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Nach der Geburt Josephs vergingen sieben und ein halbes Jahr, ehe Letizia ihre Familie mit dem dritten Sohne beschenkte. Sie hoffte wohl auf eine Tochter, die ihr das im Jahre 1771 kurz nach der Geburt gestorbene Mädchen ersetzen sollte, doch war auch ein Bube herzlich willkommen. Ja, gerade dieser sollte der Liebling der Mutter werden, vielleicht weil er dem Vater am ähnlichsten war.
Lucien kam am 21. Mai 1775 in Ajaccio zur Welt. Zu jener Zeit war Carlo Bonaparte Beisitzer der Junta von Ajaccio. Die Familie lebte ruhig, doch nicht ohne Sorgen. Die Würden des Vaters kosteten Geld, denn man mußte standesgemäß auftreten. Als es daher galt, auch diesem dritten Sohne eine Erziehung zu geben, versuchte Carlo, ihn, gleich seinen beiden Ältesten, auf Kosten des Königs in Autun unterzubringen. Aber vergebens. Man mußte in den sauren Apfel beißen und Luciens Unterricht bezahlen.
Er hatte inzwischen sein sechstes Lebensjahr, also das schulfähige Alter erreicht. Mit seinem Onkel Fesch, der ihn nach Autun bringen sollte, verließ er im Jahre 1781 die Heimat. Zuerst führte der Onkel den Knaben nach Lyon, zu dem Bruder des Gönners der Bonaparte, dem Bischof Marbeuf. Er war früher Bischof von Autun gewesen, und man hoffte viel von seiner Gunst. So erhielt auch Lucien, wie Joseph, auf Marbeufs Veranlassung später eine für die geistliche Laufbahn bestimmte Erziehung.
Nach einigen Tagen des Aufenthaltes bei dem »guten Monseigneur«, der den intelligenten Jungen mit Zärtlichkeit überhäufte, hielt Lucien in der Schule von Autun seinen Einzug. Dort sah er Joseph wieder, der in Tertia saß. Gerne würde er an der Seite dieses Bruders, dem er zugetan war, seine Studien fortgesetzt haben. Da jedoch sein Vater auch für ihn in Brienne eine Freistelle erlangt hatte, blieb er nur ein einziges Jahr in Autun. Lucien war ein guter Schüler und neben Napoleon gewiß das begabteste Kind Carlos und Letizias.
Sobald Napoleon seine Studien in Brienne beendet hätte, sollte die Freistelle für Lucien dort in Kraft treten, denn es durfte immer nur ein Sprößling einer Familie das Stipendium genießen. Bis zu diesem Zeitpunkte aber waren es noch vier Monate. So mußte der Jüngere vorläufig als zahlender Schüler aufgenommen werden.
Der Wechsel der Unterrichtsanstalt betrübte den kleinen Lucien besonders, weil er nun nicht mehr mit Joseph zusammen sein konnte. Später schreibt er in seinen Memoiren: »Napoleon empfing mich ohne den geringsten Beweis von Zärtlichkeit ... Ich glaube, diesen ersten Eindrücken von dem Charakter meines Bruders habe ich die Abneigung zu verdanken, die ich stets empfunden, mich vor ihm zu beugen. Joseph hingegen, der in meinen Augen der liebenswürdigste, sanfteste Mensch ist, hat mir bis auf den heutigen Tag eine fast väterliche Zuneigung eingeflößt.«
Das Beisammensein der beiden Brüder in Brienne währte übrigens nicht lange. Napoleon bezog, nachdem seine Frist abgelaufen war, die Militärschule von Paris. Der Jüngere setzte seine Studien fort und rief bei den Mönchen, die dieses militärische Institut leiteten, durch seinen lebhaften Geist, seine Vorliebe für die schönen Künste, besonders aber durch seine glänzenden Fähigkeiten nicht geringes Erstaunen hervor. Doch der Knabe eignete sich wenig für den militärischen Beruf. Er war nicht allein kurzsichtig, sondern auch körperlich schwächlich. Zwar behauptete Lucien später, daß er mit seinen Augengläsern genug sähe, um sich schlagen zu können, aber Napoleon konnte ihn in seinem Generalstab wirklich nicht brauchen. In Brienne interessierte sich Lucien außerdem vielmehr für das literarische Studium als für den Soldatenberuf. Er wollte Geistlicher werden.
So bezog er denn nach fast zweijährigem Aufenthalt in Brienne das geistliche Seminar in Aix. Dort hatte auch sein Onkel Fesch studiert. Man hätte es gern gesehen, für Lucien in Aix ein Stipendium zu bekommen. Sogar Napoleon, der ziemlich kümmerlich als Leutnant in Auxonne lebte, bemühte sich im Jahre 1785 darum und schrieb in dieser Angelegenheit an den Direktor des Seminars, Herrn Amielh. Zwei Jahre später wandte er sich an den Intendanten von Korsika. Aber seine Gesuche hatten keinen Erfolg. Die Mutter war im Jahre 1788 nochmals genötigt, darum zu bitten. Sie war nicht glücklicher als der Sohn, obwohl sie ihre kümmerliche Lage in beredten Worten schilderte. Dennoch sah die Familie Lucien bereits als ruhmvollen Nachfolger des Mönches Philipp Bonaparte von San Miniato, als den reichsten und angesehensten Mann des Clans! Es kam anders.
Der Aufenthalt im Seminar von Aix war für den jungen Bonaparte, den man als einen Bittsteller betrachtete, und noch dazu als einen, der nichts erreichte, ziemlich niederdrückend. Auch das Studium machte ihm jetzt keine Freude mehr. Er arbeitete wenig und wurde oft getadelt. Seines Bleibens im Seminar war daher nicht von langer Dauer, um so mehr, da die Familie nicht mehr die Mittel zu seinem Studium aufbringen konnte. Mit 15 Jahren, als die Revolution in Frankreich ausbrach, war er wieder in der Heimat.
Das Zusammentreffen Letizias mit ihrem Sohne Lucien muß seltsam gewesen sein. Der Junge hatte vollkommen seine Muttersprache verlernt. Einstweilen setzte er seine Studien unter der Leitung des kranken Onkels Archidiakon fort, schriftstellerte zu seinem Vergnügen, verschrieb ungeheuer viel Papier, deklamierte, redete und gestikulierte.
Lucien hatte einen viel zu beweglichen Geist, als daß er sich ernstlich und dauernd dem Priesterberufe härte widmen können. Die Politik interessierte ihn bei weitem mehr und änderte mit einem Schlage alle seine Pläne für die Zukunft. Er begrüßte mit Freuden die politische Bewegung, die sich auf seiner Heimatinsel bemerkbar machte, warf das geistliche Gewand von sich und stürzte sich mit der naiven Begeisterung eines jungen Stürmers kopfüber, kopfunter in die Ereignisse. Trotz seiner Jugend war er einer der eifrigsten Verteidiger der Revolution. Da er eine glänzende Redegabe besaß, spielte er bereits als Sechzehnjähriger in dem patriotischen Klub von Ajaccio eine gewisse Rolle. Die andern jungen Männer waren zwar etwas älter als er, aber keineswegs gereifter. Er schien das Zeug zu einem Politiker in sich zu haben. Gern wäre er an der Seite des großen Nationalhelden berühmt geworden. Ja er behauptete sogar, eine Zeitlang Paolis Sekretär gewesen zu sein, und erdichtete darüber eine seltsam phantastische Geschichte. Aber Paoli wollte ihn nicht. Er nannte Lucien einen Gelbschnabel und schien mit der Zeit den Söhnen seines alten Freundes Carlo zu mißtrauen. Er irrte sich nicht. Wie Joseph und Napoleon, so ging auch Lucien zu den Franzosen über, um für die Sache Frankreichs einzutreten.
So gern Lucien sich von seinem älteren Bruder raten und leiten ließ, weil es bei Josephs Sanftmut nie mit Gewalt geschah, so wenig ließ er sich von Napoleon, den er immer als seinesgleichen betrachtete, Vorschriften machen. Er verabscheute den herrischen Ton, den Napoleon anzuschlagen pflegte, wenn er mit dem Jüngeren sprach. Mit 17 Jahren fällte Lucien sein Urteil über den Bruder in einem Briefe an Joseph vom 24. Juni 1792. In diesem heißt es: »Ich habe in Napoleon stets einen Ehrgeiz entdeckt, der nicht gerade egoistisch ist, der aber bei ihm seine Liebe für das öffentliche Wohl übertrifft. In einem freien Staate wäre er, glaube ich, ein sehr gefährlicher Mann. Er scheint mir sehr zum Tyrannen geneigt, und ich glaube auch, er würde es sein, wenn er König wäre. Zum mindesten würde sein Name für die Nachwelt und für den empfindsamen Patrioten ein Schrecken sein.« – Es kränkte Lucien besonders, von Napoleon als Revolutionär und Politiker nicht für voll angesehen zu werden. Denn als Napoleon die Proklamation an das korsische Volk gelesen hatte, die sein junger Bruder dem General Paoli unterbreiten oder veröffentlichen wollte, sagte er zu dem Hitzkopf: »Ich habe deinen Aufruf gelesen. Er taugt nichts. Es sind viel zu viel Phrasen und zu wenig Gedanken drin. So spricht man nicht zu den Völkern. Diese haben mehr Verstand und Feingefühl, als du glaubst. Deine Schrift würde mehr Schaden anrichten als Gutes tun.« Napoleon meinte den Brausewind durch Vernunft zur Mäßigung zu bringen. Er irrte sich. Lucien hatte seinen eigenen Kopf.
Mehr Glück als bei Napoleon hatte er bei seiner klugen Schwester Elisa. Sie liebte er von allen seinen Geschwistern am meisten. Sie verstand und sprach Französisch, war fast im gleichen Alter mit ihm und interessierte sich für seine Reden. Sie erregten zwar Widerspruch in ihr, da sie in Frankreich ganz aristokratisch erzogen worden war, aber gleichzeitig bewunderte sie auch den Bruder. Sie war intelligent; er konnte mit ihr über alles sprechen, ohne daß er befürchten mußte, nicht, wie bei den Brüdern, für voll angesehen zu werden. »Elisa versprach keine Schönheit zu werden, aber ihre herrlichen Augen verrieten Geist.« Vom ersten Tage an, da sich die Geschwister in der Heimat wiedersahen, waren sie Freunde. Da auch die übrigen Familienmitglieder, besonders die weiblichen, Lucien bewunderten, glaubte er mit siebzehn Jahren zu allem fähig zu sein. Vom Schicksal hielt er sich bestimmt, eine bedeutende politische Rolle zu spielen. Er hielt sich für das gottbegnadete Genie der Familie.
Da kam das Unglück. Letizia mußte mit den jüngeren Kindern fliehen. Der Hauptschuldige war der junge Lucien. Sein Selbstbewußtsein überschritt alle Begriffe! Er war auf die Fähigkeiten seines Geistes so eingebildet, daß er meinte, sich alles gestatten zu dürfen. Seine Ideen, seine Ansichten und Aussprüche waren seiner Meinung nach untadelhaft. Niemand durfte ihm dreinreden. Er trat mit einer Frechheit auf, die nicht allein erstaunte, sondern sogar eine gewisse Achtung einflößte. Er hielt sich für den klügsten und erfahrensten Politiker. Kurz er brannte darauf, wie seine Brüder Joseph und Napoleon eine Rolle zu spielen. Die Gelegenheit schien günstig. Im März 1793 war er als Sekretär des Diplomaten Sémonville nach Toulon gegangen und hatte nichts Eiligeres zu tun gehabt, als in dem dortigen Klub Paoli anzuklagen. Er nannte ihn einen Verräter, einen Tyrannen. Er sei durchaus nicht der Verteidiger Korsikas, als den er sich aufspiele. Mit französischem Gelde habe er ein Schweizer Regiment geworben, das ihm ganz ergeben sei. Er wolle sich zum Alleinherrscher über die Insel machen und verübe allerlei Bedrückungen und barbarische Handlungen gegen die Bewohner. So ließen Lucien der gekränkte Ehrgeiz und die verletzte Eigenliebe sprechen. Die Reue über seine unedle Handlung packte ihn erst später, als er allein war, als er nicht mehr den Beifall und die Begeisterung seiner Zuhörer um sich vernahm. Sie währte übrigens nicht lange. Bald fand er großen Geschmack an seiner neuen Rolle.
Er richtete an den Konvent eine Adresse, die sofort an den Abgeordneten des Departements Var befördert wurde und in die Versammlung gerade in dem Augenblick hineinfuhr, als man die Anklage Dumouriez' ausgesprochen hatte. Der Verrat war klar, und der Konvent beschloß, Paoli und Pozzo di Borgo vor die Schranken zu fordern.
Lucien war selig, den »entscheidenden Schlag gegen die Feinde«, besonders gegen Paoli, ausgeführt zu haben. Napoleon selbst wußte nichts von dem Streiche seines Bruders. Er machte sogar im Klub von Ajaccio den Vorschlag, eine Adresse an den Konvent zu senden, damit dieser den Beschluß gegen Paoli zurücknehme. Als er erfuhr, wer der Urheber gewesen, war er über die Unüberlegtheit Luciens entrüstet, denn das bedeutete für die Gegner Paolis Verfolgung und Verbannung, für Korsika den offenen Krieg mit der französischen Republik. Drei Jahre später sagte Napoleon von seinem Bruder: »Lucien vereinigt mit ein wenig Geist einen sehr harten Kopf und besitzt obendrein noch eine wahre Wut, sich in Politik zu mischen.«
In der Tat sollte diese Handlung Luciens schwere Folgen für die Familie nach sich ziehen. Paoli hatte außerdem einen Brief des jungen Bonaparte an seine Brüder aufgefangen, in welchem er der Guillotine geweiht wurde. Das war zu viel. Er schwor den Bonaparte ewige Rache. Nur mit Mühe vermochten sie seiner Wut zu entgehen.
Nach vierjähriger Abwesenheit betrat Lucien wieder den Boden Frankreichs, wo er einst seine Studien so schroff abgebrochen hatte. Damals war er noch ein Schüler, jetzt beinahe schon eine Persönlichkeit. Seine Jugend war ihm zwar dabei ein wenig hinderlich, aber das brachte ihn nicht in Verlegenheit. Er erhöhte einfach sein Alter von 18 auf 26 Jahre. Auch zuviele Kenntnisse besaß der angehende Jakobiner nicht, dafür aber desto mehr Eitelkeit, Einbildungskraft und frühreife Beredsamkeit.
Ende August 1793 hatte er schon einen Beruf. Als der General Carteaux mit seiner Revolutionsarmee nach Marseille kam, um dort den beginnenden Aufruhr zu unterdrücken, verschaffte er Lucien eine Stelle als Magazinverwalter in Saint-Maximin. Es war eine kleine Stadt im Departement Var, die dank Luciens und Barras' Marathon genannt ward. Luciens Anstellung war eine Gunst, die ihm als korsischen Emigranten zuteil wurde. Freilich war sein Einkommen dürftig: 1200 Franken im Jahr! Aber schon begann er von sich reden zu machen. Er sprach im Klub mit einer Flüssigkeit, einem Feuer und vor allem einer Überzeugung, die Bewunderung erregten. Die Anhänger strömten ihm von allen Seiten zu. Bald wurde er zum Präsidenten des revolutionären Komitees von Saint-Maximin ernannt. Die angesehensten Bürger der Stadt verdankten seinem Einfluß, daß sie als »verdächtig« in den Gefängnissen saßen. Er war eifriger Jakobiner, glühender Sanskülottist und unterzeichnete alle seine Schriftstücke mit »Brutus Buonaparte«. Ehemalige Galeerensträflinge, Diebe und Gauner waren seine Freunde. Als echter Republikaner mußte er doch das Beispiel der Gleichheit geben! Mehr als einmal stellte er sich bloß, denn seine Jugend ging oft mit seiner Vernunft durch. So schrieb er am Tage nach der Einnahme von Toulon an die Volksvertreter: »Bürger Repräsentanten! Vom Felde des Ruhmes aus, während meine Füße noch im Blute der Verräter schreiten, melde ich Ihnen mit Freuden, daß Ihre Befehle ausgeführt worden sind und Frankreich gerettet ist. Weder Alter noch Geschlecht sind verschont worden! Diejenigen, welche das republikanische Geschütz nur verwundete, sind durch das Schwert der Freiheit und das Bajonett der Gleichheit in die andere Welt befördert worden. Gruß und Bewunderung! Brutus Buonaparte, Bürger Sanskülottist.«
Sein Aufenthalt in Samt-Maximin entbehrte auch nicht des Idyllischen. Er verliebte sich in die junge, reizende Schwester des Gastwirts, bei dem er wohnte. Es war jene Katharine Boyer, die Lucien selbst später Christine nannte, »die beste, die liebenswürdigste, die sanfteste aller Frauen«. Als er sie das erstemal in der dumpfigen, raucherfüllten Gaststube sah, war sie zwanzig Jahre als, zwei Jahre älter als er selbst. Christine war groß, schlank, wohlgebaut und unvergleichlich anmutig, ganz ein Kind des Südens. Die Lieblichkeit und Zartheit ihrer Züge wurde nicht einmal durch die Spuren beeinträchtigt, die die Pocken auf ihrem Gesicht zurückgelassen hatten. Sie hatte wunderbar sanfte Augen und konnte bezaubernd lachen. Der leicht entzündbare Lucien liebte das Mädchen leidenschaftlich und heiratete es, trotzdem es sehr wenig gebildet war und weder lesen noch schreiben konnte. Sie wurden am 4. Mai 1794 in Samt-Maximin getraut. Lucien erklärte sich in seinem Ehevertrag als »Brutus Buonaparte, korsischer Patriot, 26 Jahre alt, geboren den 26. Mai 1768 in Ajaccio«. Merkwürdig ist es, daß alle drei Brüder bei ihrer Verheiratung in einem und demselben Jahre geboren sein wollen! In solchen Dingen waren die Bonaparte nie verlegen. Der Neunzehnjährige machte sich um sieben Jahre älter. Das war so Brauch in der Familie. Jeder gab sich das Alter und den Namen, die ihm zusagten. So nannte sich Marianne später Elisa; aus Maria Annunziata ward Karoline. Lucien beeilte sich, seine Frau Katharine in Christine umzutaufen und sich selbst Lucien-Joseph zu nennen. Auch die Familienpapiere gingen aus einer Hand in die andere, wie in manchen Kreisen die Kleider, die von einem Kind auf das andere vererbt werden.
Obgleich Lucien nichts weniger als hübsch war, hatte er doch Eindruck auf Katharine Boyer gemacht. Er hatte viel zu lange Arme und Beine, einen übermäßig kurzen Oberkörper, dazu die unsicheren Bewegungen eines Kurzsichtigen. Er zwinkerte beständig mit den kleinen, angestrengten Augen, und um seinen Mund spielte ein ewiges Lächeln. Seine Stimme hatte wenig Klang, und er sprach, obwohl sehr gewandt und fließend, stark durch die Nase. Da er jedoch fortwährend von seinen großen Brüdern, dem General und dem Kriegskommissar, von seinen Freunden Robespierre, Saliceti, Fréren und Arena erzählte, hätte er auch auf weniger einfache Gemüter als die Gastwirtstochter Eindruck gemacht. Sie gab sich die größte Mühe, ihre mangelhafte Bildung zu vervollständigen, um ihres geistreichen Gatten würdig zu sein. Lucien war ihr Lehrer. Unter seiner Anleitung lernte sie lesen und schreiben und wurde mit der französischen Literatur und Kunst bekannt. Bald schrieb sie sehr nette Briefe, die sie nicht vor den Damen der guten Gesellschaft zu verstecken brauchte. Die einfache Frau hatte auch Geschmack. Sie verstand sich gut zu kleiden und konnte in dieser Hinsicht später sogar mit der eleganten Josephine wetteifern.
Von der Familie hatte niemand, außer Napoleon, etwas gegen die Heirat Luciens einzuwenden. Sie war auch damals durchaus nicht unter seinem Stand. Was war er denn selbst? Ein kleiner Angestellter mit 1200 Franken Gehalt! Die Zeiten waren hart, das Geld war selten und der Klassenunterschied überhaupt nicht mehr vorhanden. Das bewies Lucien selbst durch seinen Umgang mit allen möglichen Leuten. Beständig sprach er von Gleichheit und Brüderlichkeit. Und was Christine an Reichtum und äußerer Bildung fehlte, ersetzte sie durch ihren Seelenadel. Sie entwaffnete sogar Napoleon durch ihre herzgewinnende Reinheit und Einfachheit. Als sie im Jahre 1797 nahe daran war, zum drittenmal Mutter zu werden, Ihrem ersten Kinde, Christine Charlotte, gab sie am 22. Februar 1795 in Saint-Maximin das Leben. Das zweite wurde in Augsburg am 13. März 1796 tot geboren und auch das dritte, Victoire-Gertrude, starb am Tage seiner Geburt, am 9. September 1797. schrieb sie an ihren unversöhnlichen Schwager, den General Bonaparte: »Erlauben Sie mir, daß ich Sie mit dem Namen Bruder anrede. Mein erstes Kind kam zu einer Zeit zur Welt, da Sie gegen uns aufgebracht waren. Wie sehr wünschte ich, daß es Sie bald liebkosen dürfe, um Sie ein wenig über den Kummer zu trösten, den unsere Heirat Ihnen verursacht hat. Mein zweites Kind hat das Licht der Welt nicht erblickt, denn da ich auf Ihren Befehl Paris verlassen mußte, hatte ich eine Fehlgeburt in Deutschland. Aber in einem Monat hoffe ich Ihnen einen Neffen zu schenken ... Und das verspreche ich Ihnen: er soll ein Soldat werden! Nur möchte ich, daß er Ihren Namen trüge, und daß Sie sein Pate seien. Ich hoffe, Sie werden dies Ihrer Schwester nicht verweigern ... Wenn wir auch arm sind, so werden Sie uns doch nicht verachten, denn Sie sind ja unser Bruder. Meine Kinder sind Ihre einzigen Neffen und Nichten, und wir lieben Sie mehr als den Reichtum. Könnte ich Ihnen eines Tages alle Zärtlichkeit beweisen, die ich für Sie empfinde!«
Einem solchen Brief konnte Napoleon nicht widerstehen. Er versöhnte sich mit seiner Schwägerin und hat Christine Boyer später sehr geachtet.
Lucien hatte seinen Posten als Verwalter in Saint-Maximin verloren, da das dort befindliche Magazin nicht mehr bestand. So war er ohne Stellung und ohne Einkommen. Die Ereignisse des 9. Thermidor zwangen ihn, Saint-Maximin zu verlassen. Christine konnte ihrem Mann nicht sogleich folgen, da sie bald darauf ihrem ersten Kinde das Leben gab. Zum Glück fand Lucien in Saint-Chamans bei Cette eine Stellung als Inspektor der Fuhrwerke bei einem Armeelieferanten des Italienischen Heeres. Aber er hatte Feinde in Saint-Maximin, denn bisweilen hatte er sich auch als Verteidiger der Schwachen und Unterdrückten gezeigt. Wie sein Bruder Napoleon in Antibes, wurde er im Jahre 1795 von einem Demagogen als Freund des jüngeren Robespierre angezeigt und verhaftet. Auf Befehl der Volksvertreter Chambon und Guérin schleppte man ihn nach Aix ins Gefängnis. Seine Festnahme fand in einer ihm befreundeten Familie in Saint-Chamans statt, in der es gewöhnlich sehr lustig zuging. Man vergnügte sich gerade mit Pfänderspielen. Lucien war zur Auslösung seines Pfandes soeben im Begriff ein Gedicht vorzutragen, als ein gewisser August Rey unter die Gesellschaft trat und ihn im Namen des Gesetzes verhaftete. Dieser Rey war aus Samt-Maximin. Brutus-Lucien hatte dessen Vater und Mutter einst vorm Schafott gerettet. Unter den Tränen seiner reizenden Gesellschafterinnen wurde Lucien gebunden abgeführt. Noch war sein Kerker vom Blute der Gefangenen feucht, die man am Tage vorher niedergemetzelt hatte, um für neue Unglückliche Platz zu schaffen!
Es bedurfte des ganzen Einflusses des Generals Bonaparte, um seinen Bruder aus dieser Gefangenschaft zu befreien. Napoleon ließ nichts unversucht und versah Lucien auch mit Geld. Lucien selbst schrieb einen Brief nach dem andern an seinen Bruder, an den Volksvertreter und Landsmann Chiappe, an den Bürger Rey, den Vater desjenigen, der ihn verhaftete. Ferner wandte er sich an Letizia, die sich wiederum bei Chiappe für ihren Sohn verwendete und an Frau Isoard in Aix schrieb. Luciens Angst war groß. Der kühne Redner von einst, der Brutus der Revolution, verzagte jetzt beinahe und wurde ganz klein. Welcher Gegensatz in seinem Briefe an Chiappe zu dem Schreiben, das er an die Volksvertreter nach der Metzelei von Toulon sandte! Eine furchtbare Angst vor dem Tode überkam ihn. »Ach! retten Sie mich vom Tode!« schrieb er. »Schenken Sie einem unglücklichen und unschuldigen Bürger, einem Vater, einem Gatten, einem Sohne das Leben! Möchte in stiller Nacht mein grauer Schatten um Sie schweben, damit er Sie erschüttere! ... Wenn Sie mir die Freiheit wiederschenken, will ich mit meiner Frau zum Italienischen Heere eilen, Ihre Füße küssen und Ihnen für immer das Leben weihen, das Sie mir wiedergeben. Ich schmachte – ich warte – o, retten Sie mich!«
Glücklicherweise hatte dieser kleinmütige Republikaner einen einflußreichen Bruder. Napoleons Schritte blieben nicht erfolglos. Und so verließ Lucien Bonaparte am 5. August 1795 das Gefängnis von Aix nach einer sechswöchigen Haft.
Seitdem war er etwas vorsichtiger in seinen demokratischen Reden. Er wandte sich jetzt wieder literarischen Arbeiten zu. Da er jedoch kein Einkommen hatte, lebte er vorläufig auf Napoleons Kosten. Der General war über Luciens Übertreibungen außerordentlich empört, und sein Groll gegen ihn steigerte sich noch nach des Bruder Verhaftung. Am 25. Oktober 1795 schrieb er unter anderem an Carnot: »Lucien hat sich 1793 zu verschiedenen Malen bloßgestellt, trotz der Ratschläge, die ich ihm wiederholt erteilt habe. Er wollte den Jakobiner spielen. Und wenn seine achtzehn Jahre nicht glücklicherweise eine Entschuldigung gewesen wären, hätte er sich mit unter der kleinen Zahl Männer befunden, die die Schande der Nation sind!«
Lucien, der Tollkopf, war lästig. Es mußte ein Amt für ihn gefunden werden, das ihm nicht viel Zeit zum Ausarbeiten seiner überspannten Ideen übrig ließ. Kurz nach dem 13. Vendémiaire verschaffte ihm daher der General Bonaparte den Posten eines Kriegskommissars bei der Nordarmee. Seine Ernennung erfolgte am 6. Brumaire des Jahres IV (23. Oktober 1795). Aber Lucien hatte es nicht eilig, das schöne Paris zu verlassen. Die Versuchung war für einen, der zum erstenmal dieses Pflaster betrat, zu groß. Die Salons der Frau von Staël und Frau Récamier, die Gesellschaften bei Barras und Theresia Tallien übten auf den zwanzigjährigen jungen Mann eine zu große Anziehungskraft aus, als daß er sich hätte so schnell losreißen können. Ein Charakter wie Lucien, der weder Pflichtgefühl noch Gehorsam noch Zwang kannte, auch keine Lust für einen militärischen Dienst zeigte, fügte sich nicht so leicht. Schließlich aber mußte er doch Paris verlassen. Am 8. Februar 1796 reiste er zur Nordarmee ab. Doch seine Dienste waren von geringem Nutzen. Er selbst fühlte sich auf seinem Posten nicht wohl, beschäftigte sich wieder mit Politik, hielt Reden und kümmerte sich durchaus nicht um den Dienst. Er war viel mehr der Bruder des italienischen Siegers als ein Kriegskommissar und verfehlte nicht, diese Art Verdienst zu mißbrauchen. Schließlich beklagte er sich bei Carnot, daß man ihn zu einer solchen Stellung ausersehen hätte. Es sei eine schreiende Ungerechtigkeit. Kurz, er verlangte wieder nach Frankreich, nach Marseille zurück. Er hegte die stille Hoffnung, dort eine weniger untergeordnete politische Rolle spielen zu können. Napoleon aber witterte in der Rückkehr seines Bruders nach Marseille Gefahr. Lucien sollte bleiben, wo er war. Der Widerspenstige kehrte sich natürlich wenig an die Ansichten und Absichten seines Bruders. Bereits nach zwei Monaten begab er sich, ohne daß er Urlaub hatte, von Antwerpen nach Paris. Dort hielt er sich bis Ende Mai auf. Dann reiste er, selbstverständlich wieder ohne die Befugnis zu haben, nach Italien auf den Kriegsschauplatz zu seinem Bruder.
Der Empfang, den ihm Napoleon bereitete, war, wie sich denken läßt, kein herzlicher. Jetzt war es ihm schon lieber, Lucien bliebe in Marseille als in Italien. So beförderte er ihn sofort wieder nach Frankreich, und zwar ebenfalls als Kriegskommissar.
In Marseille fühlte sich Lucien zu Hause. Dort war die Familie anwesend. Paulettes Liebesidyll mit dem Volksvertreter Fréron interessierte ihn außerordentlich, und er spielte bisweilen den Beschützer der beiden Liebenden. Was aber war Marseille gegen Paris! Die Erinnerung an die Hauptstadt und ihre Freuden war zu schön. Er sehnte sich nach Paris. Wunsch und Ausführung lagen bei Lucien immer nahe beieinander, und so hielt er es auch nur 22 Tage in Marseille aus. Dann war er wieder in der Stadt der Sehnsucht, natürlich ohne Erlaubnis. Das war durchaus nicht nach dem Geschmack Napoleons. In einem energischen Briefe an Carnot und Barras befahl er, daß man seinen Bruder sofort wieder auf seinen Posten zur Nordarmee schicke. Dort aber schien Lucien zu schlechte Erinnerungen hinterlassen zu haben, denn man verwendete ihn bei der Rheinarmee. In größter Eile mußte er mit seiner schwangeren Frau nach Deutschland abreisen, wo Christine eine Fehlgeburt hatte.
Aber auch bei dieser Armee taugte Lucien nichts. Napoleon sah nur einen Ausweg: ihn nach Korsika zu schicken, wo er der Republik von einigem Nutzen sein könne. Man vertraute ihm den bedeutenden und unabhängigen Posten eines Zahlungsanweisers an, und so kehrte Lucien mit den Vorschriften seines Bruders in sein Vaterland zurück. Wie Joseph, so hoffte auch er Abgeordneter zu werden.
Obwohl Napoleon sich über Lucien ernstlich zu beklagen hatte, vergab er ihm doch schnell. Nicht daß er ein besonderes Interesse für ihn gehabt hätte. Im Gegenteil, alles an Luciens widerspenstigem Charakter stieß ihn ab. Er wußte, dieser Mensch würde sich nie unter seinen Willen beugen. Aber Lucien war ein Bonaparte! Nur darin findet die außerordentliche Schwäche, die Napoleon bisweilen gegen ihn bewies, ihre Erklärung. Als er sich nach Ägypten begab, wollte er Lucien mitnehmen. Allein Lucien zog es vor, die Beliebtheit, deren er sich in Korsika erfreute, auszunützen, um als Abgeordneter in den Rat der Fünfhundert gesandt zu werden. Die Korsen wählten ihn, obwohl die Deputation bereits vollständig war und obwohl er nicht das vorgeschriebene Alter von 25 Jahren hatte. Er war erst 23 Jahre alt! Doch der Name des Siegers von Italien übte einen so gewaltigen Zauber aus, daß man meinte, den Bruder eines solchen Feldherrn nicht übergehen zu dürfen. Ja, der Rat der Fünfhundert empfing den jungen Mann bei seiner Ankunft mit einer Höflichkeit und Auszeichnung, die ganz und gar der Begeisterung zugeschrieben werden müssen, die man Napoleon entgegenbrachte. Sogar Lucien selbst gesteht das ein.
Dank dieser Ernennung wurde der Abgeordnete bald darauf in Paris zum Mitglied des Rates der Fünfhundert erwählt. Seine außerordentliche Beredsamkeit, vereint mit jugendlichem Feuer und großer Geschicklichkeit, erwarb ihm bald Anhänger und Freunde. Schließlich war sein Einfluß so groß, daß man ihn zum Präsidenten des Rates ernannte. So bestieg er ohne die geringsten juristischen Vorkenntnisse, ohne die geringste staatsmännische Erfahrung die Rednerbühne einer Versammlung, welche dem Volke Gesetze vorschrieb!
Seine Wohnung schlug er vorläufig bei seiner geliebten Schwester Elisa Baciocchi in der Rue Miromesnil, ganz in der Nachbarschaft der übrigen Familie auf. Denn Joseph, Julie, Letizia und Karoline wohnten jetzt in Paris, Rue de la Ville-l'Evèque; Josephine war Inhaberin eines Hauses der Rue Victoire. Der ganze Clan war also vereint. Dazu hatte sich Luciens eigene Familie um ein Töchterchen, Egypta, vermehrt.
Lucien war Freidenker, ein überzeugter Republikaner. Selbst die Rolle, die er anfangs bei den Ereignissen des 18. Brumaire spielt, widerspricht dieser Behauptung nicht. Sein Ehrgeiz, seine Redekunst und sein großes schauspielerisches Talent kamen ihm dabei vortrefflich zu statten. Wie wunderbar sicher und dramatisch war doch die Bewegung, mit der er seine Toga und seine Schärpe auf den Rand der Tribüne niederlegte, als sich Tausende von wütenden Stimmen gegen seinen Bruder und gegen ihn selbst erhoben! Seine Haltung, seine Worte, alles war unvergleichlich imponierend. »Es gibt hier keine Freiheit mehr!« rief er empört aus. »Da ich mich nicht mehr verständlich machen kann, so sollt Ihr Euren Präsidenten als Ausdruck der Trauer die Abzeichen der Volksgewalt niederlegen sehen!« Und damit stieg er majestätisch langsam von der Tribüne.
Seine Rolle war jedoch nicht in dem Maße bedeutend, wie sie ihm viele Historiker, besonders aber er sich selbst, beimessen. Anfangs handelte er gar nicht im Interesse seines Bruders. Napoleon und seine Armee schienen für Lucien nicht vorhanden zu sein, und die plötzliche Rückkehr des Generals aus Ägypten kam ihm wie jedem andern überraschend. Namen wie Moreau, Joubert, Jourdan, Hédouville, Macdonald u. a. wurden weit mehr in den Vordergrund gestellt als der des Generals Bonaparte. Als freilich Napoleon nach seiner Rückkehr die öffentliche Meinung ganz auf seiner Seite hatte, veranlaßten die eigenen Familieninteressen, und nicht zum wenigsten die Hoffnung, einst die Macht mit dem Bruder zu teilen, auch Lucien dazu, tätigen Anteil am Staatsstreiche zugunsten Napoleons zu nehmen. Lucien leistete seinem Bruder ohne Frage nützliche, doch nicht selbstlose Dienste. Er sah sich bereits als Zweiter Konsul.
Napoleon hingegen verspürte nicht Lust, die Macht mit Lucien zu teilen. Er ernannte ihn zum Minister des Innern. Damit entledigte er sich vollkommen seiner Verpflichtungen gegen ihn. Es war ein hoher Posten, den er nur einem Menschen verleihen konnte, der sein ganzes Vertrauen besaß. Lucien war in diesem Amte, das für seine Verdienste zu groß, für seine Fähigkeiten zu schwer, für seinen Ehrgeiz aber viel zu klein war, der Nachfolger des Ministers Laplaces, eines äußerst pflichtgetreuen Staatsbeamten.
Allerdings hatte Lucien sich sein Wirken im Staate anders gedacht. Noch vollkommen erfüllt von dem Triumphe, den er am 18. Brumaire davongetragen hatte, glaubte er sich zum mindesten berechtigt, der erste Staatsmann Frankreichs zu sein, wie sein Bruder der erste Feldherr war. Nichtsdestoweniger hatte er trotz seiner Jugend manches geleistet. Er hatte während der zwei Jahre im Rate der Fünfhundert eine Tätigkeit und Energie entwickelt, die anerkannt werden müssen. Und bei dem aufreibenden politischen Leben fand er noch Zeit, sich seiner Familie zu widmen, gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen und auch noch einen Roman zu schreiben! Das war mehr, als man von einem so jungen Manne verlangen konnte.
Das gute Einvernehmen der beiden Brüder war indes unmöglich. Lucien und Napoleon hatten beide zuviel von korsischem Blute in sich, als daß sie sich gegenseitig hätten vertragen können. Lucien, von Natur aus widerspruchsvoll, widersetzte sich dem Willen des Ersten Konsuls in dem Maße, daß er, wäre er längere Zeit Minister gewesen, die heilloseste Verwirrung in der Verwaltung angerichtet hätte.
Seine glänzende Rednergabe und sein Hang zur Opposition hätten ihn wohl in einem Parlament zu einer bedeutenden Persönlichkeit gemacht, aber einer Regierung konnten diese Talente, verbunden mit großer Unbeständigkeit, verhängnisvoll werden. Der Herr Minister unterzeichnete fast nie persönlich ein Schriftstück. Das überließ er seinen Sekretären Campi und Desportes, die eine Art Namenszug, ein unleserliches Gekritzel, nachahmten. Lucien tat nur das eine in seinem Amte, was ihm angenehm war: die äußere Repräsentation. Er gab schöne Feste, hielt glänzende Reden, spielte Theater, hielt sich für einen bedeutenden Schauspieler und ließ sich von schönen Damen, wie Frau Récamier und der Schauspielerin Mézeray, anhimmeln. Das hinderte ihn indes nicht, zu behaupten, er sei seiner Christine »im Leben wie im Tode treu gewesen«. Außerdem entfaltete er einen Reichtum, der nicht nur von seinem Einkommen herrühren konnte. Er gefiel sich vor allem darin, die Handlungen des Ersten Konsuls öffentlich zu kritisieren.
Vorläufig hielt er es jedoch für besser, sich nicht zu beklagen, sondern sich lieber durch den einflußreichen Posten so viel wie möglich zu bereichern. Zu jener Zeit schrieb der preußische Gesandte Lucchesini am 10. November 1800 an Friedrich Wilhelm III.: »Lucien Bonaparte begann einen außerordentlichen Luxus zu entfalten, der das Volk stutzig machte. Um sich zu bereichern, mißbrauchte er seine Gewalt, indem er Monopole erteilte und überhaupt alle Mißbräuche der früheren Verwaltung wieder einführte.« Als Entschuldigung für das alles kann nur des Ministers große Jugend – er war 24 Jahre alt – angeführt werden.
Inzwischen bereiteten sich ernste Ereignisse vor. Der Erste Konsul mußte aufs neue zu den Waffen greifen. Er zog am 6. Mai 1800 in den ruhmreichen zweiten Italienischen Feldzug, den die Schlacht von Marengo beschließen sollte. Einige Tage später wurde Lucien Bonaparte Witwer. Christine starb nach fünfjähriger Ehe am 14. Mai im Alter von 26 Jahren. Die zarte Frau hatte bereits seit Monaten gekränkelt und ihren Gesellschaften, die seit der Ernennung Luciens zum Minister eine gewisse Berühmtheit erworben hatten, nicht mehr vorstehen können. Man hatte die häuslichen Pflichten Elisa Baciocchi übertragen müssen, die sich nun auch der beiden kleinen mutterlosen Mädchen annahm.
Luciens Schmerz über den Tod seiner Frau ist groß. »Ungeheurer erster Kummer meines Lebens!« ruft er in seinen Memoiren aus; »Christine Boyer, meine Frau, ist in ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr gestorben! Mit ihren entseelten Überresten ziehe ich in die für sie erworbene und für sie verschönte Burg (Plessis-Chamant) ein. O reine, sanfte Seele! Sie ertrug mit mir das Geräusch und den Lärm der Städte; der Aufenthalt auf dem Lande schien ihr der Höhepunkt unseres Glücks!« Selbst in seinem Kummer vergißt er nicht, die Gattin um fünf Jahre jünger zu machen, weil er selbst erst 24 ist.
Vor dem Tode Christines, die das Landleben sehr liebte, hatte Lucien das reizende Schloß Plessis-Chamant gekauft. Dorthin zog er sich nun mit seinem ungeheuren Schmerze für einige Tage zurück. Die Reste seiner Christine ruhten hier unter Blumen und Bäumen, unter denen sie im Leben zu wandeln geträumt hatte.
Auch Letizia trauerte aufrichtig um die Schwiegertochter, die sich die Herzen der ganzen Familie gewonnen hatte. Die Mutter war es, die den Sohn schließlich bewog, in Paris in der Arbeit seines Ministeriums Trost und Beruhigung zu suchen. Napoleon selbst tröstete seinen Bruder mit den Worten: »Sie haben eine vortreffliche Frau verloren ... Sie werden sich nun wieder den Geschäften widmen, nicht wahr?«
Anstatt indes in der Arbeit Vergessenheit zu suchen, stürzte sich Lucien jetzt in den Strudel großstädtischer Zerstreuung. Er knüpfte mehrere Verbindungen mit Künstlerinnen der Oper und des Schauspiels an. Fräulein George von der »Comédie«, Jeanette Phillis und die Sängerin Henri erfreuten sich seiner Gunst. Besonders verfolgte er die schöne Julie Récamier mit glühender Leidenschaft. Nach den dreiunddreißig unendlich langen Briefen zu urteilen, die der Minister unter dem Namen »Romeo« an Julie schrieb, zog sie ihn abwechselnd an und stieß ihn wieder ab und entfachte dadurch nur noch mehr seine Leidenschaft. In rasender Liebe lag er vor der kalten Julia auf den Knien und flehte schluchzend um ihre Gunst. Nach einer Abendgesellschaft bei ihr schrieb er ihr: »Daß Sie vor dem Abend, als ich Sie tränenerstickt verließ, gegen die Leidenschaft, die Sie mir einflößen, unempfindlich blieben, verstehe ich, denn Sie zweifelten an meiner Aufrichtigkeit. Daß Sie aber seit diesem Augenblick, über den ich noch erröte, Ihr Verhalten mir gegenüber nicht verändert haben, kann ich nur mit Ihrer Gleichgültigkeit erklären.
Gestern morgen dachte ich an meine Tränen und war empört. Gestern abend weinte ich wieder. Und Ihre Blicke, ein einziges Wort von Ihnen öffneten meine Seele von neuem der tiefen Bewegung, die mich bedrückte ... In dieser Lage ist die Freundschaft nichts für mich. Die Liebe ist das einzige, wonach mein Herz verlangt ... Ich brauche Liebe ... mich dürstet nach Liebe ... Aber Sie, Sie sind ebenso ruhig, wie ich unruhig bin. Ihre Ruhe tötet mich. Ihre Gegenwart und diese Ruhe ist für mich die Hölle!
Wenn ich fortfahre, Sie wiederzusehen, so bin ich verloren ... Noch einige solcher Aufregungen wie in den letzten beiden Tagen, und ich werde wahnsinnig ... Mein Charakter ist zu allem fähig ... Ich zittre, wenn ich an die Zukunft denke ... Ich kann Sie nicht hassen, aber ich kann Sie töten! ...«
Aber nicht nur sie konnte sich rühmen, das Interesse Lucien Bonapartes zu erregen. Es ging das Gerücht, daß keine junge Frau sich ohne Gefahr dem Kabinett des Ministers des Innern nähern dürfe!
Den Staatsgeschäften sollte Lucien als Minister nicht lange mehr obliegen. Napoleon behagte es durchaus nicht, daß sein geistreicher Bruder als Staatsbeamter sich mit politischer Literatur beschäftigte. Lucien entwarf Artikel und Reden, die er seinem Sekretär diktierte, aber eigenhändig verbesserte und dann dem Dichter Fontanes zuschickte, der sie veröffentlichte. Unter anderen war der Minister des Innern der Verfasser folgender Schriften: »Qui régnera sur les Français?«; »Des résultats du 18 Brumaire«; »Dialogue aux Champs-Elysées entre Henri IV, le Cardinal Richelieu et Périclès«. Doch schlimmer als das! Die Flugschrift »Parallèle entre César, Cromwell, Monk et Bonaparte«, als deren Verfasser man mit Recht Lucien Bonaparte vermutete, war der Öffentlichkeit übergeben worden. Der Verfasser suchte zu beweisen, daß Frankreich ohne die erbliche Staatswürde vor einem Abgrunde stünde und jederzeit entweder wieder in die Hände der Bourbonen oder irgendeines rohen Prätorianers fallen könne. Ohne Frage wurde in dieser Schrift auf die öffentliche Meinung für die Erblichkeit hingearbeitet. Aber es geschah zu früh. Noch war das Volk zu eng mit der Revolution verknüpft. Und daher war auch die Wirkung, die diese Flugschrift hervorbrachte, vernichtend. Der Erste Konsul war wütend und wollte den Verfasser wissen. Fouché nannte ihm seinen Bruder Lucien. Viele Historiker bestreiten noch heute die Urheberschaft Luciens an dieser Schrift und nennen Fontanes als Verfasser. Aber der beste Beweis ist, daß das Manuskript ganz von Luciens eigener Hand geschrieben ist. Er ergriff also auch in bezug auf die erbliche Staatswürde die Initiative. Nicht weil er ein so guter Republikaner war, daß er die Dauer der gegenwärtigen Regierung gewünscht hätte, sondern weil er darin den Vorteil der Familie, besonders seinen eigenen sah. Denn wie Joseph hoffte er, daß Napoleon ihn zu seinem Nachfolger bestimmte, ihn, der den 18. Brumaire gemacht hatte! Denn in Luciens Augen galt nur der 18. Brumaire. Alles, was vorher und nachher geschehen war, was Napoleon ins Werk geleitet und vollbracht hatte, waren Kleinigkeiten, die nicht zählten. Er, Lucien, er war der Begründer der Größe der Familie Bonaparte!
Der Becher war bis zum Überlaufen voll. In der Nacht vom 2. und 3. Juli kehrte Napoleon zum zweitenmal als Sieger aus Italien heim. Die Intrigen, an deren Spitze Talleyrand stand, hatten ihren Zweck nicht verfehlt. Bei der ersten Zusammenkunft der beiden Brüder brach der Sturm los. Es entspann sich ein heftiger Wortwechsel zwischen ihnen, und Napoleon zwang Lucien, daß er seinen Abschied einreiche.
Lucien schildert die Szene, die zwischen ihm und Napoleon stattfand, folgendermaßen: »Ich war wieder in meinem Ministerium und vertiefte mich ernstlich in die Arbeit. Vieles hatte ich aus den Augen verloren; ich fand auch etwas Unordnung in den Geschäften. Einer meiner Beamten hatte sich bloßgestellt oder sich bloßstellen lassen. Er wurde abgesetzt. Der Erste Konsul war wütend und machte mir die bittersten Vorwürfe wegen der Wahl eines Unterbeamten. Daraus entstand ein heftiger Wortwechsel zwischen uns beiden.
»Jupiter, du ärgerst dich, weil du im Unrecht bist!« rief ich.
Außer sich vor Zorn nennt mich der Erste Konsul einen schlechten Kerl ... Er will mich verhaften lassen. Da reißt mir die Geduld. Mein Ministerportefeuille fliegt auf den Tisch des Ersten Konsuls – nicht an seinen Kopf, wie man unrichtigerweise behauptet hat –; das genügte.«
Luciens Fall war nicht allzu hart. Napoleon bemühte sich, ihn fast unmittelbar darauf zu entschädigen und vertraute ihm den Gesandtschaftsposten in Spanien an. Und so traf den Minister nur eine halbe Ungnade. Aber für Lucien war es der derbste Schlag, den er erhielt, und das in einem Augenblick, wo er glaubte, seine Macht im Staate sei unwiderruflich befestigt.
Bei Napoleon siegte wiederum die Familienzuneigung. Er meinte, mit der Zeit würde sich Luciens unbändiger Charakter mäßigen. Auf Luciens Intelligenz und Fähigkeiten setzte er die größten Hoffnungen. Einst würde er ihm eine wirkliche, ja die beste Stütze des Staates werden. Die Fähigkeiten hatte Lucien allerdings dazu, ob aber den Willen?
Vorläufig also machte er sich am 17. November 1800 mit seiner zweijährigen Tochter Egypta, die in der Familie Lili genannt wurde, auf den Weg nach Spanien, jenem Wunderlande, das aus ihm den reichsten der Bonaparte machen sollte. Denn was waren für Lucien jetzt die 140.000 Franken, die er aus Frankreich bezog? Die brauchte er allein für den Unterhalt seiner Dienerschaft. Ein Bonaparte durfte nicht knauserig auftreten!
Nach einer beinahe vierwöchigen Reise traf er am 6. Dezember in Madrid ein. Er hatte sich längere Zeit in Bordeaux aufgehalten unter dem Vorwande, die Pest wüte in Spanien. In Wirklichkeit hoffte er, daß sein Bruder ihn wieder nach Paris zurückriefe. Aber es geschah nichts dergleichen. Lucien mußte die ihm anvertraute Aufgabe erfüllen. Sie bestand hauptsächlich darin, sich der spanischen Flotte zu versichern, die zur Verproviantierung des ägyptischen Heeres beitragen sollte. Außerdem sollte der Gesandte dem Prinzen von Parma, der mit der Infantin Marie Luise verheiratet war, eine Königswürde in Italien vorschlagen, sowie Spanien zum Bruche mit Portugal bewegen. Vor allem aber sollte er den spanischen Hof für die gemeinsame Sache gegen den Erbfeind England zu gewinnen suchen und sich bemühen, die Wiederabtretung Santo Domingos oder Louisianas zu erlangen.
Vom spanischen Königshause wurde der französische Gesandte aufs liebenswürdigste empfangen. Bald hatte er die ganze Gunst Karls IV. und seiner Gemahlin gewonnen. Er war »persona grata«. »Ich werde mit Auszeichnungen überschüttet«, schrieb er; »ich habe die Schranken der Hofsitte gebrochen, spreche mit dem König und der Königin über Geschäfte, ohne daß der Friedensfürst darüber entsetzt ist; im Gegenteil, er freut sich darüber.« Besonders zeichnete ihn die Königin aus. Sie hätte es gern gesehen, wenn ihre dreizehnjährige Tochter Isabella eine vorteilhafte Heirat gemacht hätte. Zwei deutsche Fürsten hatten bereits um die Hand der Prinzessin angehalten, aber die Königin wollte darüber zuvor die Ansicht des Ersten Konsuls hören. Dabei hegte sie im stillen die Hoffnung, daß Napoleon selbst die Infantin, die dem Fürsten Godoy aufs Haar ähnlich sah, zur Frau begehre. Lucien schrieb sofort an seinen Bruder und riet ihm zu dieser königlichen Verbindung und somit zur Scheidung von Josephine, die er nicht ausstehen konnte. Eine Heirat seines Bruders mit einer königlichen Prinzessin hätte diesen »überzeugten Republikaner« außerordentlich geschmeichelt.
Bald führte der französische Gesandte in Madrid ein großes Haus. Es war der Mittelpunkt des spanischen »High Life«, und kein anderes kam ihm an Pracht und Aufwand gleich. Lucien fühlte sich vollkommen als Grandseigneur, der mit all den Fürstlichkeiten am Hofe Karls IV. auf gleicher Stufe stand und seine Huld gnädig austeilte. Und entwickelte er auch nicht gerade die größte Tätigkeit und viel Geschick in seinem Amte, so verstand er doch aufs beste den galanten Teil seiner Sendung. Die Feierlichkeit, während welcher er der Königin die drei Dutzend Kleider überreichte, die der Erste Konsul ihr zum Geschenk schickte, gelang ihm wundervoll. Der ganze Hof war von der Liebenswürdigkeit und dem ritterlichen Wesen des französischen Gesandten entzückt. Lucien wiederum fand diesen verderbten Hof und die anmutigen Spanierinnen mit den »zierlichen Füßchen« köstlich. Mit Recht sagte er von sich selbst, die Diplomatie habe ihn gegen derartige Reize nicht unempfindlich gemacht. Am meisten brüstete er sich mit seinen Beziehungen zu einer der vornehmsten Damen Spaniens, der Marquesa de Santa Cruz. Sie war eine Deutsche von Geburt, eine Gräfin Wallstein, vereinigte indes die nordische Schönheit mit spanischer Grandezza. Sie war eine von den Frauen, die den Mann, den sie lieben, vollkommen unter ihrer Gewalt haben. Lucien war ihr Sklave. Er nahm sie später mit nach Paris, damit sie in seinem Hause die Honneurs mache. Bald aber mußte sie der noch schöneren Alexandrine Jouberthou den Platz räumen.
Das Leben in Spanien, wie es Lucien führte, kostete Geld, viel Geld. Von den Einkünften des Gesandten allein wäre es schwerlich zu bestreiten gewesen. Die Gelegenheit, sich ein Vermögen zusammenzuraffen, sollte jedoch nicht ausbleiben. Man war bei Hofe sehr geneigt, alle Verträge, die Lucien vorlegte, anzunehmen und zu unterzeichnen. Beim Einzug der Franzosen in Portugal hielt es der Lissaboner Hof sogar für geeignet, direkte Unterhandlungen mit dem französischen Gesandten in Madrid anzuknüpfen. Am 6. Juni 1801 wurde der Vorfrieden in Badajoz mittels geheimer Hilfsgelder von 30 Millionen unterzeichnet, in die sich Lucien und Godoy teilten. Diese fünfzehn Millionen bildeten den Grundstock zu Luciens großem Vermögen. Es waren also nicht nur, wie er harmlos erzählt, »einige Säcke kostbarer Diamanten«, die ihm das spanische Königspaar beim Abschiede schenkte. Allerdings verwandelte er diese Kleinodien später in Amsterdam in die ansehnliche Summe von einer Million Franken! Aber außerdem erhielt er noch zwanzig wertvolle Gemälde berühmter Meister und gefaßte Diamanten, ebenfalls im Werte von einer Million. Sein Gesamtvermögen wurde zu jener Zeit auf 500 Millionen geschätzt, was heute ungefähr einigen Milliarden gleichkäme.
Plötzlich gefiel es dem französischen Gesandten, wie er sagte, von Heimweh gepackt, nicht mehr in Spanien. Er verlangte seine Abberufung. In Wirklichkeit lag ihm wohl mehr daran, seine Diamantensäcke in Sicherheit zu bringen, denn der spanische Boden wurde ihm zu heiß. Napoleon verweigerte hartnäckig die Ratifikation des Vertrages von Badajoz, den er durchaus nicht billigte. Nachdem man endlich übereingekommen, der Vertrag am 29. September unterzeichnet und der Frieden am 7. Oktober bekannt gemacht worden war, trat Lucien seine Heimreise am 9. November an, ohne jedoch die Einwilligung des Ersten Konsuls dazu zu haben. Er reiste inkognito als Sekretär seines eigenen Sekretärs, der den Titel »General Thiébaut« angenommen hatte. Am 14. November traf er wieder in Paris ein. Er war so eilig Tag und Nacht gereist, denn er fürchtete immer einen Gegenbefehl des Ersten Konsuls zur Rückkehr zu erhalten.
Vorläufig lebte Lucien auf seiner Besitzung Plessis. Dort versammelte er einen Kreis vornehmer und bedeutender Männer: Politiker, Gelehrte, Schriftsteller, Künstler und Lebeleute um sich. Auch schöne, geistreiche Frauen fehlten nicht. Da er nun reich war, setzte er seiner Mutter eine Lebensrente von 24.000 Franken aus, die Letizia für die Armen verwenden sollte. Im übrigen führte er jetzt ein weit verschwenderischeres, weit üppigeres Leben als in Spanien. Er glaubte das seiner Stellung schuldig zu sein, denn er hielt sich nach seiner Gesandtschaft für einen sehr bedeutenden Staatsmann und würdig, neben Moreau die Stelle des Ersten Konsul einzunehmen, wenn dieser stürbe oder abdanke. Das Schloß Plessis und auch sein Haus in Paris war ihm bald nicht mehr gut genug. Er mietete sich das prächtige Palais des Grafen von Brienne, in der Rue Saint-Dominique, und ließ es mit einem Glanze herrichten, der alles übertraf, was Frankreichs Schlösser bis dahin gesehen hatten. Später, im Jahre 1802, kaufte er es für 300.000 Franken. Die Einrichtung hatte ihn 130.000 Franken gekostet! Aber als er Eigentümer des Schlosses war, sagte ihm dessen Bauart nicht mehr zu. Er ließ es vollkommen umbauen. Noch immer war es nicht nach seinem Geschmack. Von neuem wurde wieder alles zerstört und nach neuen Plänen aufgerichtet. Lucien verausgabte allein für diesen Bau eine Million! Seine Gemäldegalerie barg die berühmtesten Meisterwerke, ebenso seine Skulpturensammlung. Eine Statue für 20.000 Franken war bei ihm keine Seltenheit.
Der Erste Konsul billigte weder seines Bruders Prachtaufwand noch dessen Handlungsweise in Spanien, noch die dort abgeschlossenen Verträge. Vielfache Auseinandersetzungen wegen Louisianas, das Napoleon ohne Zustimmung der Kammern an Amerika verkaufen wollte, bildeten geraume Zeit den Grund zu Streitigkeiten zwischen Lucien, Joseph und dem Ersten Konsul. Napoleon scheute sich jedoch, einen öffentlichen Skandal heraufzubeschwören, der den ehemaligen Gesandten ganz und gar vernichtet haben würde.
Bei derartigen Familienszenen fehlte es natürlich mitunter nicht an komischen Wirkungen. So geschah es eines Tages, als Napoleon ein Bad nahm, daß Joseph und Lucien mit ihm wiederum von der oben erwähnten Angelegenheit sprachen. Joseph drohte dem Ersten Konsul mit dem Widerspruch der Kammern und machte nebenbei eine bissige Bemerkung wegen der nach Sinamary verbannten Republikaner. Da schnellte Napoleon, wie von der Tarantel gestochen, aus seiner Badewanne empor und schrie: »Sie sind unverschämt! ... Ich sollte Sie ...« Im selben Augenblick aber schien er sich bewußt zu werden, daß er nackend und vom Wasser triefend gerade keine imponierende Erscheinung darbot. Er tauchte daher plötzlich sehr energisch wieder ins Wasser, so daß es seine nassen Strahlen weithin nach allen Seiten verspritzte. Joseph erhielt diese unverhoffte Dusche über das ganze Gesicht, zum großen Jubel Luciens, aber auch zum ungeheuren Schrecken des anwesenden Dieners, den eine Ohnmacht befiel. An diesem Tage nannte Napoleon seinen Bruder Lucien seit dem 18. Brumaire zum ersten Male wieder »Du«, als er ihn bat, in seinem Arbeitszimmer auf ihn zu warten.
So heftig der Erste Konsul war, so rasch ließ er sich besänftigen. Er maß derartigen Auseinandersetzungen unter Brüdern wenig Wert bei. In seinem Innern sagte er sich doch immer, daß nur Lucien ihm geistig gleichbedeutend wäre und nur dieser seine Interessen in einer Versammlung wahren könne, zumal er sehr beredt war. Und so ernannte er seinen Bruder im Frühjahr 1802 zum Präsidenten der inneren Sektionen des Tribunats und zum Senator. Als solcher erhielt Lucien die Senatorei Popelsdorf bei Trier mit einem Einkommen von 65.000 Franken.
Doch Lucien war nicht zufrieden. Obwohl er fortwährend behauptete, kein Amt mehr annehmen zu wollen, lechzte er nach den höchsten Ehren. Mehr als ein anderer wünschte er das Konsulat auf Lebenszeit, denn er sah sich bereits als Nachfolger Napoleons. Mehr als ein anderer fühlte er sich durch die geringste Formalität zurückgesetzt. An der Tafel seines Bruders verlangte er den ersten Platz und beschwerte sich, daß man ihn unter die Adjutanten setzte. »Die Brüder des Konsuls müssen die ersten Plätze nach ihm einnehmen«, meinte er. Viel Ärger bereitete ihm auch der Umstand, daß er nicht wie die andern Geschwister eine Rente aus der »Grande cassette« bezog. Wahrscheinlich aber hielt das der Erste Konsul für unnötig, da Lucien ein so großes Vermögen aus Spanien mitgebracht hatte.
Den endgültigen Bruch zwischen den beiden Brüdern sollte eine private Angelegenheit herbeiführen.
Im Frühjahr 1802 hatte Lucien bei seinem Freunde de Laborde in Méréville die wunderschöne, vierundzwanzigjährige Alexandrine Jouberthou (nicht Jouberthon) kennen gelernt. Sie war die Gattin des Pariser Wechselagenten Francois Hippolythe Jouberthou, der sich Geschäfte halber zu jener Zeit in Santo Domingo aufhielt. Da seine Frau nie eine Nachricht von ihm bekommen hatte, hielt sie sich ihren Pflichten ihm gegenüber für entbunden, obwohl sie eine Tochter, Anne-Hippolyte-Alexandrine, von ihm hatte. Als Frau Jouberthou die Bekanntschaft Luciens machte, dachte sie nicht mehr daran, daß sie die rechtmäßige Gattin eines andern war. Der herrliche Körper, das schöne, wenn auch etwas kalte Gesicht, die wundervollen Augen und das üppige Haar Alexandrines nahmen Lucien gefangen. Es dauerte nicht lange, so war sie seine Geliebte und beherrschte ihn vollkommen. Sie gehörte übrigens einer Rechtsgelehrtenfamilie namens de Bleschamp an, war also nicht von niedrigem Herkommen.
Bereits am 24. Mai des nächsten Jahres (1803) beglückte sie Lucien mit einem Knaben, dem späteren Ornithologen Charles de Canino. Am selben Tage ließ sich Lucien am Bett der jungen Wöchnerin durch den Priester Périer mit ihr trauen, so daß das Kind, das Alexandrine ihm geboren hatte, ein legitimes war. Sein Bruder Napoleon wußte von alledem nichts. Alexandrine aber machte sich dabei der Bigamie schuldig, denn sie war nicht sicher, ob ihr erster Gatte noch am Leben war oder nicht. Auch darum war Lucien nicht verlegen. Man verschaffte sich einfach später einen Sterbeschein, nach welchem Herr Jouberthou bereits am 15. Mai 1802 gestorben war!
Napoleon, der wohl wußte, daß Frau Jouberthou Luciens Geliebte war, ahnte nicht, daß sie seines Bruders Frau geworden war. Er hatte ganz andere Heiratsabsichten mit ihm. Mehrmals hatte er in dieser Hinsicht schon bei ihm angeklopft, immer aber vergebens. Nun, Napoleon konnte warten. Wenn der Rausch für Alexandrine bei Lucien vorüber, wenn er sie, wie auch andere Frauen, satt haben würde, dann wollte Napoleon handeln.
Inzwischen aber hatte Lucien seine durch die Kirche befestigte Ehe auch durch das Gesetz anerkennen lassen. Am 26. Oktober 1803 hatte er sich in Chamant mit Alexandrine standesamtlich trauen und gleichzeitig seinen Sohn legitimieren lassen. Als Napoleon später diesen Schritt seines Bruders erfuhr, war sein Zorn groß. Er verbot allen Familienmitgliedern, Frau Jouberthou, wie er sie beständig nannte, zu empfangen. Aber weder Joseph noch Letizia kehrten sich an dieses Verbot. Lucien selbst ließ der Erste Konsul sagen, daß er entweder seine Ehe auflösen oder Frankreich verlassen müsse, denn er werde diese Verbindung, die er als »Mésalliance« betrachte, niemals anerkennen.
Jedenfalls haben wir es hier mit einer der Handlungen zu tun, die Napoleon von der Politik eingegeben wurden. Denn daß Frau Jouberthou nicht ebenbürtig sei, konnte er ernstlich nicht geltend machen. Zwei seiner Schwestern hatten ebenfalls Männer von plebejischer Abkunft geheiratet, über die Vergangenheit der Dame die Nase zu rümpfen, wäre von Seiten Napoleons lächerlich gewesen, da er selbst in dieser Beziehung keine Bedenken gehabt hatte, als er Frau von Beauharnais zur Frau nahm. Und seine Schwestern befleißigten sich auch gerade keines sittlichen Lebenswandels. Auch daß Lucien ihn nicht vorher um Erlaubnis gefragt hatte, wäre kein wichtiger, ausschlaggebender Grund gewesen. Die Wahrheit lag tiefer.
Der Gedanke einer erblichen Staatswürde beschäftigte alle Gemüter. Im Prinzip dachte man bereits an eine erbliche Monarchie! Da Napoleon nun keinen direkten Erben besaß, wären die Erbrechte, solange Joseph keine männlichen Nachkommen hatte, auf den Sohn Luciens übergegangen. Wie aber wäre das möglich gewesen bei einem vor der Ehe geborenen Kinde? Denn für Napoleon war dies der Fall. Für ihn galt jederzeit der Grundsatz, die Ehre der Macht zu wahren, die man ihm anvertraut hatte. Außerdem gedachte er Lucien mit der jungen, aber häßlichen und unangenehmen Witwe des Königs Louis I. von Etrurien, Marie Luise, zu verheiraten. Sie war die Tochter Karls IV. von Spanien und hatte ihr Königreich dem Ersten Konsul zu verdanken, der es durch den Vertrag vom 21. März 1801 begründete. Später, im Jahre 1807, hegte Napoleon sogar die Absicht, sobald Toskana mit Frankreich vereinigt wäre, seinen Bruder Lucien auf den Thron von Spanien zu setzen. Er glaubte bei ihm auf keinen Widerstand zu stoßen und hatte durch Talleyrand bereits im Jahre 1803 Unterhandlungen am etrurischen Hofe anknüpfen lassen. Auch Josephine hatte für ihre Tochter Hortense Heiratsabsichten auf Lucien.
Er bezeigte jedoch wenig Lust, sich in seinem Privatleben in seinen persönlichsten Angelegenheiten beeinflussen zu lassen. Dazu hätte sich sein unabhängiger Charakter niemals verstanden. Und je mehr Napoleon drängte, desto heftiger widersprach er. Er wählte sich seine Frau nach seinem Herzen. Sie war schön, gut und ihm wahrhaft zugetan. Er fand bei ihr das Glück, das er suchte: häusliche Tugenden, Zärtlichkeit und Zuneigung, nach denen er trotz aller Leichtlebigkeit lechzte. Denn Lucien war ganz Korse und in dieser Hinsicht seinem Bruder Napoleon sehr ähnlich. Er liebte, wie dieser, ein geordnetes, bürgerliches, stilles Familienleben.
Trotz aller Versuche Napoleons blieb Lucien seiner Alexandrine treu und teilte mit ihr und seinen Kindern die Verbannung, die ihn erwartete. Denn weder die versöhnenden Schritte der Mutter noch die weiteren Bemühungen des Ersten Konsuls, der bald Murat, bald Cambacérès als Unterhändler zu seinem Bruder schickte, hatten auf ihn Einfluß. Nicht einmal Joseph, den Lucien sehr schätzte, vermochte etwas zu erreichen. Der junge Ehemann zog sich nach all den Aufregungen mit Frau und Kindern für einige Zeit aufs Land zurück. In der Normandie hatte er für Alexandrine das Schloß Thibouville gemietet, das sie einige Wochen bewohnten. Dann begab er sich mit seiner Gattin unter dem angenommenen Namen Boyer nach Italien und hielt sich in Florenz, Rom und Neapel auf. Jeder Schritt, den die Angehörigen zur Versöhnung mit seinem Bruder anbahnten, war ihm unangenehm. »Tun Sie nichts«, schrieb er an Joseph, »um mich während meiner Abwesenheit mit dem Ersten Konsul zu versöhnen. Ich reise mit Haß im Herzen ab.«
Das Kaiserreich war im Begriff sich aufzutun. Lucien stand, wie anzunehmen war, auf Seite der Gegner. Ein Senatsbeschluß erklärte später alle Verbindungen derjenigen Mitglieder der Familie des Kaisers für nichtig, die ohne Napoleons Zustimmung geschlossen worden waren. Und das konnte nur Lucien und Jérôme angehen. Sie wurden ihrer Rechte auf den Thron beraubt. Es blieb Lucien nur die Scheidung von Alexandrine oder die Verbannung. Er wählte die letztere.
Die Brüder und Schwestern Napoleons scharten sich um den glänzenden Thron, den Genie und Kraft errichtet hatten, Lucien aber zog mit seiner Familie nach Parma. Später siedelte er endgültig nach Rom über, wo sich Fesch als Gesandter am päpstlichen Hofe befand. Es ist anzunehmen, daß Lucien auf ausdrücklichen Befehl Napoleons Frankreich verlassen mußte, obwohl er behauptet, freiwillig in die Verbannung gegangen zu sein. Jedenfalls fand zwischen beiden Brüdern noch eine letzte stürmische Unterredung in Saint-Cloud statt, die Lucien nicht erwähnt. Nach dieser trat der Erste Konsul gegen Mitternacht vollkommen niedergeschlagen in den Salon Josephines und sagte, indem er sich in einen Lehnstuhl warf: »Es ist geschehen! Ich habe soeben mit Lucien gebrochen und ihn davongejagt!«
Immerhin ist es fraglich, ob nur die Heirat Luciens den Grund zu seiner Ungnade gegeben hat. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Napoleon in seinem Bruder einen Mann sah, der ihm schaden konnte, wenn er ihn nicht in der nötigen Entfernung hielt. Entweder mußte er aus ihm einen abhängigen Vasallen machen, und dazu war Lucien nicht zu bewegen, oder er mußte ihn aus seinem Umkreis verbannen und dadurch unschädlich machen. Versuchte es Napoleon dennoch, sich immer wieder seinem Bruder zu nähern, so geschah es, weil Lucien ein Bonaparte war. Napoleon brauchte Fürsten von seinem Blute, denn nur seine Dynastie sollte herrschen!
Die letzte Nacht, die Lucien und seine Familie in Paris verbrachten, ist nach seinem eigenen Bericht reich an theatralischen Wirkungen. Ergriffen spricht er von einem Abend voll Schmerz, Bedauern, Sichfügen, Freundschaft, grausamer Trennung und verhängnisvoller Entfernung aus einem Lande, das er so sehr geliebt, das er noch liebt und bis in den Tod lieben wird! »Es war am Tage vor Ostern des Jahres 1804. Vier Reisewagen standen fix und fertig unten im Hofe meines Hauses in der Rue Saint-Dominique. Alle Tore waren fest verschlossen. Den Dienstboten war es streng untersagt, jemand einzulassen, mit Ausnahme eines jungen Menschen, der das Vertrauen meines Bruders Joseph genoß. Der junge Mann war ohne Frage der Sekretär Méneval. Er sollte die Botschaft vom Ersten Konsul bringen, daß Lucien bleiben dürfe. Er erwartete ihn, ohne jedoch überzeugt zu sein, daß er käme. Und dafür hatte er seine Gründe.
Die Kaminuhr zeigte die zehnte Abendstunde. Mein geliebter Bruder Joseph, dessen schönes, sanftes Gesicht tiefe Traurigkeit ausdrückte, ging mit mir im Bildersaal auf und ab ... Meine Mutter und meine Frau saßen auf einem kleinen Divan am Kamin. Da schlug es elf Uhr. Joseph sagte zu mir:
›Lucien, laß mich noch eine Stunde hoffen.‹
In diesem Augenblick trat meine Mutter, meine edle Mutter zu uns. Mit einer krampfartigen Bewegung erfaßte sie die Hand Josephs und sagte mit tränenerstickter Stimme:
›Meine Söhne, es ist Zeit; es muß geschieden sein.‹
›Nein, Mutter, noch nicht‹, erwiderte Joseph. ›Lucien erlaubt mir, noch bis Mitternacht zu warten. Noch hoffe ich, daß ›Er‹ ihn rufen läßt.‹
›Nein, mein Sohn, Napoleon wird deinen Bruder nicht rufen lassen. Er will ihn nicht um sich haben.‹
›Warum sollte er ihn nicht haben wollen, Mutter? Wenn Lucien ihn nicht mehr erzürnt? Unser Bruder (Napoleon) ist kein schlechter Mensch ... Der Konsul geht nicht vor Mitternacht zu Bett. Wenn ich nun zu ihm ginge ... Wenn ich ihn bäte, mir für Lucien einen Brief zu geben, der ihm sagte ...‹
›Was?‹ unterbrach ich ihn lebhaft.
›Nun, daß er nicht abreisen solle.‹
›Dein gutes Herz macht dich blind, lieber Bruder. Er will, daß ich abreise, und so muß es geschehen! Möchtest du, daß es mir wie dem Herzog von ... ginge?‹
Hier hielt ich inne.
›Soll ich den Konsul bitten, Mutter?‹ fragte Joseph dreimal.
Da erhob sich meine Mutter von ihrem Sitz und sagte in einem unbeschreiblichen Ton von Schmerz und gekränktem Mutterstolze:
›Ja, mein Sohn, ja. Du bist sein älterer Bruder. Geh! Bitte ihn, daß Lucien bleiben darf. Er wird dir ebenso zornig antworten, wie er mir und sogar seiner Josephine geantwortet hat. Er wird dir sagen, daß diejenigen, die Luciens Abreise beklagen, ihn ja begleiten können.‹
Und immer aufgeregter fuhr sie fort:
›Ich werde auch abreisen! Ich werde abreisen! Nicht mir dir, Lucien, sondern nach dir. Auf diese Weise erspare ich ihm die Unannehmlichkeiten, die meine Hartnäckigkeit ihm verursachen wird.‹
Nach diesem Ausruf war meine Mutter schluchzend in die Arme meiner vortrefflichen Frau, meiner Alexandrine, gesunken ...
Joseph gab jedoch die Hoffnung nicht auf, daß der Bote noch bis Mitternacht einträfe ... Die Stunde nahte. Joseph stand Folterqualen aus. Er ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. Plötzlich sagte er zu mir:
›Lucien, wenn du mich liebtest, so würdest du es mir beweisen.‹
›Mein lieber Joseph, du weißt, daß ich dich liebe. Ich empfinde eine fast kindliche Liebe zu dir. Du hast fast Vaterstelle an mir vertreten. Als ich neun Jahre alt war, warst du achtzehn. Die Brüder waren jedoch nur sieben und ein halbes Jahr im Alter unterschieden. Sag', was soll ich tun?‹
›Wenn du nun selbst, ehe er sich zur Ruhe begibt, zu ihm gingest und ihn um eine Unterweisung vor deiner Abreise bätest?‹
›Und dann? Was soll ich dann sagen, mein Bruder?‹
›Nun, du sagst ihm, es wäre dir sehr unangenehm abzureisen, ohne mit ihm versöhnt zu sein und dann ...‹
Da nahm ich die Hand meiner Mutter, küßte sie inbrünstig und fragte: ›Soll ich ihm das sagen, meine gute Mutter?‹
›Nein, mein Sohn, du sollst es nicht. Es wäre unnütz. Ich weiß wohl, was er zu mir in seinem Zorn gesagt hat.‹
›Wenn es nur das ist, ich fürchte mich nicht vor seinem Zorn. Ich weiß, man tut nicht immer das, was man in einem Augenblick der Wut ausspricht.‹
›Allerdings‹, erwiderte meine Mutter; ›aber ihr seid beide jähzornig. Napoleon ist mächtig ... mächtiger als du, mein armer Lucien. Ich würde es wahrhaftig lieber sehen, daß du abreisest, ohne ihn noch einmal gesprochen zu haben.‹
›Aber schließlich ist es ja noch nicht Mitternacht‹, meinte Joseph; ›wenn er dich nun doch rufen ließe? Würdest du da zu ihm gehen, Lucien? Ach! wenn er ihn doch rufen ließe!‹
So plauderten wir noch ein wenig. Bald schlug es Mitternacht. Da nahm ich meine Frau bei der Hand. Wir fielen beide vor meiner Mutter auf die Knie ... ›Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen! In Rom!‹ sagte sie und entfernte sich eilig.« –
Zuerst begab Lucien sich nach Parma, hielt sich einige Zeit im Schlosse von Bassano auf, um sich dann in Rom niederzulassen. Onkel Fesch hatte beim Papst Fürsprache für den Neffen eingelegt, und so nahm Pius VII. großes Interesse an dem Ausgestoßenen. Lucien war indes nicht ganz hoffnungslos in seiner Verbannung. Napoleon war geneigt, auf seiner Krönungsreise als König von Italien mit seinem Bruder in Mailand zusammenzutreffen. Er wünschte Luciens Angelegenheit auf »geziemende Weise« zu regeln, wollte jedoch von seinem Willen, des Bruders Heirat als nichtig zu erklären, nicht abweichen. Da nun Lucien ebenso hartnäckig auf seinem Rechte bestand, zerschlug sich diese Zusammenkunft, zum unendlichen Bedauern Frau Letizias. Bei dieser Gelegenheit schrieb Lucien an den Kaiser: »Ich achte den Schleier, der die Handlungen des Herrschers bedeckt. Da aber einerseits die Staatspolitik, anderseits meine Ehre sich miteinander verbünden, um mich von allen öffentlichen Ämtern fernzuhalten, so reiße ich aus meinem Herzen die letzte Hoffnung und widme mich vollkommen dem Privatleben, das mir das Schicksal bestimmt hat.«
Über dieses »Mißgeschick des Schicksals« setzte er sich übrigens leicht genug hinweg. Er führte in Frascati bei Rom ein nichts weniger als stilles Leben. Die galanten Feste, die er in seinen verschiedenen Schlössern feierte, erregten sogar in dem leichtlebigen Paris Aufsehen und riefen bisweilen den Zorn und den Tadel des Kaisers hervor. Mit der Zeit besaß Lucien nicht weniger als zwölf Schlösser: drei in Rom, eins in Bassano, eins in Canino, die Villa Tusculum und die Villa Ruffinella in Frascati, die Villa Mécène in Tivoli, eine Villa in Rocca-Priora, eine in Dragoncella, eine in Bagnaja und eine in Croce del Baccio.
Übrigens zeigte Lucien sich bei jeder Gelegenheit als Feind seines Bruders und stand im Einvernehmen mit dessen Gegnern. So sagte er mit wahrer Genugtuung im Kreise seiner Freunde den Fall Napoleons voraus. Als er eines Tages in das Atelier des Bildhauers Canova kam, der gerade an der Statue des Kaisers arbeitete, bemerkte Lucien höhnisch, wie sich ein so großer Künstler so weit herablassen könne, einen Mann als Helden zu verherrlichen, der der Vernichter seiner (Canovas) Landsleute gewesen wäre. Mit dem Kardinal Consalvi, dem Staatssekretär des Papstes, stand Lucien auf vertrautem Fuße. Die Vorliebe für die Schätze des Altertums hatte beide zusammengeführt. Diesem Mann der Kirche gegenüber verheimlichte er nicht, wie wenig er mit der Politik seines Bruders zufrieden war. Er schadete dem Kaiser am päpstlichen Hofe ungemein.
Die Gegenwart Luciens in den römischen Staaten mußte infolgedessen Napoleon ziemlich lästig sein. Es mußte daher ein Vorwand gefunden werden, ihn von dort zu entfernen. Joseph, der König von Neapel, legte sich ins Mittel. Er befahl seinem Bruder, sich wegen der Nähe Neapels nicht in Rom, sondern in Florenz niederzulassen. Natürlich war es dem König strengstens untersagt, Lucien in seinen eigenen Staaten aufzunehmen, wie es auch den übrigen Familienmitgliedern verboten war, mit Lucien persönlich zu verkehren. Elisa überschritt dieses Verbot mindestens zweimal. Sie besuchte den von ihr sehr geliebten Bruder von Lucca aus in Florenz in aller Heimlichkeit. Damals glaubte sie ihn zur Versöhnung überreden zu können, denn sie, die Ehrgeizige, litt fast mehr als Lucien selbst darunter, daß einer ihrer Brüder nicht König war.
Aber Lucien ergab sich nicht. Und dennoch wollte er nicht auf seine Erbrechte verzichten. Er schlug um sich wie ein Verzweifelter, wie ein Ertrinkender, der den schwachen Halm ergreift und den starken Ast nicht bemerkt. Es wäre jedenfalls zum vollständigen Entfremden der beiden Brüder gekommen, wenn nicht die übrigen Familienmitglieder immer wieder von neuem Versöhnungsversuche gemacht hätten. Und auch jetzt war es wieder Elisa, die glaubte, als Lieblingsschwester einen gewissen Einfluß auf Lucien zu haben. Am 20. Juni 1807 versucht sie ihn in einem Briefe zu gewissen Zugeständnissen zu veranlassen. Dieser Brief ist ein echter korsischer Sippenbrief. Sie schreibt: »Erlaube mir um der Freundschaft willen, die ich für Dich empfinde, einige Beobachtungen ... Man macht Dir Vorschläge, die Du vor einem Jahre annehmbar gefunden und sofort zum Wohle Deiner Frau und Deiner Familie angenommen hättest. Heute schlägst Du sie aus. Siehst Du denn nicht, lieber Freund, daß das einzige Mittel, der Adoption Hindernisse entgegenzustellen, wäre, wenn ›seine‹ Familie eine Familie bildete, über die er verfügen kann? Bleibst Du bei Napoleon, oder erhältst Du von ihm einen Thron, so wirst Du ihm nützlich sein. Er wird Deine Töchter verheiraten und, soweit er in seiner Familie die Möglichkeit findet, seine politischen Pläne zu verwirklichen, wird er keinen Fremden wählen. Man muß mit dem Herrn der Welt nicht wie mit seinesgleichen umgehen! Die Natur schuf uns zu Kindern eines und desselben Vaters, aber ›seine‹ Wunder machten uns zu seinen Untertanen! Obwohl wir Fürsten sind, haben wir doch alles von ihm. Er hat den edlen Stolz, dies zu sagen, und es scheint mir, wir sollten es uns zum Ruhme anrechnen, durch unsere Regierungsweise zu rechtfertigen, daß wir seiner und unserer Familie würdig sind.
Überlege Dir daher noch einmal die Vorschläge, die man Dir macht. Mama und wir alle würden so glücklich sein, wenn wir vereint wären und eine einzige Familie bildeten. Lieber Lucien, tue es für uns, die wir Dich lieben! Tue es für das Volk, über das mein Bruder Dich herrschen lassen will, und dessen Glück Du sein wirst!« Und am 25. August desselben Jahres kam sie nochmals darauf zu sprechen und schrieb: »Jérôme ist verheiratet und König eines schönen Landes. Wann werde ich das Vergnügen haben und auch Dich beglückwünschen können? Wir wünschen es alle hier und hoffen, daß Dich die Ankunft Seiner Majestät in Italien aus der Bedeutungslosigkeit hervorziehe, in der du Dir gefällst, die jedoch für Deine Familie so verhängnisvoll ist.«
Elisa war nicht die einzige. Ihren Bitten schlossen sich Letizia, Pauline, Joseph, Jérôme an; ja sogar der Kardinal Fesch und Talleyrand waren für Luciens Scheidung. Jérôme, der sich im allgemeinen wenig um die Familienstreitigkeiten kümmerte, weil er mit seinem eigenen Ich genug zu tun hatte, schrieb ihm am 26. August 1807: »Wie sehr beklage ich es, Sie in einer falschen Lage unserer Familie und Europa gegenüber zu sehen. Denn dieses beobachtet unser aller Verhalten, und es muß sich nur wundern, daß ein Bonaparte Ihres Rufes der Welt und seiner Familie von keinem Nutzen ist. Denn, mein lieber Lucien, unsere Feinde freuen sich über Ihre Entfernung, weil sie wissen, daß Sie die größte und stärkste Stütze des Thrones sind! Ach, mein lieber Bruder, wie gerne gäbe ich die Hälfte meines Lebens und alle meine Staaten her, um Sie mit dem Kaiser vereint zu sehen; er liebt seine Familie, aber seine Politik ist unerschütterlich!«
Lucien aber blieb bei seinem Entschluß, sich nie von Alexandrine zu trennen! Auch beim Kaiser wurden die Brüder und Schwestern vorstellig, um ihn zum Nachgeben zu bewegen. Umsonst. Alles was Napoleon erwiderte, war: »Was ihr mir sagt, kann an meinem Entschluß nichts ändern. Lucien zieht eine entehrte Frau, die ihm vor der Ehe ein Kind geboren hat, die seine Geliebte war, als ihr Gatte in Santo Domingo weilte, der Ehre und dem Namen seiner Familie vor. Ich kann über eine so große Verirrung eines Mannes, den die Natur mit Fähigkeiten begabt, den aber ein beispielloser Egoismus die schönste Laufbahn verdorben und weit von dem Wege der Pflicht und Ehre entfernt hat, nur seufzen!«
Dessen ungeachtet versuchte Napoleon alles, um Lucien zu einer Entscheidung zu bringen. Er war sogar bereit, Zugeständnisse zu machen, und wandte Güte und Nachsicht auf. Es half alles nichts. Lucien blieb fest, um so fester, da er vom Papst wiederholt Beweise von Wohlwollen erhalten hatte. Der größte Triumph für ihn war, daß Pius VII. bei seinem Töchterchen Jeanne Patenstelle vertreten und dem Kinde den Namen seiner Mutter gegeben hatte. Dadurch war Alexandrines Ehre glänzend hergestellt. Wenn der Heilige Vater sie als unbescholten und ebenbürtig ansah, dann konnte es erst recht ein Napoleon, auch wenn er Kaiser der Franzosen war.
Napoleon aber wollte nun endlich wissen, woran er war: ob er ihm in seinem Staate einen Platz zuweisen und seine Fähigkeiten nutzbringend verwenden könnte oder nicht. Endlich war man so weit, daß eine Zusammenkunft der feindlichen Brüder festgesetzt wurde. Sie kam in der Nacht vom 12. zum 13. Dezember 1807 in Mantua zustande, als Napoleon nach dem Friedensschluß von Tilsit Italien besuchte.
In dieser Unterredung, oder besser in diesem Wortkampfe, entwickelte der Kaiser bald ein so einschmeichelndes, liebenswürdiges Wesen, daß Lucien wirklich Augenblicke lang glaubte, er habe gewonnenes Spiel. Bald aber ließ Napoleon wieder den zornigen Imperator, den Machthaber durchblicken, der alles vermochte, der den Bruder mit einem einzigen Wort zerschmettern, zermalmen konnte, wenn er wollte! Und dann wieder lockte er Lucien verheißend mit goldenen Versprechungen. Alles stehe ihm zur Verfügung: ein Königreich. – Welches? – Neapel? Italien? Spanien? Er brauche nur zu wählen, nur zuzufassen! Wenn er in die Scheidung willige, soll seine Gattin Herzogin von Parma, seine Tochter Charlotte Königin werden! Die andern Töchter, sowohl die aus der ersten wie die aus der zweiten Ehe, verspricht er an Kindesstatt anzunehmen. Und dabei leuchten Napoleons Augen vor Genugtuung, vor innerer Erregung. Seine Stimme wird immer lebhafter, immer leidenschaftlicher. Sein ganzes Gesicht heischt Versöhnung. In diesem Augenblick ist er wahrhaft der Versucher!
Aber alle seine Verführungskünste zerschellen an der unendlichen Gewalt, die eine geliebte Frau, die sechs zarte Kinder auf Lucien ausübten. Alexandrine gebar Lucien im ganzen zehn Kinder, von denen acht am Leben blieben. Er blieb stark. Nachdem die Brüder sechs lange Stunden miteinander unterhandelt hatten, trennten sie sich, nicht gerade verbittert, aber auch nicht versöhnt.
Napoleon gab noch nicht alles verloren. Er war überzeugt, daß, wenn er länger mit seinem Bruder zusammen gewesen wäre, er ihn zu allem bestimmt haben würde. Deshalb lud er Lucien beim Abschied ein, ihm während seines dreitägigen Aufenthaltes in Mantua Gesellschaft zu leisten. Und um ihn ganz in seiner Nähe zu haben, schlug er ihm sogar vor, die Nacht in seinem Hause zu verbringen. Er werde ihm neben seinem Schlafzimmer ein Bett aufschlagen lassen. Lucien mißtraute. Er fürchtete dem Einflüsse Napoleons schließlich doch zu unterliegen und schützte die Krankheit eines seiner Kinder vor, die ihn nach Rom zurückrufe. Und so reiste er ab, nachdem er allerdings Napoleon versprochen hatte, seine Tochter Charlotte nach Paris zu schicken.
Schon längst hatte Letizia den Gedanken gefaßt, dieses Kind dem Kaiserhof näher zu bringen. Sie hoffte dadurch die Versöhnung herbeizuführen und hegte vielleicht auch den geheimen Wunsch, ihre Enkelin zur Kaiserin von Frankreich zu machen. Daß jedoch Napoleon selbst diese Absicht gehabt hätte, ist unwahrscheinlich. Er, der seinem Bruder Jérôme und seinem Stiefsohn Eugen Prinzessinnen von Geblüt gab, sollte sich mit Luciens Tochter begnügen? Napoleons Ehrgeiz war größer in dieser Beziehung.
Die Mutter glaubte jedoch den Augenblick gekommen, Lolotte in Szene treten zu lassen, zumal der Kaiser selbst gewünscht hatte, das Kind in Paris an seinem Hofe zu sehen. Es vergingen aber noch ein paar Jahre, ehe Charlotte eintraf. Lucien hatte es nicht eilig, seinem Bruder die Tochter zu schicken. Er hatte gehört, daß man sie einst mit dem Prinzen von Asturien, dem späteren König Ferdinand VII. von Spanien, vermählen wollte, und diese Heirat war ihm unangenehm. Erst drei Jahre später, im Februar 1810, erschien sie als Vierzehnjährige in Begleitung ihrer Erzieherin, Frau Gasson, und des Sekretärs Campi in Paris. Natürlich wohnte sie bei der Großmutter.
Gleichzeitig brachte Campi dem Kaiser einen Brief Alexandrines, in dem sie ihm mitteilte, daß sie nicht um alle Herzogtümer der Welt sich von Lucien trennen wollte. Und Lucien schrieb seinem Bruder, er werde nie in die Scheidung von seiner Gattin willigen, sondern nach Amerika gehen. »Nun gut«, sagte der Kaiser zu Campi. »So wären unsere Angelegenheiten erledigt ... Lucien sieht nicht, daß er sich in einer falschen Lage befindet. Er sieht nicht einmal, daß alle seine Kinder, wenn seine Frau stirbt, ehe er von ihr geschieden ist, Bastarde sind. Er zieht Amerika vor. Mag er gehen! Anstatt ihn jedoch zu beschützen, werde ich ihn verfluchen! Er wird nicht einmal meinen Gesandten in den Vereinigten Staaten sprechen können. Ich werde ihn verurteilen lassen. In Mantua hat er gesagt, er liebe die Franzosen nicht. Mehr bedarf es im Senate nicht, um ihn zur Deportation zu verdammen, übrigens wird Lucien den Engländern in die Hände fallen!«
Lolottes Anwesenheit in den Tuilerien erreichte gerade das Gegenteil von dem, was man erhoffte. Anstatt das gute Einvernehmen zwischen ihrem Onkel und ihrem Vater wieder herzustellen, säte sie nur Unfrieden. Sie war ein etwas naseweiser Backfisch, schrieb an ihren Vater spöttische Briefe über den Hof und verschonte in ihrer unvorsichtigen Kritik weder den Kaiser noch die sparsame Großmutter, die früh zu Bett ging, um das Licht zu sparen. Napoleon erhielt davon Kenntnis und, aufgebracht wie er gegen Lucien war, jagte er dessen Tochter aus seinem Hause. Sie wurde also nicht, wie Lucien erzählt, von ihm selbst vom Hofe weggenommen.
Von neuem war der Brand zwischen den Brüdern entfacht. Lucien fühlte sich tief in seiner Vaterehre verletzt. Sein Ärger war um so größer, als auch seine Mutter schließlich im März desselben Jahres (1810) an Alexandrine einen flehentlichen Brief geschrieben hatte, sie solle sich zu ihrem und der Familie Wohle von Lucien scheiden lassen.
So entschloß er sich, mit den Seinen Europa zu verlassen und in Amerika eine Zuflucht zu suchen. Mußte er nicht gewärtig sein, vom Kaiser als Aufrührer verhaftet zu werden, wie ihm bereits gedroht worden war? Es kränkte ihn auch, daß seine ganze Familie jetzt auf seiten des Kaisera stand. Man hatte endlich eingesehen, wie unnütz ein Widerstand bei der Allmacht Napoleons war. Noch kurz vor seiner Abreise schrieb Lucien an die Mutter einen Brief, in welchem er sie und die ganze Familie anklagt, sein Unglück verschuldet zu haben.
»Sie zu verlassen«, schrieb er, »bereitet mir den größten Schmerz. Aber es muß sein, da der Kaiser gegen mich alle Gerechtigkeit außer acht läßt, und da Sie selbst sich mit den andern auf seine Seite stellen. Denn auch Sie haben sich nicht mehr gegen mich der Sprache bedient, die Ehre und Religion vorschreiben. Wenn ich fort bin, werden Sie mich vielleicht mehr schätzen. Bricht aber jemals die Wahrheit durch, so werden Sie einen Sohn haben, der stets bereit ist, nach Europa zu seiner Familie zurückzukehren, obgleich sie ungerecht und undankbar gegen ihn gewesen ist ... Ja, undankbar und ungerecht! Denn auch ich habe zu Eurer aller Erhebung beigetragen! Am 18. Brumaire verdankten Joseph, Fesch, Louis und Jérôme manches ihrem Bruder Lucien! Ich erwähne dies nur, weil man es allzu leicht vergißt, und weil es unerträglich ist, Leute dermaßen von der Größe des Kaisers geblendet zu sehen, daß sie mich als verlorenen Sohn behandeln wollen. Meine Familie sollte den Mut haben, dem Kaiser die Wahrheit zu sagen. Sie besonders, Sie hätten ihm sagen müssen, daß ich mich ganz rechtlicherweise verheiratet habe, noch ehe er Kaiser war. Ferner, daß es lächerlich und unanständig sei, einen Staatsmann, einen Minister, einen Gesandten wie einen Lumpenkerl zu behandeln. Sie hätten ihm auch sagen müssen, daß man meiner zweiten Frau, ebenso wie der ersten, infolge ihrer guten Eigenschaften die Vergangenheit vergessen müsse ... Wenn die Familie ihre Pflicht getan und weniger Feigheit bewiesen hätte, würde ich mich mit meinem Bruder versöhnt haben. Aber man war immer so töricht, meine Ehe mit der Ehe Jérômes zu vergleichen. Und jetzt stellt man meine Scheidung mit der Ehetrennung des Kaisers auf eine Stufe!«
Noch andere Sorgen bedrückten ihn. Seine finanzielle Lage war um diese Zeit durchaus nicht so glänzend, als man gewöhnlich annimmt. Ein so fürstliches Leben, wie Lucien führte, mußte selbst die Börse des reichsten Mannes erschöpfen. Bereits im Jahre 1808 war ihm Jérôme, der selbst bis an den Hals in Schulden steckte, mit 200.000 Franken zu Hilfe gekommen. Außerdem hatte er ihm eine Rente von 10.000 Franken von der Magdeburger Propstei ausgesetzt. Seitdem aber war Lucien öfters gezwungen gewesen, Anleihen aufzunehmen.
Endlich entschied er sich, Italien zu verlassen, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Zu diesem Zwecke hatte er sich schon im Jahre 1808 englische Pässe verschafft, damit die britische Marine sich seiner Landung in den Vereinigten Staaten nicht widersetzen konnte. Aber erst am 7. August 1810 segelte Lucien auf dem amerikanischen Schiffe »Herkules«, das ihm sein Schwager Murat vermittelt hatte, ab. In seiner Regleitung befanden sich Alexandrine, seine sechs Kinder Lolotte, Lili, Charles, Letizia, Jeanne und der einige Monate alte Paul; ferner seine Stieftochter Anna, sein Neffe André Boyer, sein Sekretär Servières, der Doktor Defrance, der Almosenier Malvestito, der Hauslehrer Charpentier und der Maler Chatillon. Außerdem führte er 23 Leute von der Dienerschaft mit sich. Er reiste wie ein Fürst.
Er kam nicht weit. Bei Cagliari schon griffen ihn, wie Napoleon geweissagt hatte, die Engländer auf und brachten ihn als Gefangenen nach Plymouth. Anfangs ward ihm Ludlow in Wales zum Aufenthalt angewiesen, später ließ er sich in Worcester auf der Besitzung Thorngrowe nieder. Wie alle Brüder Napoleons war auch Lucien äußerst stolz und eingenommen von der Wichtigkeit seiner Person. Besonders aber maß er sich in England eine große Bedeutung als Dichter und Schriftsteller bei, weil er sein Epos »Charlemagne« dort beendete. Im großen und ganzen ging es ihm, abgesehen davon, daß sich sein Vermögen immer mehr verringerte, in Thorngrowe gut. Er selbst nannte seine Gefangenschaft mild und ehrenhaft. Die Künste, denen er sich seit vielen Jahren gewidmet hatte, füllten seine Zeit aus. Aber durch seine Flucht aus Italien hatte er sein Urteil gesprochen. Im September 1810, als der Kaiser noch nicht wußte, wo sich sein Bruder befand, ob in England oder in Amerika, erließ Napoleon einen Senatsbeschluß, der Lucien von der Liste der Senatoren strich. Das zog ihm den Verlust seines Einkommens als Senator sowie als Mitglied des Großen Rats der Ehrenlegion zu und schlug ebenfalls eine klaffende Wunde in sein Vermögen. Erst vier Wochen, nachdem Lucien in England gelandet war, erfuhr man in den Tuilerien, wo er sich aufhielt.
Als Napoleons Thron im Jahre 1814 zusammenstürzte, zeigte sich Lucien weniger edel als Louis. Er ergriff sofort die Gelegenheit und schrieb noch an demselben Tage, an dem der Vertrag von Fontainebleau unterzeichnet wurde, am 11. April, dem erst kürzlich aus der Gefangenschaft Napoleons freigelassenen Papst einen süßlichen, schmeichlerischen Brief, daß er ihm erlaube, nach Rom zurückzukehren. Die Bitte ward ihm gewährt. Am 27. Mai war er wieder in Rom. Pius VII. zeichnete ihn wiederum außerordentlich aus, empfing ihn noch am selben Abend und machte ihn später zum Fürsten von Canino. Es geschah wahrscheinlich aus Dankbarkeit für die Widmung des Gedichtes »Charlemagne«. Vergnügt rieb sich Lucien die Hände. »Meine Angelegenheiten regeln sich hier ausgezeichnet«, schrieb er am 19. Juni an seinen Sekretär Campi; »der Papst überschüttet mich mit kostbarer Güte. Ich werde den Titel eines römischen Fürsten und den Namen eines meiner Güter annehmen. Kurz, mir leuchten bessere Tage: die Eisenhand ist gebrochen!«
Noch nicht, denn noch einmal erhob sie sich zum Schlage! Napoleon kehrte von Elba zurück. Jetzt glaubte Lucien seine Zeit gekommen. Lange genug hatte er darunter gelitten, daß er seine großen Fähigkeiten nicht öffentlich hatte bewähren können. Es schien, als wenn eine Art Einvernehmen zwischen ihm und Napoleon zustande gekommen wäre, seitdem er mit dem verbannten Herrscher auf Elba wegen seines von den Mineralien der Insel gespeisten Hochofens in Canino einige Briefe ausgetauscht hatte. Als Napoleon wieder von den Tuilerien Platz ergriff, bot Lucien ihm plötzlich seine Dienste an. Welche Bedingungen ihm damals Napoleon stellte, ist nicht bekannt. Jedenfalls verschoben beide die Regelung der Familienangelegenheiten auf eine spätere Zeit, denn es galt vor allem die des Staates zu ordnen. In seiner Lage war ihm jede Hilfe kostbar und nötig. Vielleicht erinnerte er sich an den 18. Brumaire, der ohne Luciens geschickte Hilfe ganz anders für ihn ausgegangen wäre. Außerdem hatte auch Lucien in gewisser Beziehung Einschränkungen gemacht, denn er kam am 8. Mai ohne seine Frau nach Paris. Alexandrine war auf ihrem Schlosse Ruffinella geblieben.
Zuerst stieg Lucien bei Fesch ab. Zwei Tage später ward ihm vom Kaiser das Palais Royal zur Wohnung angewiesen. Er erhielt den Titel »Kaiserliche Hoheit«, und sein republikanisches Ehrgefühl sah sich weder dadurch noch durch die damit verbundenen Auszeichnungen verletzt. Er nahm jetzt an den Festlichkeiten des Hofes seines Bruders teil und begleitete ihn überall hin, hielt Reden und poetische Vorträge im Institut und erlaubte sich hier und da Napoleons Handlungen im Tone des Überlegenen zu tadeln oder zu bekritteln.
Das alles brachte die Charaktere der Brüder nicht näher. Sie standen sich so fern wie je. Und als Napoleon zum zweitenmal seinen Thron verlor, zog Lucien sich ohne Bedauern wieder nach Italien zurück, das heißt, nachdem der gestürzte Kaiser ihn mit Geschenken und Geld reichlich für die geleisteten Dienste entschädigt hatte. Luciens politische Rolle war ausgespielt. Er versuchte sich nicht wieder auf diesem Gebiete.
Obwohl er ruhig mit seinen literarischen Arbeiten beschäftigt zu leben gedachte, wurde er unausgesetzt bewacht, beobachtet und verfolgt. Die geringste Bewegung, die er machte, rief den Verdacht der Bourbonen hervor. Man hielt den ehemaligen Brutus für den gefährlichsten der ganzen Familie Bonaparte. Nie wieder durfte er nach Frankreich zurückkehren. Anfangs hatte er die Absicht, sich nach England und von da aus nach Amerika zu begeben. Zu diesem Zwecke war er am 29. Juni 1815, an dem Tage, da Napoleon Malmaison verließ, um es mit der Insel St.-Helena zu vertauschen, nach Boulogne gereist. Aber er besann sich eines andern und kehrte nach Italien um. Er reiste unter dem Namen eines Grafen Casali. An der Grenze nannte er den österreichischen Vorposten seinen wahren Namen, worauf man ihn auf Befehl des Generals Bubna sofort gefangen nahm und nach Turin brachte. Lucien war sehr erstaunt, daß man ihn, der immer ein Gegner der Regierung seines Bruders gewesen war und durchaus nicht mit ihm im Einverständnis stand, als Staatsgefangenen betrachtete. Er wandte sich daher sofort an seinen alten Freund, Pius VII., und bat ihn um seine Vermittlung. Der Papst war nicht für, nicht gegen das Handeln der Österreicher, sondern erwiderte nur, er werde Lucien in seinen Staaten willkommen heißen und als freien Mann behandeln, wenn er als solcher käme. Schicke man ihn jedoch als Gefangenen in die Engelsburg, so müsse er ihn auch als solchen betrachten. Auch Luciens Gattin erreichte nicht mehr beim Heiligen Vater. Endlich ward ihm durch Vermittlung Metternichs, demgegenüber sich Lucien auf seine Stellung als römischer Fürst berufen hatte, erlaubt, nach der Ewigen Stadt zurückzukehren. Aber die Bourbonen hatten ein wachsames Auge auf diesen Bruder des gefürchteten Napoleon. Lucien und seine Familie durften sich nie ohne Erlaubnis der Regierung aus den römischen Staaten entfernen. Unaufhörlich wurde er von den bourbonischen Agenten bewacht.
Bereits im Jahre 1836 spürte er die Anzeichen seiner Krankheit. Auf einer Reise, die er im Jahre 1840 mit Alexandrine und seiner jüngsten Tochter nach Siena unternahm, um dort den Sommer zu verbringen, erkrankte er wie sein Vater ernstlich an einem Magengeschwür und starb einsam und ruhmlos am 29. Juni 1840 in Viterbo.
Er war der einzige von Carlos Söhnen, der keinen Thron besessen hatte. Er, der Ehrgeizige, der in seiner Jugend nur von Größe und Berühmtheit geträumt! Er blieb Republikaner. Nur Reichtum, ungeheuren Reichtum nannte er sein eigen. Weder er noch seine Kinder fanden Aufnahme in der großen europäischen Herrscherfamilie. Und doch hatte dieser geborene Republikaner ein sehr fürstliches, vielleicht das fürstlichste Auftreten und die königlichsten Ansprüche aller Bonaparte. Und doch ist es nicht ausgeschlossen, daß er als Herrscher dennoch zu sehr den Republikaner gezeigt hätte.
Luciens Nachkommenschaft war zahlreich. Auch in dieser Hinsicht war er ein echter Bonaparte, ein echter Korse. Er war Vater von 12 Kindern! Und nicht nur in der Fruchtbarkeit ahmte er dem Vater nach. Lucien besaß auch einige von Carlos Neigungen. Wie dieser schrieb er Romane. Das beste literarische Vermächtnis jedoch, das er hinterließ, sind seine Lebenserinnerungen. Nicht vom Standpunkte des Geschichtsschreibers aus, denn sie sind mit allergrößter Vorsicht zu benutzen, da Lucien ohne Bedenken Ereignisse, Dinge und Menschen darstellt, wie es ihm am besten in seine Pläne paßt. Nein, diese Memoiren sind keine historische, wohl aber eine menschliche Urkunde! Sie zeichnen am deutlichsten diesen ehrsüchtigen Charakter!