Hermann Bahr
Dostojewski
Hermann Bahr

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Einer sagt dem anderen nach, Dostojewski sei, so groß er ist, doch zu sehr Russe, um unmittelbar auf uns wirken zu können. Jeder glaubt es seiner Bildung schuldig, das Totenhaus, den Raskolnikow, allenfalls noch die Karamasoff zu kennen, wird aber abgeschreckt durch irgend etwas Fremdes, grauenhaft anlockend Barbarisches darin, vor dem er lieber noch zur rechten Zeit flieht. Es scheint, daß in diesen Werken das Geheimnis einer Nation enthalten ist, das, wer ihr nicht angehört, ja doch niemals erfühlen wird. Dieser Meinung bin ich jetzt durchaus nicht mehr; ich fand, daß es unser aller Geheimnis ist. Auch auf mich hat er anfangs fremd gewirkt, ganz anders, als wir es von unseren Dichtern gewohnt sind. Ich blieb befremdet, solange ich ihn an dieser Gewohnheit maß. Ich war mit ihm vertraut, sobald ich nicht mehr an die Kunst dachte, sondern an mein Leben. Da erinnerten mich seine Gestalten sehr stark; ich wußte freilich lange nicht, woran. Allmählich besann ich mich und es ergab sich, daß sie mich an Menschen meines Lebens erinnerten. Wo war ich nur dieser Menschenart schon begegnet? nicht bloß in Dalmatien, an Lastträgern in Cattaro, an Schiffern und Fischern der Inseln, an Matrosen unseres Lloyd, sondern auch auf dem anderen Ufer, in Malamocco, in Chioggia. Da ist unser alter Freund, der Blinde, der morgens täglich mit seinen Wassertieren nach dem Lido lahmt und in seiner welken Hand ein paar arme Rosen für meine Frau mitbringt, weil er spürt, daß sie ihn freundlich anblickt; und er hat uns mit seinen Gefährten bekannt gemacht, lauter solchen schweigsamen, dankbaren, ergebenen Alten, einer hat Eier, einer Muscheln, einer Münzen für uns, ich darf ihnen aber nichts dafür schenken, da wären sie beleidigt, aber wenn ich ihnen etwas später was schenke, sind sie nicht beleidigt, es darf nur kein Entgelt sein. Wir können nicht viel mit ihnen sprechen, denn die Mundart ist uns fremd, sie selbst aber gar nicht; sie heimeln uns an, ich würde mich ihnen in Leid und Freud lieber anvertrauen als meinen städtischen Freunden, ja mir ist, als hätten wir irgendein tiefes Geheimnis miteinander. Und an der Nordsee fand ich sie wieder, in Holzschuhen klappernd; und tief im Winter ging ich heuer einmal aus der Ramsau über die Schwarzbachwacht nach Reichenhall, den ganzen langen Weg war da kein Mensch zu sehen, bis ich auf einen alten Bauer kam, der trieb sein Pferd, das einen Schlitten mit Säcken zog, ich schloß mich an, der war auch von Dostojewski. Und so fand ich Menschen Dostojewskis in Hallstatt, an den wunderlichen bösen Zwergen mit den großen Kröpfen, fand sie an Bettelmönchen, fand sie an spanischen Landstreichern und Hexen von der Art, die Zuloaga malt; und überall in Erdenwinkeln an Bauern, Handwerkern, Strolchen, Steinklopfern, Kindern und Narren. Alle diese franziskanischen Gestalten, so verschiedener Rassen, so verschiedener Zonen, so verschiedener Vergangenheit und Gegenwart, haben aber das miteinander gemein, daß ihnen gleichsam nur äußerlich ein Individuum angeschrieben oder aufgeklebt ist, keiner ist eigentlich eine Person, er ist nichts als Mensch, in irgendeine allgemeine Form eingerollt; öffnen wir diese, so sind wir gleich in seiner Tiefe, ja gewissermaßen noch tiefer, nämlich im Urgrund der Menschheit, aus dem empor sich sonst dann erst der besondere einzelne Mensch auferbaut. Der fehlt an ihnen, sie sind bloß Menschenstoff, mit irgendeinem Mantel behängt, aber das besondere innere Gerüste, worauf der Kulturmensch so stolz ist, fehlt. Es fehlt auch in den Versen Walt Whitmans; auch sie sind alle bloß Wellen des Meeres, eine verschlingt die andere, es bleibt nichts davon als das Meer. Solche Wellen der Menschheit, von denen uns nichts als die Menschheit bleibt, sind Aljoscha und der Fürst Myschin und der alte Staretz Sossima; an ihnen ist mir zuerst bewußt geworden, daß ich die Welt Dostojewskis schon kannte, von Malamocco und von meinen Bauern her. Merkwürdig war mir aber nun, daß auch bei seinen anderen Menschen, solchen nämlich, die keineswegs wie jene sozusagen im Urwesen stecken geblieben, sondern ganz persönlich ausgeprägt sind, fast immer ein Augenblick kommt, wo auch sie genau so wirken wie jene, wo ihnen ihr gleichsam nur vorgeschobenes Individuum wieder weggezogen wird und auch von ihnen nichts mehr als der Urstoff übrig bleibt. (Dadurch wirkt ja zum Beispiel die letzte Wanderung und das Ende des Stepan Trophimowitsch, des albernen Intellektuellen in den Dämonen, so überwältigend groß.)

Jeder Mensch enthält die ganze Menschheit. In unseren großen Augenblicken, den Augenblicken der Liebe, der Selbstaufopferung, der Entrückung aus unserer irdischen Enge wird das jedermann inne. Wie könnten wir uns sonst auch in anderen wiederfinden, oft besser als in uns selbst? Wie könnte der Dichter, der Schauspieler, ja jeder Künstler sich so tausendfältig immer wieder in neue Gestalten verwandeln, hätte er sie nicht in sich? Er hört sie sprechen, er sieht sie handeln, und sie sprechen anders als er erwartet hat, sie handeln anders als er will, sie werden anders als er sie geplant hat: sie zwingen ihn, Empfindungen und Handlungen geschehen zu lassen, deren er selbst nicht fähig ist. Aber woher nimmt er solche ihn selbst überraschende und überwältigende Empfindungen und Handlungen, wenn nicht aus sich, aus seinem eigenen unbekannten, tief verborgenen Selbst? Und wie könnte sonst irgendein Mensch an einem anderen teilnehmen, wie ihn verstehen wollen, wie sich anmaßen, jemals anderen gerecht zu werden, wenn er nicht an irgendeiner Stelle selbst schon eben jener andere wäre? Nur indem uns ein anderer Mensch dort berührt, wo wir dasselbe sind wie er, können wir mit ihm fühlen, können wir ihn erkennen, können wir ihn richten.

Jeder Mensch enthält die ganze Menschheit. Indem er sich nun aber formt, sich Grenzen steckt, sich auf einen festen Punkt zusammenzieht, muß er unter seinen eigenen Möglichkeiten wählen, er muß absondern, was er festhalten will, er muß entlassen, was er von seiner Fülle nicht brauchen kann; aus ihr holt er sich heraus wie der Bildhauer aus dem Stein die Gestalt. Jede Gestalt ist ein Verlust, ist Verarmung und Verengung. Aus der ganzen Menschheit wird ein einzelner Mensch gemacht, irgendein Teil unterwirft sich die anderen, diesem Teil wendet sich nun alle Kraft zu. In den Mythen aller Völker ist die Erinnerung an ein Paradies lebendig geblieben, an ein goldenes Zeitalter, das noch keinen Haß unter den Menschen, keinen Krieg kennt, an die Seligkeit jener Urzeit, da jeder Mensch noch die ganze Menschheit war. Und in allen Völkern ist immer noch die Sehnsucht nach einer Wiederkehr jener hellen Jugendzeit lebendig, als ob es der Mensch irgendwie tief in sich wüßte, daß er zwar, um Gestalt anzunehmen, dem ganzen Menschen entsagen, sich absondern, sich in einen Teil, ein bloßes Stück von sich, ein Fragment zusammenziehen muß, daß aber dies für ihn bloß eine Prüfung ist, die er überwinden wird, um dann mit gesammelter Kraft, mit errungener Gestalt wieder zum ganzen Menschen zurückzukehren. Dies meint der ewig die Menschheit sanft begleitende, in starken Zeiten ungeduldig hervorbrechende Glaube an das dritte Reich der Verheißung.

Jeder Mensch enthält die ganze Menschheit. Aber aus diesem Stoff holt er nun seine Gestalt hervor, sie scheint ihm des Lebens höchste Lust und letzter Sinn, doch gerade sie will er keinem anderen gewähren, von jedem anderen fordert jeder, daß er nicht bloß eine einzelne Gestalt der Menschheit, sondern die ganze Menschheit sei. Wir messen unseren eigenen Wert daran, wieviel von uns wir zur Gestalt bringen, und wir messen jeden anderen daran, wie wenig er von der ganzen Menschheit verliert. Persönlichkeit achten wir an uns am höchsten, und Persönlichkeit lassen wir an anderen nicht gelten. Jeder will selbst ein einziger sein, ein einmaliger Mensch, wie noch keiner je war und keiner je mehr sein wird, jeder rühmt sich seiner Eigenheit und hegt sie, jeder liebt an sich, was ihn von den anderen unterscheidet, das macht ihn stolz und froh, aber eben das haßt jeder an anderen. Man gefällt anderen bloß gerade soviel, als man ihnen gleicht, und alle Weltklugheit läuft ja bloß darauf hinaus, daß wir die anderen nicht merken lassen, worin wir anders sind als sie, und eben das also verbergen lernen, was uns an uns selbst im stillen für das Höchste, für das Liebste gilt, ja wodurch und wofür allein wir zu leben glauben. Nichts empört den erwachenden Jüngling so, als daß man ihm nicht gönnen will, dieser ganz besondere, nie dagewesene, bloß in diesem einen Exemplar vorhandene Mensch zu sein, zu dem er sich bestimmt fühlt, und gegen nichts wehrt er sich dabei so, als wenn auch noch ein anderer ebenso besonders und einzig sein will. Erst wer älter wird, vieles erlebt hat und anfängt, an seiner Weisheit irre zu werden, kommt allmählich darauf, daß die anderen vielleicht ganz recht haben, ihm seine lieben Eigenheiten zu verdenken, ja, daß vielleicht bloß dieser ihr Widerstand allein ihn bewahrt hat. Goethe läßt den Geistlichen, zu dem Wilhelm Meister seinen Harfenspieler bringt, über »die Mittel, vom Wahnsinn zu heilen«, sagen: »Es sind eben dieselben, wodurch man gesunde Menschen hindert, wahnsinnig zu werden. Man errege ihre Selbsttätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung, man gebe ihnen einen Begriff, daß sie ihr Sein und Schicksal mit so vielen gemein haben, daß das außerordentliche Talent, das größte Glück und das höchste Unglück nur kleine Abweichungen von dem Gewöhnlichen sind, so wird sich kein Wahnsinn einschleichen, und wenn er da ist, nach und nach wieder verschwinden  . . . Es bringt uns nichts näher dem Wahnsinn, als wenn wir uns vor anderen auszeichnen, und nichts erhält so sehr den gemeinen Verstand, als im allgemeinen Sinne mit vielen Menschen zu leben.« Einen Geistlichen läßt Goethe dies aussprechen, denn es ist eine christliche Wahrheit: dem Christentum ist jeder Mensch heilig, weil er die ganze Menschheit enthält, und jeder ist ihm sündig, weil er von der Menschheit zu sich abirrt, und jeder kann erlöst werden, wenn er aus sich wieder zur ganzen Menschheit zurückkehrt, wenn er, wie es Heinrich Suso nennt, »sich entbildet von der Kreatur«, wenn er »sich entwird«. Der tiefste Begriff des Christentums ist der der Erbsünde: dadurch, daß ein Mensch geboren wird, ist er schon schuldig, dadurch, daß er sich absondert und für sich sein will (wie es bei Heinrich Suso heißt: der Teufel hat Eva verlockt, daß sie »etwas sein wollte«); Gott muß Mensch werden und selbst das Menschenleid auf sich nehmen, das Leid der Individuation, um die Menschenschuld abzubüßen, aber seitdem verlischt die Hoffnung nicht mehr, daß der Mensch sich überwinden, von sich erlösen und so mit Gott vereinen kann.

Jeder Mensch enthält die ganze Menschheit, freilich weiß er es aber nicht, denn nur einen geringen Teil von uns haben wir inne. Erziehung, Gewohnheit, Beispiel, Umgebung, Beruf, die Nötigung, andere über uns zu täuschen, ja auch uns selbst, der Wunsch, mit den Forderungen, die die Welt an uns stellt, übereinzustimmen, das Bedürfnis, uns bequem handhaben zu können, alles wirkt zusammen, um uns eine besondere Rolle zuzuweisen und uns so darin zu bestärken, als wären wir wirklich nichts anderes mehr. Nur ein starker Schlag des Schicksals, ungeheures Glück oder tiefstes Leid, reißt zuweilen für einen Augenblick unser Inneres auf und läßt uns vor dem Getümmel von Menschen erschaudern, das wir sind. Dann erkennen wir, einen Augenblick lang, was alles in uns versammelt ist, unfaßlich für das winzige Ich, das wir uns herausgefischt haben, erkennen es und – wenden uns ab; wir können den furchtbaren Anblick nicht ertragen, wir wenden uns ab und verkriechen uns in unserer Enge wieder. Wie ein solches großes Schicksal tritt Dostojewski seine Gestalten an und sprengt ihre Form, reißt ihre Tiefen auf und stößt sie in das Chaos zurück, dem sie sich entwunden haben; er stellt den Urzustand wieder her.

Im Gebet geschieht es, daß der einzelne sich zerfließen fühlt, und so spiegeln Dichter der Entrückung solches Verschweben aus der Individuation wider: der heilige Franziskus, wenn er die Sonne grüßt, oder Novalis in den Hymnen an die Nacht, Wagner im Tristan. Aber bei Dostojewski wirkt es mit einer grauenhaften, fast nicht mehr zu ertragenden Gewalt, weil diese Gestalten, die er auflöst, in Erz gegossen sind. Er hat den höchsten Sinn für Gestalt, die höchste plastische Kraft, das höchste Gefühl für die absurde Verknüpfung, die einen Menschen eben zu diesem einen, einmaligen, in aller Vergangenheit und aller Zukunft beispiellosen Menschen macht. Denn das, woran wir einen erkennen, das »Unterschiedliche«, wie Meister Eckhart sagt, ist immer etwas Unbeschreibliches, unseren Sinnen Unfaßliches, unserem Verstande durchaus Absurdes. Wenn wir einen in seine sämtlichen Eigenschaften zerlegen und diese dann wieder zusammenfügen, erhalten wir ihn nicht, es fehlt noch etwas: er nämlich fehlt. Die Summe seiner sämtlichen Eigenschaften ergibt ihn nicht, er ist mehr. Damit aus ihnen er werde, muß, indem sie verknüpft werden, noch irgend etwas dazu kommen, was den menschlichen Verstand übersteigt, ja auf ihn, wenn er es ahnt und sich nicht davor in Ehrfurcht rettet, aufreizend lächerlich wirkt. Das erbittert ja Freunde gegeneinander so, denn der Freund ist alles, was wir an ihm verstehen, aber er nimmt sich heraus, dann noch etwas dazu zu sein, etwas was wir immer, immer wieder fühlen müssen, aber niemals, niemals erkennen können, weil es keinen Zugang für den menschlichen Verstand hat. So kann man sagen, daß jeder unerkannt durchs Leben geht, unerkannt ins Grab sinkt; und auch er selbst erfährt sein eigenes Geheimnis nie. Dieses Geheimnis, diese innerste Verknüpfung und Verknotung, dieses Absurde des Einzelmenschen stellt Dostojewski mit einer Kraft dar, wie nur noch Shakespeare und Balzac. Jede Gestalt dieser Dichter ist ein Unikum, auch ihrem eigenen Schöpfer gegenüber, wodurch sie sich z. B. von den Gestalten Goethes unterscheiden: auch diese sind mehr als ihre sämtlichen Eigenschaften, aber was noch dazu kommt, ist Goethe, sie haben alle Goethes Augen, wie alle Lippen, die Leonardo malt, das Lächeln Leonardos haben. Aber Shakespeares, Balzacs und Dostojewskis Gestalten wissen von ihrem Schöpfer nichts mehr. Und nun geht aber Dostojewski her und schlägt ihren Knoten durch. Er löst sie auf, läßt ihnen aber dabei das Unauflösliche jeder Erscheinung. Er nimmt ihnen einen Augenblick ihr Antlitz ab, aber gleich darauf bindet er es ihnen wieder vor.

Stendhals Julien oder Balzacs Rubempre oder Ibsens Hjalmar haben kein geringeres Leben als irgendeine Gestalt Dostojewskis, aber der Unterschied ist: sie bleiben in ihrer Gestalt eingeschlossen und können nicht mehr heraus; aus dem ewigen Flusse geschöpft, durch die bildende Kraft des Künstlers geballt, stehen sie dann in ihrer Form still und wir hören nur allenfalls, wie das Element, gefangen, gebändigt, leise zuweilen noch glucksend an die starre Wand schlägt. Dieses innere Klopfen der Gestalten an ihrer Form ängstigt uns oft bei Hauptmann so, gar am Emanuel Quint: jetzt und jetzt fürchten wir, daß die Form davon zerbrechen wird, und wissen nicht, warum wir es aber doch zugleich auch fast wünschen. Wagner freilich führt seine Gestalten durch die Macht der Musik aus der Enge der Gestalt hervor und erlöst sie von sich selbst, ihr Wesen überwogt ihre Form, die Gestalt zergeht in ihre Essenz, Isolde wird zur Liebe, Kundry zur Buße, nichts als Liebe bleibt von Isolden, nichts als Buße von Kundry zurück, des Meisters Eckhart leuchtendes Wort wird Ereignis: »Auf denn, edle Seele, so geh denn aus dir, so weit, daß du gar nicht wieder zurückkommst, und geh ein in Gott, so weit, daß du gar nicht wieder herauskommst!« Aber bei Dostojewski kommt sie wieder heraus, sie kehrt zu sich zurück: das ist es, wodurch Dostojewski die Menschheit auf einen neuen Weg, wodurch er uns ins Freie bringt, das ist es, wodurch er uns in der größten Krise des europäischen Gewissens die einzige Rettung zeigt.

Erzene Gestalten löst Dostojewski wieder in die ganze Menschheit auf und zieht dann aber im nächsten Augenblick die ganze Menschheit wieder in dieselbe Gestalt ein: fortwährend nimmt bei ihm unter unseren Augen das Chaos Gestalt an, es wird hart, gleich aber erweicht sich die Gestalt und zerfließt, aber schon gerinnt der Fluß wieder, und in solchem unablässigen Wechsel scheint bald die Menschheit in einer Gestalt, bald wieder die Gestalt in der Menschheit zu verschwinden, die Menschheit atmet Gestalten ein und aus, jede Gestalt Dostojewskis ist ein ununterbrochener Zug von Geburten, Toben und Wiedergeburten. Daraus erklärt es sich auch, warum er so stark erotisch wirkt, denn eben dieses Entweichen und Wiederkehren der Gestalt, die von ihrem austretenden Inhalt überschwemmt wird, dann aber aus den absinkenden Fluten wieder emportaucht, erleben wir sonst nur in den Augenblicken der Liebeslust, wenn der Liebende, wenn die Geliebte nichts mehr als Verlangen sind, alles Eigene verlischt und uns aus den vertrautesten Zügen das Urgesicht der Menschheit fremd und ungestalt anstarrt, bis dann allmählich erst, von der seligen Selbstvergessenheit erwachend, aus dem Urweibe wieder die verschwundene Gestalt der Geliebten erscheint und staunt, an ihrer Seite den wiedergeborenen Freund zu finden. Der schrecklichsten Gewalt solcher Augenblicke erinnern wir uns unwillkürlich bei Dostojewski, denn er verfährt wie Eros: er taucht seine Gestalten in den Urgrund des Daseins hinab, ins Grenzenlose, Uferlose, wo noch nichts Form hat, in die tiefe Nacht, und wenn sie dort erloschen sind, hebt er sie drüben wieder empor und läßt es wieder tagen.

Gestalten ganz scharf abzuheben, fest einzugrenzen und in ihrer ausschließenden Einzigkeit darzustellen, dann aber einem Schicksale zuzutreiben, das ihre Form zersprengt und sie wieder in das Element auflöst, bis auf einen letzten Faden, an dem sie sich zu sich selbst zurückziehen, ist Dostojewskis Art. Damit sagt man schon, daß er das Problem unserer Zeit darstellt. Während wir nämlich eben noch in Persönlichkeit schwelgten, jeder seiner Besonderheit stolz, anders als die anderen, in sich verbohrt, ist uns plötzlich darin zu enge geworden, wir finden uns verarmt, wir fürchten auszutrocknen, und dieselbe Leidenschaft, mit der wir uns eben noch immer mehr einzogen und verengten, ergreift uns jetzt nach Ausdehnung, Enteignung und Ergießung. Wir spüren ein stärkeres Leben in uns, als unsere Gestalt fassen kann, zu ihm wollen wir aus ihr hinaus, über den geringen Teil von uns hinweg, in dem wir gefangen liegen. Das kündigen jene seltsamen, überall aufleuchtenden Zeichen einer neuen Religiosität an; Züge des dreizehnten und des vierzehnten Jahrhunderts hat unsere Zeit, mit ihrer irren Sehnsucht, die nach jeder Mystik greift, um Expansion, Explosion, Effusion. Aber solche Zeiten, wo jeder aus sich wegstürzt, um drüben ins wahre Wesen unterzutauchen, gewahren schaudernd, eben wenn sie das Wesen zu berühren glauben, daß sie ins Wesenlose fallen: dieser Schwindel erfaßt uns schon! Indem nun Dostojewski niemals größer ist, als wenn seine Gestalten auf der Flucht aus ihren Grenzen, von ihrem Inhalt überströmt, in ihm verschwindend, sich selbst entsunken, plötzlich aus dem Element wieder emporgespült und in ihr armes Ich zurückgeworfen werden, läßt er uns das tiefste Geheimnis des irdischen Zustands ahnungsvoll berühren, nämlich daß alles Leben größer ist als jede Gestalt, in die es sich drängt, daß es aber nur an Gestalten erscheinen kann, daß es also, die Gestalt verlierend, damit auch sich selbst verlieren muß, daß alles Werden immer wieder ins Sein flüchtet, daß alles Lebendige zur Gestalt verdammt bleibt, daß wir niemals »hinüber« gelangen können, ohne uns und unsere ganze Welt zu vernichten, und daß unsere wirkliche Existenz am innersten Rande des Ichs ist, noch vom Ich gehalten, aber den Blick schon im Abgrund – dieses Schweben ist der Mensch. Alle lebenssicheren Zeiten haben das im inneren Gebrauch. So geben die Griechen dem Apoll den Dionysos mit. So kehrt der heilige Franziskus aus Verzückungen zu seinen zärtlich gehegten Tieren heim. So genießt der spanische Dichter in mönchischer Einsamkeit alle Lust und Laune der verschränkten Sündenwelt; eines seiner Stücke nennt er »In diesem Leben ist alles Wahrheit und alles Lüge«, eben in diesem Gefühl, daß es ein Leben am Rande ist, mit dem Fuß noch im Trug, doch schon hinüber gebeugt. Kant hat das dann formuliert, Goethe hat es bewußt gelebt. Es geht nur den Menschen immer wieder verloren, und erst wenn die Not am höchsten ist, findet es einer wieder. Höher kann unsere Not nicht mehr steigen und siehe, da steht schon Dostojewski für sie bereit.

Ich weiß nicht, was Dostojewski für die Russen bedeutet. Ich weiß nur, was er im ganzen der Weltliteratur ist: der letzte (denn er war ja jünger wie Wagner), der in seiner Kunst dargestellt hat, was es mit unserem Leben ist und wie wir möglich sind. Tolstoi ist ja, solange er in der Kunst blieb, niemals ins Innere des Lebens eingedrungen, und als er es fand, nicht mehr in den irdischen Trug zurückgekehrt; er war immer entweder ganz hier oder ganz dort, niemals in der Schwebe dazwischen, die den ganzen Menschen gibt. Kunst in diesem höchsten Sinne genommen als Darstellung der Zwienatur des Menschen, sind Wagner, Whitman und Dostojewski unsere letzten Künstler gewesen. Und mit einer notwendigen und unvermeidlichen Übertreibung kann man sagen, daß Dostojewski der Dichter ist, an dem allein jetzt Europa sich wiederfinden und aufrichten kann.

Was vom Individuum gilt, gilt ebenso für die Nation. Auch in ihr verkürzt und verengt sich die Menschheit und verarmt, auch im Wesen der Nation ist es, absurd zu sein. Und wie jedes Individuum zwischen Ausdehnung und Einziehung schwebt, drängt es jede gesunde Nation bald zur Menschheit hinaus, bald wieder in sie selbst zurück. In sich selbst allein vertrocknet sie; sie muß immer wieder an der Menschheit Atem holen. Entfernt sie sich dabei zu weit von sich und verliert den letzten Faden, an dem sie dann wieder zur Beruhigung in sich selbst zurück kann, so zerrinnt sie. Individuen und Nationen sind gleich trügerisch, aber ein der Menschheit unentbehrlicher Trug, denn sie sind es, woran allein die Menschheit erscheinen kann. Es war der Irrtum des Rationalismus, dies zu verkennen. Indem er von der Nation absah, zog er dem Menschen, während er ihn über die Wolken zu heben glaubte, nur unter den Füßen den Boden weg. Die russischen Rationalisten werden Westler genannt. Dostojewski mußte, mit seiner tiefen Einsicht in die Zweifaltigkeit des menschlichen Wesens, ihnen notwendig widerstreben und geriet dabei in die Gesellschaft der Nationalisten, die freilich die menschliche Natur ebenso mißverstehen, bloß auf der anderen Seite. Das Individuum wie die Nation lebt nur im Gleichgewicht von Expansion und Konzentration. Da es damals die Westler waren, die dieses Gleichgewicht störten, konnte Dostojewski, vor Angst, die losgerissen im Winde treibende Seele seines Volkes müsse verströmen und entdampfen, übersehen, daß sie, von den Nationalisten in die Enge getrieben, in sich ersticken muß. Übrigens meint er, wenn er wider das Ausland für Rußland spricht, im Grunde stets einen anderen Gegensatz: den zwischen Verstand und Gefühl. Leben ist zu tief, um ausgedacht zu werden. Es setzt sich in Gefühl um, vor dem der Verstand ratlos steht; er kommt ihm mit seinen Wahrheiten nicht bei. Sie sind unbrauchbar zur Tat, sie bringen nichts hervor. Was uns tätig macht, wodurch wir bewegt und bestimmt werden, was in uns treibt, diese geheime Kraft gibt sich uns unmittelbar kund. Wir haben eine innere Notwendigkeit, die uns diese Handlung gebietet, jene verwehrt, ohne wahrnehmbaren Grund. Verletzen wir dieses Gesetz, so leiden wir noch in der Erinnerung daran; ihm zu gehorchen macht uns froh, selbst bei bösen Folgen für uns; insgeheim stimmen wir alle Goethes vermessenem Wort zu: »Lieber schlimm aus Empfindung als gut aus Verstand!« Dieses innere Gesetz läßt sich erst gar nicht mit uns ein, es fragt uns nicht erst, es wirkt, wenn wir uns genau beobachten, wie eine von außen uns zusprechende, uns anherrschende Stimme gleichsam eines höheren Genius oder des Geistes unserer Ahnen oder der Volksseele, wie man nun immer sagen will; als ein übermächtiges Wesen empfinden wir es. Erfahrung zeigt aber, daß in Menschen, die sich dagegen taub stellen, um lieber auf das Urteil des Verstandes zu hören, wirklich mit der Zeit diese innere Uhr verstummt; dann schlägt in ihnen gar nichts mehr, der Verstand kann es nicht ersetzen. In ihrer Not sehnen sich solche gewichtlose, unversicherte, jedem sinnlichen Eindruck wehrlos preisgegebene Menschen nach jener Festigkeit und Gewißheit der Entschließungen zurück, die der Intellekt nicht gewahren kann. An wen aber sollten sie sich da wenden als an die noch unverfehlten Schichten, die man das Volk nennt? Volk nennt man, was noch nicht vom Intellekt angefressen ist, was noch unverbrauchte Kraft hat, was noch unmittelbar aus der Empfindung lebt. Alle großen geistigen Krisen enden so immer mit einer Flucht ins Volk. (Dante! Goethe, Herder mit dem Sturm und Drang! die Romantik!) Natürlich geht der Intellektuelle, der den Rest seiner lebendigen Kraft vor dem Intellekt retten will, in das Volk, das er zunächst hat: in sein eigenes. So entsteht das Mißverständnis aller Nationalisten, der russischen, wie der deutschen, wie der lateinischen, als ob gerade nur in ihrem eigenen, in diesem einen Volk die Heilkraft verborgen wäre. Sie ist in allem Volk. Man läßt sich nur durch den Doppelsinn dieses Namens verführen, der bald das Ganze der Nation, bald den vom Intellekt unberührt, in seiner Empfindung unversehrt gebliebenen, das angeborene Gesetz bewahrenden Teil bezeichnet. Diesen muß der Intellektuelle finden, um zu gesunden. Der Franzose Gauguin findet ihn auf Tahiti. Richard Wagner erfrischt sich in Venedig mit Gondolieren. Dostojewski wundert sich in Florenz, wie sehr italienische Bauern seinen Russen gleichen. Daß es gemeine Leute sind, daß sie noch das Gleichgewicht der inneren Kräfte haben, daß sie Volk sind, darauf kommt es an; der nächste Gassenbub tut es auch. Nun aber die heilende Kraft, die in allem Volk ruht, dem einen zuzuschreiben, an dem gerade man sie selbst gefunden hat, ist der Irrtum aller Nationalisten, des Dostojewski wie des Lagarde wie des Barrès (ich nenne diese drei, weil sie in ihrer politischen Gesinnung einander oft geradezu bis aufs Wort gleichen). Dostojewski muß dies übrigens irgendwie selbst insgeheim empfunden haben, an manchen Stellen seiner Puschkin-Rede ist er schon ganz nahe daran, es auszusprechen, daß wir bloß ins Volk einkehren müssen, ganz gleich in welches. Sein Nationalismus haßt nicht. Vom russischen Volk erwartet er vielmehr, daß es den anderen die »Allversöhnung« bringen wird. Er rühmt die »hohe synthetische Begabung« der Russen. Er findet im russischen Volk noch das Gefühl lebendig, daß der Mensch »nicht wie ein gewöhnliches Erdentier nur sein Leben friste, sondern mit anderen Welten und der Ewigkeit verbunden sei«. Das fehlt ihm im übrigen Europa, das er in Erwerb und in Genuß versunken sieht und in Zwietracht. »Sowohl der Franzose wie der Engländer sieht in der ganzen Welt nur sich allein und in jedem anderen ein Hindernis auf seinem Wege; und ein jeder will bei sich allein das vollbringen, was nur alle Völker mitsammen vollbringen könnten, mit vereinten Kräften.« Er bemerkt nicht, daß er von den Franzosen, von den Engländern eben nur die Intellektuellen kennt und daß sein Kampf gegen die »Westler« doch überall in Europa gekämpft wird, ganz ebenso, wenn auch unter anderen Namen, überall lösen sich einzelne vom allgemeinen Schicksal los, verleugnen die inneren Stimmen und trauen sich zu, aus dem bloßen Verstande zu leben; überall setzt sich ihnen die Lebenskraft des unversehrten, seine inneren Gewißheiten ehrfürchtig bewahrenden Volkes entgegen; und überall wird sich, wo nur irgendein Volk zu sich selbst kommt und sein inneres Gesetz erfüllen lernt, dieselbe »synthetische Begabung« offenbaren. Wie wir aus unserer inneren Anarchie gerettet werden könnten, das ist heute das Thema Europas. Es ist das einzige Thema Dostojewskis. Er glaubt bloß zu Russen zu sprechen, doch er spricht von uns allen. Denn jene allversöhnende Gemeinsamkeit, auf die er in seinen reinsten Gesichten, in, wie er sie nennt, »unseren Stunden Christi« gehofft hat, ist ja schon da: in der schöpferischen Sehnsucht aller Nationen, Volk zu werden.

Salzburg, 2. August 1913.


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