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Die Gesellschaft, an der Herr Artefeld während dessen Theil nahm und die sich zweimal in der Woche in einem eigens dazu gemietheten Locale zu Mittag zusammenfand, war eine eben so zahlreiche, als aus verschiedenen Elementen zusammengewürfelte. Ballotage entschied über die Aufnahme der einzelnen Mitglieder, fröhliche Unterhaltung war das Hauptziel derselben, und da diese den Gründern der Gesellschaft unabhängig von allen jenen Erfordernissen des Luxus erschienen war, ohne die ein Diner jetziger Zeit kaum denkbar ist, so hatten die Statuten in dieser Beziehung bestimmte Grenzen gesteckt und auch, den damals einfacheren Lebensgewohnheiten gemäß, eine frühe Stunde der Zusammenkunft bestimmt. Die Zahl der Schüsseln war festgesetzt, mit Ausnahme besonders festlicher Veranlassungen nur rother und weißer Wein zu trinken gestattet. So blieb auch ärmeren Familienvätern die Theilnahme daran ermöglicht, und die Harmonie, so nannte sich die Gesellschaft, stand im Rufe äußerster Solidität, der ihr auch noch blieb, trotz mancher neuerdings gemachten Versuche, die festlichen Veranlassungen, die einen größeren Aufwand, also erhöhte materielle Genüsse gestatteten, möglichst zu vervielfältigen.
Eine weitere Ueberschreitung der Statuten, ja des Grundgedankens der Gesellschaft, war dadurch angebahnt, daß es ja den einzelnen Mitgliedern unbenommen lieb, nach dem Schluß des Diners, das pünktlich um die vierte Stunde angesetzt war, in dem Local zu bleiben, das Vergnügen in dieser Weise auszudehnen oder auch in vollständig anderer Art auszubeuten, als es in der Idee der Gründer gelegen hatte. Da der solidere Theil der Gesellschaft sich gewöhnlich nach dem Kaffee entfernte, hatten sich nach und nach Mißbräuche genug eingeschlichen, die dem Ruf der Ehrbarkeit und Solidität, in dem die Harmonie stand, gründlich hätten schaden müssen, wären sie mehr in's Publikum gedrungen und wäre im Allgemeinen die Toleranz gegen diese sogenannten lustigen Gesellschaften nicht selbst bei Solchen sehr vorherrschend, die für ihre Person nicht gerade Geschmack daran finden.
Hauptsächlich waren es natürlich die jüngeren Mitglieder, die sich Uebergriffe gegen die Statuten herausnahmen, und in Anerkenung des Sprichworts: daß Jugend keine Tugend hat, sah man darüber hin. Man vergißt leider viel zu sehr die Consequenzen, die aus dem Spruche zu ziehen sind, denn wenn Jugend keine Tugend hat und man sie von ihr nicht erwartet, pflegt diese im Alter auch leicht sehr lückenhaft zu bleiben.
Jedenfalls war der kleine auserlesene Cirkel, den Herr Artefeld sich innerhalb dieses großen gebildet hatte, ein Beweis dafür und widersprach auch der Annahme, daß nach dem Kaffee sich alle die entfernten, die man berechtigt war in Rücksicht auf Alter und Verhältnisse zu den soliden Gliedern der Gesellschaft zu zählen, denn sie blieben jedesmal, und auch heute zog sich Herr Artefeld mit seinen sogenannten intimen Freunden in das kleine, neben dein Saal befindliche Cabinet zurück, im Augenblick nicht daran denkend, daß er im Fortgehen seiner Frau von selbst versprochen, spätestens um fünf Uhr auf der Villa zu sein. Er war bei Tisch verdrießlich und verstimmt gewesen, hatte fast gar nicht gesprochen, hatte nur Glas auf Glas von dem statutenmäßigen Rothwein hinuntergestiürzt.
Auch jetzt, bei dem eigenmächtig angeordneten Dessert im Nebenzimmer, blieb die Stimmung anfänglich dieselbe. Er widersprach sogar, als der Wirth des Hôtels, der mit zu dem intimen Freundeskreise von der Flasche zählte, den Vorschlag machte, eine neue Sorte eben angekommenen Ungarweines zu probiren.
»Laßt mich nur heute nicht viel trinken,« sagte er, »ich habe versprochen, Punkt fünf Uhr auf der Villa zu sein, und muß durchaus nüchtern bleiben.«
»Warum?« widersprach der Wirth, »Frau Artefeld wird nicht davon sterben, wenn sie auch sieht, daß ihr Mann sich 'mal einen gehörigen Spitz antrinken kann. Hier ist der Wein, und nun, ohne Widerrede, probirt ihn! Wer wird sich vor seiner Frau fürchten!«
»Ich mag ihr just heute nicht die Wahrheit sagen,« brummte Artefeld, »und im Wein ist Wahrheit, wißt Ihr.«
»Höre, ich glaube, die Wahrheit könnte Deiner Frau nichts schaden,« bemerkte einer der anderen Gäste.
»Mir würde sie aber vielleicht noch schlechter bekommen,« bemerkte Artefeld trocken, ließ sich aber doch ein Glas des gerühmten Ungarweines einschenken Er schien ihm vortrefflich zu schmecken. »Ach was,« sagte er, »ein paar Gläser kann ich schon noch vertragen, so leicht wirft mich kein Wein um!«
Die Herren stimmten ihm sämmtlich bei. Die Gläser wurden wieder vollgeschenkt, die Unterhaltung wurde munterer, Artefeld's Gesicht klärte sich auf, und immer mehr und mehr löste ihm das feurige Getränk die Zunge. Das Herz lief ihm über, oder vielmehr die Galle. Nicht nur, was seine speciellen Verhältnisse betraf, die seinen Freunden kein Geheimniß waren, sondern alle die nur in den engsten Kreis der Familie gehörigen Erlebnisse des heutigen Tages wurden der Discretion derselben anvertraut. Ja, die gute Laune kam während des Erzählens wieder, und das herzerschütternde Gelächter, mit dem seine Beschreibung der zärtlichen Scene, die er heute mit seiner Czarin gespielt, aufgenommen wurde, hätte jener das Herz zerreißen müssen, wäre nicht zum Glück die Grenze unseres irdischen Erkennens beschränkt genug, uns armen Menschenkindern in dieser Beziehung manche schmerzliche Enttäuschung zu ersparen.
»Sie war so gerührt – pfui, es ist recht schlecht von mir,« sagte Herr Artefeld, sich selbst anklagend, »daß ich mich jetzt über sie lustig mache. Als ich sie heirathete, war es wirklich nicht meine Absicht, sie zu betrügen. Lustig und vergnügt wollte ich leben, und es so bequem haben, wie es mir zusagt, aber nicht hinter ihrem Rücken. Ich wollte auch arbeiten, aber nicht unter ihrer Aufsicht. Ich wollte wirklich ein ganz solides und ein außergewöhnlich gefälliges und liebenswürdiges Exemplar von Ehemann sein, aber ist's denn möglich? Wahrhaftig, Kinder, mit ihrer sauertöpfischen Laune, ihrer langweiligen, gemachten Würde, ihrer Selbstüberhebung und Herrschsucht hat sie mich mit Gewalt zum Hause hinaus und in die Lüderlichkeit hineingetrieben. Der Aufgabe war meine Moral nicht gewachsen. Gehe ich unter, sie hat mich auf dem Gewissen. Hat sie nicht? frag' ich Euch!«
Er sagte die letzten Worte halb weinerlich, halb herausfordernd.
»Ja wohl, sie hat Dich auf dem Gewissen, Dich, Du gefallener Engel!« spotteten die Freunde zustimmend.
»Aber was soll ich jetzt machen?« fuhr Artefeld, seine Gedanken zusammennehmend, fort, »bis morgen Mittag muß ich eine Schuld bezahlen, die mich schon lange drückt, oder sie in einer Weise vergrößern, wie doch höchstens junge, unreife Burschen es zu thun pflegen, und die von mir, einem alten, gewiegten Geschäftsmanne, ganz unverantwortlich wäre.«
»Du hättest nicht zu dem Juden gehen müssen, Du hättest doch bei jedem anständigen Manne Credit gehabt.«
»Bah! wenn ich Artefeld hieße, die halbe Stadt wollte ich ausborgen!« bemerkte einer der Herren, ein früherer Rentier, dar aber mit der Zeit auf ein solches Bruchtheil seiner Einnahme herabgekommen war, daß er mehr ein traditionelles als ein wirkliches Recht auf seinen Titel hatte.
»Kinder, das läßt sich leicht sagen,« wandte Artefeld ein. »Das war nun einmal ein point d'honneur bei mir, mich nicht den Bekannten meiner Frau preiszugeben. Ich wollte nicht von den Leuten Geld borgen, die ich in meinem Hause tractire. Etwas ganz Anderes ist's, es von Solchen zu nehmen, die man, wenn man es ihnen glücklich wiederbezahlt hat, sans façon zum Hause hinauswirft. Es war auch Alles ganz gut berechnet. Die bei den Handwerkern und in den verschiedenen Hôtels ausstehenden Rechnungen mußte ich einlösen, ich riskirte Indiscretionen, die mich um meinen Ruf gebracht hätten. Dazu entlehnte ich die Totalsumme, für die der ausgestellte Wechsel morgen fällig ist. Ich würde das Geld schon seit Tagen in Händen haben, wenn nicht die allerfatalsten Umstände sich gegen meinen Plan verschworen hätten. Ich hatte in letzter Zeit an Liebenswürdigkeit fast das Unmögliche geleistet, ich hätte wohl ein Recht gehabt, von meiner Czarin einen Gunstbeweis zu erwarten, um so mehr, da ich ihn für einen Andern in Anspruch nehmen wollte. Ich hatte mir ausgedacht, und es war höllisch klug ausgedacht, als Bittsteller für meinen Stiefsohn aufzutreten. Ein Brief von ihm, in dem er mir seine Noth in herzzerreißenden Worten geklagt, wäre nicht schwer zu erdenken gewesen, und daß es genug war, wenn ich ihr den Inhalt mittheilte, wußte ich ungefähr, denn, um ihr die Luft zu benehmen, ihn zu lesen, brauchte ich ihn nur in seiner bisherigen Halsstarrigkeit beharren zu lassen.«
»Dann hätte sie auch nichts für ihn gegeben,« wandte einer der Freunde ein.
»Gerade,« sagte Artefeld, »sie ist nicht ungroßmüthig, wenn ihre Großmuth auch immer stark mit Anmaßung versetzt ist und deshalb jede Gabe zum Almosen macht. Keine Macht der Erde wird sie bewegen, den Sohn zu Gnaden anzunehmen, wenn er ihr nicht den Willen thut, aber ihm auf dem Wege der Gnade aus der Noth zu helfen, sie dazu zu bewegen, will ich mich noch oft anheischig machen. Der Plan wäre geglückt, wenn nicht der Teufel gewollt hätte, daß der Geldschnabel gerade jetzt hierher gekommen, sich mit der Mutter auf's Neue entzweien und ihr die Geldsumme, die sie ihm, ohne daß er darum gebeten, zugeschickt, förmlich in's Gesicht zurückschleudern muß. Hätte er mich nur zum Unterhändler erwählt – ich hätte noch das Gute thun und meine Frau vor dem Aerger bewahren können, ihre Güte mit Undank belohnt zu sehen. Die Summe würde freilich nicht ausgereicht haben, aber als Abschlagszahlung wäre sie mir immer von Nutzen gewesen. Nun wird mir diese letzte Gnadenthür vor der Nase zugeschlagen, und zwar nur, weil die Leute nicht Frieden halten können, weil sie sich gleich hassen müssen, wenn sie sich nicht lieben, weil sie es nicht verstehen, sich liebenswürdig gegen einander zu benehmen. Es lebe die Liebenswürdigkeit! Hoch!«
Er stürzte sein Glas Ungar mit einem Zuge hinunter, obgleich das feurige Getränk nur bedächtig, nur Schluck für Schluck geschlürft sein will und dann schon rasch genug das Blut durch die Adern jagt.
»An Deiner Stelle würde ich denn doch auch meine Liebenswürdigkeit zuletzt die Zeche bezahlen lassen,« lachte der Rentier. »Ein Fußfall vor der Czarin, ein reuiges Bekenntniß, die gehörige Bestechungssumme der Schmeichelei, und ich wette, sie besinnt sich nicht zwei Minuten, Dich aus allen Verlegenheiten zu ziehen!«
»O nein, in diesem Punkt kenne ich meine Macht,« sagte Artefeld wohlgefällig, »aber weißt Du, Freund, es ist schon schwer, mit einer Kette an jedem Fuß sich zu bewegen, ein Halseisen hemmt noch mehr, und bei diesem Fußfall würfe meine Czarin es mir um. Nein, nein, so ungeschickt sind wir nicht. Das Leben ist eine Kunst, nicht ein Handwerk.«
»Es taugt auch nicht Jeder zu einem ehrlichen Handwerk,« ergänzte der Rentier.
»Ehrliches Handwerk!« wiederholte Artefeld schon mit etwas schwerer Zunge. »Zum Henker mit der Ehrlichkeit, ein Pereat der Ehrlichkeit, wenigstens dem plumpen Gesellen, den die Leute Ehrlichkeit nennen, der immer mit der Thür in's Haus fällt und seine unmanierlichen Wahrheiten auch gar nicht ein bischen herauszuputzen versteht. Je mehr Toilette Dame Wahrheit gemacht hat, um so höher gilt sie, denn bei den Damen ist die Toilette Alles, und wenn sie sich so lange anziehen und putzen, bis Alles an ihnen zur Lüge geworden ist, gefallen sie Jedem erst recht, und so ist's just mit der Wahrheit: je mehr herausstaffirt, um so zugänglicher ist sie Allen. Ha, die Wahrheit soll leben, die Wahrheit in Toilette!«
Dem Toast wurde wieder ein Glas geopfert.
»Heda, ein anderer Rathschlag her!« rief Artefeld auf's Neue aus, »der mit dem Halseisen taugt nichts, und mein Latein ist im Augenblick zu Ende.«
»Ich bleibe bei dem meinen stehen,« beharrte der Rentier. »Ein Fußfall, eine Zärtlichkeitsscene, Reue, Abbitte und das Geld, und was das Halseisen betrifft, das wird ein so geschickter Kerl, wie Du es bist, wohl abstreifen können.«
»Ich würde es anders machen,« sagte der Wirth des Hôtels, »ich würde einmal den Herrn spielen. Ich würde meinen Wagen vor der Thür halten lassen, würde ihr sagen: schließ' mir die Kasse auf oder ich fahre auf und davon und komme nicht wieder, und dann hat Dein Haus keinen Herrn. Ich habe so und so viel Schulden, die bezahlt werden müssen, geschieht's nicht, pass' auf, wie's der Firma bekommt. Sie hat ihren Glanz am längsten behauptet, die unbezahlte Schuld ist ein nicht abzuwischender Fleck, und unter dem anrüchigen Namen des Mannes leidet die Frau mit, sie mag so unschuldig sein, wie sie will. Das würde ich ihr sagen, das Halseisen würde ich ihr umwerfen, Freund!«
»Ich werde es thun,« lachte Artefeld, der in seiner aufgeregten Stimmung diesmal ganz seine sonstige Vorsicht vergessen und dem der Genuß des schweren Ungarweines gerade genugsam die Ueberlegung geraubt hatte, ihn zu den unsinnigsten Unternehmungen aufzustacheln. »Ich werde es thun, das heißt: ich werde alles beides thun, wenn auch nur Euch zu Gefallen, Euch zu zeigen, daß ich guten Rath nicht verschmähe, daß ich Euer Freund bin, Euer wirklicher Freund! Ich werde erst den sanften Schäfer und dann den Tyrannen spielen, ha, sie soll mich heute kennen lernen! Ich will gut und zärtlich sein wie immer, demüthig wie immer, aber setzt sie mir den Fuß auf den Nacken, dann fahr hin, lammherzige Geduld der edlen Seele!« declamirte er mit Pathos, stürzte das letzte Glas hinunter und stand auf, dem Wort sogleich die That folgen zu lassen.
»Es ist übrigens wahr,« fuhr er, nach seinem Hut greifend, fort, »diese Drohung mit der Schmach, die ich auf ihren Namen laden kann, ist ein sehr gutes Halseisen für sie. Daran hätte ich früher denken können, sie ist verdammt empfindlich in dem Punkt. Bah, ich bin nur solch' gutherziger Kerl, ich drohe und schelte und tyrannisire nicht gern, ich mag lieber, daß Alles glatt geht. Ich versuch's auch heute erst mit Güte. – Kinder,« sagte er dann, noch einmal umkehrend, »ich bin doch nicht betrunken? Sagt's aufrichtig, bin ich's?«
»Nein, Du bist nüchtern wie nur irgend ein armer Schelm es sein kann, der gewissenhaft genug ist, sich auf seines Vaters Credit nur bis an den Rausch hinan aber nicht hineinzutrinken,« lachte der Wirth. »Du bist nur angeregt, geradeso wie es lebhafte Menschen nach ein paar Gläsern Wein zu sein pflegen.«
»Nur erhöhte Stimmung, wie man sie zu großen Entschlüssen braucht,« versicherte der Rentier.
»Nun ja, das mein' ich auch,« stimmte Artefeld den Versicherungen der Freunde bei, »ich muß auch meinen Verstand beisammen haben. Ich will doch nichts Dummes thun, will auch nicht unnütz hart gegen meine Czarin sein, wenn sie auch sehen soll, daß ich der Czar bin.«
»Ja,« lachte der Rentier, »und dem Kaiser gebt, was des Kaisers ist, heißt es.«
»Das werde ich ihr sagen, das ist eine schöne Wahrheit, dagegen kann sie nichts einwenden,« sagte Artefeld mit Pathos und fügte dann, wehmüthig werdend, hinzu: »Ich bin nichts grausam, gewiß nicht, ich bin gut gegen alle Menschen, gewiß, das bin ich, bin ich nicht?«
Aber er wartete die Antwort nicht ab, sondern fügte mit einer gewissen trunkenen Feierlichkeit hinzu: »Auf ihr Haupt fällt die Verantwortung, wenn sie aus ihrem demüthigsten Verehrer einen Tyrannen macht. Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich –« declamirte er, hielt dann wieder inne, streckte seinen Freunden beide Hände hin, sagte: »Lebt wohl, Ihr seht mich nie, oder Ihr seht mich als Sieger wieder!« und verließ das Zimmer.
Die beiden Zurückbleibenden lachten hinter ihm her.
»Das wird eine hübsche Scene werden,« bemerkte der Rentier.
»Bah!« sagte gleichgültig der Andere, »wenn der seine Herrin sieht, kriecht er doch wieder zu Kreuz, er ist ein geborener Pantoffelheld, schade um ihn!« –
Philipp Artefeld, obgleich er mehr getrunken, als er jemals zu thun pflegte, wenn er wußte, daß er noch bei Tageslicht über die Straße zu gehen hatte oder gar den Abend mit den Seinigen zubringen mußte, war doch auch jetzt nicht so ohne alle Besinnung, daß er nicht einigen Verdacht in seine Nüchternheit gesetzt hätte. Er bediente sich deshalb einer Droschke, nach seinem Hause zu fahren, und nahm sich, dort angekommen, nach Kräften zusammen, um mit ganz sicherer Stimme das Anspannen seines Gigs zu befehlen und dann, indem er sich am Treppengeländer festhielt, mit scheinbarer Leichtigkeit die Treppe hinauf in sein Zimmer zu eilen. Dort angekommen, goß er sich eine Kanne Wasser über den Kopf, zog sich rasch um, und fühlte sich auch wirklich augenblicklich so erfrischt dadurch, daß er überzeugt war, nun jede Spur der kurzen Trunkenheit verwischt zu haben und mit ganz klarer Besinnung handeln zu können.
Die Nothwendigkeit, heute noch in den Besitz der Summe zu kommen, die seine Schulden tilgen sollte, stand ihm klar vor Augen, hinsichtlich der Mittel dazu stand aber das Sanfte ganz im Vordergrunde, der Gedanke, als Herr, als Tyrann aufzutreten, war mehr in die Ferne gerückt. Es entsprach zu wenig seinem ganzen Charakter, es bedurfte erst wieder eines neuen Anreizes einer neuen Steigerung der Trunkenheit, um das Lamm in den Tiger zu verwandeln. Im Augenblick war er ganz weich, ganz Gefühl, und während das kleine Gig rasch dahinrollte und er das Pferd antrieb, den kurzen Weg durch verdoppelte Eile noch zu verkürzen, wiegte er sich in angenehme Träume über den Sieg ein, den seine Liebenswürdigkeit erfechten sollte. Weich wie Wachs vor der Sonne sah er die Starrheit seiner Gebieterin vor derselben dahinschmelzen und den Tribut verdoppeln, den sie, ohne es zu wissen, bisher dafür gezahlt hatte, während sie sich doch für den Herrn und ihn für den tributpflichtigen Sklaven gehalten.
Vor der Villa angekommen, fand er die Gitterthür, welche die vorderen Gartenanlagen von der Straße abschloß, offen und konnte also ohne Zeitverlust vor der Thür des zierlichen Landhauses vorfahren. Er warf die Zügel dem hinzuspringenden Diener zu, befahl ihm, mit dem Gig zu warten, und eilte zu seiner Frau, die er im oberen Gartenzimmer allein fand. Sie sah betroffen in sein erhitztes Gesicht, sie wich halb scheu vor der Lebhaftigkeit zurück, mit der er sie in seine Arme schloß und heftig auf die Stirn küßte.
»Ich habe Dich so unbeschreiblich lieb,« sagte er zärtlich.
»Ich bitte Dich,« erwiderte sie ruhig, »vergiß nicht, daß wir alte Leute sind. Daß wir uns lieb haben, versteht sich ja von selbst, wozu es in dieser Weise wiederholen?«
»Kalt, immer kalt wie Eis!« seufzte er schmerzlich. »Ha, ich könnte wirklich glauben, meiner Czarin Wiege habe auf den Eisgefilden des Nordpols gestanden, hätte ich nicht schon hundertmal erfahren, daß das kleine Herzchen zu schlagen vermag, daß Du –« er fiel plötzlich aus seinem Pathos – »daß Du, beim Henker! daß Du recht ordentlich verliebt in mich bist!«
Sie sah ihn mit starrem Erstaunen an. Er hatte sie nie Czarin genannt, hatte nie in dieser erst affectirten, dann herabsetzenden Weise zu ihr gesprochen, sie hatte nie diesen fatalen, unsichern Glanz in seinen Augen gesehen.
»Es ist Dir wohl nicht recht, daß ich Dich Czarin nenne?« lachte er, »ja, Kind, mir ist auch Vieles nicht recht und ich muß es doch dulden. Heute ich, morgen Du, oder vielmehr gestern und vorgestern und alle vergangenen Tage ich und heute Du, meine Czarin. Ja, Czarin will ich sagen, kann ich sagen, oder kann ich etwa nicht? Es umweht Dich doch einmal solche Atmosphäre von Leibeigenschaft, da werde ich doch Czarin sagen können?«
Frau Artefeld erhob sich rasch von ihrem Stuhl, und an ihm vorübergehend, um das Zimmer zu verlassen, sagte sie erschrocken: »Gott steh mir bei, Philipp, ich glaube, Du bist betrunken!«
Er lachte laut auf.
»Da haben wir nun wieder die plumpe Ehrlichkeit, die mit der Thür in's Haus fällt, die ungeschminkte Wahrheit,« schwatzte er, »kannst Du Dich nicht milder ausdrücken, Herzchen? Auf Worte kommt doch so viel an!«
Sie antwortete nicht, aber sie ging auch nicht fort; sie war so erschrocken, daß ihr im Augenblick die Füße den Dienst versagten und sie sich auf den nächsten Stuhl niederlassen mußte, um nicht umzufallen.
»Siehst Du, Herzchen,« fuhr er fort, einen Stuhl neben den ihren ziehend und neben ihr Platz nehmend, »siehst Du, Herzchen, wenn ich nun kommen wollte und sagen: Wendula, Du mußt mir Geld geben, statt daß ich erst damit anfange, zu sagen: Wendula, ich habe Dich lieb – aber nein, das meine ich ja nicht; von Geld ist ja zwischen uns nicht die Rede. Ich bin der uneigennützigste Mensch von der Welt, ich habe Dich nur aus Liebe geheirathet, habe Dir auch nichts als Liebe bewiesen und liebevolle Worte gesagt. Aber das wollte ich auch, ich spreche immer lieber freundliche Worte als rauhe. Von Natur bin ich leutselig, wahrhaftig, das bin ich! Wärst Du nur nicht solch' verwünschter Starrkopf, wir Beide hätten auf Rosen gehen können, von früh bis spät, denn siehst Du, was zum Leben gehört, hatten wir Beide, Du das Geld, ich den Geschmack für Raffinement. Hättest Du mir nur einen Bettlerantheil von Herrenrecht in meinem – Donnerwetter! in Deinem Hause gegönnt, ich wäre nicht gegangen, draußen den Herrn zu spielen. Nun geschieht's Dir recht, wenn's Geld und Ehre kostet. Wahrhaftig! Du warst gut mit mir daran, sowie Du nur wolltest. So wie ich hat's noch Keiner mit Dir ausgehalten, nicht mein Bruder, nicht der arme Richard, selbst Herr König und Herr Richter nicht, die dummen Leute, die gar keine Weltklugheit haben. Die würden Dich auch nicht herumkriegen, ihnen Schulden zu bezahlen.«
Mit wahrhaftem Entsetzen hatte Frau Artefeld diesem Geschwätz zugehört. Wie der Schreck ihr vorhin die Kräfte geraubt, gab die Steigerung dieser Empfindung sie ihr wieder. Sie wollte sich auf's Neue erheben, er zog sie auf ihren Platz zurück.
»Ich meine ja nicht Schulden,« fing er wieder an, »das dumme Geld mischt sich nur immer so hinein, ohne daß ich es will.«
»Du sprichst, was Du nicht willst, weil Du betrunken bist und nicht weißt, was Du sagst,« brach Frau Artefeld los, versuchend, sich gewaltsam von seinen umschlingenden Armen zu befreien. »Ich bitte Dich, geh fort, schlafe aus und komme mir so, wie Du jetzt bist, nicht wieder vor die Augen!«
»Nie wieder vor die Augen?« wiederholte er, sie immer noch festhaltend; als sie aber mit der Miene des größten Ekels ihn zurückstieß und nach der Thür stürzte, kam er ihr zuvor, stellte sich mit dem Rücken gegen dieselbe und sagte, immer abwechselnd seine zornige Rolle mit der des Liebhabers vertauschend: »Dir nie wieder, so wie ich jetzt bin, vor die Augen kommen? Ha! wie bin ich denn jetzt? Bin ich der Czar, meine Czarin, und weißt Du, was es heißt: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist? Das ist zuerst Geld und dann wieder Geld und nochmals Geld, denn ohne das kann kein Czar den Juden Lewi nicht bezahlen. Aber erschrick nicht, Herzchen, ich will nicht hart sein, ich bin Dein guter, gefälliger Mann, Du kannst mich lieb haben wie immer, ich will Dich auch wieder anbeten, ich thue es jetzt schon; ehrlich währt am längsten! Ha, ha!«
Er lachte schallend.
Frau Artefeld hätte in die Erde sinken mögen. Welche brutale, heuchlerische Natur enthüllte sich ihr hier; wo waren auf einmal die gefälligen Manieren geblieben, wo die freundliche Gutherzigkeit, die sanfte Nachgiebigkeit in ihre Wünsche, die demüthige, warme Zuneigung, ja, die ganze anständige Außenseite des Mannes, wo war sie hin? – Ach, die Liebenswürdigkeit, die nur der Reflexion entspringt, ist ja weiter nichts, als eine schön bemalte Maske. Ein unbewachter Augenblick reißt sie vom Antlitz, und die Fratze, die sie verhüllt hat, kommt in ihrer ganzen nackten Häßlichkeit zum Vorschein.
»Wollen wir nun wieder Freunde sein, meine Czarin, willst Du Deinem Philipp, Deinem Jugendfreunde, Deinem Geliebten eine Bitte erfüllen?« bat er.
»Erbarme Dich und geh, und wenn Du wieder bei Sinnen bist, dann sage, wie viel Geld Du haben willst; befreie mich aber jetzt von Deiner unleidlichen Gegenwart, oder ich rufe um Hülfe!« drohte sie.
»Um Hülfe gegen mich?« brauste er zornig auf. »Gut, Du bist nicht zu ändern, zu bessern, meine Güte ist erschöpft, mein erstes Mittel war umsonst, jetzt kommt ein zweites. Erst muß ich Dir aber sagen, daß ich nicht betrunken bin. Denkst Du, ich werde am hellen Nachmittag betrunken nach Hause kommen, ich, dem der Anstand über Alles geht? Wer hat Dir gesagt, daß ich trinke? Der Portier etwa? Er soll fort! Oder Gebhard? Hol' ihn der Teufels! Oder die alte Klatschbase, die Dir den famosen Brief geschrieben hat? Glaubst Du etwa, was in dem Briefe steht? Eine Närrin bist Du; wenn Du's glaubst. Du hast nur zu glauben, was Du siehst – und ich werde schon sorgen, daß Du nichts Schlimmes zu sehen bekommst. Jetzt höre aber: schließ mir die Kasse auf, gleich, oder, Du siehst wohl, da unten hält der Wagen! Ich setze mich hinein und fahre fort in die weite Welt und komme nicht wieder. Was ich Dir aber zurücklasse, ist Scandal, nichts als Scandal! Dein Name kommt in den Mund der Straßenbuben, Dein Haus hat keinen Herrn mehr, Deine Firma wird nicht mehr geachtet. Unter dem bescholtenen Namen des Mannes leidet die Frau mit. Ja, so war's, so sagte er, oder war's anders? Aber kurz und gut, fahre ich heut fort, rückt Dir morgen der Jude Lewi in's Haus – ach was sag' ich! der Jude Lewi? eine ganze Bande Juden. Donnerwetter! mir könnte es ordentlich Spaß machen, das zu sehen! Nun sprich, was soll ich thun? Fortfahren und Dich verlassen, oder bleiben und Dein treuer, guter Philipp sein, der Dich weiter auf Händen trägt, wie er es in den vergangenen sechs Jahren gethan?«
»Fortfahren!« stieß sie gewaltsam hervor.
»Fortfahren? Gut,« sagte er entschlossen. »Aber Eins will ich Dir noch sagen. Du bist stolz, verdammt stolz, denkst Du; aber Dein ganzer Stolz ist Hochmuth, nichts als Hochmuth. Hochmuth aber kommt vor dem Fall, oder der Fall kommt hinterher. Und nun empfehle ich mich zu Gnaden, meine Czarin, möge Ihre kaiserliche Majestät der Entschluß nicht reuen! Donnerwetter, ist das eine widerspenstige Hexe!«
Er stolperte zur Thür hinaus, sie hörte ihn mit unsicheren Schritten die Treppe hinunterpoltern, sie rührte sich nicht von ihrem Platze, sie veränderte kaum die Richtung ihrer starrblickenden Augen.
Er war inzwischen in den unteren Gartensaal gelangt, vor dessen offenen Thüren sein Gig hielt. Im Augenblick, als er dasselbe bestieg und die Zügel in die Hand nahm, kam Georg mit seiner Bonne aus dem Garten.
»Fährst Du fort, Papa? Nimm mich mit!« rief der Kleine.
»Schön, mein Junge, komm mit, mir gerade recht!« lachte Philipp Artefeld in schadenfroher Laune. »Ha, was wird die Czarin sagen!«
»Georg, das wird die Mama nicht erlauben, es ist schon zu spät,« wandte die Bonne ein.
»Bah, wenn ich es erlaube, ist es genug,« herrschte Artefeld ihr zu, »komm her, mein Junge!«
Er bückte sich herunter, hob das Kind auf den Sitz neben sich und gab dem dadurch unruhig gewordenen Pferde einen Peitschenhieb, daß es mit einem gewaltigen Sprunge anrückte und dann in hastigem Laufe vorwärts eilte. Dem kleinen Georg kam das sehr lustig vor, er lachte in fröhlichem Jubel hell auf; der Ton seines Lachens weckte seine Mutter aus ihrer Starrheit Sie eilte an's Fenster und sah hinaus, der Wagen war eben am eisernen Gitterthor angelangt, das inzwischen, unglücklicher Weise, geschlossen worden war. Herr Artefeld bemerkte es mit seinen umnebelten Sinnen nicht gleich und nahm das Stutzen des Pferdes für Widerspenstigkeit. Er hob die Peitsche, es auf's Neue zu züchtigen und anzuspornen, zum Glück fiel ihm Georg in die Arme, um den Schlag von dem Pferde abzuwenden, und zum Glück war während dieser kurzen Pause der Gärtnerjunge herzugeeilt, das Thor zu öffnen, Philipp wäre sonst rücksichtslos gegen das eiserne Gitter gefahren. Aber das Pferd, durch diese Zufälligkeit scheu gemacht, überhaupt noch nicht lange eingespannt und zudem einem unsicheren Führer anvertraut, merkte nicht sobald offenes Terrain, als es mit einem andern abermaligen heftigen Sprunge und Ausschlagen vorging und mit so rastloser Eile vorwärts jagte, daß Herr Artefeld kaum im Stande war, den Zügel zu halten. Das durchgehende Pferd, Herr Artefeld fast vom Sitze gerissen durch den Ungestüm desselben, Georg sich ängstlich am Vater haltend und hin und her geschaukelt auf dem hohen, nirgends geschützten Sitz, dieser Anblick war's, der sich der unglücklichen Mutter darbot, als das Lachen des Kindes sie an das Fenster gelockt.
Ein lauter, gellender Schrei, so gellend, daß Flora und Elisabeth in ihrer durch drei Zimmer vom Saal getrennten Stube ihn hörten, entrang sich ihrem geängstigten Herzen.
Im Augenblick waren die Mädchen bei ihr.
»Barmherziger Gott, hilf!« rief Frau Artefeld händeringend, »er hat mein Kind mitgenommen! Er ist betrunken, er weiß von seinen Sinnen nichts, er fährt wie rasend und das Pferd geht durch!«
»Wer, wer?« fragte Flora erschrocken. »Dein Vater, Dein heuchlerischer, nichtswürdiger Vater!« war die schonungslose Antwort, dann brach die unglückliche Frau ohnmächtig zusammen.
Flora eilte zum Zimmer hinaus, die Treppe hinunter, sie sah den Diener, der, während Herr Artefeld bei seiner Frau war, das Pferd gehalten, schon zum Thore hinaus dem Wagen nacheilen, sie sah die Bonne händeringend dastehen und demselben nachsehen. »O, bitte, schicken Sie mir nach, wer von Dienern im Hause ist,« bat sie dieselbe und lief dann, so rasch sie konnte, den Weg entlang, auf dem sie noch in der Ferne das Ghig gewahrte.
Aber jetzt mußte das Pferd auf's Neue vor irgend einem Gegenstande scheuen, sie sah, wie es zur Seite sprang, wie es den ebenen Weg verließ und querfeldein mit dem leichten Gefährt weiter stürmte. Das Herz stand ihr still. Sie kannte das unebene, hügelige, von Gräben durchschnittene Terrain dort genau, die Folgen der tollen Fahrt ließen sich absehen. Flora hatte in ihrer Herzensangst kaum so viel Besinnung, ein kurzes, wortloses Gebet zum Himmel zu schicken.
Wie ein flüchtiges, gejagtes Reh eilte sie vorwärts, verdoppelte ihre Eile noch, als nach dem Verlauf weniger Minuten das Pferd ihr entgegenkam, ohne Wagen, nur ein Stück des Geschirres hinter sich herschleppend, aber jetzt ganz beruhigt und so langsamen Schrittes, als sei es beschämt über seine vorherige Ungezogenheit. Flora's scharfes Auge, der Richtung folgend, die sie vor Kurzem hatte den Wagen einschlagen sehen, gewahrte ihn bald am Rande eines Grabens; ihren Vater, Georg sah sie nicht, bildete sich aber ein, das laute Weinen des Kindes zu vernehmen, hörte auch, wie einer der Diener zum andern sagte: »Das ist unser Georg, Gott erbarme sich!« und sah die Leute dann an sich vorüberstürmen. Sie folgte, so rasch sie konnte.
Ach, sie kam zu einem traurigen Anblick zurecht. Den kleinen Georg hatte schon einer der Diener in seinen Armen und strebte ihn zu beruhigen, aber der arme kleine Schelm schluchzte vor Angst und Schmerz, faßte immer nach seinem Fuße und schrie auf, sobald man denselben berührte. Ihr Vater lag noch am Boden, weit ab vom Ghig, hart am Rande des Grabens, wahrscheinlich dorthin geschleudert, als das Pferd mit dem Gig gegen den Baumstamm rannte, unter dem es jetzt zertrümmert lag. Flora kniete im Augenblick neben ihrem Vater; dessen lebloses Angesicht mit tausend Thränen benetzend, ihn mit den zärtlichsten Bitten beschwörend, doch die Augen wieder aufzuschlagen. Er hörte sie nicht. Sie sah nirgends die Spur einer Verletzung, aber sein Haupt, das sie emporzuheben versuchte, sank schlaff wieder zurück, seine Augen blieben gebrochen und Leichenblässe deckte sein Gesicht.
»Kommen Sie jetzt, Fräulein Florchen,« sagte freundlich einer der Diener, »wenn geholfen werden kann, muß es bald geschehen, und wir müssen die Hülfe aufsuchen. Haben Sie Kräfte genug, den kleinen Georg zu tragen, dann werden wir Beide den Herrn nehmen, sonst bringe ich den Georg rasch nach Hause und komme mit mehr Leuten zurück.«
»Nein, nein, wir wollen gleich gehen,« sagte Flora augenblicklich gefaßt, »geben Sie mir das Kind her, komm, mein lieber Georg!«
Der Kleine streckte beide Hände nach ihr aus. Der Diener legte ihn ihr vorsichtig in die Arme, so daß der verletzte Fuß eine Stütze hatte. Georg umfaßte sie, und ihn beruhigend, ihm die Thränen von den Wimpern küssend, schritt sie mit ihrer immerhin nicht leichten Last vorsichtig vorwärts und wagte kaum einen Blick zurück zu den Dienern, die den scheinbar entseelten Körper ihres Vaters trugen. Zuweilen wandte sie sich um und fragte: »Ist er noch immer ohnmächtig?« und dann winkten die Diener stumm und warfen sich verstohlen einen Blick schmerzlichen Eingeständnisses zu, und sie wandte sich wieder zu Georg, der sie nach Kinderart ganz für sich in Anspruch nahm und sogar verlangte, sie solle ihm ein Märchen erzählen, damit er's vergäße, daß ihm der Fuß so sehr weh thäte. Auch dies vermochte sie zu thun, aber über dem Märchen, das sie mehr mechanisch hersagte, als wirklich erzählte, wurde der kleine Bursche ohnmächtig, und als der traurige Zug das Haus erreichte, hatte er fast den Anschein eines wirklichen Leichenzuges.
Dort angelangt, war es wieder Flora, die an Alles dachte, Alles über sich nahm. Sie entsendete einen reitenden Boten nach der Stadt zum Arzt, sie half der Bonne das Kind zu Bett bringen und flüsterte der starr danebensitzenden Mutter Worte des Trostes zu, sie wendete immer wieder erneute Belebungsversuche bei ihrem Vater an und blieb dann, als sie Georg in sicherer Obhut wußte, an dem Lager des Vaters sitzen, in wortlosem Gebet der Hülfe harrend, die der Arzt vielleicht noch bringen konnte. Elisabeth stand ihr treulich bei. Die Mutter und Bonne waren bei Georg oben, sie konnte dort nichts helfen, auch hier nicht, aber ihrer Mutter wagte sie keinen Trost zu bieten, und Flora verstand ihre stumme Umarmung, ihre stillen Thränen.
Eine qualvolle Zeit verging, bis der Arzt endlich kam. Als sein Wagen vor die Thür rollte, kam Frau Artefeld hinuntergestürzt. Sie schauderte, als sie die blasse, kalte Gestalt ihres Mannes auf dem Ruhebett im Gartensaal liegen sah; bis jetzt hatte sie noch nicht nach ihm gefragt, sich nicht um ihn bekümmert. Als Flora vorher mit dem Kinde im Arm über die Schwelle geschritten, hatte sie ihr den Knaben fortgerissen und war, obgleich er jämmerlich schrie, daß sie ihm den Fuß hart anfasse, hinaufgeeilt, ohne nach den weiteren Einzelnheiten des Unfalles zu fragen.
Starr und wortlos blieb sie jetzt weitab von dem Lager des Verunglückten stehen, sie sagte nur zum Arzt: »Um Gottes willen, sputen Sie sich, mein Kind hat wahrscheinlich den Fuß gebrochen, mein Kind bedarf schneller Hülfe!«
Sie brauchte nicht lange zu warten. Das Urtheil hier unten war rasch gefällt. Flora las es dem Arzt aus den Augen, noch ehe er es ausgesprochen, sie sank vor dem Todtenlager auf die Kniee, sie blieb allein mit dem Todten, denn jetzt war auch Elisabeth hinaufgeeilt, um zu hören, wie es mit dem kleinen Georg stand. Der arme Bursche hatte wirklich den Fuß gebrochen, sein Geschrei, als derselbe geschient wurde, entriß auch Flora ihrem Schmerz.
Eine wüste, traurige, angstvolle Nacht folgte dem vielfach bewegten Tage. Georg phantasirte in heftigem Fieber, die Mutter und die Bonne wachten an seinem Bette; mehr Personen hatte der Arzt nicht zulassen wollen, und Frau Artefeld zog der Bonne Unterstützung der Flora's und Elisabeth's vor. Auf des Arztes ausdrückliches Verlangen hatte auch Flora sich zu Bett legen müssen, und ein beruhigendes Mittel, das er ihr eingab, brachte ihr wenigstens eine halbe Betäubung, wenn auch keinen Schlaf. Elisabeth verließ die Schwester nicht.
Am andern Morgen bestand Frau Artefeld darauf, ihren Patienten in die Stadtwohnung übersiedeln zu wollen. Die Villa war nur für den Sommer eingerichtet, der Spätherbst bereits da, sie fand es unmöglich, dem Kranken dort den Comfort zu schaffen, der nöthig war. Der Arzt mußte zum Theil ihren Gründen nachgeben, aber sie würde sich auch an keine Weigerung gekehrt haben. Mit der größten Vorsicht wurde der Kleine transportirt; er lag im Fieber und merkte es nicht einmal.
Auf Frau Artefeld's Anordnung war die Leiche ihres Mannes in eins der anderen Zimmer gebracht worden, ehe sie den Gartensaal passiren mußte, in dem er bis dahin gelegen. Sie verließ das Haus, ohne ihn nur wiederzusehen. Flora's flehende Blicke glitten wie von einem Felsen ab. Diese blieb natürlich in der Villa zurück, ihren Vater nicht zu verlassen, so lange ihn die letzte Ruhestätte noch nicht aufgenommen hatte, blieb zurück, seinem Begräbniß beizuwohnen. Mit leichter Mühe erhielt Elisabeth die Erlaubniß, diese Liebespflicht zu theilen.
In die Stadt zurückgekehrt, war es aber nicht die Sorge für Georg allein, die Frau Artefeld's Geist in Anspruch nahm. »Was ich Dir zurücklasse, ist Scandal, nichts als Scandal!« waren fast die letzten Worte ihres Mannes gewesen, es galt nun, die saubere Erbschaft anzutreten. Sie konnte nicht zweifeln, daß er Schulden gemacht, es war ihr ein unerträglicher Gedanke, mit den Leuten, die ihm solchen Vorschub geleistet, in directe Verbindung zu treten, es graute ihr vor den Enthüllungen, die ihrer dabei vielleicht warteten, vor dem Schlamm, in den sie hinabsteigen sollte.
Sie wünschte irgend Jemandem die ganze Angelegenheit zu übertragen, aber sie wußte nicht wem. Ihr Neffe und künftiger Schwiegersohn, der ihr dazu am nächsten gestanden, fiel ihr zuerst ein, aber sie demüthigte sich lieber vor einem ganz Fremden als vor einem Verwandten, und eine Demüthigung war es immer, so schmählich betrogen worden zu sein. Derselbe Grund hielt sie zurück, sich an die ihrem Hause nahestehenden Bekannten oder gar an solche zu wenden, mit denen sie in Handelsverbindungen stand. Sollte sie den Menschen selbst den Schmutz zeigen, mit dem man ihre reine Firma beworfen? Freunde hatte sie nie gebraucht, die besaß sie also auch nicht, einen Diener, der, wie Herr König, durch langjährige Dienste dem Hause verbunden war, eben so wenig.
»Mein Gott, ich stehe doch entsetzlich allein,« dachte sie, »ich habe immer für Alle sorgen, für Alle denken, Allen Opfer bringen müssen, für mich thut nie Jemand etwas.«
Sie rang mit dem Entschluß, aus ihrer Umgebung den auszusuchen, den sie leider halb und halb zum Vertrauten dieser schimpflichen Angelegenheit machen mußte. Sie sann darüber nach, wie diese zu mildern sei. Endlich ließ sie Herrn Jakobi rufen, sprach so gleichgültig und obenhin, als sie es nur immer im Stande war, die Vermuthung aus, daß ihres verstorbenen Mannes Geldangelegenheiten in einiger Unordnung sein könnten, und äußerte den Wunsch, diese durch, ihn in Ordnung gebracht zu sehen, ohne daß sie, die jetzt von allen Seiten in peinlichster Weise durch Kummer und Sorgen in Anspruch genommen, sich persönlich damit zu befassen habe. Sie behandelte die ganze Sache wie eine lästige, nicht wie eine schmachvolle Angelegenheit, und obgleich innerlich gepeinigt durch das nicht abzuleugnende Bewußtsein der tiefsten Demüthigung, stand sie doch scheinbar ungebeugt, ja, in noch stolzerer Haltung als sonst vor dem jungen Manne.
»Ich gebe Ihnen unbeschränkte Vollmacht,« schloß sie ihre Mittheilung, »Alles zu thun, was nöthig ist. Ich bin so angegriffen, bin an dem Krankenlager meines Kindes so nöthig, daß ich diesmal nicht wünsche, um meinen Rath, meine Meinung befragt zu werden. Orientiren Sie sich über die ausstehenden Rechnungen und fordern Sie sich dann die Totalsumme, dieselbe zu berichtigen. Weiter ist nichts nöthig. Aber ich wünsche, daß das Alles schnell und ohne Aufsehen geschieht. Ich rechne auf Ihren Diensteifer. Ich weiß, daß Sie mir ergeben sind, und verlasse mich ganz auf Sie.«
Herr Jakobi, der mit ehrfurchtsvollem Schweigen den Auftrag seiner Herrin entgegengenommen, verbeugte sich auch jetzt nur statt aller Antwort, und zwar, wie es Frau Artefeld bedünken wollte, wo möglich noch respectsvoller und tiefer als gewöhnlich, und zog sich dann langsam rückwärts ein paar Schritte zurück.
»Warten Sie noch einen Augenblick,« rief sie ihm zu, und sagte dann, als er stehen blieb: »Ich habe Herrn Richter aus seinem Amt entlassen. Er hat sich einer Indiscretion schuldig gemacht und über einen ihm im Vertrauen gegebenen Auftrag gegen Andere gesprochen. Solche Diener kann ich nicht brauchen. Wer in meinem Hause ist, muß meine Interessen so zu seinen eigenen machen, daß er auch nicht mit einem Wort gegen dieselben fehlt. Ich habe meine Diener so gestellt, daß ich eigentlich Dank von ihnen erwarten kann, aber ich abstrahire von Dank, auf den in dieser Welt nicht zu rechnen ist, und verlange nur Pflichttreue und zwar die gewissenhafteste. Herr Richter hat auch hierin meine Erwartungen getäuscht, ich hoffe, mich auf Sie besser verlassen zu können. Ich habe Sie als einen bescheidenen jungen Mann kennen gelernt, der überall seine Stellung richtig aufgefaßt hat, deshalb wende ich mich mit dieser Angelegenheit vorzugsweise an Sie. Ich übertrage Ihnen auch einstweilen Herrn Richter's Geschäfte, Sie sind der älteste Ihrer Collegen. Erringen Sie sich meine Zufriedenheit, so eröffne ich Ihnen gern die Aussicht auf die Stelle meines Buchhalters, mit allen damit verbundenen Vortheilen. So, nun gehen Sie,« schnitt sie ihm den Dank ab, den er, zwischen Rührung und Befangenheit schwankend, aussprechen wollte, »ich lege keinen Werth auf Dankbarkeit in Worten, danken Sie mir mit der That. Ich bin auch schon zufrieden,« brach sie erbittert los, »wenn man mir meine Güte, mein Vertrauen nicht mit schnödem Verrath lohnt.«
»Ich glaube, er ist wirklich ein guter Mensch,« fuhr sie fort, als Jakobi das Zimmer verlassen. »Ha! ich würde mich auch nicht wieder durch solche glattzüngige Heuchelei täuschen lassen, wie sie jetzt jahrelang an mir verübt worden ist.« Bittere Thränen rollten über ihre Wangen. Scham, Kränkung, Zorn erpreßten sie der stolzen Frau, »Gott hat ihn gestraft,« sagte sie dann und trocknete ihre Thränen. »Gottes Gerechtigkeit hat den Sünder erreicht, sein eigenes böses Thun hat sich an ihm gerächt. Möge es Jedem so gehen, der sich selbst an den ihm Zunächststehenden so arg versündigt, möge er gerichtet werden durch sein eigenes Thun. Es ist die einzige Genugthuung für die unschuldig Leidenden.«