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Die Hand Baruchs zitterte als er die Blätter weglegte, seine Stirne war heiß als er sie mit der Hand stützte.
Welch ein Wirrsal ist das Leben der Menschheit, das sich in Stammes- und Glaubensgenossenschaften abscheidet; Und die eine haßt und verfolgt die andere und dünkt sich allein weise und gottgefällig, und die Tempel werden zu Feldherrenzelten, darin die Parole kundgegeben wird, den Kundigen zum Heile, den anderen zum Verderben...
Eine Stimme, noch mächtiger und eindringlicher als die in der Synagoge, rief jetzt Baruch, den Segen zu sprechen über das offenbare ungeschriebene Gesetz, dessen beide Säulen Befreiung von jeglicher Stammes- und Glaubenssonderung und Liebe zur Menschheit deuten. Hat nicht schon Maimonides gelehrt: Die Frommen aller Religionen gelangen zur ewigen Seligkeit?
Baruch war nicht mehr der Sohn Israels, er war der Sohn der Menschheit. Nicht nur seine Abstammung trieb ihn darauf hin, sich als solchen zu erkennen – wenngleich dies die erste Veranlassung war – der Geist des Lebens, der Geist Gottes erfaßte ihn und trug ihn hinweg über alle Schranken und hielt ihn fest und frei in wonniger Schwebe.
Erst als ihn der Vater rief, erwachte Baruch und mußte sich besinnen wer und wo er war. Er gab dem Vater die Blätter zurück und küßte seine Hand. Der Vater hielt die Hand des Sohnes fest und ging mit ihm nach der Synagoge. Baruch antwortete denen, die ihm am Eingange des Gotteshauses zu der erlangten rabbinischen Würde Glück wünschten, nur zerstreut und halb. Die Leute hielten ihn für stolz.
Diese Voraussetzung wurde teilweise zur Wahrheit, als er des Sonntag Morgens nach dem Frühgottesdienste seinen mit Blech beschlagenen Folianten unter den Arm nahm und den Weg nach der Schule »Gesetzeskrone« einschlug.
Wie freudig und behend war er sonst diesen Weg gegangen, und jetzt schaute er wie verworren drein und strauchelte fast bei jedem Schritte. Eine aus Mißmut und Stolz gemischte Empfindung beherrschte seine Seele; er sollte nun fort und fort diesen Weg gehen, sollte allzeit dieselben Bücher abermals studieren und was konnten sie ihm Neues bieten? Er hatte die rabbinische Würde, das höchste in diesem Bereiche, errungen, und war und blieb doch wiederum Schüler in den gleichen Lehrgebieten, in denen man nur den Scharfsinn bis zum Aberwitz üben sollte. Er war zu Hause in allem was sich hier kund gab, wozu sollte das ewige Einerlei? Noch schmerzlicher aber war der Gedanke, daß er ein Fremder geworden, denn die Erfahrungen des vergangenen Tages hatten ihn hinausgehoben über jegliche Gewöhnung; war es nicht ein Frevel, daß er wieder in dieselbe eintrat und sich gebärdete als ob nichts geschehen wäre?
Die jüdische Volksgenossenschaft und ihre Lehre war nicht mehr der Kern des ganzen Weltlebens und alles andere nur äußere Schale. Da sind Häuser gebaut, Schiffe gezimmert, Straßen gebahnt, unbekümmert um die vereinsamte Gemeinde; da tönen Glocken und rufen zu anderen Heiligtümern. Wo ist die Lebenskraft der Welt? – der zum mutigen Jüngling Gereifte wäre gern eingedrungen in ihre ewigen Hallen – und ihm öffnete sich jetzt nur die Türe zur Schule »Gesetzeskrone«. Er wollte sich nicht drein finden, daß die Welt nicht plötzlich eine andere werden sollte, weil sie ihm jetzt als eine andere erschien. Warum sollte es nicht möglich sein, zum bewußten Dasein erwacht, auch mit ihm ein neues zu beginnen?
Die Welt geht in ihren gewohnten Gleisen fort.
Die Wunden der ersten Jugend heilen leicht, die Zweifel beschwichtigen sich schnell, sei es im Vergessen oder in gewohnter Unterordnung des Willens.
Als Baruch wieder in die Schule eintrat, war er ganz in jugendlicher Weise dem nächsten Interesse hingegeben und alles andere schien verschwunden.
Rabbi Saul Morteira wies ihm den Platz zu seiner Linken an, den zur Rechten hielt Chisdai durch das Recht der Verjährung inne. Die übrigen Schüler saßen nach Alter und Kenntnissen geordnet an dem langen Tische »zu den Füßen des Rabbi«. Der Lehrer befahl Baruch, den am Freitag unterbrochenen Abschnitt bis zum Ende laut vorzulesen. Es war die Stelle Talmud Traktat Kiduschin Folio 22, Baruch las: »Geschrieben steht 5. B. M. 21, 10: Wenn du ausziehest zum Kriege wider deinen Feind und der Herr gibt ihn in deine Hand, daß du ihn in Gefangenschaft führest, und du siehst unter den Gefangenen ein Weib von schöner Gestalt und du hast Lust zu ihr und nimmst sie dir zur Frau ... Diese Indulgenz ist deswegen gestattet, weil sich die Israeliten doch nicht hätten davon abhalten lassen und es besser ist, sie tun etwas, das erlaubt ist, als daß sie etwas täten was nicht erlaubt ist.« Kaum hatte Baruch einige Minuten gelesen als sich ein heftiger Streit zwischen ihm und Chisdai entspann. Der große Scholiast Rabbi Samuel Edels hatte zu dieser Ausführung ein Problem aufgestellt und es mit den Worten geschlossen: »hiefür läßt sich eine Auflösung finden«. – Chisdai glaubte solche gefunden zu haben, aber einer der jüngsten Schüler, der unten am Tische saß, gab ihn mit zwei Worten dem allgemeinen Gelächter preis. Nun sprang Chisdai auf und wollte den Frechen mit einem Worte niederdonnern: aber auch Baruch stand auf und schlug sich auf Seite des Kleinen. Chisdai wendete sich zu dem Gegner, den er für ebenbürtig hielt; er zog die Ellenbogen zurück und reckte seine auseinandergespreizten Finger empor, daß sie dastanden wie eine Palisade von Ausrufungszeichen, mitleidig lächelnd und mit ironischer Verwunderung schüttelte er sein gelehrtes Haupt über die schwachen Gründe, die man gegen ihn aufbot; aber Baruch setzte ihm immer heftiger zu, da endlich fuhr Chisdai kollernd auf seinen Gegner los, er packte ihn an seinem Mantel und wollte ihn nicht mehr zu Wort kommen lassen, er schlug auf den Tisch, wendete sich behende nach allen Seiten an diesen und jenen, es nützte nichts. Baruch hatte ihn durch seine Ruhe in ein Dilemma gelockt, aus dem er sich nicht retten konnte. Chisdai setzte sich nieder und kaute an den Nägeln, Baruch löste das Problem ganz einfach.
»Ich finde es sonderbar,« sagte er dann, »daß man hier etwas gestattet, weil man es sonst doch tun würde; das könnte man bei jedem anderen Dinge ebensogut anwenden.«
»Die Strafe derer, die eine Nichtjüdin heiraten, folgt gleich darauf,« fagte Chisdai mit frohlockender Miene, die niemand zu deuten wußte als Baruch und er, »denn der Talmud sagt: fast unmittelbar auf diese Verse folgen die von dem abtrünnigen Sohne, weil aus solcher Ehe nur Gottlose hervorgehen.«
Baruch antwortete nichts. »Bleibt nun als Resultat,« fragte er den Rabbi, »daß eine Ehe mit einer Nichtjüdin keine Sünde ist?«
»Du siehst es ja,« antwortete der Rabbi, »aber nur zu Zeiten des Krieges.«
»Kann aber Gott ein Gesetz für den Krieg und ein anderes für den Frieden geben?«
»Warum nicht? Es gibt ja auch viele Gesetze, die bloß für Palästina gegeben sind. Bleib nur bei dem Worte, hier ist allein vom Krieg und nicht vom Frieden die Rede.«
»Verzeiht,« erwiderte Baruch, »ich muß noch etwas fragen. Hier gleich nach diesem Verse steht: Wenn ein Mann zwei Frauen hat, die eine liebt er, die andere aber nicht; die Erlaubnis, mehrere Frauen zu heiraten, galt doch für Krieg und Frieden, für Palästina und die anderen Länder, warum gilt sie jetzt nicht mehr?«
»Du weißt ja, daß Rabbi Gerschon, ›das Licht des Exils›, auf alle Zeiten denjenigen mit dem Bann belegt hat, der mehr als eine Frau heiratet.«
»Wie durfte er aber das, da es ja in der Heiligen Schrift nirgends verboten ist, und nach dem Talmud König Salomo bloß verboten war, mehr als achtzehn Frauen zu heiraten?«
»Ich glaube gar,« antwortete der Rabbi, »du meinst, das hatte das Sanhedrin von Mainz nicht so gut gewußt als du. Ich kann dir jetzt nicht alles auseinandersetzen, du bist nicht allein da; wenn du vorwitzige Fragen stellst, kann ich die anderen damit nicht aufhalten. Chisdai lies weiter.«
Chisdai tat wie ihm befohlen. Die ganze Vorlesung geschah in einem Tone, den man seines allgemeinen Gebrauchs wegen für Tradition hält: der halb wehklagend singende, halb litaneimäßig rezitierende Ton ließe sich ebensowenig auf Regeln der Deklamation oder Musik zurückführen, als aus dem babylonischen Sprachgemengsel des Talmuds eine Grammatik abstrahiert werden kann. Ein jeder der Schüler bemühte sich aus den vielen kunstreich gewebten Fragen des Textes und der zahlreichen Kommentatoren neue Fragen zu kombinieren, die dann wieder durch frappante Syllogismen u. s. w. gelöst wurden. Trotz der ungebundenen Geistesrührigkeit, die sich von allen Seiten offenbarte, war doch eine gewisse geregelte Ordnung nicht zu verkennen. Der Rabbi hörte die Fragen eines jeden genau und forderte dann, je nachdem er deren Lösung schwierig oder leicht fand, diesen oder jenen dazu auf. Chisdai, der dem Throne des Rabbi zunächst saß, winkte den jüngeren, die die ersten Ansätze ihrer Dialektik zaghaft machten, freundlich und mit herablassender Aufmunterung zu. Er lächelte wie ein Feldherr, der, im Bewußtsein bald Größeres auszuführen, einem Untergeordneten, der ein kleines Scharmützel glücklich ausgeführt, wohlwollend auf die Schulter klopft. Als eine Pause eintrat, führte er zwei sich offenbar bekämpfende Ansichten des großen Maimonides in die Schlachtlinie, indem er gegen die hier dargelegte Ansicht eine widersprechende aus dem Traktat Chetuboth auf vielen Umwegen und mit vieler List auf den Wahlplatz brachte. Alles schwieg.
»Nun, Baruch, was sagst du dazu?« fragte der Rabbi. Baruch fuhr wie aus einem Traume auf, denn er hatte sich in ein ganz anderes Gebiet des Denkens begeben. »Nun Baruch, was sagst du zu dem, was Chisdai hier vorbringt?« fragte der Rabbi wiederholt.
»Er hat vollkommen recht,« antwortete er rasch.
Ein schallendes Gelächter, das Chisdai zuerst begann, bewegte sich von dem einen Ende des Tisches bis zu dem anderen.
»Wo sind deine Gedanken jetzt wieder?« fragte der Rabbi besänftigend, »nicht nur seinen Worten, auch seinen Gedanken muß man einen Zaum anlegen. Nun, wer weiß eine Antwort auf Chisdais Frage?« Niemand antwortete. Da brachte Chisdai mit triumphierender Miene eine feingeknöpfte Kette von Autoritäten, Argumenten und Schlüssen hervor, mit welchen er die unwiderleglich scheinende Frage aufs glänzendste ausglich. Baruch suchte seine abschweifenden Gedanken mit aller Willensmacht zurückzulenken, mit peinigender Emsigkeit sprach er die Textesworte vor sich hin, es fruchtete nichts; sein Geist schwebte über den Worten unaufhaltsam nach anderen Richtungen. Von der Anwendung, die die ganze Erörterung auf das Schicksal seiner Mutter an die Hand gab, war er bald zurückgekommen; der Zweifel über die ewige Gültigkeit und Unabänderlichkeit des Gesetzes richtete sich in ihm auf, er glaubte ihn in seinem Entstehen bewältigt zu haben, indem er sich überredete, daß sein Lehrer entweder nicht die Tiefe der Kenntnisse habe, um auf solche Fragen zu antworten, oder daß er ihn noch für unwürdig halte, ihm vom Baume der Erkenntnis mitzuteilen. Vieles, was in seiner Erinnerung fast erloschen war, tauchte in frischer Lebensgestalt wieder in ihm auf, und er war froh, als er seine Mitschüler die großen Folianten zuschlagen und den Rabbi mit einem schweren Seufzer aufstehen hörte.
Zu Hause setzte er sich mißmutig und mit Widerwillen gegen alles schweigend zu Tische. Der Vater ließ ihn unbekümmert gewähren; nur Miriam schaute ihn fragend an. Man sprach von der soeben erfolgten Abreise des Rodrigo Casseres und den Annehmlichkeiten des künftigen Zusammenlebens beider Familien.
»Was ist denn heute mit dir, Baruch?« fragte der Vater, nachdem gespeist worden war. »Du hast doch sonst immer daran gedacht, daß ›die Väter‹ sagen: wenn drei an einem Tische essen und nicht vom göttlichen Worte sprechen, ist es als ob sie von einem Totenmahl genössen. Muß ich dich daran gemahnen, vor dem Tischgebete einen Abschnitt aus der Mischnah zu lesen?«
Baruch stand auf, holte den sauberen Quartband und sprach einige Paragraphen vor sich hin. Heute zum ersten Male fand er es lästig, daß man, den Bissen noch fast zwischen den Zähnen, abermals die alten Gesetze wiederkäuen müsse.
»Ich war auch heute schon für dich bedacht,« sagte der Vater, »ich habe einen Lateinlehrer für dich gefunden; doch, lies nur ruhig weiter, ich will dir's nachher erzählen.«
Schneller als sonst las Baruch die vorgeschriebene Zahl der Abschnitte; um jedoch durch deren schnelle Beendigung seinem Vater nicht zu verraten, wie sehr der angeregte Gegenstand ihn erfaßte, las er noch zwei Paragraphen mehr, aber nirgends folgten seine Gedanken den Zeilen, die Auge und Mund ablas. Er maß die Schuld hievon den Reden seines Vaters bei, denn er wollte sich's noch immer nicht gestehen oder wußte in der Tat nicht völlig, welch eine unabsehbare Veränderung in ihm begonnen hatte. Er schlug das Buch zu und blickte erwartungsvoll auf seinen Vater, der ihm befahl, das lange hebräische Tischgebet laut zu sprechen. Glückliche Macht der Gewohnheit! Hätte Baruch nicht seit seiner ersten Kindheit dieses Gebet täglich mehrmals verrichtet, er hätte jetzt oft gestockt; denn, während er Gott für die leibliche Nahrung dankte und um Wiederaufbauung Jerusalems bat, schweifte sein Geist zu den Göttern nach Rom und Athen und freute sich der geistigen Nahrung, die ihm von Aristoteles und den römischen Historikern geboten werden sollte.
Nach dem Amen stand der Vater auf, zündete sich eine Zigarre an und sprach: »Wenn ich ausgeraucht habe, Baruch, so gehen wir miteinander zu Salomon de Silva. Ich habe anfangs doch ungern in den sauren Apfel gebissen, aber das machte sich alles so von selbst, daß ich meinen Widerwillen dagegen ganz verloren habe. Ich begleitete heute morgen Rodrigo Casseres hinaus an die Amstel, wo er mit der Trekschuit (Ziehschiff) nach Leiden abfuhr, und wie ich zurückkehrte, begegnete mir unser lieber Doktor; ich weiß nicht, die Leute machen viel zu viel Aufhebens von deiner gestrigen rabbinischen Erhöhung; laß dich nur nicht stolz machen von solchen Reden.«
»Gewiß nicht,« antwortete Baruch, ohne aufzublicken. Wie verändert war der Vater heute! Wo war seine sabbatliche Erhebung?
»Man muß immer noch weiterkommen, das ist die Hauptsache,« fuhr der Vater fort. »Eben als ich nun mit dem Doktor darüber redete, fiel mir mein Versprechen ein, und Silva sagte, er könne mir einen Lateinlehrer empfehlen, wie kein zweiter mehr in halb Europa zu finden sei.«
Baruch und sein Vater gingen miteinander zu dem Arzt. »Ich wartete schon lange auf euch,« sagte dieser, »und Magister Nigritius hat mich gewiß schon heute morgen erwartet.« Das Lob, das Baruch nun persönlich von dem Arzte erhielt, ward ihm doppelt peinlich, weil er durch die Vorgänge in seinem Innern wie durch den in der heutigen Schule sich dessen unwürdig hielt.
Wäre es in der Tat eine buchstäbliche Notwendigkeit, daß er ein Abtrünniger werden müsse? – Baruch bebte jetzt vor der Erfüllung eines heiß ersehnten Wunsches.
Ist aber das Abtrünnigwerden eine innere Notwendigkeit, wer will sich dann dagegen stemmen?
»Ich habe stets einen Widerwillen gehabt,« sprach der Vater, während die drei miteinander gingen, »meinen Sohn Latein und noch dazu bei einem Christen lernen zu lassen. Ich habe einst den Spruch aus dem Talmud gehört: Verflucht sei, wer seinen Sohn die griechische Wissenschaft lernen läßt. Dem Akosta hat nichts anderes den Kopf verrückt; hätt' er sein Lebtag weder Latein noch Griechisch gesehen, ich möchte darauf schwören, er lebte jetzt noch unter uns in Ruhe und Frieden, in Ehre und Glück.«
»Euer Wort in Ehren, lieber Binjamin,« sagte der Arzt. »Ihr seid ein geschickter Kaufmann, wißt wie und wann man Rosenholz und Zimt, die Ihr durch die ostindische Kompanie bezieht, am besten absetzt; aber von diesen Angelegenheiten müßt Ihr Euch anders belehren lassen. Ich kann es nicht glauben, daß Ihr auch einer von denen seid, die ihre Jugend ganz vergessen und die polnische Verfinsterung bei uns einführen möchten. Das Ansehen und die Ehre, die wir genießen (hiebei erhob sich der Blick des Doktors bis zum Stolze), verdanken wir dem allein, daß wir in den weltlichen Wissenschaften auch ein Wort mitsprechen können. Ein anderes ist wegen des Lernens bei einem Christen; Euer Baruch ist aber so heimisch in der Bibel und im Talmud, daß er gegen einen Beweis, den man ihm aus der Bibel für das Messiastum Jesu aufgestellt, leicht zehn Gegenbeweise findet; auch sind die frommen Christen gewöhnlich die, die jeden gern in seinem Glauben lassen; weit mehr sind die Freigeister unter den Christen zu fürchten, die könnten unsere Jugend verderben, denn wer die Grundbedingungen jeder Religion leugnet, der ist der eigentliche Verführer. Die wahre Wissenschaft aber führt am Ende wieder zum Glauben.«
Der gelehrte Arzt erläuterte dieses Thema noch ausführlich, denn nicht nur zeigte er seine, für einen Arzt in der Tat seltenen theologischen und philosophischen Kenntnisse gern, sondern er wollte auch hiedurch den barschen Anfang seiner Rede vergessen machen. Er hatte noch nicht geendet, als er in das Haus des Magister Nigritius eintrat, und während er mit ziemlichem Geräusch die fünf Treppen vorausstieg, gab er seinen Begleitern Verhaltungsregeln gegen den Mann, den man jetzt besuchte. Man war endlich oben auf einem reichlich mit Spalten versehenen Boden angelangt. Der Doktor öffnete die Tür: ein kleines Männchen mit einem grüngelben Gesichte und einem gleichfarbigen tintenklecksigen Schlafrocke sprang ihm entgegen und stolperte über einige Folianten, die auf dem Boden lagen. »Heureka carissime amice!« rief der Magister, »Marsi« und nicht Mauri darf man lesen. Sehen Sie, hier will Horaz die Abkunft Augusts vom Kriegsgott ableiten und sagt:
Quem juvat clamor, galeaeque leves, Den Kriegeslärm und das Blinken des Helmes ergötzt,
Acer et Mauri peditis cruentum
Vultus in hostem.
und des maurischen Fußgängers grimmiger Blick
auf den blutenden Feind.
Nun aber sind die Mauren weder kriegerisch noch tapfer. Hier ist eine Stelle im Hirtius über den afrikanischen Krieg, wo weniger als dreißig Gallier zweitausend maurische Reiter aus ihrer Stellung vertrieben; auch hatten die Mauren gar keine Fußgänger. Sodann waren die Mauren ja stets Feinde, und der erlegte Feind, über den sich Mars freut, wäre ein Römer – wie ungeschickt und unpatriotisch! Darum lese ich Marsi und die Marsischen Fußgänger waren die tapfersten unter den italischen Stämmen, wie mehrere Belegstellen aus Strabo, Appian und Virgil, ja sogar zwei Stellen aus Horaz selber beweisen. Seht, mit dieser einzigen Konjektur will ich dem Prahlhans Kaspar Barläus sein groß Maul stopfen, daß er auf Lebzeiten genug haben soll. Ach, lieber Doktor, wie froh bin ich, daß ich einen Mann habe, dem ich das alles erzählen kann und der einen solchen Fund zu schätzen weiß. Schon seit heute morgen warte ich mit Schmerzen auf Euch. Ich kann's jetzt gar nicht mehr begreifen, wie man dem feinsten Römer so lange zumuten konnte, die dummen Mauren gelobt zu haben. Setzt Euch, lieber Doktor.« Der Magister legte einige offene Bücher, die auf einem hölzernen Stuhl lagen, sanft auf den Boden. Erst jetzt berücksichtigte er die beiden Fremden, die er bisher nicht zu bemerken schien. Baruch stand starr dreinblickend da während der langen Darlegung des Magisters; er kniff nachdenkend die Lippen übereinander, denn es war ihm, als hätte sich heute die ganze Welt verschworen, ihn auf allen Schritten an die maurische Abstammung seiner Mutter zu erinnern.
»Was will man von mir?« fragte der Magister ärgerlich. Der Arzt beschwichtigte ihn und sagte, sie hätten eine Bitte. »Setzt Euch hier,« sagte der Magister zu dem Vater, und rückte ihm seinen mit braunem Leder überzogenen Lehnsessel zurecht, »Ihr, junger Mann, setzt Euch zu mir aufs Bett.«
»Seid Ihr mit der Medizin zur Neige und wie geht's mit dem Husten?« fragte der Arzt.
»Optime. Diese Nacht mußte ich noch lange im Bett husten, und als ich mein Öllämpchen ausgelöscht hatte, schwebten mir die Buchstaben noch immer vor den Augen; da auf einmal fällt mir's ein, daß man Marsi lesen muß, ich schreie vor Freude laut auf; in meiner Angst, ich möchte den herrlichen Fund im Schlaf wieder verlieren, springe ich aus dem Bett, wenn ich mich aber totgesucht hätte, ich hätte mein Feuerzeug nicht gefunden; seht, dort steht's noch auf dem Boden, beim Mondschein habe ich es mit Kreide dort hingeschrieben, bin dann ruhig eingeschlafen und als ich heut früh im Schweiß aufwache, ist der Husten wie weggeblasen.«
»Ihr müßt Eure bisherige Lebensart aufgeben,« sagte der Arzt, »und beim herannahenden Frühling fleißig Eure Klause verlassen, sonst stehe ich Euch nicht dafür, daß, wenn der Brusthusten wiederkommt, das Freudenfieber über eine glückliche Konjektur ihn wegschwitzen wird.« Der Magister lächelte mit gutmütigem Unglauben. Nun brachte der Arzt seinen Wunsch vor, und Nigritius willfahrte mit der Klausel, daß Silva es verantworten müsse, wenn er zu ungeschickt dazu sei.
»Wie alt ist man?« fragte er Baruch.
»Fünfzehn Jahr.«
»Und man kann noch nicht deklinieren?«
»Nein.«
»Hm, hm,« brummte der Magister, »Ars longa vita brevis, sagt Hippokrates; zu fünfzehn Jahren da hatte Hugo Grotius schon die gelehrte Ausgabe des Martianus Capella gemacht, Stevini Seefahrerkunst ins Lateinische übersetzt, die Phänomene des Aratus so ergänzt, daß man nicht wußte, wer schöner Latein schrieb, Cicero oder er: ich selbst, ut ad minora redeam, habe, da ich so alt war, schon ein Carmen gemacht, selbst Virgil hätte mir keinen Germanismus, nicht eine falsche Cäsur nachweisen können. Fünfzehn Jahr! Nun wir wollen sehen; diligentia est mater studiorum, d. h. man muß fleißig sein.« Baruch versprach's und der Magister fuhr fort: »Man kann täglich um diese Zeit zu mir kommen, mich aber nicht wecken, wenn ich schlafe. Man braucht keine Bücher mitzubringen, ich habe sie alle.«
Nachdem der Arzt nochmals seine Glückwünsche über die Konjektur wiederholt, verließ er mit Baruch und dessen Vater den Magister.
»Ihr wißt, ich lasse meine Kinder alles lernen, daran spare ich nie: aber ich mache mich nicht größer, als ich bin, ich bin kein reicher Mann und möchte doch auch wissen, was der Magister fordert; zu viel kann ich für den Baruch allein nicht ausgeben, ja, wenn ich meinen Prozeß gewinne, kann ich schon etwas mehr darauf verwenden, aber jetzt, ich muß bedenken, ich habe noch zwei Kinder.« So sprach der Vater und der Arzt brach in ein lautes Gelächter aus. »Nun, was ist da zu lachen?« fragte jener ärgerlich. »Nichts, als daß Ihr den Magister als Kaufmann anseht; und wenn er morgen nichts zu essen hätte, er würde eher verhungern, als daß er nur einen Deut Unterrichtslohn ansprechen würde. Wie der Rabbine es als ein heiliges Werk ansieht, in Bibel und Talmud zu unterrichten, so geht es ihm mit Griechisch und Latein. So menschenscheu er auch ist, hat er doch alle Menschen ohne Unterschied von Herzen gern, und so schüchtern er aussieht, wenn Leute bei ihm sind, so mutig, ja übermütig ist er gegen sie, wenn er die Feder in der Hand und seine allzeit schlagfertigen Bundesgenossen, seine Bücher, zur Seite hat. Durch sein außerordentliches Gedächtnis kann er jeden Augenblick ein ganzes Heer von Beweisstellen ausheben. Dieser Nigritius ist ein ganz merkwürdiger Mensch.«
»Es ist doch ein trauriges Leben so ganz allein, keine Menschenseele um sich und nichts als Bücher und Bücher; ich möchte nicht so leben,« sagte Baruch.
»Das glaube ich dir, Junge,« versetzte der Arzt. »Da siehst du, das ist auch wieder ein verborgener, aber unberechenbarer Vorzug unserer Religion: es ist gar nicht möglich, daß solche Einsiedlersnaturen in ihr aufkommen. Wenn sich nicht einer losgesagt hat von allen ihren heiligen Gebräuchen, was gottlob bis jetzt ungeahndet noch nicht vorgekommen ist, und was auch nicht stattfinden darf, wie will's einer machen, daß er so allein lebt? Dreimal täglich in einer Versammlung von wenigstens zehn Glaubensgenossen zu beten, an jedem Sabbat und Feiertage unfehlbar die Synagoge zu besuchen, das sind lauter Vorschriften, die ein einsiedlerisches Abschließen unmöglich machen. Auch solche eigentlich pedantische Naturen mit ihrer minutiösen Haarspalterei und kleinlichen sogenannten Ordnungsliebe, wie man sie hier zu Lande so häufig findet, triffst du unter den Juden nicht, das kommt vom südlichen raschen Blut.« – Der theologisierende Arzt hätte diese eben erst gefundene Idee noch gern näher ausgeführt, aber die Neugier des Vaters unterbrach ihn mit der Frage: »Woher ist der Magister und wovon lebt er?«
»Er ist aus Heidelberg, einer deutschen Stadt am Rhein, er heißt eigentlich Schwarz, hat aber, wie alle jetzigen Gelehrten, seinen Namen latinisiert. Er spricht nicht gern von seinem früheren Leben, nur in einer traulichen Stunde habe ich einst von ihm erfahren, daß in dem jetzt bald dreißig Jahre dauernden Kriege seine Vaterstadt von den Kaiserlichen geplündert und eingeäschert wurde. Er war so glücklich, die ihm gehörigen Manuskripte aus der nach Rom gebrachten Universitätsbibliothek zu retten; er flüchtete damit, stand aber jetzt verlassen da. Nicht zweimal in seinem Leben war er über das Weichbild seiner Vaterstadt hinausgekommen, in Attika und Latium kannte er jedes Haus und jeden Weg, aber hier wußte er nicht wo aus noch ein. Er schloß sich einer Gesellschaft Auswanderer an und kam hieher, wo er nun seit sechsundzwanzig Jahren lebt. Die Heidelberger Bibliothek hat ihm seine Manuskripte, die er mit sehr reichen Glossen versehen hatte, wieder abgekauft. Außerdem besorgte er für seinen Landsmann Gerhard Vossius und für andere die Korrekturen; die besten Emendationen in den alten Klassikern sind von ihm, und niemand weiß es, daran liegt ihm aber nichts. – Es grenzt ans Unglaubliche, wie wenig der Mann braucht, er mag studieren so viel er will, er bleibt einen Tag wie den anderen, immer heiter und vergnügt, aber von der Welt weiß er nichts; er ist doch jetzt schon tief in den Sechzigen, aber er ist noch so unerfahren wie ein Kind von zehn Jahren; er weiß Euch genau anzugeben, wieviel Sestertien Crassus im Vermögen gehabt hat, wenn er aber zwanzig Stüber hat und sie zählen soll, weiß er sich nicht zu helfen und nicht zu raten. Es ist gut, daß er so brave Hausleute hat; der Klaas Ufmsand und seine Frau, die gute Gertrui, die sorgen in allem für ihn. Laß dir das alles auch gesagt sein, Baruch, damit du dich nie über ihn lustig machst, wenn er etwas linkisch ist; Spott kann er nicht ertragen. Wenn er auch manchmal leeres Stroh drischt, ist er doch so grundgelehrt und du kannst so viel bei ihm lernen, daß du ihm stets mit Ehrerbietung begegnen mußt.«
»Ja, ja,« sagte der Vater, »wenn du bei dem nicht Latein lernst, ist's aus damit.«
Von nun an ging Baruch täglich zu dem Magister. Zwar fühlte er bald, daß dies nicht der Mann dazu sei, um ihn in den gepriesenen Tempel klassischer Weisheit einzuführen, aber eingedenk der Drohung seines Vaters ließ er nichts davon kundwerden, wie er sich in seinen Erwartungen getäuscht hatte. An der dürren Schale der Grammatik des Donat mußte er nagen, während ihn so sehr nach dem nährsamen Kerne gelüstete. Nicht einmal jene Geistesgynmastik des Talmudstudiums ward ihm bei diesen inhaltslosen Formen, die bloß dem Gedächtnisse eingeprägt werden sollten. Ein Schüler wie Baruch hätte einer ganz eigentümlichen Behandlung bedurft. Ein Geist, der sich schon an den höchsten Fragen des Denkens versucht hatte, war über die Stufe der bloßen Empfänglichkeit längst hinaus, und nur was er in sich verarbeiten konnte, faßte er wahrhaft. Der Lehrer suchte Baruchs Ungeduld stets mit der Versicherung zu beschwichtigen, daß »nur dann, wenn man alle Formen im Kopf habe, man inoffenso pede im Gebiet des Klassizismus umherwandeln könne«. Baruch lernte allmählich die fremde Weise, die sich in seinem Lehrer kundgab, achten und ihr nacheifern. Gerade dieser stetige, oft mit peinlicher Ängstlichkeit bemessene Fortgang, der sich keine Beschleunigung, noch viel weniger ein Abspringen erlaubt, gerade diese spröde Disziplin mutete ihn schließlich an gegenüber dem funkensprühenden Absplittern in der Talmudschule. Er zwang sich zu regelrechtem Schritthalten und der Lehrer empfand diese Hingebung und gewann seinen Schüler stets lieber, denn er freute sich täglich mehr, ein teilnehmendes Wesen um sich zu sehen. Er versprach seinem Schüler, er wolle ihm, wenn er einst sterbe, seinen Cicero »Über das höchste Gut und das höchste Übel«, den er mit reichen Randbemerkungen versehen habe, als Erbstück hinterlassen. – Eines Tages, als Baruch zu seinem Lehrer kam, empfing ihn dieser mit ungewöhnlicher Freude und erzählte, daß er heute eine der schwierigsten Stellen in Ciceros Orator gerettet habe; die Scholiasten und die späteren Philologen hätten die leichtere Lesart immer vorgezogen, das sei natürlich bequemer, aber es sei heilige Pflicht jedes echten Philologen, gerade die schwierige Lesart, weil sie schwieriger sei und nicht so leichthin von jedermann begriffen werde, als die richtige und ursprüngliche anzusehen.
»Das ist sonderbar,« sagte Baruch, »das kommt mir gerade vor, als ob ich, wenn ich über ein Gerstenfeld gehe und einige Garben dort liegen sehe, sagen müßte: ei, das sind gewiß Hafergarben, die man von einem anderen Felde hergetragen hat, denn Gerstengarben zu vermuten, das ist ja keine Kunst.«
Magister Nigritius stutzte; dieses Übertragen talmudistischer Sophistik auf ein entferntes, wenngleich nicht unverwandtes Gebiet befremdete ihn; es gelang ihm jedoch, Baruch darzutun, daß die Abschreiber eine schwierige, nicht leicht verständliche Lesart wohl gern in eine leichtere verwandelten, es sei daher Pflicht, wenn in der schwierigeren Lesart ein Sinn zu finden sei, diese vorzuziehen. Baruch war befriedigt von dieser Deutung, der Scharfsinn, der hiebei in Anwendung kam, mutete ihn an: dennoch fühlte er seinen Drang nach einer neuen Welt voll heiteren Glanzes, die sich ihm erschließen sollte, unbefriedigt.
Die gesteigerte Brustkrankheit des Magisters, und die zwischen ihm und Baruch herrschende geheime Unlust machte den Unterricht fortan zu einem unregelmäßigen und wenig fruchtbringenden.
Um dieselbe Zeit begann Rabbi Saul mit seinen Schülern den Traktat Erubin, und um die Lösung der dort gegebenen geometrischen Probleme zu erleichtern, trug er einen vollständigen Kursus der Mathematik nach der hebräischen Übersetzung des Euklid vor. Der unruhige Geist Baruchs fand hierin genügsame Beschäftigung; auch gab er sich wieder mit ungeteiltem Eifer dem Studium des Talmuds hin, er hoffte in ihm seine alte Ruhe wieder zu finden. Die unmittelbare Lust an diesem Studium war von ihm gewichen und doch trachtete er jetzt mit wahrem Heißhunger nach vollerer Sättigung seiner Wißbegierde. Er sprach sich gegen niemand aus und teilte niemand etwas davon mit. Denn das liegt ja im Wesen des jugendlich wachsenden Menschen wie jedes Wachstums in der Natur überhaupt, daß vermöge seiner Anziehungskraft das Aneignen das Entäußern weit überragt und so die Lebenselemente steigert und zu festen Formgebilden zeitigt. In schlummerähnlicher Stille erwuchs der Geist des Jünglings, der eigenen Erkenntnis und fremdem Einblick zur Überraschung.