch bedauernd an. »Möglich, es ist sehr schön, nur nicht für uns. Du, – ich werde mit jedem Tag blinder … gestern räume ich den Tisch ab, – zerschlage ein Glas. In einem Monat werde ich vielleicht ins Armenhaus müssen … und da hast du's, genau so nähte ich, nähte, nähte immerzu – – da bin ich nun mit meiner Näherei … Und ich war nicht so wie du … du hier, wenn du fünf Rubel verdienst und davon zwei rausbekommst, dann sagst du noch ›Gedankt sei Gott!‹ Keinen Fetzen auf dem Leibe, und noch … Bücher! Was soll das?«
Die Greisin kam leise ins Zimmer geschlichen. Ihre winzigen Aeuglein plusterten ängstlich und neugierig.
»Maksimowa, das ist schlimmer als der Tod … Er ist ein Bauer … wird mich noch schlagen!« stieß Oljenka ganz verzweifelt aus.
»Na, weshalb gleich schlagen!« Die Alte wiederholte die hoffnungslose Geste von vorhin.
»Und was schon, was ist schon schlagen?« muffelte die Greisin an der Tür. »Sie, Olga Iwanowna, sollen sich eben unterwerfen.«
»Was?« fragte erschrocken Oljenka.
»Unterwerfen sollen Sie sich, sage ich …« wiederholte die Greisin: »wird Sie einmal schlagen, zweimal und hört auf … So sind sie alle. Bei ihnen heißt's unterwürfig sein. Mag es sein, dulden Sie nur ruhig … Er wird schon aufhören, macht nichts!«
Oljenka schaute sie mit Entsetzen an, als wenn aus dem dunklen Korridor ein schreckliches Ungeheuer hervorgekrochen wäre und sich ihr jetzt nähere. Sie faßte sogar das Kleid zusammen und drückte sich mit der Schulter an den Tisch. Aber die Greisin hatte sie schon vergessen und sich Maksimowa zugewandt. Ihre winzigen Augen glänzten vor listiger Schadenfreude.
»Unseren Lehrer haben sie wieder aus dem Dienste gejagt!«
»Was?« rief Maksimowa. »Wieso weggejagt? Warum?«
»Weil er gegen die Obrigkeit grob geworden ist. Der Vorgesetzte hatte ihn angeschnauzt, war ihm grob gekommen. Na, und haben ihn hinausgeworfen. Es ist furchtbar, wie Marja Petrowna heute wild gewesen ist!« berichtete die Greisin in eiligem Flüsterton, wobei sie sich fast bei jedem Wort verschluckte und nach der Tür umsah.
Maksimowa sah sie ratlos an.
»Ja, aber sie sind mir noch drei Monate schuldig. Sie selbst hat mir heute versprochen, wenigstens einen Teil zu bezahlen … Und was jetzt?« murmelte sie verwirrt.
»Die werden jetzt nichts mehr bezahlen. Iwo denn! Die werden jetzt selber hungern müssen!«
»Aber was denken sie sich! Daß ich sie umsonst behalten werde? Haben eine Wohltäterin gefunden! … Ich habe selbst nichts zu fressen …«
Sie überlegte noch eine Weile und ging plötzlich, rasch Kehrt machend, aus dem Zimmer. Oljenka, die fast gar nichts verstanden hatte, sah ihr erschrocken nach, und die Greisin schlich ängstlich in den Korridor und verschwand hinter dem Vorhang, von wo her sofort eiliges Flüstern ertönte.
Im Zimmer des Lehrers war es still. Die Kinder duckten sich in den Ecken und waren nicht zu sehen und zu hören. Der Lehrer und seine Frau saßen beieinander am Fenster; in seinem wunderlich hellen Fleck waren die Schatten zweier von hoffnungslosem Kummer erdrückter Köpfe sichtbar.
»Marja Petrowna!« rief die Maksimowa zurückhaltend, doch selbstbewußt wie jemand, der die Gewalt in den Händen hat, von der Tür her.
Der Lehrer und seine Frau hoben rasch die Köpfe. Die Gesichter blieben undeutlich, aber die Bewegung war demütig und niedergeschlagen.
»Die Miete, die Sie zu heute versprochen haben, kann ich sie bekommen?« fragte die Alte ebenso zurückhaltend.
Zwei dunkle Schatten bewegten sich und schwiegen. Der klägliche, hilflose Ausdruck eines Menschen, der nicht einmal etwas zu antworten weiß, lag auf ihnen.
»Nun so …« sagte die Alte mit überruhiger Stimme. »Also wie gesagt, packen Sie zusammen. Morgen vermiete ich das Zimmer. Was mir für die drei Monate verloren geht, das mag schon auf Ihrem Gewissen bleiben. Bin selber schuld, ich Idiotin, daß ich Ihnen getraut habe. Aber länger mitzumachen habe ich keine Lust. Wie Sie wollen!«
Die Frau des Lehrers rührte sich nicht, aber der Lehrer selbst stand auf und ging schnell in den Korridor, wohin er auch die Maksimowa fast mit Gewalt hinausschob.
»Sehen Sie … ich wollte Sie fragen … Wäre es denn nicht möglich, irgendwie … Ich werde mir eine Stelle suchen. Mir ist schon hie und da verschiedenes angeboten worden … Also nun … ja …«
Seine Blicke liefen umher; eine schwindsüchtige Röte trat in Tupfen auf seine blassen Wangen. Maksimowa seufzte und wehrte mit der Hand ab.
»Wirklich, wahrhaftig … versprochen worden!« beeilte sich der Lehrer zu wiederholen, während sich sein Gesicht immer mehr rötete; mit den Händen fuchtelte er in der Luft herum. »Und überhaupt; ich werde suchen. Es geht doch nicht. Sie sehen selbst ein.«
»Ich kann nicht, Herr,« erwiderte Maksimowa. Sie trat zurück und schlug die Hände auseinander. »Wenn es nur an mir läge! Aber der Dwornik rennt mir ja die Türen ein. Ich werde selbst heraus müssen … Nur auf Sie hatte ich noch gerechnet. Und jetzt kommt es so!«
»Maksimowa!« begann der Lehrer, eilig flüsternd und sah sich nach der Türe um: »Bedenken Sie nur! Wo sollen wir hingehen? Sehen Sie, ich habe die Stellung verloren und nun … Ich wollte heute Vorschuß nehmen, weil ich schon früher mein Gehalt erhoben hatte … die Kinder brauchten Schuhe und meine Frau mußte auch etwas haben … Sie wissen ja, das Wetter war so kalt und sie hustet … Jetzt habe ich keine Kopeke mehr. Wer wird uns hereinlassen? Ueberall wird die Miete im voraus verlangt, während Sie uns immerhin schon kennen … Maksimowa, versetzen Sie sich in meine Lage, Maksimowa, um Gotteswillen!«
»Nein. Ich kann nicht … das Hemd ist einem näher als der Rock … Nun, wie Sie wollen, aber … Sie tun mir wirklich leid, aber ich kann nichts tun … Sie hatten eine Stellung, da hätten Sie sich mit den Zähnen festbeißen sollen. Da haben Sie es nun. Sind selber dran schuld.«
»Ja, freilich … ich habe schuld. Aber dann habe ich doch die Schuld, und nicht die Kinder …«
»Die Kinder sind Ihre Kinder. Sie hätten's eben um der Kinder willen ertragen sollen.«
»Sehen Sie, Maksimowa, das ist …«
»Was habe ich da zu sehen!« Mit aussichtsloser Grobheit unterbrach ihn die Alte. »Wozu wollen Sie sich vor mir erniedrigen. Ich kann nichts tun. Dort hätten Sie so reden mögen!«
»Aber, Maksimowa!«
Plötzlich erschien in der schwarzen Türe eine hagere Frauengestalt mit aufgelöstem Haar.
»Ljoscha, laß sie!« schrie sie hysterisch. »Haben denn diese Leute einen Funken Mitleid! Verflucht seien sie alle! Sie sind nicht deinen kleinen Finger wert, und du erniedrigst dich vor ihnen!«
»Warum fluchen Sie?« begann Maksimowa beleidigt. »Mitleid haben wir vielleicht mehr als Sie …«
»Ihr habt Mitleid? Ach, ihr seid Raubtiere, und keine Menschen! Ein Mensch geht unter, und Sie halten ihm Predigten … beleidigen ihn erst, um ihn nachher aufs Pflaster zu werfen! … Und er gibt ihr noch Erklärungen! …« stieß sie mit endloser Qual und Entrüstung in der Stimme hervor. »Schert euch alle von hier fort.«
»Das heißt, wie meinen Sie das ›von hier‹?« Maksimowa verstärkte ihre Stimme. »Ich brauche aus meiner Wohnung nicht heraus …«
»Hinaus mit euch!« schrie die Kranke kreischend, abgerissen, und streckte den mageren Arm mit einer fast tragischen Gebärde aus. »Was wollen Sie? Daß wir fortgehen? Sie können ruhig sein. Wir gehen fort … gehen gleich morgen fort, vorläufig aber scheren Sie sich hinaus!«
»Maschenka,« murmelte schüchtern der Lehrer, »nicht doch!«
»Hinaus, hinaus, ihr Verfluchten … zu Tode gequält habt ihr mich!« Die Frau griff sich in die Haare und stürzte ins Zimmer zurück.
Der Mann lief ihr nach, und man hörte, wie er etwas vor sich hinmurmelte, während die Kranke in wütendem, zerfetztem Ton weitersprach; aber es blieb unverständlich.
Maksimowa stand eine Minute schweigend, dann schlug sie mit der Hand durch die Luft und ging wie schuldbeladen fort.
Aladjew, der an der Tür zu seinem Zimmer stand, rief sie an.
»Maksimowa, kommen Sie bitte für eine Minute herein …«
Mit dem gleichen Ausdruck schwerer Ratlosigkeit auf dem Gesicht trat die Alte zu ihm herein.
»Sagen Sie bitte,« begann Aladjew unschlüssig, mit abgewandtem Blick, »ist es denn für Sie ganz unmöglich, ein bißchen zu warten? … Sie sehen doch selbst, in welcher Lage die Leute sind … nicht wahr?«
»Bei Gott, ich kann nichts … tu ich es aus Niederträchtigkeit? Mir selber hat der Dwornik bis übermorgen Zeit gegeben! Bezahle ich nicht, so wirft er mich hinaus! … Ich habe mich auf sie verlassen.«
»Aber vielleicht doch …?«
»Sie meinen wohl, ich habe tatsächlich kein Mitleid? Ich bin alt, muß bald sterben … Nein, Ssergej Iwanowitsch, als sie auf mich losschrie, schnitt es mir wie mit Messern durchs Herz. Aber was kann ich tun? Ich habe drei Monate gewartet, habe den Dwornik auf den Knien gebeten … Was denken Sie, warum? Mir tat's leid. Wenn man einander nicht bemitleidet, so wird der arme Mensch nicht wissen, wohin … Die hungernde Welt lebt nur von Mitleid. Aber der arme Mensch kann auch nicht ewig Mitleid haben … am Ende muß man auch mit sich ein bißchen Mitleid haben! … Nicht ich bin erbarmungslos – das Leben kennt kein Erbarmen!«
Aladjew blickte erstaunt auf die Greisin und kam sich ihr gegenüber klein und leichtsinnig vor.
»Ja – so, Sergej Iwanowitsch, einem armen Teufel, wie uns ist's schwerer, mitleidig zu sein, als anderen … Schenkt ein Reicher eine Kopeke – macht er sich selbst ein Vergnügen damit; wenn ich hier eine Kopeke hergebe, so spare ich mir einen Bissen am Munde ab. Und durch diesen Bissen, sehen Sie, werde ich bald blind sein, werde die Sonne nicht mehr sehen können … Werden dann die Leute mit mir kein Mitleid haben, so krepiere ich auf der Straße wie ein alter Hund! … Wie kann man da noch von Erbarmungslosigkeit sprechen! … Verstehen muß man das!«
Die Greisin seufzte.
Aladjew stand vor ihr und ließ die langen Arme hilflos herabbaumeln.
»Hören Sie mal, Maksimowa,« begann er endlich unentschlossen, »wenn ich Ihnen für einen Monat bezahle … wie wär's dann? …«
»Ja – so! Ich bin doch kein Ungeheuer – wirklich. – Irgendwie werde ich mich schon herausdrücken … Man kann was versetzen … Aber die haben ja nichts!«
»Ich schaff's herbei, Maksimowa,« murmelte Aladjew, verlegen auf den Boden starrend.
Die Greisin sah ihn forschend an, konnte aber seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.
»Sie? Sie haben ja selber nichts!«
»Aber ich werde es beschaffen … werde es bei einem guten Freunde leihen. Lassen Sie sie heute zufrieden, und ich laufe inzwischen dorthin, es ist nicht weit von hier … Ja … geben Sie ihnen auch Tee und Licht, denn bei ihnen … Hier Tee, Zucker, Semmeln, nehmen Sie meine … Und ich laufe herüber.«
Maksimowa sah ihn schweigend an, nahm den Tee und Zucker und ging, den grauen Kopf schüttelnd, hinaus.
Aladjew blieb eine Weile verwirrt inmitten des Zimmers stehen. Ihm schien es unwillkürlich, daß er sich ungeschickt benommen hätte. Aber er dachte nicht weiter darüber nach, sondern überlegte einfach, wo er am schnellsten Geld auftreiben könnte. Dann rannte er, nachdem er eilig zu Mantel und Hut gegriffen hatte, aus der Wohnung; mit seinen langen Beinen nahm er jedesmal drei Stufen in einem Satz.
Gegen sieben Uhr kam der Krämer. Er klapperte im Korridor lange mit seinen neuen Gummischuhen, trocknete sich sorgfältig und angestrengt sein rotes Gesicht und trat mit leise knackenden Schritten in Oljenkas Zimmer.
Dort hatte Maksimowa schon den Ssamowar vorbereitet. Wodka und ein Hering standen auf einem Teller. Oljenka saß am Tisch, kerzengerade wie ein Grashalm, und sah aus großen, wehmütigen Augen auf die Tür.
»Oljenka, schau nur welch ein Gast uns aufsucht!« sagte Maksimowa in dem unnatürlich rührseligem Tone, mit dem man zu Kindern spricht. Der Krämer trat so vorsichtig ein, als ob er in hohen Lackstiefeln über Eis ginge.
»Guten Tag,« sagte er und reichte ihnen eine große, verschwitzte Hand mit unbiegsamen Fingern.
Stumm, ohne aufzublicken, streckte ihm Oljenka ihre dünnen blassen Finger hin; ihr gesenktes Gesicht glühte und ihr Busen, der noch ganz mädchenhaft war, atmete schwer.
»So ist's schön … Sie werden sich unterhalten, ein bißchen plaudern, und ich gehe nach dem Tee sehen …«, sagte Maksimowa in demselben unnatürlichen Ton und ging hinaus. Die Tür schlug sie fest hinter sich zu. In der Küche blieb sie stehen, wurde nachdenklich und seufzte. Dasselbe düstere, fast drohende Mitleid wie vorhin lag auf ihrem ausgetrockneten, blinden Gesicht.
Oljenka saß am Tisch; ihre Hand ruhte auf der Platte, und die gebogene Linie war fein und scharf, als wäre sie aus Marmor. Der Krämer saß ihr gegenüber; er lastete massig mit seinem riesigen, mehlsackgleichen Körper auf dem Stuhl. Bisher hatte er Oljenka nur in der Kirche gesehen oder bei sich im Laden, wo hin sie auch nur für Augenblicke kam. Jetzt betrachtete er sie aufmerksam, eindringlich, als ob er den Wert der Sache genau abschätzen wollte. Oljenka spürte seine Blicke auf ihrer Brust, auf ihren Füßen und Armen; ihr blasses Gesicht glühte in Angst und Scham.
Sie war schlank und zart; es fiel schwer, zu glauben, daß ihr zerbrechlicher Körper robusten, tierischen Funktionen dienen könne. Die Augen des Krämers überzogen sich mit trüber Feuchtigkeit und er blähte plötzlich am ganzen Körper auf, als wäre er größer und dicker geworden.
»Womit beliebten Sie sich zu beschäftigen?« fragte er mit dünner Stimme, die nur mühsam aus der fetten Kehle quoll. »Ich habe nicht gestört, wie?«
»Was?« fragte Oljenka erschrocken zurück, während sie für einen Moment die flehenden Augen aufschlug.
»Sieh mal einer, … sie ist richtig taub!« dachte der Krämer. »Na – um so besser! Ein feines Mädchen!«
Er unterzog ihren Körper, der weich und zart in die schlanken Beine, die unter dem dünnen Rock deutlich zu sehen waren, auslief, einer neuerlichen Prüfung.
»Ich fragte: womit beliebten Sie sich zu zerstreuen?«
»Ich? Mit nichts …« antwortete Oljenka ängstlich, während sie mit dem ganzen Körper empfand, daß sie von diesen schamlosen kleinen Augen entkleidet und beleckt wurde.
Der Krämer lächelte selbstgefällig.
»Was heißt es – mit nichts! Die feinen Fräuleinchen lieben es, sich zu zerstreuen! Das kann ich in keinem Fall glauben, entschuldigen Sie, daß sich ein so ausgezeichnetes Fräulein wie Sie den ganzen Tag die Augen an der Arbeit verdirbt. Ihre Aeuglein sind überhaupt nicht dafür geschaffen!«
Oljenka schlug wieder ihre großen hellen Augen zu ihm auf. Ihr kam plötzlich der naive Gedanke, daß er mit ihr Mitleid hätte. Und sie war überzeugt, daß er wirklich ein guter, anständiger Mensch sei.
»Ich, sehen Sie … lese Bücher …« Sie lächelte schüchtern.
»Ach was, was ist das … Bücher! … Also, wenn wir so mit Ihnen erst näher bekannt sind, dann werden Sie mir erlauben … zum Beispiel – – ins Theater! Das wird interessanter sein, als hinter Büchern zu hocken!«
Oljenka belebte sich unvermutet. Ueber ihr Gesicht, das schon wieder erblaßt war, flog eine neue, leichte Röte.
»O nein, wie können Sie das sagen. Es gibt sehr schöne Bücher … Nun da, zum Beispiel Tschechow … Ich, wenn ich etwas von Tschechow lese, weine ich immer … bei ihm sind alle Menschen so arm, so bemitleidenswert …«
Der Krämer hörte zu, den Kopf mit der engen Stirn und den trüben Augen zur Seite geneigt. Dann überlegte er.
»Als ob alle wirklich so unglücklich wären …« meinte er in dem süßlichen Ton: »es gibt auch Glückliche … Freilich, wer nichts zum Fressen hat … Aber wenn ein Mensch … Ich nehme bloß mich …«
Er rückte den Stuhl näher an Oljenka heran, schielte auf ihren Schoß und holte zu einer längeren Rede aus. Auch seine Haltung wurde etwas bedeutsamer. Aber Oljenka begann naiv und träumerisch, mit feuchten Augen:
»O nein, die Menschen sind alle unglücklich … Auch die, die sich für glücklich halten, sind in Wirklichkeit unglücklich. Ich möchte barmherzige Schwester werden, um allen Unglücklichen zu helfen … oder Nonne …«
»Na, warum denn gleich Nonne!« unterbrach sie der Krämer mit zweideutigem Ausdruck, der in seiner Frechheit furchtbar war. »Gibt es denn zu wenig Männer auf der Welt!«
Oljenka sah ihn verständnislos an. Die Taubheit hatte sie das ganze Leben lang vor solchen Worten bewahrt, und sie begriff nichts. So blickten ihre Augen ruhig; sie waren vollkommen durchsichtig.
»O nein … was sagen Sie!« fragte sie zerstreut: »eine Nonne zu sein ist so schön! … Ich war einmal zwei Wochen lang bei meiner Tante auf Besuch, in Woronesh … im Kloster. Meine Tante ist Nonne … ganz alt … schweigt schon vierzehn Jahre … eine Heilige! … Da war es so schön! In der Kirche ist es so still – still, die Kerzchen leuchten … Man singt so schön … Du stehst und weißt nicht, ob du auf der Erde oder im Himmel lebst. Oder du gehst vor die Mauer. Das Kloster steht auf einem Berg, und unten der Fluß und dahinter die Felder. Man sieht weit – weit! Auf den Wiesen schreien die Gänse und die Schwalben zwitschern nur so herum. Ich war dort im Frühling, da blühten im Kloster die Apfelbäume … Da wird's manchmal so schön, daß der Atem still steht. Manchmal, scheint mir, hätte ich mich vom Berg losgerissen, wär' fortgeflogen wie ein Vogel – weit – weit!«
Oljenkas Stimme zitterte vor Entzücken; in den großen hellen Augen standen stille Tränen und die Lippen bebten. Sie glich ganz einer weißen Nonne.
Der Krämer hörte zu, indem er die Lippe ein wenig herabhängen ließ und den Kopf auf dem dicken roten Hals wieder wie ein Stier zur Seite neigte.
»Hm,« meinte er: »das sind, selbstverständlich, so Ideen … Im Leben aber … da kann ein hübsches Fräulein auch ohne Kloster ihr Vergnügen haben!«
Er kicherte und zwinkerte Oljenka verlangend zu. Sie bemerkte es nicht und schaute geradeaus ins Blaue, als sähe sie wirklich weite Felder und den blauen Himmel, breite Flüsse und die weißen Klostermauern.
Die Maksimowa kam mit dem Ssamowar. Der Krämer, ganz aufgelöst und schweißig, war wie mit Oel gesalbt.
»Ich liebe es, wenn Fräuleins eine so feine Taille haben, wie Sie, Olga Iwanowna … Wie bringen es die Frauen bloß fertig: Da scheint es, kannst du alles mit den Fingern umfassen, da unten aber, verzeihen Sie meine Freiheit, ist's so rundlich …«
Die letzten Worte kamen ihm ganz plötzlich, eigentlich hatte er etwas anderes sagen wollen, daß ihm die Röte ins Gesicht trieb und den Atem verschlug. Unwillkürlich hatte er sogar die Hand ausgestreckt, sah aber die Maksimowa eintreten und zog sie zurück. Darauf wischte er sich umständlich den Schweiß von der Stirn.
Er trank mit der Maksimowa Wodka, aß Häring und riß Witze darüber, daß alle Mädchen vom Kloster träumen.
»Sind sie aber verheiratet, und ist der Mann erst alt oder unfähig, graben sie ihm, sozusagen das Grab.
»Freilich!« antwortete die Alte unnatürlich dienstbeflissen. »Von Ihnen, Waßilij Sstepanowitsch, kann man das nicht sagen … Sie würden noch jede in Schweiß bringen.«
Der Krämer brach in Lachen aus und betrachtete daraufhin Oljenka mit unverhohlen lüsternen Blicken.
»Jawohl! Das kann ich, ohne zu renommieren, zugeben! Meine Frau braucht sich nicht zu beklagen! Meine Selige, die wurde manchmal ärgerlich! Du Bulle, du unersättlicher du, pflegte sie zu sagen!«
Er lachte immer noch und starrte Oljenka unverwandt an.
Unter seinem Blick sank des Mädchens blasses Gesichtchen immer tiefer und tiefer und das satte, triumphierende Lachen dieses Viehs war schrecklich.
Als der Krämer fortging und die etwas angeheiterte Maksimowa ihn hinausbegleitete, brach Oljenka plötzlich in Schluchzen aus. Sie weinte lange. Ihr hellblonder Kopf lag auf den Knien, ihre weichen Schultern zitterten, die herabhängenden Haarsträhnen bewegten sich wie Flaumfedern. Ueberall roch es nach Häring, nassem Leder und Schweiß. Die Luft war schwer, und die Gestalt des Mädchens erschien seltsam klein und zerbrechlich.
Aladjew war nach Hause gekommen. Er saß am Tisch und schrieb, als Oljenka zu ihm hereintrat. Das ganze Zimmer war voll Tabaksrauch.
Sie trat scheu und lautlos ein, wie immer. Wie immer, drückte sie schwach die zärtliche große Hand Aladjews und setzte sich so an den Tisch, daß ihr Gesicht im Dunkel blieb und nur die blassen Hände grell von der Lampe beleuchtet wurden.
»Also, was bringen Sie, Olga Iwanowna?« fragte Aladjew mit behutsamer Freundlichkeit in Blick und Stimme.
Oljenka schwieg.
»Haben Sie meine Bücher gelesen?« fragte Aladjew wieder. »Gefielen sie Ihnen?«
»Ja.« Das Wort fiel klanglos von Oljenkas Lippen, dann schwieg sie wieder, während ihre Hände kraftlos auf den Knien ruhen blieben.
»Na, das ist schön!« sagte Aladjew. »Ich habe hier noch was Hübsches für Sie zurechtgelegt. Die Heldin gleicht Ihnen, ist ebenso lieb und still, ist ins Kloster gegangen, ganz wie Sie es vorhaben.«
Oljenka zog die Schultern zusammen, als ob sie friere.
»Ich werde nicht ins Kloster gehen,« sie sprach kaum vernehmlich; ihre Lippen zitterten so, daß es sogar Aladjew auffiel.
»Na, Gott sei Dank,« sagte er scherzend und blickte dem Mädchen ins Gesicht. »Und warum so?«
Oljenka sah zu Boden: »Ich werde heiraten …« antwortete sie fast unhörbar.
»Heiraten? Das ist eine Ueberraschung! – Wen?« rief Aladjew zurückfallend. Sein Gesicht zuckte zusammen.
»Wassilij Stepanowitsch … der den Laden in unserem Hause hat …«
»Den?« fragte Aladjew nochmals verwundert; eine Grimasse des Mitleids und Widerwillens glitt über sein Gesicht. Er nahm sich jedoch sofort zusammen und sagte angestrengt freundlich:
»Na, was – – auch das ist gut … wünsche Ihnen Glück …«
Oljenka schwieg. Sie bewegte leise die Finger und schaute auf den Boden. Sie dachte über etwas nach, Aladjew aber sah sie wehmütig an und stellte in Gedanken den Krämer, der wie ein Tier aussah, neben diese zerbrechliche, feine Frauengestalt. Ein drückendes Gefühl – Mitleid, Widerwillen, Eifersucht – verließ seine Seele nicht mehr.
Unvermutet rührte sich Oljenka. Sie wollte augenscheinlich etwas sagen, brachte es aber nicht fertig. Ihre Lippen zitterten, ihre Brust atmete mit schwerer Mühe, und tödliche Blässe breitete sich mehr und mehr über ihr gesenktes Gesicht. Eine eigentümliche Aufregung überfiel Aladjew. Er fühlte mit einemmal das Nahen eines Moments, der, ihm selbst noch undeutlich, seine Seele vor Furcht und Freude und Stolz erschüttern ließ.
»Was wollten Sie sagen?« fragte er mit zitternder Stimme.
Oljenka schwieg, war aber unruhig, als ob es sie irgendwohin riß, wohin sie sich doch nicht wagte. Für einen Augenblick hob sie das Gesicht, und Aladjew begegnete ihren großen, etwas fragenden, flehenden Blicken. Wohl eine Minute sahen sie sich in die Augen; in dem Auge des Mädchen lag nacktes Grauen.
Aber Aladjew fand keine Worte, ratlos, sich selbst mißtrauend und ängstlich.
Oljenkas Lippen zitterten noch stärker. In ihrer Angst wollte sie die dünnen geschmeidigen Hände ringen, statt besten aber erhob sie sich plötzlich.
»Wohin denn? Setzen Sie sich doch!« sagte Aladjew verwirrt, stand jedoch unwillkürlich ebenfalls auf.
Oljenka stand ihm gegenüber, noch immer ohne ein Wort; sie krampfte nur leise und fast unmerklich die Finger der herabhängenden Hände ineinander.
»Setzen Sie sich …« wiederholte Aladjew, während er fühlte, daß ihm das richtige Wort fehle und daß er endgültig verwirrt werde.
»Nein … ich will gehen …«
»Leben Sie wohl …«
Aladjew schlug die Hände ratlos auseinander.
»Wie eigentümlich Sie heute sind!« sagte er aufgeregt.
Oljenka wartete noch. Leise rührte sie sich. Irgend ein furchtbarer Kampf rüttelte und zerrte ihren ganzen schwächlichen Körper. Noch einmal schlug sie die ungeheuer weiten, erstarrten Augen zu Aladjew auf, dann plötzlich drehte sie sich um und ging zur Tür.
»Und die Bücher nehmen Sie nicht mit?« fragte Aladjew mechanisch.
Oljenka blieb stehen. »Brauch nicht – – – mehr« brachte sie mit Lippen, die kaum nachgaben, hervor und öffnete die Tür.
Aber in der Tür blieb sie nochmal stehen und dachte lange nach, den Kopf gesenkt. Sie mußte wohl weinen. Wenigstens sah Aladjew, daß ihre Schultern zuckten. Doch sein Kopf blieb leer, er sagte nichts.
Oljenka ging hinaus.
Aladjew verstand, daß es für immer war, während sie für immer bleiben konnte. In entsetzlicher Aufregung und mit gänzlich unbegreiflichem Herzdruck stand er mitten im Zimmer. Er sah, daß das Mädchen in tödlichem Gram um Hilfe zu ihm gekommen war und sacht begann er schon zu verstehen, welches Wort sie von ihm erwartet hatte.
Es wurde kurz an die Tür geklopft.
»Herein!« rief Aladjew freudig, im Glauben, Oljenka komme wieder.
Die Tür ging auf, und Schewyrjow trat ein.
Aladjew erkannte ihn nicht einmal gleich.
»Kann ich Sie sprechen?« fragte Schewyrjow kühl, fast offiziell.
»Ah, Sie sind es! … Bitte sehr! …« gab Aladjew freundlich zurück. – »Setzen Sie sich!«
»Ich komme nur auf eine Minute. Ein paar Worte …« sagte Schewyrjow, während er am Tisch, an derselben Stelle, wo Oljenka gesessen hatte, Platz nahm.
»Wollen Sie eine Zigarette?«
»Ich rauche nicht. Sagen Sie, Sie haben der Maksimowa für den Lehrer Geld gegeben?« fragte Schewyrjow rasch, als wenn die Frage einer wichtigen Angelegenheit gälte.
Aladjew wurde verwirrt und errötete.
»Allerdings … Das heißt vorläufig … Bis sie irgendwie vorwärtskommen …«
Schewyrjow betrachtete Aladjew mit prüfenden Blicken.
»Gedenken Sie allen Armen und Hungernden zu helfen – allen?« fragte er.
»Nein,« erwiderte Aladjew erstaunt, »darüber habe ich nicht nachgedacht … ich gab einfach, weil die Gelegenheit …«
»Ja, das stimmt … Und wer wird denen was geben, bei denen niemand, von Ihrem Schlage zur Stelle ist. Solcher gibt es viele!« sagte Schewyrjow bitter.
»Nun, darüber braucht man sich keine Gedanken zu machen,« Aladjew zuckte mit den Achseln: »man muß helfen, wo man kann, und das ist genug … Auch dafür Gott Dank!«
»Schön. Und wissen Sie, weshalb dieses Mädchen zu Ihnen kam?« – fuhr Schewyrjow scharf fort, als ob er eine Beichte abnähme, ohne auf die Antworten zu hören. Dabei blickte er Aladjew mit seinen durchsichtigen, hellen Augen gerade ins Gesicht.
Aladjew errötete abermals. Er wurde allmählich gereizt. Ein sonderbarer Ton und sonderbare Fragen!
»Ich weiß nicht,« sagte er unschlüssig.
»Sie kam zu Ihnen, weil sie Sie liebt … Weil sie eine reine, durchsichtige Seele hat, die Sie in ihr erweckt haben … Jetzt, wo sie untergeht, kam sie zu Ihnen, um das Rechte zu suchen, das Sie sie zu lieben gelehrt haben. Was vermochten Sie ihr zu sagen? … Nichts … Sie, der Träumer, der Idealist, begreifen Sie, welche unmenschliche Qual Sie ihr bereitet haben. Fürchten Sie denn nicht, daß sie euch alle, die ihr ihr goldene Träume von einem glücklichen Leben zugeflüstert habt, auf dem Lager der ehelichen Freuden, unter diesem Klumpen brutalen, wollüstigen Fleisches verfluchen wird. Sehen Sie – – das ist furchtbar!«
Den letzten Satz rief Schewyrjow mit einem so eigentümlichen, unheimlichen Ausdruck, mit einer so unbegreiflichen Kraft, daß Aladjew einen Kälteschauer über seinen Rücken laufen fühlte.
»Schrecklich ist es, wenn man Tote auferstehen läßt, damit sie ihre Verwesung sehen können … Schrecklich ist es, wenn man aus der Menschenseele etwas Reines, Kostbares macht, nur damit ihre Qualen verfeinerter, ihre Leiden verschärfter werden …« fuhr Schewyrjow fort, scheinbar kaltblütig, aber doch mit dem Zeichen tiefen Schmerzens.
»Sie irren sich …« murmelte Aladjew wirr, noch immer auf die Worte, »weil sie Sie liebt,« antwortend.
»Nein. Ich weiß es … Ich habe den ganzen Tag in meiner dunklen Stube gesessen … Dort hört man alles … Das ist so.«
Aladjew schwieg, das Kinn an die Brust gedrückt.
Schewyrjow stand auf.
»Ihr träumt ohne Unterlaß vom künftigen Glück der Menschheit … wißt Ihr es denn, stellt Ihr Euch überhaupt klar vor, durch welchen Strom von Blut Ihr zu dieser Zukunft gehen müßt … Ihr betrügt die Menschen … Ihr laßt sie von etwas träumen, was sie niemals erleben werden … laßt sie leben und den Schweinen zum Futter werden … diesen Schweinen, die da winseln und grunzen vor Freude, daß ihr Opfer so zart, so schön ist, daß es so übersensibel seine Qualen empfindet! … Wißt Ihr, wieviele von den Unglücklichen, die Ihr betrogen habt, statt zu sterben oder zu töten, zum Herrgott weinend, auf etwas warten, weil es keinen andern Richter und keine Gerechtigkeit für sie gibt …«
Schewyrjows Stimme wuchs zu unabwendbarer Kraft an. Aladjew war aufgesprungen, ohne es zu bemerken. Dieses seltsame blonde Gesicht mit den kalten Augen bedrückte ihn wie ein Albdruck.
»Begreifen Sie denn nicht, daß all Eure Zukunftsträumereien, selbst wenn sie einmal verwirklicht werden sollten, das Tränenmeer all dieser feinen Mädchen, dieser hungernden Beleidigten und Erniedrigten nicht aufwiegen werden … daß sie nicht in der Erinnerung den ohnmächtigen Haß gegen die auslöschen werden, die da unter dem Schutz der Bajonette und Eurer vortrefflichen Humanitätspredigten alles niederschlugen, was es auf Erden Gutes gab, gibt und geben wird! … In Euch werden Sie keine Richter und Rächer finden!«
»Was wollen Sie damit sagen,« stammelte Aladjew.
Schewyrjow antwortete nicht gleich.
»Kommen Sie,« sagte er dann und ging aus dem Zimmer.
Wie hypnotisiert folgte ihm Aladjew.
Die ganze Wohnung schlief. Dunkel und still war es im Korridor, in der dumpfen, kranken Luft wurde das Atmen schwer. Schewyrjow öffnete die Tür zu seinem Zimmer und forderte Aladjew mit einem Wink auf, hereinzukommen.
»Hören Sie!« Schewyrjow sprach leise, und trotzdem seltsam zwingend.
Aladjew lauschte. Zuerst hörte er nichts, außer dem Klopfen seines Herzens. In der Dunkelheit war nichts zu erkennen, nur schienen die Augen des unsichtbaren Schewyrjow in der Finsternis zu glänzen und zu funkeln.
Doch mit einemmal vernahm Aladjew einen eigentümlichen leisen Laut. Jemand weinte. Ein stilles, unterdrücktes, hoffnungslos trauervolles Weinen ging wie eine feine Schneide durch die Stille. Es lag vieles, unerträglich Schweres darin. Die unsägliche Qual, die hoffnungslose Sehnsucht, ohnmächtig unterwürfiges Klagen.
»Da weint Oljenka!« dämmerte es Aladjew auf, aber jetzt unterschied er, daß es nicht eine Stimme war, sondern zwei, die da weinten … Die Finsternis drückte, in seinen Ohren tönte es wie schwermütiges Läuten, und schon schienen es nicht mehr zwei Stimmen, sondern drei … Dutzende, Tausende Stimmen zu sein, die ganze Finsternis ringsum schien mitzuweinen. Entsetzt fragte er:
»Was ist das?«
Aber Schewyrjow antwortete nicht. Er packte Aladjew plötzlich grob an der Hand.
»Kommen Sie heraus …« sagte er barsch und ging in den Flur.
Erst in dem erleuchteten Zimmer, das sich nach der Finsternis und dem unbegreiflichen Weinen eigenartig hell und einfach ausnahm, ließ Schewyrjow Aladjews Hand los und fragte, während er ihn scharf ins Auge faßte:
»Haben Sie es gehört? … Ich kann es nicht anhören! Was werdet Ihr diesen Menschen geben, anstatt jener goldenen Zukunft, die Ihr den Nachkommen in Aussicht stellt? … Ihr … Propheten der kommenden Menschheit; … verflucht mag sie werden!«
Verwunderung und Zorn kamen über Aladjew.
»Erlauben Sie … Und Sie? … Was werden Sie geben, der Sie so fragen?« rief er, und ballte gereizt seine ungeheuren Bauernhände.
»Ich?« Schewyrjows Stimme klang fast spöttisch.
»Ja, Sie … der mir die Fragen gibt – – diese seltsamen … Welches Recht haben Sie, in diesem Ton zu reden?«
»Ich – nichts. Vielleicht werde ich die Andern nur daran erinnern, was sie vergessen haben … Ja und das – – – reicht noch nicht …«
»Was ist das? Was sagen Sie?« fragte Aladjew mit plötzlicher Unruhe.
Schewyrjow sah ihn an. Dann lächelte er unvermutet, als wenn er sich über die Naivität dieser Frage wunderte, und ging langsam zur Tür. »Wohin denn? Bleiben Sie!« rief Aladjew.
Schewyrjow wandte sich um, nickte freundlich mit dem Kopf und ging hinaus.
»Aber … Sie … Sie sind einfach verrückt!« schrie Aladjew in blinder Wut.
Er glaubte zu hören, daß Schewyrjow lachte. Doch die Tür fiel ins Schloß.
Wohl eine Minute stand Aladjew bestürzt in seinem Zimmer. Der Kopf schmerzte ihm, in den Schläfen pochte es und sein Herz hämmerte wie bei einem Kranken, ungleich und wild. Er warf mechanisch einen schweifenden Blick auf sein Arbeitszimmer, seinen mit Papier und Büchern überhäuften Tisch, die Bilder an den Wänden, und eine plötzliche Aufwallung krankhaften und unbegreiflichen Ekels durchrüttelte ihn vom Kopf bis zum Fuß. Bis zum äußersten abstoßend kam ihm jeder Gedanke, jedes Handeln, allein der kommende Tag vor. Das Verlangen packte ihn, die ganze Welt mit Riesenhänden zu ergreifen und sie so hoch zu schütteln, daß all die Häuser, Menschen, Gedanken, Taten, wie Staub durch die Luft wirbelten.
»Vielleicht wäre es wirklich das Beste!«
Er ging zu Bett, warf sich mit dem Gesicht in die Kissen und blieb starr liegen.
In der Finsternis, die seine geschlossenen Augen umgab, tauchte ein helles Gesicht mit großen, etwas fragenden, über etwas weinenden Augen vor ihm auf und schwebte vorüber. Und dann näherte sich jemand schwarz, ungeheuer, tierisch auflachend und löschte den hellen, freudigen Lebenstraum aus.
Es war Nacht, und die ganze Wohnung schlief. Kein Laut kam von außen her, alles war totenstill und in dumpfer Regungslosigkeit erstarrt. Nur die gestaltlose Finsternis wanderte schweigsam durch die Zimmer und schaute auf die schlafenden Gesichter. In Schewyrjows Zimmer schimmerte in undeutlichem Blau das offene Fenster.
Plötzlich erzitterte Schewyrjow und schlug die Augen auf.
Jemand stand bei ihm. Er hob den Kopf.
Gerade vor ihm, am Fußende des Bettes, stand, das Gesicht mit den Händen bedeckt, eine weibliche Gestalt. Etwas Geheimnisvolles lag in ihren feinen, schwankenden Umrissen. Und noch bevor die Erinnerung das halbvergessene Bild wachgerufen hatte, erkannte sie Schewyrjow durch ein seltsames inneres Gefühl, das in sein Hirn griff und sein Herz zusammenzog: Es war die Frau, die er einst geliebt hatte und die dahin gegangen war, von wo es, wie er meinte, für keinen Rückkehr gäbe.
»Lisa!« rief Schewyrjow gleichzeitig in äußerstem Entzücken und Schrecken, während ihm schien, daß ihm das Herz aus der Brust gerissen wurde.
Die Gestalt stand wie vorher, das Gesicht mit den Händen bedeckt; nur begann sie, in dem Nebel, der in Wellen vor seinen Augen wogte, zu schwanken.
»Lisa! Woher bist du? … was ist mit dir? …« rief Schewyrjow noch verzweifelter.
Sein Schrei schien ihm durch die ganze Wohnung zu hallen. Aber plötzlich wurde es Schewyrjow klar: sie kam, weil sie alles voraussah, und ihn in übermenschlicher Liebe – der Liebe, die stärker ist als der Tod – in dieser letzten Nacht seines Lebens beweinen wollte.
»Lisa, weine nicht!« bat Schewyrjow, trotzdem er fühlte, daß Worte machtlos seien, daß sie nicht antworten würde und nicht antworten könne, weil sie in Wirklichkeit nicht existierte: »Sieh, so habe ich es gewollt, das war der Traum meines Lebens, von dem Tage an, da du gestorben bist … Es ist der einzige Ausweg für den Haß, der mich drückt! … Es sind keine Berechnungen, keine Theorien, das bin ich selbst … verstehe das! …«
Seine Hände streckten sich ihr krampfhaft entgegen, sie griffen in die Luft.
Sie trat zurück, ohne die Hände von ihrem kummervoll gesenkten Gesicht zu entfernen. Und unvermutet begann sie, irgendwohin zur Seite zu gleiten, schob sich lautlos wie ein Schatten an seinem Kopfe vorbei und verschwand in der Zimmerecke, die für ihn im Dunkel lag. Aber ihm blieb noch Zeit, die dunkle Bluse, dieselbe, in der er sie zum letzten Mal gesehen hatte, die dünnen Finger und die Haare, in der alten, lieben Frisur, zu erkennen.
Schewyrjow sprang rasch mit den bloßen Füßen auf den kalten Fußboden.
Niemand war da oder konnte da sein. Matt schimmerte das Blau des Fensters und in sein Licht, das zittrig wie Spinngewebe war, schauten kühl die kahlen Wände des Zimmers. Er trat ans Fenster. Ihm gegenüber stand eine langgestreckte, breite Mauer. Ueber ihr lag der blasse, nächtliche Himmel; wie schwarze, starke Arme streckten sich ihm eiserne Schornsteine entgegen.
– – »Eine Halluzination!« dachte Schewyrjow; und er empfand, wie schwer sein Herz schlug; ein ungeheurer Knäuel schob sich die Kehle hinauf.
Er trat an die Tür, betastete sie, als wenn er seinem Verstand nicht mehr traute.
– – »Ich bin krank … vielleicht werde ich noch verrückt? … Man muß dagegen ankämpfen. Ich werde verrückt! Mein ganzes Denken ist nur das Produkt eines kranken Gehirns?!«
Und plötzlich, lautlos und kühl lächelnd, ging er mit festem Schritt zum Bett und legte sich nieder. Es schien ihm, daß er die Augen garnicht geschlossen hätte und nach wie vor das hell schimmernde Fenster, die kahlen, weißen Wände und die dunkle Tür sähe. Währenddem jedoch sprach jemand mit eintöniger und lautloser Stimme zu ihm:
»Auch dein Haß, deine wahnsinnigen Pläne sind nichts anderes als dieselbe große, alles opfernde Liebe, die du verwirfst …«
»Das ist nicht wahr!« entgegnete Schewyrjow mit furchtbarer Anstrengung, wie wenn irgend eine ungeheure Last seine Brust bedrückte. »Das ist keine Liebe … ich will keine Liebe! …«
Irgend jemand fuhr jedoch beharrlich und eintönig zu reden fort, mit Lauten, die aus dem Schädel Schewyrjows zu kommen schienen:
»Ja, es ist wahr … du liebst die Menschen mit allen Kräften deines Wesens, du konntest nicht die ungeheure Masse des Bösen, des Ungerechten, des Schmerzensvollen ertragen, und dein lichtes Gefühl, voller Glauben an den schließlichen Sieg, an die Wahrheit jener schrecklichen Opfer, die du gebracht hast, wurde trübe und krank … Du haßtest, weil in deinem Herzen zu viel Liebe ist! Und dein Haß selbst ist nur dein höchstes Opfer! … Weil es keine höhere Liebe gibt, als wenn einer seine Seele … nicht das Leben, sondern die Seele für seine Nächsten hingibt! … Erinnerst du dich daran? Erinnerst du dich?«
Die Stimme wurde lebhafter, tönte aber nicht mehr, wie anfangs, aus seinem Schädel, sondern irgendwo in der Nähe. Fremd und lebendig. Und wirklich sprach jemand mit ihm. Mit einem Mal erkannte Schewyrjow, daß am Fußende seines Bettes, in der Dämmerung kaum sichtbar, ein Mensch saß. Ein hageres Profil schwankt, ein gekrümmter Rücken, ein langer, magerer Hals.
Schewyrjow riß die Augen weit auf und setzte sich mit einem Ruck aufrecht hin.
»Wer ist da?«
Die undeutliche Gestalt rührte sich nicht … Für einen Augenblick kam es Schewyrjow vor – das brachte ihm eine ungeheure, freudenvolle Erleichterung – daß er nur einen zufälligen Schatten, der nicht einmal auf dem Bette, sondern bedeutend weiter, dicht an der Tür sitzt, erblickt hätte. Die Finsternis täuschte; das Nahe schien fern und das Ferne nah. Selbst das Zimmer dehnte sich aus und zog sich wieder zusammen, und drückte mit seinen kahlen Fenstern wie ein Albdruck auf ihn. Die Finsternis schwieg und lag wie geduckt, um zu lauschen.
Schewyrjow wollte aufstehen und Licht machen, aber noch vor der ersten Regung fühlte er, daß seine Decke von einem schweren Körper niedergehalten wird und das tatsächlich jemand am Fußende des Bettes sitzt. Der feine, flüchtige Gedanke an Wahnsinn schoß durch sein Gehirn.
»Aber wer ist da? … Wozu?« brachte er mit Mühe hervor.
Jener schwieg.
»Wer hat Sie hereingelassen?« rief er noch leiser.
Jener drehte langsam den Kopf um, und bei dem schwachen Dämmerlicht erblickte Schewyrjow ein hageres, schwarzes Gesicht mit dunklen Höhlen an der Stelle der im Finstern unsichtbaren Augen.
»Wer?« gab eine Stimme verwundert und beinahe spöttisch zurück. »Sie selbst!«
»Warum lügen Sie!« rief Schewyrjow, während er fühlte, wie ihm wahnsinniges Grauen von unten her in den Kopf steigt. »Ich lasse niemanden zu mir herein!«
»Doch Sie selbst …,« erwiderte der nächtliche Besuch.
Schewyrjow schwieg und heftete seine glänzenden Augen wirr auf den sonderbaren Schatten.
»Was wundert Sie eigentlich so sehr?« setzte der Gast, jetzt schon mit offensichtlichem Spott, hinzu.
»Ah … das ist wieder nur eine Halluzination … Ich muß mich wirklich zusammennehmen!« erinnerte sich Schewyrjow plötzlich und lächelte.
Doch mit einem Mal wurde das Grauen von Erbitterung, fast Haß verdrängt. Diese Gestalt, die ihm so ruhig gegenüber saß, als wenn sie in Wirklichkeit und nicht nur ausschließlich in seinem kranken Gehirn existiere, wurde ihm widerwärtig bis zum Aeußersten. Schewyrjow preßte die Zähne unter dem Aufwallen physischen Ekels zusammen und sagte:
»Nun, meinetwegen. Im Grunde sind das – Dummheiten! Was wollen Sie?«
Er glaubte, das Gespenst werde nicht antworten; er erwartete es geradezu mit Schadenfreude; es sprach aber in gänzlich lautloser, doch auffällig deutlicher Weise:
»Nichts besonderes. Führen wir nur das Gespräch weiter … Sie müssen Ihren Gedanken klarer ausdrücken.«
»Hören Sie damit auf. Ich muß nichts und kann Sie jeden Augenblick loswerden,« erwiderte Schewyrjow hochmütig, während er gleichzeitig voller Bestürzung bemerkte, daß er sich mit einem Gespenst unterhält und daher an dessen Existenz zu glauben scheine. Irgendeine Macht hielt ihn fest und erzeugte in ihm gegen seinen Willen die Worte.
»Wen stellen Sie denn eigentlich vor?« fragte Schewyrjow höhnisch; er fühlte, daß sein Spott ihm selbst galt.
»Erkennen Sie mich denn wirklich nicht?«
»Ach doch!« Plötzlich erinnerte sich Schewyrjow, wem dieser magere Hals und das schwarze Gesicht gehörte. »Sie sind ja der Schlosser, mit dem ich im Teelokal sprach …«
»Hören Sie auf, noch im Traume zu heucheln,« erwiderte der Gast geärgert, »ich bin ebensowenig der Schlosser, wie Sie Schewyrjow sind. Befehlen Sie, daß ich mich vorstelle, mein Herr Studiosus Tokarjow? …«
»Nicht nötig … weiß schon … habe mich erinnert …« erwiderte Schewyrjow angestrengt.
Kein Name, kein Gesicht war ihm bewußt geworden, und doch beruhigte er sich, als hätte er plötzlich anstatt eines Menschen, der ihm in der Finsternis entgegentritt, einfach einen Spiegel und sein eigenes Bild darin erkannt.
Die Furcht war jetzt gänzlich verschwunden, und er fühlte nur schreckliche Müdigkeit und das unüberwindliche Verlangen irgend eine Last von sich abzuwälzen.
»Ich wollte mit Ihnen zum letzten Mal sprechen … obwohl es wahrscheinlich ganz zwecklos ist … Besinnen Sie sich! … Begreifen Sie das Grauenhafte Ihres Vorhabens … Sie sind dem schrecklichen Irrtum anheimgefallen, daß Haß die Sache der Liebe zu fördern vermag … Sie, Tokarjow!«
Schewyrjow verzog die Lippen zu einem Lächeln.
»Sie sprechen noch immer über dasselbe! Ich denke nicht an Liebe … Ich will nichts davon hören! … Ich hasse nur. Wofür soll ich Ihre Menschen lieben? Weil sie sich wie Schweine gegenseitig auffressen, oder weil sie so unglücklich, schwächlich und dumm sind, sich millionenweise unter den Tisch jagen zu lassen, an dem Dutzende brutalere Schufte sich an ihrem Fleische satt fressen? … Ich will sie nicht lieben, ich hasse sie, die mich mein ganzes Leben lang bedrückt, mir alles fortgenommen haben, was ich geliebt, woran ich geglaubt hatte … Mich räche ich … Machen Sie sich das ein für allemal klar! … Ich hätte mich ebenso an Ihren Unglücklichen, die genau so wie die Glücklichen das Leben am andern Ende verpfuschen, gerächt, wenn diese Unglücklichen nicht so jämmerlich wären und nicht von selbst untergingen … Ich kann nicht leben, aber sterbend will ich daran erinnern, daß sie sich irren, daß sie sich in der Gewalt des ersten besten befinden, der Mut und Verstand genug besitzt, um sich von der Suggestion freizumachen … Ich will Ihnen zeigen, daß es eine Macht gibt, die stärker ist als die Liebe – der tödliche, unversöhnliche, der letzte Haß … Schon gut …«
»Aber was wollen Sie – allein tun?« fragte eingeschüchtert der Gast.
Schewyrjow lachte kurz und seltsam.
»Erstens will ich überhaupt nichts tun, was ich nicht allein tun kann. Und zweitens, glauben Sie denn, daß ich der Einzige sein werde? … Wollen wir abwarten … Abwarten!«
Schewyrjow wiederholte dieses Wort einige Mal mit überzeugtem und sicherem Ausdruck. Seine Augen schauten so gespannt und scharf in das Dunkel, als sähe er dort Reihen ebensolcher Menschen wie sich, die mit allem Menschlichen abgeschlossen haben, um unentwegt in seinen Fußstapfen vorwärtszuschreiten.
»Herrgott! Welchen Zickzackkurs hat Ihr Denken in diesen fünf Jahren durchlaufen, seitdem Sie als junger Mensch voll Mut und Ueberzeugung in die Fabrik gegangen sind, voll heißer Zuversicht an den schließlichen Sieg … Sie haben den Mut verloren, sind entkräftet worden!«
»Lassen wir das,« erwiderte Schewyrjow unwillig. »Sagen Sie mir lieber … ich war damals nicht allein. – Unserer waren viele … wo sind sie?«
»Sie sind für die gemeinsame Sache in den Tod gegangen!« antwortete der Gast feierlich.
»Auch Lisa?« fragte langsam Schewyrjow.
»Ja … auch sie.«
»Aber wissen Sie – – – ich habe sie soeben gesehen … Sie weint … Uebrigens war das nur eine Wahnvorstellung, nicht darum handelt es sich. Wissen Sie, was es bedeutet, das Allerteuerste im Leben zum Opfer zu geben … Ein Wesen, so zart und zerbrechlich, daß ich jede Minute fürchtete, es unter der Rauheit der einfachsten Kleinigkeiten leiden zu sehen – es dem Tode, der schmutzigen Schlinge, dem Galgen, den Henkern zum Hohne preiszugeben … Kennen Sie das? … Nein! Nun ich … ich kenne das!«
Mit Schluchzen in der Stimme brachte es Schewyrjow hervor.
»Regen Sie sich nicht auf. Lieber,« sagte der Gast teilnahmsvoll, »das ist gewiß schrecklich … aber was tun? … Nichts läßt sich ohne Opfer erreichen … Und je höher das Opfer, desto reiner und heiliger ist sein Sinn …«
»So?« fragte Schewyrjow eigentümlich.
»Glauben Sie das! … Opfer, Opfer! … Hekatomben wurden der Menschheit dargebracht, und unsere ganze Geschichte ist nur ein ununterbrochenes Schlachten … Aber sie schreitet nicht umsonst vorwärts. Und von dort, aus der lichten Zukunft, werden uns bereits dankende, segnende Hände entgegengestreckt, von einem glücklichen und freien Menschengeschlecht … unseren Kindern, unserem Werke! Mein Gott! Was bedeuten unsere kurzen und elenden Leben dieser großen Zukunft gegenüber, die auf unseren Leichen aufgebaut wird …«
»Pfui, wie ekelhaft! … Fürchten Sie denn nicht, daß Ihre herrliche Zukunft zu sehr nach Aas riechen werde?« fragte Schewyrjow und stieß ein kurzes Lachen aus.
– Streite mit mir selbst! Schlimm genug! dachte er.
»Und vernehmen Sie denn nicht,« fuhr der Gast fort, als hätte er den Einwand überhört, »wie wir Schritt für Schritt die tausendjährige Masse des Bösen aushöhlen, um vorwärtszudringen … Und können Sie denn wirklich an diesem Siegeszug der Wahrheit zweifeln? Erinnern Sie sich, daß der Kampf gegen das Böse nicht durch Böses geführt werden kann …«
Schewyrjow schwieg und hörte zu. Ihm schien, daß er in einer mächtigen Kirche in den hintersten Reihen einer ungeheuren Menge steht und aus weiter Entfernung die feierlich-süßliche Stimme eines predigenden Jesuiten hört.
»Ja, und wir selbst? … Wir, die unser Teuerstes, das wir besitzen, – unser Leben und Glück – fortgeben; was wird aus uns werden?« fragte er leise.
»Wir werden als Dünger, der den Boden fruchtbar macht, dienen … den Boden, auf welchem Keime des neuen Lebens emporschießen!«
»Und wer wird denen, die sich an unserem Blute betrinken, die sich über unsere Schmerzen freuen und vor Freude auf unserem … Dünger, wie Sie sich ausdrücken, tanzen, einst die Vergeltung bringen? …« fragte Schewyrjow noch leiser und mit äußerst seltsamem Ton.
»Was gehen die uns an … Sie wird die Geschichte oder, wenn Sie wollen, Gott richten!«
Wütend packte ihn Schewyrjow bei der Kehle.
»Ha, ist das alles? … Ist das alles?«
Und schrill und wild rief er plötzlich aus:
»Du lügst! Ein Pfaffe bist du … ein schwarzer Pfaffe … ein Jesuit! Du bist gekommen, um mich zu betrügen! Ich erwürge dich!«
Er schrie, schüttelte ihn an der Kehle, während sein Körper selbst von Zorn und Widerwillen geschüttelt wurde. Er stieß den Gast gegen die Wand, sodaß dessen Kopf mit dumpfen Stößen an den Putz schlug, und preßte den langen hageren Hals zusammen. Dann war ihm, als flammte ein Licht auf, als hätte ihn irgend jemand in das Herz gestoßen, und er erwachte.
Sein Herz hämmerte in der Brust und schien zu zerspringen. Vor den Augen drehten sich rote und goldene Kreise und über seinen ganzen Körper strömte heißer, klebriger Schweiß. Er lag auf dem Rücken, bis an den Hals in die Decke verwickelt und sah in der grauen Morgendämmerung sein leeres Zimmer, den Stuhl mit dem dunklen Haufen Kleidungsstücke und das jetzt völlig graue Fenster. Aber die Empfindung einer widerlichen, zähen Last auf den Füßen blieb noch immer.
Mit Anstrengung erhob sich Schewyrjow.
Auf seinen Füßen lag sein Mantel, der von der Bettlehne gerutscht war.
»Und weiter nichts!« lächelte er kühl und wollte sich hinlegen, hielt aber plötzlich inne und fuhr in die Höhe.
Irgendwo tief unten, nicht einmal in der Wohnung, vernahm er behutsame Schritte. Er schnellte den Kopf hoch und setzte sich leicht und rasch auf. Jemand stieg die Treppe hinan, kam immer näher und näher, vorsichtig mit schweren Stiefeln auf die steinernen Stufen tretend.
Schewyrjow saß im Bette und lauschte.
Jemand blieb vor der Tür stehen, schien ebenfalls zu lauschen. Lange herrschte Stille; und schließlich glaubte Schewyrjow, daß nur das Blut in seinen Schläfen hämmerte. Alles war ruhig, allein die Finsternis schwankte leicht vor seinen Augen.
»Es kam mir nur so vor!« dachte Schewyrjow, während er erleichtert den Kopf in die Kissen legte.
Aber im selben Moment öffneten sich weit seine Augen, und als wäre er von jemandem aus dem Bette geschleudert worden, stand er plötzlich mit bloßen Füßen auf dem kalten Fußboden, mitten im Zimmer. Durch die dumpfe Stille kam ein behutsamer, kaum hörbarer Schall: Eisen klirrte und verstummte. Man versuchte vorsichtig die Wohnungstür aufzumachen. Schewyrjow legte, sich wie ein Schatten bewegend, die Sachen an. Als er schon bei den Stiefeln war, hörte er ein neues Geräusch. Er erstarrte, die Kleidungsstücke in der Hand, lauschte schärfer; dann begann er, sich noch rascher anzukleiden. Jetzt kamen noch mehr Menschen, behutsam mit den Füßen scharrend, die Treppen hinauf.
»Sie sind's!«
Eine Minute lang stand Schewyrjow unentschlossen, zog dann schnell Mantel und Hut an, öffnete die Tür und blickte in den Korridor hinaus.
Eine blitzartige Vorstellung schoß durch sein Gehirn; er erinnerte sich, daß er durch das Fenster der Küche, in die er am Tage vorher gekommen war, um Wasser zu trinken, ganz nahe die Brandmauer des Nebenhauses gesehen hatte; das Fenster besaß keine doppelten Rahmen. Und mit schnellen Bewegungen, lautlos wie eine Katze, Kisten und Vorhänge umgehend, glitt er über den Korridor, durch die dichte muffige Luft. An der Ecke, wo die beiden Alten schliefen, blieb er für einen Augenblick stehen. Das schwache Schnarchen hinter dem Vorhang setzte plötzlich aus. Schewyrjow stand regungslos und lauschte; schlich dann lautlos weiter, machte die Tür zu der Küche auf und hielt inne. In der Küche war es vollständig hell. Auf dem Herde glänzte undeutlich irgendwelches Geschirr, ein kalter Ssamowar schien auf dem Tische stehend zu schlafen. Die Katze sprang vom Herde auf den Boden herunter und lief mit erhobenem Schwanze, Schewyrjow anknurrend, fort. Es roch nach kalt gewordenem Kohlendunst und saurer Kohlsuppe. Schewyrjow trat an das Fenster und starrte hinaus.
Durch die trüben, staubigen Scheiben war kaum etwas zu sehen; nur ein Streifen Wolken schimmerte hell und eine senkrechte graue Mauer ging in die Tiefe.
Er sah sich noch einmal um und versuchte, leise die Riegel zurückzuschieben. Das Fenster klirrte matt und ging auf, ein kalter, frischer Luftzug strömte über sein Gesicht. Er lehnte sich hinaus und blickte hinunter.
Tief unten glänzte weiß das Steinpflaster; es machte den Eindruck, als ob es auf dem Boden eines ungeheuren Abgrunds läge. Ein Hauch von Kälte und Tod stieg von dort zu ihm herauf. Oberhalb der grauen Linie der Brandmauer breitete sich der eintönige Morgenhimmel; seine endlose Leere atmete Kälte und Freiheit.
Schewyrjow wandte den Kopf nach der Wohnung zurück und horchte gespannt.
In diesem Augenblick tönte klingend, wie lebendig und warnend die Glocke, und die Stille und der Schlaf der ganzen Welt schienen dadurch ins Schwanken gekommen zu sein.
Behutsam und geschickt kletterte Schewyrjow auf das Fensterblech, warf einen flüchtigen Blick hinunter, in den schrecklichen Abgrund des unten schimmernden Pflasters, und sprang ab. – – Während eines Momentes hatte er die Empfindung eines schauerlichen Falles, der Leere, der Schwäche und Schwere des eigenen Körpers in der Luft, über dem Abgrund … Dann schlug die kalte steinerne Brandmauer stark gegen seine Brust.
Die in schrecklicher Spannung zusammengekrampften Finger hakten sich zäh in das ausgebogene Eisenblech, mit dem sie gedeckt war, es begann unter der Last zu dröhnen und nachzugeben. Die Füße glitten krampfhaft an der Mauer entlang, die Knie stießen an und rutschten ebenfalls unaufhaltsam nach unten. Schewyrjow kam sein Körper unglaublich schwer vor. Er krümmte sich völlig, wie eine fallende Katze, und hatte schon die Augen geschlossen, als er mit einer letzten Anspannung den nachgebenden Rand mit den Händen fester umklammerte, abriß, ihn wieder umklammerte und den Ellbogen auf das Blech brachte. Dann fing er an, konvulsivisch zusammengekrümmt, mit den Füßen gegen die Mauer zu kratzen, konnte sich auf die Ellbogen heben, zog sich mit der anderen Hand hinüber und wälzte sich mit der Brust aufs Dach hinauf.
Wohl eine Minute lag er halb besinnungslos auf dem kalten, feuchten Blech, nur in seinem hämmernden Herzen einen schrecklichen Schmerz empfindend; noch immer lag ihm das Gefühl schauerlichen Sturzes in den Gliedern.
Irgend ein Geräusch kam vom Hofe her; das rüttelte ihn auf. Jemand sprach, irgendwo fern, in der Tiefe.
Schewyrjow rutschte auf der Brust langsam den abfallenden Teil hinab dem Dachfenster zu.
Dort, auf der anderen Seite des schiefen Daches, sah er einen großen unbekannten Hof, Reihen blinder Fenster, Gipfel dürrer Bäume und flache grüne Rasenstreifen. Irgend ein schwarzes Menschlein, das von oben wie ein komisches plattes Insekt mit Beinchen, die schon am Kopfe zu schwingen begannen, aussah, ging über die weißen Pflastersteine des Hofes. Mit lächerlicher Deutlichkeit klangen seine häufigen Schrittchen hinauf.
Schewyrjow glitt über den Rand des Daches, sah sich noch einmal um und verschwand in der Finsternis des geräumigen, stäubigen Dachstuhls.
Kalt schaute der Himmel herab. Weit breitete sich das Meer von Dächern und Schornsteinen aus, hinter ihnen, am Rande des Horizonts, blaute die See, die im Lichte des beginnenden Tages schon langsam blaß wurde.
Aladjew wurde durch die schrille Glocke, die in seinem Zimmer selbst zu läuten schien, aufgeschreckt. Aus Gewohnheit griff er zuerst nach der Zigarette, aber im selben Augenblick beklemmte etwas sein Herz, und während er nach den Streichhölzern tastete, hob er den Kopf und lauschte. In ihrer Kammer rührte sich die Maksimowa. Man hörte, wie sie gähnte, mit dem Unterrock raschelte, an etwas anstieß und mit bloßen Sohlen den Korridor entlang schlürfte.
»Wer ist da?« hörte Aladjew ihre schläfrige, mißmutige Stimme.
»Ein Telegramm? Ein Telegramm! ist die gewöhnliche Antwort auf die Frage des Wohnungsmieters, wenn die russische Polizei nachts an einer Wohnung läutet, um eine Haussuchung vorzunehmen. D. Ueb. Für wen ein Telegramm?« fragte die Maksimowa.
Wahrscheinlich wurde ihr geantwortet, aber so leise, daß man nichts verstehen konnte.
Aladjew erhob sich schnell und setzte sich auf.
»Da!« schoß es wie ein Blitz durch sein Gehirn, und ein ganzer Wirbelsturm von Bildern und Vorstellungen raste durch seinen Kopf. Das kleine Paket und die Papiere, die ihm das Männchen mit dem Habichtsgesicht zurückgelassen hatte, standen plötzlich vor seinen Augen auf und wuchsen zu etwas grauenhaft Kolossalem heran. Fast wollte er rufen, daß man die Tür nicht öffnen solle; er sprang auf und stürzte in den Korridor, – aber mit unabwendbarer Klarheit ertönte da das eiserne Knirschen des zurückgeschobenen Riegels und das unterdrückte Stampfen vieler menschlicher Füße, die in schweren, eisenbeschlagenen Stiefeln steckten.
Mit einem Mal schien die ganze Welt erwacht zu sein und in schreckhaft grellen Farben, Rufen, Pfiffen aufzublitzen.
In bloßem Hemd, lang, hager, mit ungeheuren Händen und Füßen, begann Aladjew krampfhaft im Zimmer umherzujagen. Alles darin war plötzlich hell geworden. Eine Minute vorher hatte es, wie er glaubte, noch vollständig im Dunkeln gelegen; doch jetzt im bläulichen Schimmer des Tagesanbruches, wurde alles deutlich erkennbar: der Tisch mit der unvollendeten Arbeit, die Zigaretten darauf, die Stiefel unter dem Bett, die Bilder an den Wänden. Alles so schlicht, bekannt, so gewöhnlich und lieb.
»Aber zu wem wollen Sie denn?« fragte erschrocken Maksimowas zitternde Stimme.
Was ihr geantwortet wurde, war nicht zu hören, nur stieß die Alte einen kurzen Aufschrei aus und schlug die Hände zusammen. Ein Hagel schwerer Schritte rumorte gleich darauf im Flur.
Aladjew stürzte zur Tür und drehte, ohne sich über den Grund Rechenschaft zu geben, den Schlüssel lautlos im Schloß um.
Dann sprang er zum Tisch, ergriff das Paket, das ihm wie ein tausend Zentner schwerer Stein vorkam, hielt es einen Augenblick lang in der Hand und stürzte mit ihm ans Fenster.
»– Es explodiert – ganz egal …« dachte er, vor dem geöffneten Halbfenster stehend, durch das ihm die zärtlich frische Morgenluft entgegenhauchte. »– Ganz egal – später kann man es ableugnen …«
Fieberhaft rannte sein wirres Denken umher, er schob das Paket durch den Gucker, und die Bombe hing einen Augenblick über dem vier Stock tiefen Schlund des Hofes. Aladjew hatte fast schon die Finger geöffnet, als plötzlich ein neuer Gedanke durch sein Gehirn schlug; er war so entsetzlich und auswegslos, daß Aladjew wie ein verwundetes Tier aufstöhnte.
»Was tu ich … die Papiere, die Adressen? … Sie würden doch auf dem Hofe zusammengesucht werden! … verbrennen? … keine Zeit mehr …«
»Denn also … selber untergehen, um andere zu retten? … Aber, ich hatte es ihnen doch gesagt! Ich habe sie gebeten, sie sollen mich in Ruhe lassen … Was für ein Recht haben sie jetzt, auf mich zu rechnen! …«
Die ganze Wohnung war erwacht. Irgendwo fingen Kinder zu weinen an, jemand erschrak; es wurde geseufzt. Im Nebenzimmer, bei Schewyrjow, wurde laut gesprochen, mit den Möbeln geklappert, geschimpft.
»Wirklich ausgerückt; was da noch … Ist wohl zum Nachbar herübergelaufen, Euer Wohlgeboren … hier ein Student … Hol's der Teufel – – So nimm doch die Flinte beiseite, Satan, schießt einen mir nichts, dir nichts tot!« Zu Aladjew drangen kalte, wütende Stimmen herüber.
Plötzlich klopfte jemand an seine Tür. Mit so sicheren und gleichzeitig korrekten Schlägen, daß Aladjew durch die geschlossene Tür den Klopfenden zu sehen glaubte: einen höflichen, zuvorkommenden Polizeioffizier mit glatten Manieren und schonungslosen, durchsichtigen Augen.
Da sprang er, während er sich bemühte, keinen Lärm zu machen, vom Fenster zurück, legte das Geschoß auf den Tisch, ergriff es wieder, ließ es um ein Haar fallen und schob es unter die Matratze. Schob es hinunter und erhob sich dann, die langen kräftigen Arme kraftlos gesenkt.
Es wurde abermals gegen die Tür geklopft.
»Seien Sie so gut, öffnen Sie auf eine Minute!« ertönte eine unbekannte Stimme, die einschmeichelnd und doch unheimlich klang.
Aladjew antwortete nicht. Der alte mit der Muttermilch eingesogene und das ganze Leben hindurch entwickelte Haß gegen diese Leute riß ihn fort. Und ohne sich selber über seinen Entschluß Rechenschaft zu geben, kniete er vor dem schwarzen Ofenloch, aus dem ihm der Geruch kalter Asche entgegenkam, nieder. Mit furchtbarer Schnelligkeit zerriß er den Bindfaden des Pakets und begann die Papiere in Stücke zu reißen. Der Ofen knarrte klagend mit dem eisernen Türchen, das Papier knisterte anscheinend durch das ganze Haus.
»Machen Sie auf, sonst brechen wir die Tür ein!« schrie eine eisige, wütende Stimme.
Jetzt standen wahrscheinlich schon mehrere Menschen an der Tür; plötzlich wurde mit aller Kraft dagegen geschlagen.
»Sie kommen mir zuvor!« schoß es durch Aladjews Hirn. Und er sah alle vor sich, deren Schicksal und Leben davon abhing, ob ihm die Vernichtung der Papiere gelänge; ob er sie preisgeben oder sich aufopfern wolle. Die ganze riesenhafte Arbeit, in der die lichte Selbsthingabe hunderter junger und reiner Seelen steckte, zog in einem Augenblick an ihm vorüber. Dutzende bekannter Gesichter schienen ihm voll Hoffnung in die Seele zu blicken. Er fühlte sich selbst klein und unbedeutend.
»Nun, was denn?« sprach gleichsam in der Tiefe seiner Seele eine warme Stimme, voll Tränen und Entzücken. »Mag es so sein … lieber ich als …«
Man drängte sich gegen die Tür, als standen nicht Menschen hinter ihr, sondern eine ganze Horde wilder Tiere.
»Mach doch endlich auf! Was soll das denn! Ergib dich,« dröhnten Stimmen.
Plötzlich überkam Aladjew wilde, kalte Wut. Er hatte den Wunsch, sie zu überbrüllen, zu singen, zu pfeifen, sie mit den unflätigsten und tollsten Schimpfworten zu bewerfen.
Er wußte selber nicht, wann und wie ein schwerer Revolver in seine Hand kam. Wahrscheinlich hatte er ihn mit aufgegriffen, als er die Papiere vom Tische nahm.
»Ergib dich! … Ach was, schlag die Tür ein! Drücke zu!«
»Hol euch der Teufel, eure Mutter hab ich gebraucht!« Gewöhnliches russisches Schimpfwort. brüllte Aladjew wie toll, indem er sich der Tür zuwandte; dabei zerriß er noch immer, wenn auch instinktiv, die Papiere in Fetzen.
Plötzlich krachte die Tür. Ein schwarzer breiter Spalt klaffte auf ihrer weißen Oberfläche. Holzsplitter flogen herab, der Schlüssel fiel klingend auf den Fußboden. Mehrere Stimmen begannen zu brüllen, und ein schwarzer Schatten, vor dem trübe ein Gewehrlauf aufblinkte, schob sich durch den Spalt herein.
Aladjew feuerte.
Ein gelber kurzer Blitz zuckte, jemand schrie durchdringend, und stürzte schwer rückwärts in den Korridor.
»Halt ihn! Halt ihn! Feuern!« brüllte es vielstimmig.
Aladjew hockte auf den Zehen, mit wirrem Haar, im Hemd, seine Augen glänzten wie irrsinnig und seinen langen Arm nach dem schwarzen Spalt in der Tür ausstreckend, schoß er ein Mal nach dem andern. Er wußte nichts mehr und empfand nichts mehr als wildes elementares Grauen und schüttelnden Haß, jenen unmenschlichen Haß, mit dem man ein giftiges Ungeziefer zertritt, einen Feind mordet, ein Opfer erdrosselt. Plötzlich prasselte ihm aus dem vollen schwarzen Schlund der Tür Feuer entgegen. Klirrend schlug das Türchen des Ofens zu, ein Bild fiel vom Nagel und weißer Staub rieselte von den Wänden herab.
Aladjew sprang zur Seite, drückte sich an die Wand, glitt sie, sich windend, entlang und kam so bis an die Tür. Das Feuer der Schüsse schlug ihm scheinbar gerade ins Gesicht, aber, mit einem Satz an der Tür, steckte er den Revolver in den Spalt und feuerte zweimal gegen Körper, die er mit seiner Waffe fast berührte.
Ein Schrei betäubte ihn. Die Schüsse hörten auf; ein Mensch stöhnte mit reißenden, zähen Seufzern.
»Aha!« schrie Aladjew mit unglaublicher Wonne, im ganzen Körper quälende Freude, bereit, ohne Ende zu schießen und zu töten.
»Halt! Er wehrt sich … Gehe nach dem anderen Zimmer herüber,« schrieen mehrere Stimmen.
Mit aller Kraft packte Aladjew die schwere Kommode und rückte sie vor die eingeschlagene Türfüllung. Dann stürzte er zum Ofen zurück und zündete den Haufen zerrissenen, zerknüllten Papiers an. Lustig flackerte das Feuerchen auf und strahlte mit spielerisch zuckenden Flammen über das zertrümmerte, zerschossene Zimmer.
Aladjew lehnte sich mit dem Rücken gegen die Zimmerecke und sah sich um.
Es war inzwischen ganz hell geworden. Eigenartig traurig sah sein altes gemütliches Zimmer aus. Die Lampe lag umgestoßen in einer Petroleumlache; seitwärts hing das Bild Tolstojs, von einer Kugel durchbohrt; der weiße Staub des Mauerputzes lag in den Ecken, und in feinen Zügen stieg der blaue Rauch durch ein zerbrochenes Fenster ins Freie.
Aladjew schien, daß er wahnsinnig geworden sei; es konnte nicht Wirklichkeit sein. Noch am gestrigen Tage, noch einige Stunden vorher, saß er an diesem Schreibtisch und schrieb, und rings um ihn lebten alle Einzelheiten seiner gewöhnlichen Umgebung, die Bücher, Bilder, Papiere. Unaussprechlicher Jammer, voll der letzten, bitteren Tränen, durchzog seine Seele. Er sah seinen Tisch, seine Bücher an … und griff sich verzweifelt in die Haare. Sein ganzes künftiges Leben, das so interessant, weit und hell, voll lieber Arbeit, lieber Menschen, voll des unausdrückbaren Reizes wonniger Tage und Liebe sein konnte, schoß an seinen Augen vorbei. Das Leben, das kommen sollte und nicht kommen würde.
»Tod,« sagte in ihm dumpf die Stimme der Verzweiflung.
»Warum denn? Was ist denn geschehen? Nur ein dummer Zufall! …« hatte er noch Zeit zu denken.
Ein Hagel schwerer Schläge sausten vom Nebenzimmer her auf die Tür nieder. Ueber den Korridor wurde etwas Schweres geschleift. Und plötzlich krachten wieder Schüsse, Staub schüttete von der Decke herab, während Türsplitter Aladjew schmerzhaft ins Gesicht schlugen, das im selben Augenblick mit heißem Blut überlaufen war.
»Ah so!« dachte er mit eigentümlicher toter Ruhe, »… wenn es denn mal so ist! …«
Fröhlicher, rachsüchtiger Haß stieg ihm unaufhaltsam in die Kehle, er schrie irgend ein Wort heiser heraus und sprang wie eine Katze mit einem Satz zum Bett, die Hand nach der Bombe ausstreckend.
»Feuer! Hier!« rief jemand, wie es schien, dicht an seinem Ohr.
Die Schüsse hatte Aladjew nicht gehört. Etwas loderte grell vor seinen Augen auf, das ganze Zimmer flog irgendwohin zur Seite und Aladjew schlug stark mit dem Rücken auf den Boden.
Sofort wurde es still, in gespannter banger Stille.
Blasse Gensdarmen guckten ins Zimmer, Gewehre in der Hand.
Immer noch stieg der blaue Rauch in feinen Zügen durch das zerbrochene Fenster, hinter dem der entstehende Tag aufleuchtete, und Aladjew lag inmitten seines Zimmers, das Gesicht nach oben, die Arme auseinander geworfen, die Knie der langen toten Beine angezogen. Seine traurige Nase, die blau und mit Blut bespritzt war, schaute auf die Decke, während neben seinem Kopf leise etwas Schwarzes auf dem Fußboden zerrann.
Schewyrjow ging, mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief in den Taschen vergrabenen Händen die helle Straße hinunter. An allen Straßenecken verkauften Zeitungshändler Blätter und riefen laut, als priesen sie ihre Ware an:
»Ein Drama auf der Mochowaja! Eine Schießerei mit Anarchisten! …«
Schewyrjow kaufte ein Blatt und las, in den Jekaterinenski-Anlagen sitzend, den ausführlichen Bericht, während ihn die Stimmen der herumspielenden Kinder umklangen.
»Der durch das Fenster entkommene Anarchist, der auf einem für den Bauern Nikolaj Jegorow Schewyrjow ausgestellten Paß lebte, ist nach Kenntnis der Polizei in Wirklichkeit der von den Behörden seit langem gesuchte Student der Jurjewer Universität Leonid Nikolajewitsch Tokarjow. Er war zum Tode verurteilt worden und auf dem Wege vom Gericht nach dem Gefängnis den Aufsichtsbeamten entkommen. Zu seiner Ergreifung sind Maßregeln getroffen worden.«
Schewyrjows Gesicht war vollständig ruhig. Nur an einer Stelle, wo der Reporter mit übertriebener Dramatik unter Zuhilfenahme einer Unmenge Ausrufungszeichen die Lage schilderte, in welcher Aladjews Leiche aufgefunden wurde, zuckte in Schewyrjows Augen etwas auf, das qualvollem Mitleid ebenso wie wahnsinniger Wut ähnlich schien.
Dann erhob er sich, warf einen gleichgültigen Blick über das ihn umwimmelnde Kindervolk und ging aus den Anlagen.
Er durchlebte eine eigentümliche Spannung. Zähe und unüberwindlich zog ihn etwas »dorthin«. Er war sich ganz klar, daß alle Chancen dafür sprachen, daß ihn die Dworniks erkennen und festnehmen würden. Er fühlte bereits inmitten der gleichgültig dahineilenden Menschenmenge die unsichtbaren Hände, die ihn langsam, unabwendbar mit einem Todesring umgaben. Es war augenscheinlich, daß er weder aus der Stadt fortkommen, noch sich auf den Straßen herumdrücken konnte; dabei hungerte er und zitterte vor Kälte wie ein herrenloser Hund. Aber gerade dieses Gefühl hündischen Abgehetztseins rief in ihm Spott und Dreistigkeit wach.
»Ganz egal,« dachte er, während er mechanisch und scheinbar ruhig vor sich hinschaute. Und erhobenen Kopfes schritt er langsam dorthin, wohin ihn ein unbegreiflicher Zwang, der sich aus Grimm, Verzweiflung und Mitleid zusammensetzte, zog.
Schon aus der Ferne sah er neben dem bekannten Hause eine schwarze aufgeregte Masse und die zwei dunkeln Gestalten berittener Schutzleute, die hoch über die Köpfe der Neugierigen ragten.
Schewyrjow mischte sich unter die Menge, die dichtgedrängt zu beiden Seiten des Tores stand und die noch das gegenüberliegende Trottoir bedeckte, um zu hören, was die Leute sprachen.
Die meisten warteten schweigend und bemühten sich, einen Blick in den Hof zu werfen, wo die schwarzen Gestalten der Schutzleute und die graugemäntelten Revieraufseher dicht beieinander standen. Auf dem Fahrdamm hielt ein Wagen des Roten Kreuzes, und dieses rote Leidenssymbol erzählte ohne Worte, daß sich hier ein schreckliches Drama abgespielt hatte.
Ein Malergeselle, eine mit weißer und grüner Farbe bespritzte Mütze auf dem Kopf, führte in einem Häuflein das Wort; alle drängten sich an ihn und reckten die vor Neugierde glühenden Gesichter über Rücken und Schultern vor.
»Also, wollten einen festnehmen, der also gesucht wird, der aber war natürlich über alle Berge. Na also eine Haussuchung, und der, der also nichts damit zu tun hatte, schoß … hat zwei Menschen getötet und einen Gendarmen in den Bauch geschossen … Na also, alle Mieter waren raus und es ging eine Schießerei los …«
»Was hatte aber der andere damit zu tun,« fragte streng ein dicker solider Herr mit Mienen, als wäre er zur Wiederherstellung der Ordnung berufen und sollte den Arbeiter einem ausführlichen Verhör unterziehen.
Der Malergeselle, in größter Erregung, sich offenkundig bewußt, der Held der Situation zu sein, drehte sich mit Hochgenuß von einer Seite auf die andere und beeilte sich außerordentlich, weiter zu erzählen.
»Der andere hatte also nichts damit zu tun … bei ihm wurde, heißt es, die Bombe aufgefunden …«
»Was redest du – die Bombe aufgefunden – und nichts damit zu tun? Du schwatzt Blödsinn, Junge!«
»Gerade kein Blödsinn! Aber, wie gesagt, nicht er wurde gesucht, von ihm wußte die Polizei nichts, und erst nachher kam es raus.«
»Hören Sie mal, was ist denn das für einer?« mischte sich eine aufgedonnerte Dame ein.
»Ja, ich weiß nicht,« antwortete bedauernd der Geselle.
Ihre untermalten Augen brannten vor Neugierde und die zarten Wangen wurden weiß.
»So ist er geradezu irrtümlich getötet worden?«
»Jawohl, nun stellt sich's heraus – wie irrtümlich.« Der Erzähler schlug die Hände auseinander und ließ den Blick mit einer Miene, als bereite ihm diese Tatsache einen Hochgenuß, lächelnd über die Gesichter der Zuhörer gleiten.
»Aber das ist doch entsetzlich!« rief die Dame und sah sich ebenfalls um, als suche sie Zustimmung.
»Na, wissen Sie … bei ihm hat man auch eine Bombe gefunden,« bemerkte ein junger Offizier, der schönen Frau kaum merklich zulächelnd. »Das ist alles ein Aufwaschen!«
Die schwarzen Augen der Dame blickten ihn rasch an, man konnte nicht verstehen, was für ein Ausdruck in ihnen lag; Koketterie oder Protest.
»Ja, aber immerhin ist es doch schrecklich!« sagte sie.
Schweigend hörte Schewyrjow zu, während seine kalten, hellen Augen langsam, fast unmerklich von einem Gesicht auf das andere glitten. Und je länger er sich umschaute, um so fester preßten sich seine Lippen zusammen, um so stärker zitterten die Finger seiner in die Taschen vergrabenen Hände.
»Das ist ganz gut, daß sie ihn über den Haufen geschossen haben! Daß sich's auch die anderen merken, schöne Mode das, Bomben zu schmeißen.«
»Weiß der Teufel, … das ist doch stark,« bemerkte jemand leise dicht an Schewyrjows Schulter.
Er sah sich rasch um und erblickte junge Augen, die mit Entrüstung und Verachtung auf die Menge schauten; ein junges Mädchen stand hinter ihm.
»So ist's aber am besten,« erwiderte ihr ein Student, der sie begleitete.
»Was sagen Sie!«
»Wäre es denn besser, wenn er gehängt würde?« entgegnete bitter der Student und senkte den Blick.
Schewyrjow sah ihn aufmerksam an.
Aber im Augenblick, als der Student die Aufmerksamkeit bemerkte, nahm er sich auch schon zusammen und sagte, das Mädchen am Arme berührend:
»Gehen wir, Marussja … was sollen wir hier.«
»Man bringt sie, bringt sie!« ging es durch die Menge; die ganze Masse geriet in Bewegung, schwankte und drängte gegen das Tor.
Zuerst erschienen nur die Köpfe von Schutzleuten, von denen zwei die Mütze abgenommen hatten, dann der Federbusch eines Gendarmen. Sie trugen etwas, das nicht zu erkennen war; nur unter einem Laken kamen lange kastanienbraune Haare, die von der Tagesluft langsam bewegt wurden, und ein schmaler Teil der hohen knöchernen Stirn zum Vorschein.
»Und die Liebe, und die Opferwilligkeit, und das Mitleid!« klang Schewyrjow die erregte Baßstimme Aladjews in den Ohren und ein augenblicklicher Krampf verzog sein Gesicht.
Der Menschenknäuel verdeckte die Leiche. Man sah nur, wie das grüne Dach des Krankentransportwagens von der Stelle rückte, schwankte und langsam fortglitt, und wie sein armseliges rotes Kreuz in der schwarzen Straßenmenge auf und nieder tauchte.
Die Menge lief allmählich auseinander.
Nur kleine Häuflein blieben zurück. Der Geselle erzählte noch immer, mit den Armen fuchtelnd, die Straße wurde leer und wieder rollten Droschken vorbei, Menschen gingen vorüber und sahen sich mit verständnisloser Neugierde nach dem Tore um.
Schewyrjow stieß einen Seufzer aus, unterbrach ihn aber sofort und die Hände tief in die Taschen vergraben, ging er mit festen Schritten weiter. Schwere Gedanken zogen wie ein endloser schwarzer Streifen durch seinen Kopf.
Er dachte, daß auch damals, als die Frau, die er liebte, gehängt wurde, oder bei dem opferfreudigen Tode irgendwelcher anderen Bekannten von ihm, niemand vor Schmerz und Entsetzen aufgeschrieen, niemand sein Geschäft verlassen hatte. Die Menschen hielten einander nicht an, um sich die entsetzliche, traurige Nachricht mitzuteilen. Wie immer rollten die Straßenbahnwagen, wie immer waren die Geschäfte geöffnet, wie immer gingen, wie im Spiel, schön gekleidete Frauen spazieren, fuhren solide, besorgte Männer vorüber. Keinen ging die entsetzliche Qual etwas an, die sein Herz, das ein lautloser Schrei des Grauens und der Verzweiflung zu einem Klumpen zusammengezogen hatte, zerfleischte.
Seine schweren Gedanken schienen ihn von der Außenwelt abzuschließen, und doch erfaßte sein geübtes Ohr feinhörig den eigentümlichen Schall von Schritten, die nicht von ihm ablassen wollten.
Schon vor dem Hause im Gedränge hatte Schewyrjow listige, schonungslose Blicke, die sich hinter fremden Rücken zu verbergen suchten, auf sich gerichtet gefühlt. Ein paarmal schaute er sich sogar um, konnte aber nichts bemerken. Ueberall sah er nur dieselben eintönig gespannten, fremden Gesichter. Trotzdem war das unheimliche Gefühl stärker geworden; sein Herz schlug lauernd und unebenmäßig.
Am Ende der Straße öffnete sich der breite Fluß mit blauen Wellen, von Dampferrauch überdeckt und überhallt von gellenden, in der Ferne zerspringenden Pfeifensignalen. Weit, auf dem anderen Ufer, lagen in nebliges Grau gehüllt, Häuser, Gärten, Fabrikschornsteine; schwer über ihnen lastete ein schwarzer Streifen rußigen Rauches, der den Rand des hohen hellen Himmels beschmutzte.
Schewyrjow überlegte und bog nach der Brücke ein; unvermutet sah er sich dabei um.
Zwei Augen starrten ihm erschreckt ins Gesicht. Ein Mann mit überaus blondem Schnurrbart, Stehkragen und steifen Hut, trat ihm beinahe auf die Fersen. Ihre Blicke begegneten sich für einen Moment und in entsetzlichem, gegenseitigen Verständnis wurden sie eisigkalt. Es dauerte nur eine Sekunde, dann drehte Schewyrjow sofort, als wenn nichts geschehen wäre, den Kopf zurück und schritt weiter; der Mann im steifen Hut überholte ihn schnell, ohne Aufenthalt, und ging voraus.
Alles vollzog sich so flüchtig und unfaßbar, daß Schewyrjow anfangs glaubte, er hätte sich geirrt. Aber sein Herz pochte dumpf, als wollte es ihn warnen. Plötzlich sah er die schwarze Gestalt eines Schutzmanns vor sich, der sich in aller Seelenruhe die Nase mit dem weißen Handschuh wischte. Der Mann im steifen Hut ging ruhig geradeaus, und ohne den Schritt zu verlangsamen, an dem Schutzmann vorbei. Anscheinend hatte er etwas Eiliges zu erledigen. Aber der Schutzmann zuckte zusammen, ließ die Hand sinken, sah ihm verwundert nach und schaute sich dann bestürzt um.
Augenblicklich machte Schewyrjow, behend und präzise, als hätte er es längst erwartet, kehrt, tauchte in einem Häuflein Maurer, die ihm in einem kleinen Trupp entgegenkamen, unter, und bog wieder nach dem Kai ab. In der Ferne lag der Sommergarten und die Straße, die nach dem kahlen Marsfeld Großer Exerzierplatz inmitten Petersburg. führt. Mit blitzschneller Deutlichkeit berechnete er die Entfernung, doch sah er, daß er den Garten nicht erreichen würde; der Kai jedoch war offen und glatt, wie eine Einöde. In der Menge fahrender und gehender Menschen schien er ebenso unverdeckt und vereinzelt, wie auf einem kahlen Schneefeld.
»Nun, was ist da zu tun? … Ist ja alles gleich …« dachte er und blieb apathisch gerade an der Landungsbrücke der Finnländischen Gesellschaft stehen, als durchdringend ein Dampfer zur Abfahrt pfiff. Mit dem genauen Gang einer Maschine, fast ohne Ueberlegung, schwenkte Schewyrjow nach dem schwankenden Laufbrett ab und war mit einem Satz an Bord des Dampfers, mitten unter den verschiedenen Menschen, die eilig auf gelben Bänken Platz suchten. Erst da schaute er sich um.
Ziemlich weit entfernt, am Anfang der Brücke, bemerkte er drei menschliche Gestalten, die von der ganzen Welt abgesondert schienen.
Es waren ein Spitzel, ein Schutzmann und ein Soldat zu Pferde. Sie beratschlagten untereinander, die Gesichter auf den Dampfer gerichtet, und bewegten sich dabei unsinnig auf demselben Fleck hin und her. Mit eigentümlicher Sicherheit erkannte Schewyrjow den Grund ihrer Verlegenheit: da sie nicht wußten, ob sie noch bis zur Abfahrt Zeit hätten, heranzukommen, liefen sie zwecklos bald vor, bald zurück. Doch als der Schutzmann, endlich zu einem Entschluß gekommen, den Säbel mit der Hand haltend, ein paar Schritte auf Schewyrjow zu machte, zischte der Dampfer gerade, keuchte und stieß gravitätisch von der Anlegebrücke ab. Da riß der Soldat plötzlich das Pferd herum und sprengte vom Fleck weg in schnellem Trab über die Brücke, während der Spitzel und der Schutzmann nach anderen Richtungen fortrannten.
»Zum Telephon … gleich ans Revier melden!« dachte Schewyrjow, als wäre es ihm vorgesagt worden.
Und wiederum schnell und präzise wie eine Maschine sprang er auf den Bordrand, durchmaß mit einem Blick den schmalen Raum zwischen der Brücke und der schmutzigen Dampferwand und sprang hinunter. Einige Leute schrieen entsetzt auf, doch er erreichte die Landungsbrücke, glitt aus, fiel beinahe hintenüber ins Wasser, hielt sich noch an, lief über die Bretter und zurück nach dem Sommergarten.
Er ging schnell und mit immer schnelleren Schritten, während er sich mit aller Kraft zurückhielt, um nicht ins Laufen zu kommen. Auch so war er schon aufgefallen und viele blickten ihm verwundert nach. Eine furchtbare Gewalt stieß ihn unaufhaltsam in den Rücken. Er wollte sich umsehen und konnte sich nicht dazu aufraffen. Ihm kam es vor, als würde er bereits ergriffen, als streckten sich Dutzende Hände von allen Seiten nach ihm aus.
Ein schönes hohes Gitter, Bäume, gelbe Blätter und ein Blumenbeet, Damen, Offiziere und Kinder schwirrten wie im Traume an ihm vorüber; ohne in den Garten einzubiegen, kam Schewyrjow, jetzt fast schon im Laufschritt, auf den steilen holprigen Steg über die Fontanka Kleiner Fluß in Petersburg, in der Nähe der Newa.. Undeutlich fielen ihm die flachen Verdecke der Kähne, die gebückten Bauern, die mit hohen Stangen in etwas herumrührten, in der nebligen Ferne die Häuser und Boulevards auf; er rannte, nicht mehr imstande, den wahnsinnigen Druck zu bemustern, die Brücke hinunter. Der postenstehende Schutzmann, ein vierschrötiger roter Kerl mit grauem Schnurrbart, rief ihm etwas zu, aber Schewyrjow verschwand hinter einer Droschke, erblickte vor sich ein verwundertes Frauengesicht, über dem ein sonderbarer hellblauer Hut saß, und stürzte, um zwei andere Droschken schlüpfend, in eine leere Gasse.
Jetzt hörte in der Ferne vielstimmiges Schreien, sah sich aber nicht um, sondern rannte, ohne sich noch irgend etwas bewußt zu sein, in das erstbeste geöffnete Tor. Er kam in einen Hof, der wie ein Schacht hochstieg; eine Kinderwärterin und zwei Kinder mit hellblauen Schuten auf dem Kopf, gerieten ihm direkt unter die Füße.
»Was rennst du so, wie ein Verrückter! Um ein Haar die Kinder umgerannt!« rief die Wärterin, aber Schewyrjow schnellte, ohne Antwort, vorbei und lief durch ein anderes Tor, das einem schmutzigen, feuchten Keller glich, in einen zweiten Hof.
Er glaubte zu hören, wie die Kinderwärterin schrie:
»Da in dieses Tor ist er gerannt … in dieses da!«
Dutzende von Fenstern und Türen sprangen ihm in die Augen; wieder blieben Menschen mit unbekannten Gesichtern stehen und schauten ihm nach, überall war es kahl und hell wie in einer Einöde; alles stieß ihn wie einen Feind von sich.
Er blieb stehen und sah sich um. In dem dunklen Rahmen des Torweges erblickte er deutlich, wie auf einem Bilde die Menge, die über den ersten Hof hinter ihm herkam. Ganz vorn lief der dicke Schutzmann in einem schwarzen Mantel, der fortgesetzt um seine Beine schlug; Schewyrjow glaubte zu erkennen, wie er im Lauf mit dem Revolver auf ihn zielte. Das war momentartig wie eine Vision; im nächsten Augenblick erblickte er schon auf der Seite einen neuen Torweg, der nach einem Seitenhof führte, und stürzte, keuchend, einen scharfen Schmerz in der Brust, dorthin.
Ein Fremder, der anscheinend achtlos auf ihn zukam, blieb stehen, schaute sich um, über Schewyrjows Schultern weg und breitete plötzlich, das Gesicht zu einer raubtierartigen Grimasse verzogen, die Arme aus, dadurch den Weg verstellend.
»Halt … bleiben Sie stehen, bleiben Sie mal stehen!« rief er fast belustigt, wie es schien.
»Durchlassen!« antwortete Schewyrjow heiser: »was geht das Sie an!«
»Ach nein … Warten Sie mal! … Hilfe!« brüllte er plötzlich und packte Schewyrjow.
»Halt ihn!« wurde aufmunternd von hinten gerufen.
Für einen Augenblick sah Schewyrjow in ein unbekanntes Gesicht mit schwarzem Schnurrbart und sinnlos wütenden Augen, dann schlug er knapp in verzweifelter Kraft mit der Faust in dieses Gesicht.
»Att! …« Kurz schluckte der Mann auf und rollte wie ein vollgestopfter Sack auf die Seite.
»Ha–a! Halt ihn!« schrie es durch die Luft, und das feine Trillern des Polizeipfiffes bohrte sich in die Ohren.
Doch Schewyrjow bog um die Ecke; in der dunklen Hausmauer erblickte er eine helle Oeffnung, die nach der Straße ging. Die schwarzen Umrisse von Menschen huschten da vorüber.
Es war ringsum schauerlich wie auf einem ungeheuren Kirchhof. Es roch nach feuchtem Lehm und Ziegelschutt; damit vermischte sich in dem Winkel, in den sich Schewyrjow gedrückt hatte, ein besonderer Geruch wie von jahrhundertealtem Staub.
Seit einigen Stunden stand er hier, hinter einem Schutthaufen, in der Ecke eines Hausumbaus. An den Stellen, wo eingestürzte Wände und braune Lehmflecken, die wie Wunden klafften, Spuren ehemaligen Prunkes noch nicht verwischt hatten, hingen Fetzen teurer alter Tapeten, Reste von Vergoldungen und modellierten Verzierungen. Einst hatten hier andre, gepuderte Menschen der Vergangenheit gewohnt. In diesem selben Zimmer schlief vielleicht eine verwöhnte, elegante Fürstin, ganz in Spitzen und Batist gehüllt, – ein Wunder der Schönheit und Lebenskunst, welche nur auf dem Boden einer jahrhundertealten und unerschütterlich scheinenden Ordnung, die die blutgetränkten und leichengedüngte schwarze Erde ausgesaugt hatte, erblühen konnte. Jetzt aber war das alles unter den gierigen und robusten Händen der neuen Herren zertrümmert worden, und in einer blauen Ecke hob sich eine verwilderte Gestalt mit dem Revolver in der Hand tiefschwarz von dem Hintergrund irgendwelcher blaß-goldenen Lilien ab.
Schewyrjow war hierher geraten, nachdem er seine Verfolger irre geführt hatte, durch einen Holzhof gelaufen und über einen Bretterzaun geklettert war. Zuerst fürchtete er, daß diese Zufluchtsstätte nicht zuverlässig sei, da man einen unbewohnten Bau zuallererst durchsuchen würde; weiter zu fliehen, fehlten ihm die Kräfte und so blieb er. Lange konnte er nur heiser atmen und mit der schlaffgewordenen Hand krampfhaft den Revolver drücken, bereit, den ersten über den Haufen zu schießen, der sich in der Bresche der zertrümmerten Türe zeigen würde. In den Ohren gellte ihm noch das Geschrei, brauste das Stampfen vieler Füße, die schwer über die Reste einer marmornen Freitreppe liefen. Seine Brust hob sich mit stoßweise pfeifenden Tönen, seine Augen brannten wild wie bei einem zu Tode gehetzten Wolfe. Aber Minuten, und dann auch Stunden, vergingen, in denen alles leer und still blieb, und nur selten drangen surrende Geräusche von der Straße aus zu ihm.
Schewyrjow konnte nicht mehr denken; er verstand kaum, was ringsum vorging. Er wartete nur noch instinktiv auf die Dunkelheit und schloß jede Minute die Augen, außerstande gegen die furchtbare Schwäche, die den ganzen Körper lähmte und ihn mit widerwärtigem Zittern schüttelte, anzukämpfen. Schloß er die Augen, so sah er Straßenzüge flimmern, Gesichter auftauchen, Hände sich nach ihm ausrecken. Zweimal hatte man auf ihn geschossen; es hatte sich aber kaum seinem Gedächtnis eingeprägt und konnte auch Einbildung gewesen sein. Dafür war ein anderer Eindruck um so schrecklicher, der ihn auch nicht verließ. Alle, die ihm während dieser letzten Hetze um Tod und Leben begegneten, waren Feinde gewesen. Keiner hatte versucht, ihn zu verstecken, seine Verfolger aufzuhalten oder wenigstens den Weg freizugeben. Wenn sich einmal ein Gesicht nicht in gieriger Wut verzog, wenn sich ihm einer nicht in den Weg stellte und die Hand ausstreckte, um ihn zu ergreifen, dann war es sicher irgend ein Gleichgültiger oder Neugieriger, der sich einfach die Jagd auf einen Menschen betrachtete.
Gerade die Erinnerung an diese war am schärfsten und brannte in seiner Seele schmerzlicher, als die Gesichter seiner Verfolger, von denen er sich eigentlich gar keine Vorstellung machte. Das war etwas Unpersönliches und Blindes, das war wie ein Rudel dressierter Jagdhunde hinter ihm her gewesen.
Schewyrjow dachte nicht darüber nach, wie nahe der Tod und wie gering die Aussicht auf Rettung war; er dachte nur, ob es ihm gelingen würde, seinen grandiosen Plan auszuführen, den Plan, den er mit so viel Haß und Liebe gehegt hatte. Er erinnerte sich eines hübschen Offiziers, der den Degen aus der Scheide riß und fast auf ihn eingehauen hätte, erinnerte sich eines soliden, älteren Herrn, der seinen Spazierstock vorstreckte, um ihn zum Halten zu nötigen, erinnerte sich an verschiedenes anderes und zitterte am ganzen Körper vor Wut und Verachtung. Für ihn gab es keinen Ausweg mehr. Er war sich bewußt, daß er am Ende sei, während diese Leute in aller Ruhe leben und warten durften, bis in den Zeitungen die Notiz über seinen langsamen Tod erscheinen würde.
Die Zeit verging, und allmählich ließ das krampfhafte Schlagen seines Herzens nach, die Brust hörte auf zu röcheln, und die verzerrten Hände lösten sich in dumpfer Erschlaffung von selber. Als wäre etwas, das er bis zum Aeußersten überspannt hatte, plötzlich gerissen, so wurden seine Gedanken und Empfindungen mit einem Mal lose, wie geplatzte Saiten. Er wurde plötzlich ruhig, in jener schweren, toten Ruhe, die über einen Menschen kommt, dem die Schlinge schon um den Hals gelegt ist, und den keine Gewalt mehr, nicht göttliche noch menschliche, zu retten imstande ist. Völlige Gleichgültigkeit hatte ihn überkommen, und wenn seine Verfolger in diesem Augenblick jubelnd herbeigestürzt wären, so würde er wahrscheinlich nicht mehr Widerstand geleistet haben.
Sein Körper wurde schwach. Weißer Nebel stieg um ihn auf, umhüllte ihn wie ein Leichentuch, trennte ihn von der übrigen Welt. Leises Geläute klang in seinen Ohren, er hatte nur noch einen Wunsch: die Augen zu schließen und bis über den Kopf in der Finsternis, Stille, Regungslosigkeit zu versinken.
»Ich darf nicht schlafen!« sagte er sich, aber der schwere Nebel schob sich unüberwindlich an sein Gehirn heran, alles schwand aus seinem Bewußtsein, und mitunter schlief er minutenlang mit offenen Augen.
Hin und wieder fuhr er empor, erinnerte sich an alles, zitterte, sah sich scharf um und versank dann wieder in dumpfes Druseln, während er fühlte, wie die Feuchtigkeit des nassen Tons seinen Körper kalt durchrieselte.
Dicht vor seinen Augen wand sich auf der halbzerbröckelten Wand das kapriziöse Muster einer modellierten Rosette; es quälte ihn furchtbar. Manchmal sah er deutlich, daß es einfach ein Stück zerschlagenen Marmors war, welches noch irgend ein Pflanzenmuster erkennen ließ. Dann aber hüllten wieder Nebel diese Pflanzen ein; sie begannen anzuwachsen, sich zu regen, furchtbare Gestalten anzunehmen, wurden bald länger, bald breiter oder zerrannen in die Züge eines grausigen Menschenantlitzes.
Aber schließlich war Schewyrjow wahrscheinlich doch eingeschlafen; denn als er die anscheinend nur für einen Moment geschlossenen Augen öffnete, war ringsum bereits tiefe blaue Dämmerung. Sie stieg die zerfallenen Mauern hinan, ballte sich in den Ecken zusammen und schaute aus den Türen der leergewordenen Säle. Schatten bewegten sich lautlos, als ständen die Gespenster der früheren Bewohner, die einst hier geliebt, gelitten, genossen und in ihrer verhängnisvollen, unentrinnbaren Stunde gestorben waren, wieder auf.
Schewyrjow erwachte wie durch einen furchtbaren Stoß. Es ging etwas Sonderbares vor: er begriff im Augenblick nicht, wo er sich befand und was mit ihm geschehen war; ein Anfall wahnsinniger Ekstase beherrschte ihn, und sein Herz war wie ein sprödes gläsernes Gefäß, das zerbrechen konnte.
Er hatte die Erinnerung an eine gewaltige Vision. War es eine Halluzination, waren es halbentschwundene Erinnerungen oder hatte es sein zerrüttetes Gehirn geträumt? …
»Was war das? Was habe ich gesehen?« fragte er sich bestürzt.
»Etwas Ungeheures, Bedeutendes, etwas, in dem das ganze Leben aufgeht, wie ein Tropfen im Meer … Was war das nur? … Ich muß mich erinnern … Muß mich erinnern …«
Ueber seinem Hirn schien ein eiserner Vorhang zu liegen. Noch schimmerte ein fremdes Licht dahinter, tönten Stimmen, waren die undeutlichen Umrisse von Gesichtern erkennbar, aber die Erinnerung ließ sich nicht wachrufen und das folterte ihn.
Er hatte geträumt, daß er einen senkrechten Felsen hinaufgeklettert sei, ein abgehetztes, zerzaustes Menschlein. Wie die Wellen einer schwarzen Brandung steigen ihm dichte Haufen Menschen nach, bereit ihn zu ergreifen und in Stücke zu reißen: Millionen Hände strecken sich nach ihm aus, packen ihn an den Fußen, an den Rockschößen, reißen ihm die Kleider herunter; doch er klettert immer höher und höher. Sie bleiben tief unten zurück, kaum sichtbar; er steht allein auf schwindelnder Höhe, und der Wind weht um seinen Kopf. Noch höher, auf dem letzten Grad des Felsens, sieht er zwei schwarze Gestalten, erstarrt über der Welt, allein im unermeßlichen blauen Raum. Er fühlt, daß in ihnen das Rätsel seines ganzen Lebens verborgen liegt und daß er bald alles erfahren und verstehen würde: Wozu er in diese entsetzliche, einsame Höhe kletterte, weshalb ihm die schwarzen Wogen, die bereit sind, ihn zu vernichten, so wütend nachsteigen. Die Gestalten sind noch fern wie ein Traum, aber sie wachsen und nahen. Schewyrjow fliegt ihnen mit grauenhafter Schnelligkeit entgegen. Die Nähe des Geheimnisses, das ihm enthüllt werden soll, füllt sein Herz mit überschwenglichem Entzücken.
»Man sagt, bevor Menschen endgültig den Verstand verlieren, empfinden sie diese ungeheure Seligkeit, die mit nichts zu vergleichen ist, ich weiß!« denkt Schewyrjow und fühlt, daß alles ein Traum ist. Doch er kann nicht weiter von ihm lassen, er macht übermenschliche Anstrengungen, ihn festzuhalten und ihn bis zum Ende zu sehen: Der zackige, in die Höhen bohrende Felsen, die ferne goldene Sonne, in den Abgrund versunkene grenzenlose Weiten, aus Nebeln gewebt, das Panorama entfernter goldner Städte und die Bläue des weiten Meeres. Und zwei ungeheure Gestalten über der ganzen Welt.
Einsam steht Einer, die Hände auf der Brust verschränkt, die knochigen Finger ins Fleisch gekrallt, und der Wind des sonnigen Raumes zaust sein verwirrtes Haar. Die Augen sind geschlossen und die Lippen zusammengepreßt, doch ein überschwengliches Entzücken spielt in ihren feinen, gebrochenen Linien, und die schmalen in die Brust gegrabenen Finger zittern. Er ist nur noch eine Saite, in der die ganze umgebende Luft bebt, erschüttert von der furchtbaren Anspannung des Geistes.
Am Rande eines halbzerstörten ebenen Flecken liegt die andere Gestalt: Fett, nackt und wollüstig schmiegt sich ihr herrlicher Körper an die harten Steine, ein erhabener, unverhüllter, schamloser Körper mit lüsternen Brüsten, die atmend wogen. Unter verborgenem Lachen bewegt sich ihr rosiger Leib und der Wind spielt mit den Härchen zwischen zwei weißen, abgerundeten Beinen, deren rosige Knie sich schamlos auf den Steinen ausspreizen. Ihre Hände klammern sich an den Felsen hart am Rand; tief unter ihr liegen im Sonnenlicht funkelnde Felder.
»Ich bin das Böse der Welt!« spricht ihre Stimme in gespannter Stille, – »die Verlockung des Lebens, die Erde in ihrer dunklen und schrecklichen Wollust, das Böse, das alles Lebende mit ewigem Leiden bezahlt! Du bist Mensch geworden, Geist Gottes! Ich sehe deine Gedanken und sehe, wieviel Qual und zweckloses Streben, das bitterer ist als der Tod, du in der Zukunft erblickst. Du leidest! … Und dich werden die Menschen kreuzigen, weil ich schöner und begreiflicher bin als du. In diesem Augenblick, von der Welt unbemerkt, wird das Los entschieden: ich bin das Böse der Welt! Du wolltest Mensch werden, um mit ihnen in ihrer Sprache zu reden … Ich wurde Mensch, um gegen dich zu kämpfen. Rede zu ihnen, doch ich werde sie unaufhaltsam an mich ziehen, werde sie in der Wiege meines Schoßes betäuben und dich, den sonderbaren, unbegreiflichen Asketen, in den Tod senden! … In diesem Augenblick sind wir beide sterblich … Stoße mich denn hinunter! Vernichte das Böse der Welt, nimm es auf dich, da du doch gekommen bist, um zu erlösen, und du wirst allein über die Welt herrschen … Stoß mich hinunter!«
Der nackte Körper wand sich schamlos am Rande des Abgrunds. Die schwarzen Haare fallen senkrecht die Wand herab; die Hände gleiten über den Rand, ein rosiges Bein hängt herunter, und elastisch schwankt über dem Bodenlosen die runde Brust. Der ganze Körper bebt vor Erregung und wartet auf den ersten Stoß, um in der lauernden Tiefe zu verschwinden.
»Stoß mich hinunter! Du wirst allein bleiben! Stoß mich hinunter, und dich werden alle Zeiten segnen! Du bist gekommen, um zu erlösen! … Was zögerst du? Siehe – ich falle!«
Plötzlich bewegen sich die rissigen Lippen des Einsamen. Die dünnen Haare des an den Lippen klebenden Bartes erzittern und er öffnet die Augen.
Sie sind kalt und hell und schauen fernhin, als durchflöge der durchdringende Blick Räume und Ewigkeiten.
»Alles Glück der Welt und alle ihre Freuden wiegen keine sündige Bewegungen von mir auf! In mir wird das Böse nicht siegen! Hebe dich von mir, Satanas!«
Die Seele des Menschleins am Abhange wird vom Grauen gepackt, und mit dem Geheul der Verzweiflung, der Wut und des Schmerzes schreit er, die schwachen Hände ausstreckend:
»Du hast dich geirrt … geirrt … geirrt!«
Er will ihm entgegentreten, will seine verhängnisvollen Worte aufheben, er drängt nach ihm aus allen Kräften. Aber die elende Menschenstimme erstirbt wirkungslos im Raum, ohne die Gipfel zu erreichen. Die schwachen Menschenhände gleiten an den Felsen ab. Er macht übermenschliche Anstrengungen, um sich zu halten, aber der Stein ist kalt, unbeweglich und gewaltig. Und der kleine ausgereckte Körper stürzt kreisend in den Abgrund …
Im Grauen des schrecklichen Todes loderte sein Geist aus; Schewyrjow erwachte.
Ringsum war Finsternis und hütete das Geheimnis.
»Was habe ich gesehen? … Den Tod? … Nein? … Sterbe ich oder werde ich wahnsinnig? … Was soll das denn, – was soll das!«
Ihm schien, daß nur noch eine Anstrengung, eine letzte Anspannung nötig wäre, und er würde alles wissen. Ungewisse Worte kreisten in seinem Hirn. Sie wuchsen, näherten sich, wurden klarer … Die ganze Seele spannte sich … doch plötzlich war alles verschwunden.
Blaß und erschrocken erhob sich Schewyrjow mit zitternden, erschlafften Beinen, während er sich mit beiden Händen an der Wand hielt.
»Ich werde verrückt … Ich halte es nicht mehr länger aus!« dachte er verloren lächelnd, und sagte laut, mit sonderbar unheimlicher Stimme:
»Wenn schon das Ende käme!«
Ein Krachen dröhnte durch die Mauern des leeren Hauses, und brachte Schewyrjow zur Besinnung.
Der Revolver, der heruntergefallen war, wurde von den über den Boden irrenden Händen ergriffen.
Die Berührung des kalten Stahls wirkte ernüchternd auf ihn. Er schauerte zusammen, spannte alle Kräfte an und reckte die ganze Gestalt aus, hart, ruhig und kalt wie immer.
»Ich muß gehen! … Galgen, Wahnsinn oder Leben, als ob das nicht einerlei wäre! Früher oder später …«
Müde sah er sich um, steckte den Revolver in die Tasche und begann die unsichtbaren Marmorstufen hinabzusteigen.
Er war bereits an die Tür gekommen und sah schon den roten Schein des Straßenlichts, als er plötzlich stehen blieb und den Revolver hervorriß. Am Ausgang, ihm den Weg verlegend, stand ein langer schwarzer Schatten. In der Finsternis waren die an die Brust gepreßten Hände, das wirre Haar und blasse Gesicht, das ihm flehend zugewandt war, kaum zu erkennen.
»Wer ist da!« rief Schewyrjow; gleich darauf brach er in Gelächter aus.
Einen einfachen Balken, an dem einige Flocken zerzaustes Werg hingen, hatten die Finsternis und seine Unruhe zu einem majestätischen Dulderbilde gemacht.
Er ging näher an ihn heran, schob ihn verächtlich mit dem Fuß beiseite und trat in den Hof hinaus.
Einige Stapel Ziegelsteine, Holz und Kalkplatten sahen düster wie Grabhügel aus. Das Tor des Bauzaunes stand offen, und dahinter glänzte das undeutliche Weiß des Straßenpflasters. Schewyrjow ging über den Hof und schaute vorsichtig hinaus.
Dem Tor gegenüber, nur einige Schritte entfernt, standen in der leeren Straße unbeweglich drei Gestalten. Es waren Schutzleute mit Gewehren auf der Schulter.
Schewyrjow sprang zurück und drückte sich an die Wand.
Die Schutzleute hatten nichts bemerkt. Sie unterhielten sich leise, doch konnte Schewyrjow die Worte verstehen:
»Was für einen Zweck hat es, Menschen grundlos zu Krüppeln zu machen … Da haben Sie recht …«
Schewyrjows Herz begann stärker zu schlagen, doch sein Denken blieb so scharf wie vorher. Mit lautlosen Bewegungen lief er zurück, huschte hinter die Holzstapel, schwang sich leicht auf den Zaun und sprang auf denselben Holzhof herunter, über den er schon einmal gelaufen war.
Holzschuppen ragten an den Seiten hoch; es roch nach Holz und Feuchtigkeit. In der leeren Wächterbude waren die Fenster dunkel; alles war still und ruhig. Vor dem offenen Tor lag die helle große Straße, glitten die schwarzen Umrisse der Passanten vorbei, klangen hell die Pferdehufe; quer gegenüber brannten die gelben Lichter eines Geschäftes.
»Gelingt es mir jetzt bis auf den Prospekt zu kommen, so verliere ich mich in der Menge. Dann schlage ich mich nach dem Finnländischen Bahnhof durch und gehe zu Fuß längs den Schienen nach der Grenze …« Die Grenze von Finnland ist von Petersburg aus zu Fuß in wenigen Stunden zu erreichen. zuckte es schnell durch sein Hirn. »– Wir wollen noch miteinander kämpfen,« sagte er stolz zu dem unsichtbaren Feind und trat entschlossen aus dem Tor.
Licht, Lärm, die Bewegung in den Straßen betäubte ihn. Er machte einige Schritte vorwärts, prallte aber plötzlich zurück: an verschiedenen Stellen, an Torwegen und Straßenkreuzungen standen überall dieselben schwarzen Posten mit Gewehren, deren Bajonette im Abendlicht glänzten.
»Eine Einkreisung,« begriff Schewyrjow mit dem Gefühl gleichgültiger Verzweiflung.
Es war undenkbar, auf der hellen Straße unbemerkt zu bleiben. Alles war zu Ende, und doch wollte er sich in wahnsinnigem Trotz nicht ergeben. Während er sich ganz klar war, daß man ihn sehen müsse, sprang er quer über die Straße und rannte, fast unter den Händen der von allen Seiten herbeistürzenden Schutzleute auf den Platz hinaus.
Ein schwarzer Himmel, der die Abendröte von Millionen Lichtern zurückwarf, hing über der Stadt. Trotzdem auf den Bürgersteigen an jeder Ecke grelle Laternen brannten, waren die Straßen doch wie dunkle Hohlwege im Vergleich zu dem ungeheuren Theater, das innen von einem Brand erfaßt zu sein schien. Das gedehnte Rufen der Kutscher schlug von allen Seiten heran; wie ein Fluß strömte die Menge aus dem nächtigen Dunkel und mündete in die reich beleuchteten Eingänge. In der schwarzen Menschenmasse tauchte Schewyrjow auf, verschwand und erschien auf einer leeren Stelle wieder und schlängelte sich wie ein Aal weiter durch. Er hatte seine Verfolger auf den Fersen, wurde von allen Seiten umstellt; und trotzdem er sich stets von neuem herauswand, war es nur noch ein letztes, sinnlos brutales Spiel.
Gerade vor dem Eingang ins Theater schloß sich der Ring. Die auf das Lärmen und Drängen herbeieilenden Gendarmen vom Theaterdienst drängten sich in die bestürzte Menge, die nichts von den Vorgängen verstand. Nur einige Studenten, die begriffen, um was es sich handelte, versuchten vergeblich, die Panik zu steigern und diesem sonderbaren abgehetzten Menschen zur Flucht zu helfen.
»Laufen Sie ins Theater!«
Und instinktmäßig dieser jugendlichen Stimme gehorchend, drückte sich Schewyrjow zusammen mit der Menge in das riesige Theater hinein.
Von irgend jemand wurde er in den Aufgang zum ersten Rang gestoßen. Der Theaterdiener im rot-goldenem Frack versuchte ihn aufzuhalten, prallte jedoch beim Anblick des wilden Augenpaares zurück und wurde durch einen Haufen unbekannter Menschen zur Seite geschoben. Schewyrjow gelang es, in einen schmalen Korridor zu laufen; an Garderoben, roten Dienern, geputzten Damen vorbei sprang er in eine leere Loge, die mit rotem Samt ausgeschlagen und mit vergoldeten Stühlen gefüllt war. Fast besinnungslos verriegelte er die Tür, verstellte sie noch durch irgend einen Diwan und ließ die Hände sinken. Das war das Ende.
Man hörte, wie jemand im Korridor mit unnatürlicher, aufgeregter Stimme schrie:
»Nach der Galerie! … Ich habe ihn gesehen! Nach der Gallerie! Dorthin, dorthin!«
Jemand versuchte die Tür zu öffnen, aber im selben Moment erlosch plötzlich das Licht, der Vorhang hob sich mit leisem Rauschen und zeigte einen grell beleuchteten grünen Garten und Menschen in phantastischen, goldenen, roten und hellblauen Kostümen.
Was weiter folgte, war wild überstürzend wie ein Wirbelsturm.
Anfangs unterschied Schewyrjow nichts, außer einem Meer von Köpfen, von Rängen, die im Nebel verschwammen, und einzelnen trüben Flecken. Er begriff nicht einmal gleich, daß er sich im Theater befand und daß die Aufführung begonnen hatte, daß diese eigentümlichen Gestalten, die auf der Bühne hin- und herlaufen und mit den Händen zu agieren beginnen, Schauspieler sind.
Mit furchtbarer Bestürzung blickte er sich wie ein abgehetzter Wolf nach allen Seiten um. Alles, was an diesem Tage durchlebt war: die Flucht, die Verfolgung, die tödliche Gefahr, der nahe unentrinnbare Tod, hatte nichts gemein mit diesem Meer feierlich dahinschauender Köpfe, nackter Schultern, phantastischer Dekorationen und buntfarbiger Lichte.
Zum Tollwerden wild kam ihm der Gedanke vor, daß dies hier das Wirkliche sei, gegen das das Grauenhafte, die ganze Größe seiner Leiden nichts zu sagen habe. Gerade so, als wenn nichts geschehen wäre, ging der Vorhang auf, gerade so fuchtelte der Kapellmeister mit den Händen, gerade so trat eine Sängerin in Reifrock und roter Perücke auf und begann, die Arme auseinanderlegend, zu singen – leise, süß, feierlich, wie in einem Tempel.
Man wird ihn suchen, wird ihn bald finden, ergreifen und bei Tagesanbruch hängen, hier dagegen wird sich alles nach kurzer Unterbrechung beruhigen, die Musik wieder zu spielen einsetzen, lächelnde Menschen wieder würdevoll ihre Aufmerksamkeit spannen, Tausende Köpfe sich niedersenken, eine zaubervolle Stimme ertönen, nackte blasse Frauenschultern vor Entzücken zittern und dann wird der donnernde Applaus ausbrechen.
Für einen kurzen Augenblick wuchs in seinem entzündeten Gehirn etwas zu Riesengroße an und spannte sich, doch mit einem Mal riß es ab. Und wild, geduckt mit wirr zerzaustem Haar, mit schmutzigem, zermartertem Gesicht und brennenden Augen, lehnte sich Schewyrjow zur Loge hinaus und schoß direkt, ohne zu zielen, die Hand krampfhaft ausgestreckt, in dieses Meer ruhiger, nichts ahnender Köpfe.
Ein furchtbares Kreischen war die Antwort. Eine hohe Note riß ab, eine riesige Menge sprang auf die Beine, ein seltsames Krachen und der betäubende Aufschrei vieler Stimmen ertönten zu gleicher Zeit. Schewyrjow erblickte Tausende ihm zugewandter, vor Entsetzen fast wahnsinniger Gesichter und feuerte mit unglaublichem Genuß von neuem, diesmal aber mit Ueberlegung, mitten in die dichteste Menge zielend.
Das ununterbrochene Krachen der Schüsse übertönte die wilden Schreie. Aus dem glatten Laufe des Brownings traf es wie Blitze in die Reihen, in die Kopfe, in die in panischem Schrecken gekrümmten Rücken, in die Beine der Fliehenden. Das Chaos Schreie wurde von hysterischen Ausbrüchen weiblicher Stimmen durchschnitten. Ein dicker Herr blieb dicht vor der Loge im Gange eingekeilt und winselte wie ein Tier mit dünner reißender Fistelstimme. In den Türen zerdrückte man sich gegenseitig, riß die Spitzen und den Samt der Toiletten in Fetzen, stieß geschmückte, zarte Frauen zu Boden und schlug mit Fäusten aufs Geratewohl in Gesichter, Rücken und Nacken.
Ueber allem aber, alles übertönend, krachte mit ununterbrochenem Rattern Schewyrjows Browning, und übte mit kaltblütiger brutaler Freude Rache für die Beleidigungen, die Leiden, die vernichteten Leben, deren er so viele um sich gesehen hatte.
Es wurde gegen die Tür gestürmt, sie wurde aufgebrochen, Schewyrjow gepackt und zu Boden geschlagen.
Als er überwältigt und von den Revolvern der Okolodotschnijs Unterste Polizeioffiziere-Charge in die Ecke des Korridors gedrängt war, blieb er stehen und seine Augen brannten in schonungslosem Siegesbewußtsein.
Aus der Ferne, aus dem Saal und den Korridoren, drang ein Getöse wie von einem Lawinensturz. Soweit das Auge reichte, wimmelte es von einer Menge, die jedes menschliche Aussehen eingebüßt hatte.
Man trug einen dicken Herrn, besten blutüberströmte Frackschöße auf dem Boden nachschleiften; eine Frau in hellblauem Decolleté, deren wächsernes Gesicht auf die Brust gefallen war, wurde, in den Achseln gestützt, vorübergeführt; in den Locken ihrer zerrissenen rotblonden Frisur hing auf geknicktem Stengel eine weiße Lilie.
Schewyrjow blickte an den schwarzen Revolverläufen, die auf seine Brust gerichtet waren, an den wutverzerrten Gesichtern vorbei auf diese geknickte Lilie und auf das Blut, das die atlaszarte Haut der für verfeinerte Genüsse gepflegten Frauenbrust besudelte.
Man schrie auf ihn ein, man rüttelte ihn an der Schulter, aber seine Augen blieben hart und kalt, und schauten mit einem unbegreiflichen Ausdruck geradeaus, als sähe er etwas, was keiner von den anderen zu sehen vermochte.