Ernst Moritz Arndt
Kater Martinchen
Ernst Moritz Arndt

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Der Rabenstein

Es gibt viele absonderliche und wunderseltsame Geschichten und Dinge in der Natur, von welchen kein Mensch begreift, wie sie sich begeben und zusammenhängen, und sind doch da. Und wenn die Menschen sie erzählen hören, erstaunen sie und erschrecken, aber wissen können sie sie nicht. So ist es auch mit dem Rabenstein, wovon viele erzählen, aber keiner etwas Gewisses weiß; daß es aber Rabensteine gibt, das weiß man wohl.

Ihr habt auch wohl von Diebslichtern gehört. Die sind fast eben wie der Rabenstein und wie andere unsichtbare Diebslaternen. Es ist aber greulich zu erzählen, wie Diebslichter gewonnen werden. Sie sind die Finger von ungeborenen und unschuldigen Kindlein; denn die Finger von schon geborenen und getauften Kindern kann man dazu nicht gebrauchen. Und was für ungeborene Kindlein sind das? Und wie muß man die Lichter gewinnen? Wenn eine Diebin oder Mörderin sich selbst erhängt oder ersäuft hat oder gehängt oder geköpft worden ist und ein Kind in ihrem Leibe trägt, dann mußt du hingehen um die Mitternacht, auf des Teufels Straßen, und nicht auf Gottes Straßen, mit Beschwörungen und Zaubereien, und nicht mit Gebet und Segen, und mußt ein Beil oder Messer nehmen, das von Henkershänden gebraucht ist, und damit den Bauch der armen Sünderin öffnen, das Kind herausnehmen und seine Finger abschneiden und zu dir stecken. Aber solches muß durchaus um die Mitternacht vollbracht werden und in vollkommenster Einsamkeit und Schweigsamkeit, so daß auch kein leisester Laut, ja kein ach! und kein Seufzer über die Lippen des Suchenden gehen darf. So gewinnst du Lichter, die, wenn du willst, brennen, und, wie kurz sie auch sind, doch nimmer ausbrennen, sondern immer gleich lang bleiben. Diese Zauberlichter haben die sonderliche Natur und Eigenschaft, daß sie augenblicklich brennen, wie und wo ihr diebischer Inhaber nur denkt oder wünscht, daß sie brennen sollen, und ebenso geschwind als sein Wunsch und Gedanke erlöschen. Durch ihre Hilfe kann er in der dichtesten finstersten Nacht, wenn und wo er will, alles sehen; sie leuchten aber nur für ihn und für keinen andern, und er selbst bleibt unsichtbar, wenn sie auch alles andere hell machen. Dabei sitzt noch die Greulichkeit in ihnen, daß sie eine geheime Gewalt über den Schlaf haben und daß in den Zimmern, wo sie angezündet werden, der Schlafende so fest schnarcht, daß man zehn Donnerbüchsen über seinem Kopf losknallen könnte und er doch nicht erwachte. Denke, wie lustig sich da stehlen und nehmen läßt!

Auf diese Weise werden die Diebslichter gewonnen und gebraucht, aber anders der Rabenstein und nicht so greulich, wiewohl auch ein vom Satan und von seinen Gelüsten verblendetes und verhärtetes Herz dazu gehört, sich den Rabenstein in die Tasche zu schaffen. Dies ist aber der Rabenstein, und auf folgende Weise wird er gewonnen:

Die Raben, Krähen, Adler und andre solche Vögel, welche scharfe Schnäbel und Klauen haben und von Gott auf den Raub angewiesen sind, sagen die Leute, werden sehr alt und leben wohl zweihundert und dreihundert Jahre, also viel länger als die ältesten Menschen. Wenn nun ein Rabenpaar hundert Winter miteinander gelebt und geheckt hat, dann legt es erst den Rabenstein, und, wie sie sagen, alle zehn Winter einen neuen Stein. Dieser Rabenstein soll nach der Sage aus den Augen der Diebe herauswachsen, welche die Raben am Galgen ausgehackt haben; und das müssen die Raben an vielen hundert Dieben getan haben, ehe sie einen solchen Wunderstein legen können. Er ist von der Größe einer Wälschen Nuß oder eines Rabeneies, ganz rund und glatt und feuerrot wie ein Karfunkelstein, und die Raben legen ihn in der letzten Nacht des Hornungs: denn noch im Winter legen sie ihre Eier und im ersten Frühling, wann es noch reift und friert, haben sie schon befiederte Jungen. Es hat aber dieser grausige Wunderstein zwei Eigenschaften; die erste, daß er in der Nacht leuchtet wie eine Sonne und alles umher hell, seinen Träger aber unsichtbar macht, so daß sich herrlich mit ihm stehlen läßt: die zweite, daß er zu Galgen und Rad hinlockt.

Wer einen Rabenstein suchen und fangen will, der muß in die hohen Forsten suchen gehen, wo die großen, himmelhohen Bäume stehen; denn auf den schlanksten und schiersten Fichten, Eschen und Buchen, welche der gewandteste Matrose nicht leicht erklettern kann, baut der kluge Vogel Rabe sein Nest. Da muß er lauschen und lugen, wo er Rabentöne aus hoher Luft klingen hören und Rabennester entdecken mag, und zwar an solchen Tagen, wo Schnee gefallen ist; denn dann kann er allein die rechten Nester finden. Er mag nämlich alle Nester ruhig sitzen lassen, unter deren Bäumen Schnee liegt, denn in solchen ist kein Rabenstein. Der Rabenstein nämlich ist so warm von oben, daß es unter seinem Neste nimmer friert noch taut und daß der Schnee in der Minute vergeht, in welcher er fällt. Aber wer dies auch weiß, kann doch wohl hundert Jahre in allen Wäldern und unter allen Bäumen herumlaufen und sich die Augen aus dem Kopfe gucken, und findet doch das Nest mit dem Rabenstein nicht. Denn das Glück oder gottlob leider der Teufel läßt sich nicht immer so leicht greifen, als die einfältigen Leute sich einbilden. Denn überhaupt sind wenige Raben in der Welt, und von diesen wenigen wie wenige werden hundert Jahre alt oder gar zweihundert und dreihundert! Weil strenge Winter, wilde Buben, Jäger und mächtigere Raubvögel die meisten in der Jugend verderben – und ferner, wie schwer auch sind die Rabennester zu finden, da der Rabe nur einen Klang oder Ton macht, wenn er in hoher Luft fliegt oder auf dem Aase sitzt oder im Neste angegriffen wird, sonst aber der verschwiegenste und einsamste aller Vögel ist! Hat nun auch einer einmal einen solchen Baum gefunden, so will es noch ein rechtes Löwenherz, ja Satansherz dazu, den Rabenstein aus dem Neste herunterzuholen. Denn hört, wie das geschehen muß:

Wer den Rabenstein haben will, der muß in der letzten Nacht des besagten Hornungs in den Wald gehen, wo der Baum mit dem hoffnungsvollen Neste steht. Er muß ganz einsam und allein kommen, und auch keine Menschenseele muß wissen, wohin und wofür er ausgegangen ist; und auch keinen Laut, nicht einmal ein Hustchen oder ein Seufzerlein darf er von sich geben. Auf die Glocke der Zeit muß er achtgeben und genau um die Mitternachtstunde zur Stelle sein; denn nur in der Gespensterstunde, zwischen zwölf und eins in der Nacht, läßt der Stein sich gewinnen. Dann muß er sich so splitterfasernackt entkleiden, wie Adam weiland im Unschuldkleide der Natur im Garten Eden gestanden ist; und in diesem Naturkleide muß er nun den Stamm hinaufklettern und zitternd und bebend im Sinn behalten, daß er keinen Ton vernehmen lassen darf; denn alsbald ihm auch nur der leiseste Laut entführe, würde er gleich des Todes sein. Aber nun merkt euch hierbei wieder des Teufels List. Wenn er den armen gierigen Kletterer bis oben zur Spitze hinaufgelockt hat, wo das heillose Nest sitzt, dann darf er nicht hineinschauen und sich den leuchtenden Stein aussuchen, sondern er muß sich nun noch dreimal um den Stamm herumschwingen, die Augen zutun, und blind hineingreifen, und was sein Finger zuerst berührt, das muß er behalten. So hat sich's oft begeben, daß manche mit einem faulen Ei heruntergekommen sind und für alle Angst, Arbeit und Schmerzen nur Spott gehabt haben. Es bringen es überhaupt wohl wenige zustande mit dem Rabenstein, unter Hunderten, die ihn begehren, wohl kaum einer. Denn alles ist dabei halsbrechend und ungeheuer. Den meisten vergeht gewiß schon die Lust, wenn es um die kalte tote Mitternacht an das Auskleiden gehen soll, und sie nehmen in der Angst die Flucht, und haben dann gewiß das Geschwirr und Gesurr des höllischen Nachtgesindels im Nacken hinter sich. Auf diese Weise hat mancher freche und verwegene Bursch Schuh und Stiefeln, Rock und Hut verloren und den Leuten hinterher von Dieben und Räubern erzählt, die ihn so bis aufs Hemd ausgezogen haben; die guten Leute hätten diese Räuber und Kleider und Schuh aber unter dem Rabennest finden können. Viele erfrieren und ermatten auch, indem sie den Stamm kaum halb hinaufgeklettert sind, oder können es vor Schmerz nicht länger aushalten, denn es geht dabei wohl an ein ehrliches Schinden der Knie, Schenkel und Arme, und so müssen sie endlich mit Schimpf zurückkriechen oder fallen auch wohl gar jämmerlich herunter. Das bleibt aber wahr, wenn sie auch oben bis zur äußersten Spitze und zum Neste gelangt sind, dann wird's erst recht teuflisch und gefährlich. Nun in der Mattigkeit und Angst den vollen Verstand behalten und den Ton so bezwingen, daß auch kein Laut aus der Brust dringt, die Augen zutun, sich dabei dreimal um den Stamm schwingen, und dann mit der Hand ins Nest fahren und den letzten Glücksgriff tun – das ist wahrhaftig nicht jedermanns Ding. Dabei stürzen noch die meisten herunter und brechen den Hals, besonders wenn es ihnen zu mächtig wird und sie doch stöhnen oder murmeln. Dann ist es um sie getan. Sowie auch nur der leiseste Laut fast nur atmet, geschweige klingt, ist sogleich ein ganzes Heer da, das mit zu dem Satansgaukelspiel gehört. Viele hunderttausend Raben füllen plötzlich mit ihrem Gekrächze die Luft und umflattern den armen Sünder, und fallen mit Flügeln, Klauen und Schnäbeln so dicht auf ihn, daß er herunter muß, er mag wollen oder nicht. Da geht's denn zuletzt an den Sturz und an ein Hals- und Beinbrechen – denn wäre der Kletterer ein Löwe von Mut und Stärke, er muß herunter – und mit den Augen und einem bißchen von Wangen und Nase nimmt die Gesellschaft gleich fürlieb. Dies sind die Geschichten, wovon man so oft hört, die man auch oft in Zeitungen liest, wo auf die vermeinten Mörder gelauscht und gefahndet werden soll: ein junger Jägerbursch oder Handwerksbursch sei nackt und zerrissen und zerfleischt im Walde gefunden, von Räubern ausgeplündert und erschlagen oder von zuckenden Bären und Wölfen zerrissen. Er hat sein mitternächtliches Wagstück mit dem schwarzen Federvolke so bezahlen müssen, und die Räuber, Mörder und reißenden Tiere haben weder Knüppel und Pistolen noch Zähne und Tatzen geführt.

Und nun will ich auch eine Geschichte erzählen von einem, der den Rabenstein besessen hat, und was er ausgerichtet und wie es mit ihm geendet hat.


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