Hermann Bahr
Himmelfahrt
Hermann Bahr

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Neuntes Kapitel

Franz hätte nie geglaubt, wie genügsam er geistig doch eigentlich war. Er versimpelte jetzt ganz und das Schlimme war, daß er sich dabei noch wohl fühlte. Der Tag rann ab; und der nächste wieder, und dann noch einer. Und er schämte sich nicht, er langweilte sich nicht, er bangte nicht, er wurde nicht ungeduldig, er sehnte sich nicht einmal. Auch nach ihr nicht. Ihm fehlte nichts. Auch sie nicht. Seltsam! Vier Monate war es jetzt her, daß er ihr nicht mehr schreiben durfte, und sie schrieb ihm noch immer nicht wieder. Wenn er sie zuweilen von ferne sah, bog sie weg, bevor er sich ihr nähern konnte. Absichtlich oder zufällig? Wich sie ihm aus oder hatte sie ihn gar nicht bemerkt? Jedenfalls ging er ihr nicht nach. Sie wird sich seiner schon wieder erinnern, wenn es erst so weit ist, und das wird dann viel schöner sein, wenn er es ruhig abgewartet hat! Schon das Warten selbst war ja so schön. Und er hatte doch Zeit. Es fiel ihm auf, daß er sich jetzt zum erstenmal in seinem Leben Zeit ließ. Er hatte es sonst immer so eilig gehabt. Und hatte doch nichts erreicht, in all seiner Hast. Sich Zeit zu lassen ist vielleicht das ganze Geheimnis. Erzwingen läßt sich nichts: was uns nicht bestimmt ist, bleibt uns doch versagt, und was uns bestimmt ist, kommt von selbst. Das war allerdings recht spießbürgerlich gedacht, aber vielleicht hatte der Domherr ja recht: vielleicht war es anmaßend von ihm, kein Spießbürger zu sein. Er überließ sich seinem Schicksal. Er gab es auf, seinen eigenen Vormund zu spielen. Er hatte damit kein Glück gehabt. Die besten Vorsätze halfen ihm nichts. Als er auf sein letztes Gespräch mit dem Domherrn hin es mit dem Gebet versuchte, war er auch nur wieder enttäuscht worden. Sein Gefühl blieb taub und stumm. Er empfand nichts als Ärger über das schlechte Deutsch der Gebetbücher. Und als er sich entschloß zu beichten, war er im letzten Augenblick wieder weggerannt, vor Scham. Scham, dabei gesehen und erkannt zu werden? Scham, sich einem Unbekannten anzuvertrauen? Scham vor der sicheren Enttäuschung, die er ja schon bei dem bloßen Gedanken empfand, seine Sünden einem ermüdeten, zerstreuten, ungeduldigen, halbgebildeten, nach Weihrauch und Schnupftabak riechenden Kaplan zu bekennen? Was verstand der von ihm? Was konnte der ihm sagen? Was hätte das für ein Mensch sein müssen, um in das Herz eines anderen, in seine Not, in seine Sehnsucht sehen zu können, und gar noch alle fünf Minuten immer wieder eines anderen! Er wußte freilich, daß es ja nicht der Priester war, zu dem er in der Beichte sprach, aber das blieb ihm eine leere Fiktion. Vielleicht war es nur das erstemal so schwer, vielleicht ließ sich jene Scham, Bangigkeit oder doch Befangenheit ja mit der Zeit überwinden, aber er hätte dann, bis er sie überwand, jedenfalls diese ganze Zeit eine heilige Handlung in einem höchst unwürdigen Zustande verrichten, also entheiligen müssen! Sein Gefühl ließ sich nun einmal nicht kommandieren, was immer auch der Domherr sagte. Ja schon die bloße Vorstellung, ein Gefühl kommandieren zu wollen, es kommandieren zu können, schien ihm ein Frevel. Hier lag offenbar etwas zwischen ihm und dem Domherrn, worüber er sich nicht einmal begrifflich klar zu werden vermochte. Etwas zu tun ließ er sich von seinem Willen zwingen, auf eine Einsicht oder auf ein Gefühl hin, aber was er nicht einsehen konnte, einzusehen gegen seine Einsicht, und zu fühlen, was er nicht fühlen konnte, gegen sein Gefühl, dazu war er durch seinen Willen nicht zu bringen, während dem Domherrn offenbar, sobald er es nur willens war, Salz auch wirklich süß schmeckte. Franz mußte sich gestehen, daß ihm das nicht bloß unmöglich war, sondern daß es ihm auch unmöglich war, sich einen Menschen vorzustellen, dem das nicht unmöglich wäre, es schien ihm unmenschlich. Er zweifelte nicht, daß es dem Domherrn möglich war. Aber er hätte nicht den Mut gehabt, sich diese Fähigkeit zu wünschen. Darum hatte das Gespräch mit dem Domherrn ihn auch, statt ihm zu helfen, eher abgeschreckt. Er war ängstlich und mißtrauisch geworden. Irgend etwas in ihm warnte ihn. Ja fast schien es, als hätten selbst die Kirchen seitdem jenen Zauber für ihn nicht mehr. Vielleicht aber auch nur, weil jetzt die Tage schon länger wurden. Es dunkelte nicht mehr so bald, der Frühling trieb den Kirchen ihr Geheimnis aus.

 

Seit Jahren hatte Franz keinen Frühling mehr erwachen sehen. Der Großstädter wird ja vom Frühling überrascht, er findet ihn eines Tages fertig vor. Jetzt aber war Franz wieder einmal selbst dabei, wie, kaum daß der letzte braune Schnee verwich, unter seinen Augen das Wunder aus der Erde schoß, erst am Waldessaum ein blaues, von Leberblümchen, Veilchen und Küchenschellen, bald auch das gelbe der Primeln, das weiße der Anemonen, ein Rundgesang in allen Farben, überall dasselbe, jedesmal anders. Stundenlang konnte Franz immer wieder von neuem erstaunen, wie jede Wiese dieselben paar Blumen, Ranunkeln und frechen Löwenzahn, Maßliebchen und nickende Glocken, Nelken und den wuchernden Schierling, anders zum Kranze wand und so dieselbe Wiese zur Linken des Weges ein weißwehender Traum, zur Rechten ein schallendes Lachen in Gelb war. Er stand und staunte. Er war eigentlich nicht, was man einen Naturfreund nennt. Er hatte sich die großen Schaustücke der Natur angesehen, den Golf von Neapel, das Berner Hochland, den Rheinfall, Alpenglühen in den Dolomiten, Mondnacht auf der Akropolis. Alles sehr schön, unwahrscheinlich schön, fast schon unerlaubt schön, und man rief Ah und Oh dazu, wie bei einem Feuerwerk, man genoß es wie ein hohes C, genoß die Bravour, den Aufwand, die Schwierigkeit, die Seltenheit, das Kunststück. Hier aber war die Natur kein Tafelaufsatz, sie gab dem Menschen nichts zum Besten, er stand ihr nicht gegenüber, er stand in ihr, er gehörte selbst dazu, die braven Bürger, die sich Sonntags mit Kind und Kegel in ihr ergingen, gehörten auch dazu, alles war eins im Abendsonnenglanz. Vielleicht hat man die Wahrheit nie, solange man ihr nur von draußen zusieht und nicht selbst dazu gehört, solange man ihr gegenüber steht, statt drin. Und er söhnte sich im Freien selbst mit den dümmsten Menschen aus, die Sonne sog ihre Lächerlichkeiten auf, als bloße Farbenflecken wirkten sie ganz gut. Wie weidende Herden auf der Alm. Nichts störte das friedlichste Bild. Selbst ihr Lachen, ihr Lärmen hatte sozusagen keine menschliche Stimme mehr, es wurde zum bloßen Klang. Wie wenn auf der Alm die Kuhglocken läuten. Franz erschrak, es war weit mit ihm gekommen, wenn er jetzt selbst schon den Bürger poetisch fand! Er konnte sich aber nicht helfen, sie erinnerten ihn wirklich oft an den Osterspaziergang in Faust, an ihre Vorfahren in Hermann und Dorothea. Wenn er zuweilen im Vorübergehen ein Gespräch erlauschte, das stimmte heute noch alles aufs Wort! Sie waren immer dieselben, sobald der Dichter oder die Natur ihnen mit ruhiger Hand das Eigene nahm und nur das Allgemeine ließ. Sobald nicht mehr der Herr Meier sprach, sondern aus ihm der Mensch, das Urgefühl, der Urstoff des Menschen, noch unverarbeitet, gleich war alles gut, wie lächerlich sich auch so ein dampfender Hausvater, mit seiner ganzen Familie bepackt, sonst ausnahm, und das Wandern in Hemdärmeln mit aufgespannten Sonnenschirmen und abgeknöpften Kragen und Manschetten, und das Freudengeheul und das ewige Fragen, wer dich, du schöner Wald, aufgebaut dort oben! Er wunderte sich, daß ihn das nicht rasend machte. Es scheint aber nur darauf anzukommen, daß der Mensch sich irgendwie los wird. Enteignet, ist jeder schön. Die Alten wußten das: der Jüngling der griechischen Kunst ist ganz leer von sich, er ist nur Wesen, keine Person. Schönheit ist Selbstlosigkeit. Und so wäre das Geheimnis, selbst nichts, sondern bloß ein Spiegel der Ewigkeit zu sein? Franz konnte sich nicht verhehlen, daß er damit ja sein ganzes Leben widerrief, aber er fragte gar nicht mehr, wer recht hatte: sein einstiger Stolz, sich zu gestalten an der Welt, oder diese tiefe Lust, selbst zu verlöschen in der Welt. Er war nur sehr froh, jetzt von sich nicht mehr belästigt zu werden. Er ging so für sich hin und dachte nichts, wußte nichts, wollte nichts mehr und fühlte nur das Glück, nichts mehr zu denken, nichts mehr zu wissen, nichts mehr zu wollen, nur noch Aug und Ohr des Lebens. Und abends saß er gerne dabei, wenn der Hilari, der bleiche Mönch, die Flöte blies: die Sonne sank, die Berge verblaßten, der blies den Arbeitern vor, die, laß ausgestreckt, starr horchten, in Müdigkeit erloschen, und alle hatten jetzt dasselbe Gesicht, und nichts war zuletzt übrig als der kleine Klang der Flöte, durch die lauschende Dämmerung flatternd.

 

Dann aber kam der blühende Monat, der Monat Mariens, der Monat Mai. Da ging Franz abends gern zu den Nonnen auf dem Berg, ihre lieben Stimmen zu hören zum Orgelton im Lichterglanz. Eine von den Stimmen war so zart, daß er immer Angst hatte, sie müßte gleich zergehen, aber wenn dann nur noch ein ganz dünner Faden von ihr übrig war, der riß nicht, sondern wurde jetzt hart, und die verborgene Sängerin schrie dann die Mutter Gottes an, so klang es, wild verlangend und den ganzen Dom ausfüllend mit dem Flügelschlag einer begehrenden Seele, die vor Himmelslust sich selber entstieg, hoch über alle mitsingenden Stimmen, über den bang um sie seufzenden Orgelton, über alles empor. Und die bunten Fenster erglühten im Abendsonnenschein, der Glanz der Kerzen, der steigende Rauch, Priester und Meßner und die Betenden umhüllend, und die Flammen der Andacht ergossen sich ineinander, alles wurde schwebend, kreisend, fliehend, und wenn dann, nach kaum einer halben Stunde, der Gesang verstummte, der Priester sich entfernte, der Schwarm der Kinder zerstob, die Betenden sich erhoben und die kleine Kirche wieder still lag, war es Franz, als wenn er Ereignisse von Jahren erlebt hätte, deren er sich freilich, sobald er dann wieder draußen im Abend stand und über das entschlafende Tal sah, schon nicht mehr entsinnen konnte; doch wird er es ja morgen wieder erleben, und wenn er es freilich auch morgen dann gleich wieder vergessen haben wird, so weiß er doch, es erlebt zu haben, es erleben zu können, und das wird ihm jetzt auf allen seinen Wegen leuchten.

 

Er war das erstemal bloß aus Neugierde gekommen, weil ihm Gabsch vom Gesang der Nonnen vorgeschwärmt hatte. Nun kam er täglich, ging aber entweder vor Schluß oder blieb noch so lange, bis sich der Schwarm verlief, denn er hatte gar keine Lust, dann noch den erlauchten Damen zu hofieren, die nach der Andacht draußen Cercle hielten. Er fürchtete das so, daß er meistens still in seiner Bank saß, ohne sich umzusehen. Als er in den letzten Tagen des Monats einmal früher fortging, kniete Klara mit ihrem Kinde in der dritten Bank hinter seiner. Er grüßte, sie war aber so versunken, daß sie nichts bemerkte. Er hatte nicht den Mut, draußen auf sie zu warten, sie wäre dann sicher nicht wiedergekommen. Ob sie heute zum erstenmal da war? Er hätte doch ihre Gegenwart fühlen müssen! Aber er hatte sie ja heute auch nicht gefühlt. Seltsam: ihr so nahe, sie nicht zu fühlen! Und gerade hier, wo seine Gedanken so oft bei ihr waren, immer nämlich, wenn jenes armselige, dünne, gierig flatternde Stimmchen erklang, das glich ihr irgendwie geheimnisvoll! Am nächsten Abend fand er sie nicht. Und er suchte sie seitdem vergeblich Tag um Tag. War es bloß ein Zufall gewesen? Oder kam sie seinetwegen nicht mehr? Aber welchen Grund hatte sie denn, ihn zu meiden? Daß sie nicht mehr an ihn schrieb und ihm verbot, an sie zu schreiben, damit hatte sie recht, das sah er jetzt selbst ein. Er war damals daran gewesen, sich in seiner unklaren Stimmung ein Interesse für sie, ja vielleicht eine Leidenschaft einzureden, schon in dem Wunsche, sich irgendeinem Menschen anzuvertrauen, und wohl auch in der ungewohnten Entbehrung, da es einem Mann in seinen Jahren doch noch nicht so leicht fällt, unbeweibt zu leben. Das wäre dann aber nur wieder eine jener unwahren oder halbwahren Beziehungen geworden, von denen er wahrhaftig schon genug hatte. Er konnte ihr dankbar sein, daß ihr weiblicher Takt diese Gefahr für ihn, und vielleicht auch für sie, noch rechtzeitig bemerkte und ihn erst mit seinem Gefühl ins reine kommen ließ. Nun war er doch aber im reinen damit, es hatte keine Gefahr mehr, das klarste, ruhigste, heiterste Verhältnis herzlicher Neigung und sicheren Zutrauens bot sich ihnen an, also warum zögerte sie noch? Er verdiente das wirklich nicht; beim ersten Wort, das er mit ihr sprach, hätte sie das jetzt selbst gefühlt. Und gab es eine schönere Gelegenheit als hier, nach einer solchen Andacht, im Abglanz der frommen Stimmen, angesichts der entschlummernden Landschaft? Aber sie kam nicht wieder. Der Marienmonat verging. Franz hätte ihr ja schreiben können. Aber er wollte jetzt alles seinem Schicksal überlassen. Was bestimmt ist, wird schon geschehen! Er war voll Zuversicht. Und in Erwartung zu sein, tat ihm wohl.

Es kam der letzte Maientag. Nun vergeht ein Jahr, bis er das wieder erleben kann, ein ganzes Jahr! Was wird dann sein? Ob dann noch diese liebe, törichte, bange Stimme wieder singt? Ob sie dann noch dieselbe sein wird? Ob er noch derselbe sein wird? Mit seltsamer Gewalt ergriff ihn die Vergänglichkeit, Einmaligkeit, Unwiederbringlichkeit des Augenblicks. Unser Leben ist ein währendes Sterben, wir müssen in einem fort Abschied nehmen, auf Nimmerwiedersehen, von jedem Ding und von uns selber auch, wir finden es nicht wieder, und es findet uns nicht wieder. Die Kirche war an diesem Abend sehr voll, ein Gewitter kam herauf, vor das bunte Fenster zogen Wolken, Unruhe war, der Altar schien größer, der Priester ferner, das Gebet ängstlicher als sonst. Franz ärgerte sich, so sinnlos traurig zu sein, und es lag doch gewiß nur an der ungewohnten Beleuchtung! Als dann zum letztenmal die klagende Sehnsucht des kasteiten Stimmchens, einem gehetzten kleinen Vogel gleich, über die bangen Gebete fuhr, hätte er am liebsten aufweinen mögen. Er blieb nach der Andacht noch knien. Er konnte nicht fort, es hielt ihn zurück! Was? Er hatte das Gefühl, in Gewalt zu sein. In Gewalt wessen? Das wußte er nicht. Doch war es ein gutes Gefühl, zwar voll Angst, aber auch voll Zuversicht. Eine Macht war über ihm! Er gewahrte sie, er wußte sie, er wollte sie. Und sie wußte, daß er sie wußte und wollte. Und so war er geborgen. Er hätte sich jetzt nur noch gewünscht, beten zu können. Aber war nicht dieser Wunsch schon Gebet genug? Es fehlten ihm nur die Worte. Er horchte. Er fühlte, daß sonst niemand mehr in der Kirche war. Doch war er nicht allein. Niemand war da, doch er fühlte sich umrungen. Es war, als ob alle Gebete der Frommen bei ihm geblieben wären. Und sie beteten jetzt für ihn. Und er durfte sie nicht stören. So blieb er lange noch knien, ganz wach in seinem tiefen Traum, bis er dann das Tor knarren und einen Schlüssel rasseln hörte. Da stand er auf. Es fiel ihm ein, daß er sich einsperren lassen und in den Geheimnissen über Nacht bleiben könnte. Er wollte sich das aber lieber noch aufsparen. Er ging hallenden Schrittes. Die Leute hatten sich alle schon verlaufen, aus Angst vor dem Wetter, das an den Bergen hing, nur noch auf den ersten Windstoß wartend. Der aber kam nicht. Es war, als hätte die Natur schon zum Schlage ausgeholt, wäre dann aber plötzlich erstarrt, so stand sie jetzt mit geballt erhobener Faust, und atemlos vor Gier, niederzufahren, sobald der Sturm seinen Rachen aufreißen wird. Die ganze Landschaft schien in einen einzigen ungeheueren Entschluß zusammengefaßt, zum Sprung geduckt, auf das Zeichen bereit. Und in dieser lauernden Stille stand, vom Söller ausblickend, schwarz und starr wie die Landschaft, eine Gestalt, die Hand auf der Schulter des Kindes. Er blieb hinter ihr. Klara schien ihn nicht zu gewahren. So standen sie, des erlösenden Sturmes gewärtig. Franz wäre die ganze Nacht so gestanden. Da war es, als ob sie zitternd erwachte, sie sah sich um, und als er sie grüßte, lächelte sie wie im Traum. Aus dem Traum riß ihn aber der eingelernte Ton, in dem sie zu sprechen begann, gleichsam aufsagend: »Ist die Aussicht hier nicht reizend? Wir haben lange keinen so schönen Sommer gehabt. Aber der Ernte tut der Regen not.« Und sie sagte das auch mit einem richtigen Gesicht für Ballgespräche. Er schwieg. Diese verfahlende Spuklandschaft, in Angst getaucht, geladen mit einer dumpfen Wut, die gleich losbrechen wird, alles ein einziger Schlund des Verderbens, eine Landschaft vor dem Jüngsten Gericht! Aber diese starre Frau, in der gleichsam alles rings brütende Geheimnis versammelt schien, fand die Aussicht reizend, stellte Betrachtungen über Wetter und Landwirtschaft an und wird sich jetzt wohl noch nach dem Befinden seines Bruders, der verehrten Schwägerin und der sämtlichen Orgelpfeifen erkundigen, immer mit demselben albern girrenden Lächeln eines Puppengesichts und in demselben gläsernen Ton, der ihm unerträglich war, gar jetzt, wo sie vor ihm stand wie sein Schicksal selbst und als ob durch sie jenes wortlose Gebet in Erhörung ginge. Stumm sah er sie nur immer an, diese flirrende Stimme hassend, die doch gar nicht aus ihr kommen konnte, aus der strengen, stolzen, tief in Schweigen ruhenden Gestalt, um die das eilige Stimmchen nur wie eine widerliche Fliege zu schwirren schien. Er hörte nicht auf sie, er sah sie nur an. Er sah ihr in die Augen, die wußten nichts von ihrem Mund. Da legte sie die Hand um den Hals des Kindes, als hätte sie Furcht, oder um für das Kind zu bitten. Und sie sagte: »Wir müssen aber heim. Es wird gleich losgehen. Das Barometer ist schon gestern stark gefallen.« Er hätte diese lästige fremde Stimme, die sich immer zwischen ihn und sie drängte, zerbrechen mögen! Was log sie denn noch jetzt? Er geriet in Wut, eine gierige Lust fiel ihn an. Er sprach noch immer nicht und regte sich nicht. Da schrie sie: »Lassen Sie mich! Was fällt Ihnen denn ein?« Es war aber jetzt eine andere Stimme, das tat ihm wohl. Das Kind erschrak und fing leise zu weinen an, er trat zurück, sie konnte vorbei. Sie waren fort, er stand noch immer. Er wußte nichts. Wenn er unter Eid auszusagen hätte, was eigentlich geschehen war, er wäre selbst neugierig, was er antworten würde. Was war denn geschehen? Er hatte nichts gesagt, er hatte sie nicht berührt, er hatte sich nicht bewegt. Und er hätte doch, angeklagt, sie bedroht zu haben, und in Gegenwart eines unschuldigen Kindes, das nicht leugnen können, obwohl er schwören konnte, kein Wort gesagt, sie nicht berührt, sich nicht bewegt zu haben. Und doch hatte sie recht mit ihrer Angst, und es war nur ein Glück, daß sie zur rechten Zeit noch Angst bekommen hatte. Denn ihn hatte das so sinnlos überfallen, daß er es erst zu spät bemerkt hätte. Es war ein Glück, daß sie noch zur rechten Zeit aufgeschrien hatte. Da war er erwacht, und wie man sich zuweilen erinnert, so schrecklich geträumt zu haben, daß man noch bei dem bloßen Gedanken daran erschrickt, ohne sich doch aber des Traums entsinnen zu können, so war er jetzt nur sehr froh, noch zur rechten Zeit erwacht zu sein. Er erinnerte sich nur noch seiner dumpfen Wut über ihr tröpfelndes Stimmchen, dann aber war in diese Wut noch etwas dazu gekommen, und die Wut war ihm auf einmal zum Genuß geworden, es war ein plötzlicher Erguß von Schmerz, aber einem Schmerz, der ihm fast wohl tat, und den er eher als Wunsch empfand, als einen stechenden Wunsch nach mehr davon, als einen Wunsch, sich wehe zu tun, ihr wehe zu tun, und er erinnerte sich nur noch, daß ihm dann plötzlich die ganze Landschaft zu brennen schien, und dann – ja dann hatte Klara, Gott sei Dank, aufgeschrien, und es war besser, nicht mehr daran zu denken, denn er schämte sich und hätte sich vielleicht doch, wenn er noch länger daran dachte, jenen fliegenden Heißhunger wieder gewünscht! Er konnte nur gar nicht begreifen, wodurch sie gewarnt worden war, während er selbst doch, erst durch ihren Schrei geweckt, jetzt erst, nachträglich, seine sinnlose Begierde sich eingestand.

Er wollte lieber gar nicht mehr daran denken, denn daß etwas, wovon wir gar nichts wissen, uns in uns auflauert, war ihm unheimlich. Und er mußte doch immer wieder daran denken; der erste Schreck, daß dies möglich, wich dem Erstaunen, wie es denn wohl möglich, und dann fast einer Art Schadenfreude, als ob er es sich insgeheim gönnen würde, so beschämt vor sich dazustehen. Und er hätte nicht gut sagen können, auf welchem Umweg es ihm vorkam, als wenn er gerade durch diese Beschämung ihr jetzt nähergekommen wäre. Er war über sich nicht weniger erschrocken als sie vor ihm, und was konnte zwei Menschen tiefer vereinen als ein solches gemeinsames Entsetzen, vor dem grauenhaft Unbekannten in uns? Ist das nicht der Liebe letzter Sinn? Solche Gedanken ließen ihn die leise innere Stimme, sich doch nichts vorzulügen, überhören, und er erwachte nach einer unruhigen, in einem aufgeregten Halbschlaf verbrachten Nacht entschlossen, sie gleich aufzusuchen. Es schien ihm unmöglich, auch nur einen Tag noch ohne sie zu leben. Er zweifelte nicht mehr, daß sie sein war, ja es hätte ihn nicht gewundert, wenn jetzt die Tür aufgegangen wäre, und sie herein und auf ihn zu, mit offenen Armen! Dieses Bild gefiel ihm so, er sah sie so deutlich vor sich, er war des schönsten Augenblicks so gewiß, daß er, um ihn nur ja nicht voreilig zu versäumen, lieber daheimblieb, in seliger Erwartung. Sie mußte ja kommen, sie mußte doch! Und wenn sie nicht kommt, wird sie schreiben, sie wird ihm ein Zeichen geben, sie selbst wird ihn rufen!

 

Sie kam nicht, sie schrieb nicht, sie gab ihm kein Zeichen. Ihn machte das ungeduldig lauschende Warten fast krank. Auf einmal verzerrte sich ihm jetzt alles. Er fand sich so furchtbar albern in seinem Anfall, der ihm jetzt, wenn er sich an alles erinnerte, an das aufziehende Gewitter, die fahle Landschaft, ihr unangenehm wohlerzogenes Musterkind und seine bei dem drohenden Regen sehr unzeitige Gier, eigentlich weniger ärgerlich als komisch schien. Er erlebte die ganze Szene wieder und glaubte noch immer die Glasperlen ihrer Stimme klistern zu hören. Und wenn sie selbst aber vielleicht ihrer Stimme glich und selber ein ebenso künstliches und geziertes Nichts war, bloß von seiner Phantasie dann ausgesponnen?

Er hielt das Warten nicht mehr aus, fuhr zu ihr und ward abgewiesen. Die Magd, offenbar gut abgerichtet, sagte deutlich: »Die gnädige Frau ist für den Herrn Grafen nicht zu sprechen.« Er mußte lachen, wie streng sie dabei drein sah. Er war nicht gekränkt, auch nicht erstaunt. Er hatte jetzt auf einmal das Gefühl, in eine Begebenheit geraten zu sein, in der es noch am besten war, sich einfach ruhig mitnehmen zu lassen. Er ließ seine Karte da, mit ein paar Zeilen, wann er sie treffen könnte; er hätte ihr Wichtiges zu sagen. Sie schrieb ihm darauf, sie könne sich nicht vorstellen, was ein Mann noch einer Frau zu sagen haben könnte, vor der es ihm an jeder Achtung fehle, sie sei nicht neugierig, es zu erfahren, und verbitte sich seinen Besuch. Der Brief klang ihm ganz falsch. In ihrem ungemeinen, von Anfang an niemals konventionellen Verhältnisse, auf das doch alle die hergebrachten Begriffe von Takt, Anstand, Schicklichkeit nicht angewendet werden konnten, war es, auch wenn er ihr Ursache dazu gegeben hätte, nicht möglich, auf einmal beleidigt oder entrüstet zu sein, sie standen von vornherein in einem ganz anderen Raume – wer es unternimmt, einem Mitmenschen innerlich aufzuhelfen, kann sich, selbst wenn er an ihm verzweifelt, nicht mit ein paar Redensarten begnügen, er muß mit ihm abrechnen, er muß ihn jedenfalls anhören, er muß ihm Rede stehen. So schrieb er ihr und setzte selbst die Stunde seines nächsten Besuches fest, zu der er auch Einlaß fand. Doch nicht sie, sondern ihre Mutter empfing ihn, die einst berühmte Tänzerin, deren damals viel gepriesene Schönheit freilich längst verkohlt war; sie sah jetzt unter dem langen schwarzen befransten Tuch mit dem Habichtkopf auf dem langen verwitterten, runzligen Halse, in dem merkwürdigen Gegensatz zwischen der tief ruhenden Gestalt und den immer bewegten Augen, den immer sprechenden Händen, nur noch irgendeiner Alten von Mamalocco oder Chioggia gleich, der nur freilich die Hoheit nicht recht stand, zu der sie sich anfangs zwang. Ihres Auftrages, dem Grafen zu bedeuten, daß es ihre Tochter ablehnen müsse, nach allem, was geschehen, ihn jemals wiederzusehen, entledigte sie sich pathetischer, als gerade nötig gewesen wäre, wobei sie das Vergnügen, in einer so wichtigen Szene mitzuwirken, so wenig als ihre natürliche Liebenswürdigkeit und den Wunsch, Eindruck zu machen, verhehlen konnte. Dies ergab eine hochdramatische Strafpredigt, der es doch aber an einer anmutigen, in sich selbst schwelgenden Koketterie nicht fehlte. Immer, wenn sich eben ihr beleidigter Mutterstolz ganz entfalten wollte, mischte sich die Gewohnheit, lächelnd zu bezaubern, das unschuldige Behagen an einer gewandten, von überraschenden Einfällen heiter belebten Konversation, die Lust zu gefallen, etwas störend ein. So scharmant und gleichsam mit einem Duft von Orangen abgekanzelt zu werden, ließ sich Franz nicht verdrießen, und er wartete neugierig ab, ob sie ihn schließlich grandios verfluchen oder zum Tee bitten würde. Daß er so gut zuzuhören verstand, stimmte sie sichtlich milder, ihrer Entrüstung ging bald der Atem aus, und bevor er sich noch entschuldigen, sich verteidigen konnte, schien sie schon halb versöhnt, wofern er sich nur durch ihre Beredsamkeit überwunden gab, sein Unrecht eingestand und abzubitten bereit war. Sie hätte dann wahrscheinlich gleich die Tochter gerufen und beide gerührt triumphierend umarmt. Er mußte der Jahre gedenken, die er in Italien verlebt, und wie glücklich er sich unter diesen ewigen Kindern des Augenblicks gefühlt hatte, denen alles immer gleich zum heiteren Spiel, zum glänzenden Fest wird. Aber Klara tat ihm sehr leid. Zu welcher furchtbaren Einsamkeit war sie mit dieser Mutter verdammt, die nichts von ihrer Tochter ahnte! Er fand hier sein eigenes Schicksal wieder. Ist es das Los aller Menschen, gerade ihren Nächsten am fernsten zu sein? Aber er mußte Klara vor allem diese Beschämung ersparen! Ihre Weigerung, ihn zu sehen, der Brief, ihrem Wesen so fremd, wie gar nicht von ihr geschrieben, und nun gar noch diese Torheit, die Mutter vermitteln zu lassen, das bewies ihm doch alles, daß sie von Sinnen war. Er hatte sie erschreckt, er verstand freilich nicht, daß sie ihn noch so wenig kannte, aber er selbst kannte sich doch auch nicht, er kannte ja selbst sein eigenes Gefühl für sie nicht, er hatte sich doch selbst immer wieder darüber getäuscht und sich immer wieder etwas anderes eingeredet, bald ein Bedürfnis nach ruhiger, klarer Freundschaft, bald Verliebtheit, bald wieder den Wunsch, geistig beraten zu werden, und was nicht alles noch? und nur das eine nicht, was er jetzt erst so selig erkannt, daß es dies alles ja nicht war, sondern dies alles zusammen, Freundschaft und Verliebtheit und das tief beglückende Gefühl, ein Wesen zu haben, an dem er alles hatte, daß es die Liebe war, zum erstenmal in seinem Leben einfach die wirkliche Liebe, an die er schon gar nicht mehr geglaubt hatte! Er konnte das doch aber unmöglich der Alten erklären! Und was immer er ihr auch sagen mochte, die Vorstellung, wie falsch es von ihr der Tochter überbracht werden, wie lächerlich es in ihrem Munde klingen und wie nur immer wieder ein neues Mißverständnis entstehen würde, steigerte seine Verlegenheit noch. Die Alte, er selbst, sie in ihrer unaufhaltsamen, doch immer fehlschießenden Beredsamkeit, er in seiner Ratlosigkeit, dieses ganze Hochgericht in dem lieben kleinen Salon, das alles kam ihm unheimlich grotesk vor. Er erhob sich auf einmal und sagte mechanisch: »Ich bitte mir zu erlauben, daß ich Ihrer Tochter, da sie mich leider nicht anhören will, schriftlich das Mißverständnis aufkläre, das –!« Weiter ließ ihn die Alte nicht, und sie war wieder ganz Mutter der Gracchen, als sie losfuhr: »Mißverständnis? Welche Verwegenheit, das ein Mißverständnis zu nennen!« Und schon sprangen alle Brunnen ihrer sittlichen Entrüstung wieder. Was ihn aber besonders verdroß, war, daß sie sichtlich keinem Manne verdachte, Lust auf ihre Tochter zu haben, was sich für sie von selbst zu verstehen schien, und ihm offenbar nur übelnahm, der Frau Hauptmann, einer geborenen Baronin, der Enkelin eines Ministers den gebührenden Respekt versagt zu haben. Für die Reinheit Klaras und die Unverletzlichkeit ihres Wesens hatte sie kein Gefühl, und er ließ sich, so aussichtslos es ja war, dennoch, gereizt, zu der Beteuerung hinreißen, daß doch nur ein Wahnsinniger gegen ein Geschöpf wie Klara sich einer unedlen Empfindung erdreisten könnte. Das kam der Alten unerwartet, sie schwieg, sah verwundert auf und fragte dann, auf einmal in einem ganz anderen Ton, noch halb ungläubig, doch schon fast zutraulich: »Wollen Sie damit sagen, daß Sie ernste Absichten haben?« Auf diese Frage war nun wieder Franz nicht gefaßt, und bevor er antworten konnte, verklärte sich ihr altes, großes, hartes Gesicht, ihre neugierigen Augen erglänzten, und ihre Stimme tränte, als sie begeistert seine Hand ergriff und lachend rief: »O verzeihen Sie! Nein das Kind! Ich wußte doch! Aber sie ist ja verrückt! Ich hab doch gleich gesagt: unmöglich, ein Graf Flayn, was denkst du! Es war ja aber mit ihr nicht zu reden, bis ich, um sie nur zu beschwichtigen, ihr versprechen mußte, Ihnen das Haus zu verbieten, und ich konnte ja nicht wissen, nicht wahr? wir kannten uns ja leider nicht, aber mein Blick hat mich nicht betrogen, welches Glück!« Und bevor er noch recht wußte, was geschehen war, saß sie neben ihm und begann ihm ihr Herz auszuschütten, über den Unverstand ihrer beklagenswerten Tochter, die noch immer den Tod des Gatten nicht verwinden, in das Unabänderliche sich nicht ergeben, von ihrem Schmerze nicht trennen könne, was Gott doch sicher ja gar nicht will, in so jungen Jahren noch dazu, ach das trotzige, das störrische Kind, aber jetzt, da sie das Vergnügen, ihn zu kennen, und keinen leisesten Zweifel an seiner Ehrenhaftigkeit mehr habe, der sie selbst übrigens immer schon vertraut, jetzt werde sie sie schon zur Räson zu bringen wissen, er könne sich darauf verlassen!

Als er ging, war er sozusagen verlobt. Er mußte lachen. Es sah ihm gleich, bei der Schwiegermutter anzufangen, sein Leben machte gern solche Umwege. Was Anton dazu sagen wird? Begeistert sein und ihn noch mehr bewundern! Alle werden begeistert sein, bis auf sie, bis auf die Hauptperson. Oder eigentlich: bis auf die beiden Hauptpersonen, denn auch über sich selbst war er sich ja noch keineswegs klar. Es kam ihm doch unerwartet. Er hatte zuweilen ans Heiraten gedacht, aber doch immer ohne dabei jemals an eine bestimmte Frau zu denken. Er wünschte sich, verheiratet zu sein, war aber noch keiner Frau begegnet, mit der er es sich gewünscht hätte. Am ehesten noch mit einer, die ihm ganz gleichgültig gewesen wäre, etwa wie die Gabsch. Da hatte die Vorstellung etwas sehr Beruhigendes, da kam der Sinn der Ehe mehr zur Geltung. Aber Klara? Das war doch weniger beruhigend. Er erinnerte sich jetzt, daß ihn ja der Domherr auch neulich gefragt hatte: »Wollt ihr heiraten?« Der hatte das aber doch kaum ernst gemeint. Warum aber eigentlich nicht? Es war nicht gerade standesgemäß, immerhin aber auch keine Mißheirat. Und wahrscheinlich noch das Gescheiteste für ihn. Er mußte doch endlich erkennen, daß er es nicht ertrug, sich selbst überlassen zu sein. Er war ein Mensch, der sich schließlich in alles fand, in jedes Leben, welcher Art immer, wenn man ihm nur nicht die Wahl, nur nicht ihn selbst entscheiden ließ! Vielleicht hatte das Schicksal es ihm noch nie so gut gemeint, und ihn störte vielleicht dabei nur, daß sein Gefühl für Klara ja bisher doch mehr die Richtung auf die große Leidenschaft hatte, was ihm aber ja freilich auch wieder nicht ganz gewiß war. Es ging ihm ja merkwürdig mit ihr. Sie gefiel ihm aus der Ferne, wenn er an sie dachte, besser als in ihrer Gegenwart. Er liebte, philosophisch ausgedrückt, die Idee von ihr mehr als ihre Erscheinung. Vielleicht wurde das, wenn er nur erst mit ihr verheiratet war, anders. Wenn er nur schon mit ihr verheiratet wäre! Diese Ungewißheit aber, was eigentlich jetzt zunächst zu geschehen und besonders, wie er sich dabei zu benehmen hätte, war arg. Das beste wird sein, wenn er sich Anton anvertraut, der, mit seinem guten Hausverstand, sicherlich über das alles viel klarer urteilt als er selbst.

 

Es traf sich gut, daß Anton ihn im Schlößl erwartete, vom Verwalter geholt, dem es der Blasl wieder einmal gar zu toll trieb. Franz kam gerade dazu, als der wunderliche Alte zerknirscht um Verzeihung bat. Kaum waren sie allein, da fragte Anton: »Ist dir in der letzten Zeit an Gabsch nichts aufgefallen?« Und ohne erst die Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Es ist ja zu blöd! Eigentlich zum Lachen! Sie tut einem aber doch leid. Nämlich, gestern abends auf einmal, ich lag schon im Bett, macht sie mir eine große Szene, und weißt du, warum? Ja! Sie bildet sich plötzlich ein, daß sie verliebt ist, und zwar, erschrick nicht! in dich. Die Frauen sind doch alle gleich, wenn sie in die gewissen Jahre kommen.« Franz erschrak wirklich. Das fehlte ihm jetzt gerade noch! Er sagte: »Du glaubst mir hoffentlich, wenn ich dir mein Wort gebe, daß –!«

Anton ließ ihn nicht ausreden: »Unsinn! Ich weiß doch, ich bin ja kein Trottel. Natürlich ist kein wahres Wort daran, weiß der Teufel, was ihr einfällt!«

»Da werd ich wohl abreisen müssen,« sagte Franz.

»No sei so gut!« rief Anton. »Das wär das Dümmste. Nein im Gegenteil! Und nur darum erzähl ich dir's überhaupt, kannst dir ja denken, daß mir das gerade kein Vergnügen macht! Ich muß dich aber bitten, daß du mir den Gefallen tust, dich ihr in der nächsten Zeit möglichst viel zu widmen, geh mit ihr spazieren oder mal sie wieder und sei auf jeden Fall soviel als möglich mit ihr zusammen, es wird dich ja langweilen, aber tu's bitte mir zuliebe!«

»Gern,« sagte Franz erstaunt, »aber ich begreife nur nicht recht –?«

»Verstehst denn nicht?« fragte Anton ungeduldig. »Sie hätt mir da gleich einen ganzen Roman erzählen wollen, aber das hab ich mir natürlich verbeten und ihr einfach erklärt, daß es das nicht gibt, und damit Schluß! Für mich ist das ja wirklich der einzig mögliche Standpunkt. Ich kann auch nicht garantieren, daß ich nicht auch auf meine alten Tage plötzlich noch irgendeine Dummheit machen möcht, das weiß ich nicht, aber ich weiß, daß ich dann einfach Halt sage, von Anfang an: Halt, das gibt's nicht! Nicht: das darfst du nicht, das sollst du nicht, das wirst du nicht, du mußt widerstehen, mußt dich beherrschen, mußt entsagen und so weiter, o nein! Denn wer sich erst auf derlei Geschwätz einläßt, der ist schon halb verloren. Nein, von einem anständigen Mann, von einer anständigen Frau verlang ich mehr, da verlang ich, daß sie sich das von vornherein überhaupt nicht zugeben, sie dürfen gar nicht zugeben, daß das vorkommen kann. Wenn man weiß, daß es nicht vorkommen kann, kommt es dann auch nicht vor. Und dadurch allein unterscheiden sich ja die anständigen Frauen von den anderen. Wenn einer, der irgendwo ein Geldtaschl liegen sieht, erst überlegt, ob er es nehmen soll oder nicht, der ist schon ein Dieb, auch wenn er's dann schließlich vielleicht doch nicht nimmt. Und eine Frau, die dem Gedanken, ihren Mann zu betrügen, erst widerstehen muß, die hat ihn schon betrogen. Gewisse Dinge sind für einen anständigen Menschen überhaupt nicht vorhanden, und Menschen, für die diese Dinge überhaupt in Frage kommen, sind für mich nicht vorhanden. Und so hab ich ihr in aller Ruhe gesagt: Red keinen Unsinn, das gibt's nicht, und ich mag nicht einmal im Spaß davon hören! Und aus war das ganze Theater.«

»Warum meinst du dann aber,« fragte Franz, »daß ich jetzt viel mit ihr sein soll? Ich habe nichts dagegen, ich sehe nur den Grund nicht ein.«

»Damit sie sich gewöhnt, das Geldtaschl liegen zu sehen,« sagte Anton lachend. »Nichts dümmer, nichts so falsch, als vor einem Kind, was es nicht essen oder nicht trinken soll, zu verstecken. Ich stell den Kindern die Schüssel oder den Humpen vor die Nase hin und sage nur: davon wird nicht gegessen, davon wird nicht getrunken. Und Frauen bleiben in mancher Hinsicht immer Kinder. Darum möcht ich dich schon sehr bitten, daß du mir das Opfer bringst. Ich nehme die Geschichte nicht tragisch. Jede kommt an die Reihe, die eine ein bißchen früher, die andere ein bißchen später. Bei ihr tritt's ja noch ziemlich sanft auf. Die Hauptsache ist, daß man sich von vornherein nicht darauf einläßt. Wie bei Kindern, die sich fürchten, im Finstern allein zu sein. Man darf das einfach nicht anerkennen. Sie wird sich ja kaum trauen, dir davon etwas anzudeuten. Tut sie's doch, so mach's wie ich. Lach sie aus und red von was anderem. Wenn sie sieht, daß es ihr niemand glaubt, glaubt sie's am Ende selbst auch nicht mehr. Du tust mir einen großen Gefallen.«

»Soll ich ihr sagen,« fragte Franz, »daß ich vielleicht heiraten werde!«

»O!« rief Anton erfreut. »Da gratulier ich dir von ganzem Herzen!« Und er hielt ihm beide Hände hin.

»Und du fragst gar nicht wen,« sagte Franz, fast etwas ärgerlich.

»Nein,« sagte Anton lachend. »Wen denn sonst? Du hättest auch gar keine bessere finden können. So ein Glückspilz! Und in aller Heimlichkeit! Mein Junge, das hast du vortrefflich gemacht!«

»So weit sind wir ja noch nicht,« sagte Franz verlegen.

»Erzähl doch, Duckmäuser!« drängte der Bruder. Aber das war für Franz gar nicht so leicht, weil er dem geraden Sinn Antons kaum zumuten konnte, sich in so verflochtenen Stimmungen zurechtzufinden. Und dadurch, daß er manches weglassen mußte, was Anton ja doch nie verstanden hätte, gewann sein Bericht auch gerade nicht an Klarheit. Aber Anton schien nichts zu vermissen, und gar die Schilderung der Alten fand er entzückend. »Es ist nur ein Glück, daß es Mütter gibt, ohne ihre Nachhilfe kämen die meisten Ehen nicht zustande. Ich an deiner Stelle würde ruhig alles der Alten überlassen. Geh doch einfach morgen hin und halt in aller Form um ihre Tochter an! Sie wird das dann schon arrangieren, da ist mir nicht bang. Ich bin ja nur so froh, daß du dich endlich entschlossen hast, und glaub mir, du wirst es nicht bereuen. Einstweilen aber wollen wir das doch gleich mit einer Waldmeisterbowle begießen, ganz unter uns natürlich, im tiefsten Geheimnis, no Gabsch wird schauen, es trifft sich ja famos!«

 

Die Waldmeisterbowle ging glimpflicher ab, als Franz befürchtet hatte, dem doch Gabsch eigentlich leid tat. In solchen kleinen häuslichen Festen war Anton ein Künstler, unwiderstehlich in seiner harmlosen Heiterkeit und seinem kindischen Behagen an den einfältigsten Späßen. Ohne Gabsch vorzubereiten, fiel er gleich mit der Nachricht von der Verlobung ins Haus und ließ Gabsch erst gar keine Zeit zu Gefühlen, in seiner Ungeduld, ein Festmahl improvisiert, den Saal feierlich erhellt, einen Ehrensitz für den präsumptiven Bräutigam, einen zweiten für die leider noch ahnungslos abwesende Braut mit Blumen geschmückt zu sehen, wobei er alle so durcheinander jagte, zugleich aber auch alle so mit seiner eigenen Ausgelassenheit ansteckte, daß selbst die Kinder, selig, einmal länger aufbleiben zu dürfen, selbst die atemlosen Diener in dem allgemeinen Freudenrausch mitschwammen, dessen Grund ihnen unbekannt blieb. Wenn Franz Anton zusah, begriff er des Domherrn ihm unbegreifliches Wort, daß es immer nur auf den Willen ankommt. Bei Menschen wie Anton kam es wirklich nur auf den Willen an. Was sie wollten, war. Was sie nicht wollten, war für sie nicht. Von Tag zu Tag erschufen sie sich ihr Leben selbst und schufen dabei gleich auch das der anderen, und Franz sah das an Gabsch, die, bei dem halb feierlichen, halb närrischen Toast Antons auf das Glück einer wahren Ehe, so von Gefühlen ihres eigenen Eheglücks überwältigt wurde, daß sie sich der vermeintlichen Leidenschaft, von der es eben noch bedroht gewesen offenbar schon kaum mehr erinnern konnte. Für Menschen von Antons innerer Kraft war das Leben wirklich nur eine Turnübung ihres Willens.

Franz hatte den nächsten Tag Kopfweh, und nur weil er es nun Anton einmal versprochen hatte, fuhr er zur Alten. Es war ihm gar nicht gut zumut, und er bereute fast, sich Anton anvertraut zu haben. Er wäre noch auf der Stiege lieber umgekehrt und hatte schon angeläutet, als er sich plötzlich entschloß, dann doch lieber gleich mit Klara selbst zu sprechen. Zu seiner Verwunderung ließ ihn die Magd ein, zu seiner Enttäuschung fand er sich aber dennoch vor der Mutter, die noch beredter als gestern war, aber einigermaßen verlegen schien und einige Zeit brauchte, bis sie Franz gestand, daß ihre Tochter die Gewohnheit habe, zweimal in jedem Jahr geistliche Übungen zu halten, in welcher Zeit sie stets in völliger Einsamkeit zu leben pflege, wie jetzt eben wieder. Es sei vergeblich, sie davon abbringen zu wollen; das arme Kind habe nun einmal seit dem Tode des Gatten nichts auf der Welt als ihren Glauben, er dürfe sich nur aber um Gottes willen dadurch nicht abschrecken lassen, denn sie zweifle nicht, daß, sobald nur erst – Aber Franz hörte kaum mehr recht zu. Er war froh. Es lag nicht an ihm, wenn sich wieder nichts entschied. Er hatte den Rat Antons befolgt, er hatte das Seine getan. Die geistlichen Übungen wird auch Anton gelten lassen. Hoffentlich dauerten sie lange. Und er lebt in dieser unbestimmten Erwartung fort, so zwischen Furcht und Hoffnung, entschlossen, doch untätig, aber ja nicht durch seine Schuld, und sich dem Schicksal ruhig überlassend; wenn es ihn aber vergißt, kann er schließlich auch nichts dafür, ein Gewaltmensch ist er nun einmal nicht. Er war so guter Laune, daß ihm die Schwiegermutter heute viel besser gefiel als gestern, und ihre vagen Versicherungen, daß nur ein Mann, der nach ihrer Beschreibung ihm sehr ähnlich sah, ihr tief gebeugtes Kind erlösen könne, schmeichelten ihm. Es blieb ihm nicht erspart, daß sie schließlich auch noch ihre Enkelin rief und er sich an dem unerträglich wohlerzogenen Püppchen als Stiefvater üben mußte.

 

Wochen vergingen, bis seine Geduld durch ein Blatt von Klaras Hand belohnt wurde, das ihn zu ihr beschied. Er hatte sie fast einen Monat nicht gesehen, seit jener letzten Maiandacht, und erkannte sie kaum wieder. Er wußte gar nicht gleich, was sie so veränderte. Eine tiefe Müdigkeit, die wie ein schwerer Mantel auf ihr lag, ließ sie größer, frauenhafter und noch ernster erscheinen, als er sich ihrer erinnerte, und gab ihr etwas Abendliches, einen Schimmer von tiefer Ruhe, ja fast von Zärtlichkeit, und selbst ihre Stimme klang weicher. Da saß er wieder in dem stillen Raum auf demselben Stuhl vor ihr wie damals bei seinem ersten Besuch. Fast feierlich war ihm zumute, während sie heiter ihre Mutter zu schildern begann, die nun einmal in der besten Absicht stets die größten Konfusionen mache, vielleicht sind aber schon alle Mütter so! Doch habe das diesmal wenigstens das eine Gute gehabt, daß es sie beide genötigt, sich klar zu werden. Er wolle sie heiraten, eine Ehre, die sie zu schätzen wisse, leider aber ein für allemal ablehnen müsse, womit nun hoffentlich alle Mißverständnisse für die Zukunft erledigt seien.

»Ich fürchte,« sagte Franz, »das ist ein Irrtum, mir kommt eher vor, als wenn es schon wieder ein neues Mißverständnis wäre – hören Sie mir bitte nur einen Augenblick zu. Ich bin weder so dumm, zu meinen, daß eine Frau wie Sie zum zweiten Male lieben kann, noch der Geck, mir einzubilden, Sie könnten um mich Ihren Mann vergessen. Wäre das überhaupt möglich, so wären Sie nicht, was Sie mir sind! Aber nein, Sie sollen ihm ja nicht untreu werden, kein Verrat an dem Toten wird Ihnen zugemutet, sondern ich hätte niemals um Ihre Hand angehalten, wenn ich nicht wüßte, daß Ihr Herz dem Toten bleibt, wenn ich mich nicht gerade dadurch sicher fühlte – verzeihen Sie den Ausdruck, aber ich muß jetzt schon ganz aufrichtig gegen Sie sein, also ich meine: sicher vor Ihrer Liebe, mißverstehen Sie mich bitte nicht! vor jener Art Liebe mein ich nämlich, wie Sie, denk ich mir, den Hauptmann geliebt haben müssen, denn so geliebt zu werden bin ich unwürdig, und nicht bloß unwürdig, sondern wahrscheinlich auch unfähig, ich will sagen, daß ich einer solchen Liebe sicherlich gar nicht gewachsen wäre, ich hätte Angst und würde davonlaufen vor ihr!« Er hatte rasch gesprochen und hielt jetzt ein, verwundert über seine eigenen, ihn selbst überraschenden Worte; er schien eine Zeit zu brauchen, um sich selbst erst darin zurechtzufinden. Sie sah ihn an und sagte dann spöttisch: »Sie sind wirklich sehr aufrichtig.« Er erwiderte: »Gott sei Dank! Ich fange jetzt an, mich allmählich kennen zu lernen. Ich habe bisher mein Leben in Gefühlen zugebracht, die gar nicht die meinen waren, sondern die ich mir nur sozusagen fertig kommen ließ, und entdecke jetzt, daß die meisten dieser Gefühle mich gar nichts angehen. Ich habe bisher innerlich weit über meine Verhältnisse gelebt, gewissermaßen auf Borg, und kann zu meiner Entschuldigung nur sagen, daß ich ja, wenn ich mich unter meinen Bekannten umsehe, keineswegs der einzige bin und mich doch von den anderen noch zu meinen Gunsten unterscheide, weil ich es wenigstens einsehe. Daß ich es aber jetzt einsehe und mich rangieren will, das verdank ich Ihnen! Seit ich Sie kenne, fang ich endlich an, zum erstenmal ehrlich gegen mich zu sein. Es gelingt mir noch nicht immer, so schnell zieht man ja seinen alten Menschen nicht aus. Auch ist in mir noch immer eine Neigung da, mein eigenes Gefühl zuweilen sozusagen aus dem Vokabular anderer zu benennen, aber seit ich Sie kenne, kommt dann doch stets wieder ein Augenblick, wo, wie jetzt eben, auf einmal alles in mir klar und keine Selbsttäuschung mehr möglich ist, und gerade dafür bin ich Ihnen ja so unendlich dankbar.«

»Und aus lauter Dankbarkeit,« fragte Klara, »wollen Sie mich heiraten?« Sie schien es auf einen Scherz abzusehen, der aber gelangweilt klang und fast etwas gereizt.

»Ich will Sie heiraten,« sagte Franz, »weil ich glaube, daß das eine wahre Ehe werden könnte. Mir hat es immer an inneren Grenzen gefehlt, ich verliere mich immer über mich hinaus, ins Weite, so hab ich eigentlich immer gewissermaßen auf einem fremden Fuß gelebt, und erst seit ich Sie kenne, weiß ich das, Sie weisen mich auf mich selbst, in mich selbst zurück, das ist es, was ich brauche, wie Sie wieder, Ihrem ganzen Wesen nach, einen Menschen brauchen, dem Sie etwas sein, den Sie lenken und innerlich vorwärts, aufwärts bringen, aus dem Sie den guten Willen, der in ihm steckt, hervorholen können. Sagen Sie selbst, ob damit nicht alle Bedingungen einer wahren Ehe gegeben sind, und im höchsten Sinne!«

»Sie überschätzen mich,« sagte Klara. Franz blickte verwundert auf. Sie fuhr fort: »Nein, ich danke!« Sie stand auf und trat ans Fenster. Er konnte sich nicht erklären, wodurch er sie beleidigt zu haben schien. Sie sagte: »Sie sind mir viel zu jung, Herr Graf! Sie haben ja ganz recht, Sie brauchen wirklich noch eine Gouvernante – denn darauf geht das ja schließlich doch hinaus. Aber Sie wenden sich an die falsche Adresse, mir fehlt dazu leider das Talent, ganz und gar.«

»Ich bin mir nicht bewußt, Sie gekränkt zu haben,« sagte Franz ratlos.

»Nein, Sie sind ganz unschuldig,« erwiderte sie, »das muß man Ihnen lassen, ich fürchte nur, Sie sind kein Menschenkenner, aber nehmen wir selbst an, eine solche Ehe, wie Sie sie schildern, die also darin bestehen soll, daß eins dem anderen seine Schulaufgaben machen hilft, wäre möglich und Sie wären der ideale Mann, was ich ja gar nicht bezweifeln will, so bin ich jedenfalls nicht die Frau dazu, wahrhaftig nicht!«

»Sie sind es, Klara,« rief Franz. »Sie oder keine!«

»Wahrscheinlich keine,« sagte Klara trocken. »Und somit nochmals vielen Dank, ich fühle, welche Ehre mir durch Ihren Antrag zugedacht wird, aber ich verdiene sie nicht.«

»Verzeihen Sie,« sagte Franz betreten, »aber Ihre Mutter hatte mir Hoffnungen gemacht, und offenbar hab ich mir auch in Ihren Briefen manches günstiger ausgelegt, als es, wie sich jetzt zeigt, gemeint war.« Er stand verlegen auf, da kam sie vom Fenster zurück und sagte langsam: »Ja Sie haben ganz recht. Ich darf mir's nicht gar so leicht machen wollen. Sie können verlangen, die Wahrheit zu hören. Und das soll doch auch meine Buße sein. Dazu bat ich Sie ja her. Nur Ihr etwas gar zu idyllischer Eheplan hat mich aus dem Text gebracht. Also bitte setzen Sie sich nur wieder und hören Sie, wie ich wirklich bin – anders kommen wir ja doch zu keinem Ende!« Und sie begann in Hast ihre seltsame, mit dem geliebten, herrlichen, doch verbitterten, vereinsamten, mißtrauisch, mürrisch und menschenfeindlich gewordenen Vater verbrachte Jugend zu schildern, ließ es aber gleich wieder und sagte: »Doch darauf kommt's ja gar nicht an, was kümmert Sie das? Ich will nur, daß Sie mich nicht noch länger ganz anders sehen, als ich bin. Durch meine Schuld, denn Sie mußten mich ja für verliebt in Sie halten!«

»Nein!« sagte Franz beteuernd.

»Nein?« fragte sie, nicht ohne Spott. »Sollten Sie die Frauen so wenig kennen? Aber wenn Sie's nicht glaubten, so fühlten Sie's doch und erwiderten es, mich allein trifft die Schuld, Ihre Empfindung war nur ein Echo der meinen!« Sie hielt einen Atemzug lang ein, bevor sie fortfuhr, ganz ruhig, ganz sachlich Bericht erstattend: »Ich habe mir als Buße auferlegt, Ihnen alles zu bekennen. Meine Verwirrung, als wir uns zum erstenmal sahen, meine Angst, als Sie mir folgten, meine Verlegenheit, als Sie mich besuchten, mein launisches, albernes, künstliches, mir selbst unausstehliches Wesen, der falsche Ton meiner Briefe – ja haben Sie denn nicht vom ersten Augenblick an gewußt, daß ich Sie liebte?«

»Klara!« rief Franz, der an sein Glück noch gar nicht zu glauben wagte.

»Gedulden Sie sich noch ein wenig,« sagte sie. »Ich darf jetzt davon sprechen, weil ich es überwunden habe, weil es vorüber ist, weil wir uns ja niemals mehr sehen werden.«

»Nein, Klara! Sie täuschen sich, mein Gefühl ist nicht bloß ein Echo des Ihren, das war es vielleicht anfangs, Sie mögen recht haben, aber jetzt, ich schwöre Ihnen –.«

»Schwören Sie nicht!« sagte Klara lächelnd, »ich würde Ihnen doch nicht glauben, und wenn ich Ihnen selbst glaubte, das würde ja auch nichts ändern. Es darf nicht sein, und seit ich erkannt habe, daß es nicht sein darf, ist es gar nicht mehr. Es ist vorüber. Das einzige, was mir mein Vater hinterlassen hat, hab ich mir bewahrt: die Kraft, wissentlich niemals unrecht zu tun. Seit ich weiß, daß es unrecht wäre, ist es weg. Ich fühle mich jetzt ganz sicher. Mein Herz konnte mir meinen Kopf ein bißchen verwirren, bis dann mein Gewissen zu schlagen begann, jetzt hab ich mich schon wieder. Und nicht aus Furcht, daß etwa mein Gefühl wiederkehren könnte, will ich Sie nicht mehr sehen, sondern bloß, weil es mir stets eine unangenehme Erinnerung wäre, an einen Augenblick der Schwäche, des inneren Versagens, einer häßlichen Untreue gegen mich selbst, deren ich mich sehr schäme.«

Nach einer Pause sagte Franz: »Ich verstehe, ich bewundere diese Treue, aber sollen Sie deshalb in so jungen Jahren verurteilt sein, Ihr ganzes langes Leben vertrauern zu müssen und um des Toten willen für keinen anderen Mann mehr empfinden zu dürfen? Wer gebietet Ihnen das? Unsere Religion nicht, wir sind nicht in Indien, wir verbrennen die Witwen nicht.«

Sie war sehr bleich, als sie mühsam antwortete: »Sie mißverstehen mich wieder! Ich handle, wie ich handeln muß, ich darf Sie nicht lieben, darf es nicht, aber nicht aus Treue gegen den Toten, das ist es nicht, nein! Wie soll ich's Ihnen nur erklären? Es wird mir schwer. Aber zu meiner vollen Buße gehört wohl, daß ich auch das noch überwinde!« Sie schwieg eine Zeit und wiederholte dann: »Leicht wird es mir nicht. Und wie soll das auch ein Mann begreifen können? Ich müßte Ihnen meine ganze Kindheit erzählen, Sie müßten meinen Vater gekannt haben! Er war ein tiefer Mensch, der so rein im Geiste lebte, daß er alle Wirklichkeit eigentlich immer nur als eine lästige Störung empfand, die man gar nicht anerkennen, auf die der Mensch gar nicht achten darf. Fromm erzogen, zum Gebet und zu den strengsten Übungen der Andacht angehalten, war ich bald den Umgang mit Gott so gewohnt, daß ich mich noch ganz gut des ratlosen Entsetzens erinnern kann, in das ich als junges Mädchen geriet, wenn in mein ängstlich bewachtes Paradies zuweilen doch einmal ein irdischer Laut drang und mich erraten ließ, daß wir auf der Erde, daß wir unter Menschen waren. Meistens geschah das, da wir ja ganz einsam lebten, nur durch irgendein unbedachtes Wort meiner Mutter, das die Arme dann immer bitter zu bereuen hatte, denn mein Vater konnte darüber in eine namenlose Wut, in einen wahrhaft heiligen Zorn geraten. Er hielt mich möglichst fern von ihr, in einer Art Eifersucht, die oft bis zum Haß ging. Warum er sie hassen mußte, hab ich viel später erst allmählich begreifen lernen, in meiner eigenen Ehe. Die Mutter konnte wirklich nichts dafür, und mein Trost ist nur, daß sie es ja wahrscheinlich gar nicht so stark empfunden haben wird. Ich glaube nicht, daß sie viel von dem erfuhr, was in meinem Vater vorging. Eigentlich war ich weit mehr seine Frau als sie. Auch durch seinen Tod verlor ich ihn nicht. Ich hatte nur abends vor dem Einschlafen mich zu bekreuzigen, die Hände zu falten und still an ihn zu denken, so war er gleich wieder da und sagte mir auf jede Frage deutlich, was ich zu tun hätte. Ich verlor ihn erst, als ich heiratete. Von dem Augenblick an, als ich meinen Mann kennen lernte, war ich eine andere. Ich hatte mich nicht mehr, ich verschwand, ich war nur noch für ihn, war nur noch in ihm, war nur noch er. Es ist die seligste Zeit meines Lebens gewesen, und die schrecklichste. Denn seit ich weg war, war mir auch Gott weg. Und ich bemerkte das aber nicht einmal! Ich kann mir ja jetzt, Gott sei Dank, gar nicht mehr auch nur vorstellen, wie das damals mit mir gewesen sein muß, ich bin es nicht gewesen! Alles warf ich in den gierigen Schlund meiner Leidenschaft, und sie fraß es auf, aber nichts konnte sie sättigen, erst verschlang sie mich, doch ihr Hunger blieb ungestillt, bis sie mir zuletzt auch das Leben des geliebten Mannes verschlang, in den Tod hinein hab ich ihn geliebt, ich war schuld, nur ich! Ein unglücklicher Zufall hieß es, und sein Leichtsinn, die Schrauben nicht nachzusehen! Ich weiß es besser: es war die Strafe.« Das Blut wich aus ihren Lippen, sie wurden so weiß wie ihr Gesicht, aber sie gab sich nicht nach, sie zwang sich, fortzufahren: »Nein, jetzt weiß ich noch mehr! Nicht die Strafe war es, nein, es war die Gnade. Gott hat mich nicht fahren lassen wollen, ich hatte Gott vergessen, er aber mich nicht, so riß er mich wieder an sich, indem er mir den Mann zerschlug, der mich ihm entrissen hatte. Das war es, nur ich bin schuld, ich ganz allein! Ich habe lange gebraucht, bis ich das einsehen lernte.« Nach einer Weile gelang es ihr erst, indem sie ihre ganze Kraft aufbot, noch zu sagen: »Und bis ich so weit war, von ganzem Herzen Gott dafür danken zu können. Es ist so schön, daß er mich mit niemand teilen will. Er sei gepriesen!« Sie schlug das Gesicht in ihre weißen Hände.

Franz, gewohnt, wenn er auf ein neues Problem stieß, stets darüber gleich sich selbst mit allen seinen Angelegenheiten zu vergessen, war schon wieder bereit, auch auf diesen interessanten Fall innerlich einzugehen, von dem er sich manche Belehrung versprach. Er sagte nachdenklich: »Der Gedanke, Liebe trenne den Menschen von Gott, überrascht mich. Ich muß sagen, daß dies doch allen unseren Denkgewohnheiten widerspricht. Hören wir denn nicht überall, daß sie mit Gott vereint? Ist sie nicht die höchste Tugend? Ist die Ehe nicht ein Sakrament?«

»Es ist ein teuflischer Einfall der Menschen,« sagte Klara, »daß sie für das reinste Gefühl dasselbe Wort haben wie für das infamste. Es gibt eine Liebe, die in dem geliebten Wesen Gott liebt und nur ihn. Aber so zu lieben, bin ich nicht fähig. Ich war es damals nicht und bin es heute noch nicht. Es scheint, daß auch ich mein Gefühl nicht teilen kann. Ich kann entsagen, ja, dann aber ganz. Das kann ich und das will ich auch, denn es macht mich selig. Damals war ich auch selig, aber unter den bittersten Schmerzen. Nie mehr, nie mehr! Ich hab's überwunden, ich habe mich besiegt, ich habe mich wieder, in Gott! Ich würde den erwürgen, der mich ihm wieder raubt.« Sie erschrak selbst, versuchte zu lächeln und hatte jetzt wieder diese gläserne Stimme: »Nein, lieber Graf, das wäre nichts für Sie! Sie haben sich das doch so schön ausgemalt, Sie sagten doch selbst, Sie brauchen eine Frau, bei der Sie sich sicher fühlen. Das wären Sie bei mir wirklich nicht. Ich wäre die unglücklichste Frau, aber auch, glauben Sie mir, ein Unglück für Sie!« Und ihre Stimme taute wieder auf, als sie noch sagte: »Und ich wünsche mir doch von ganzem Herzen nichts so sehr, als Sie glücklich zu wissen. Ich will Sie glücklich machen, indem ich mich opfere. Denn ich würde Sie hassen, wie mein Vater die Mutter gehaßt hat! Ich darf nicht, ich gehöre Gott. Nichts mehr! Schweigen Sie! Ich habe Ihnen dies alles doch nur sagen können, weil wir uns nie wiedersehen!« Und unwiderstehlich bittend hob sie die gefalteten Hände.

Es kam über ihn, sie fest in seinen Arm zu nehmen und fortzutragen, weit von ihr weg. Er dachte daran, indem er ging. Ohne ein Wort, ohne einen Blick auf die Stehende ging er und wußte nicht, ob das sehr edel von ihm war oder kläglich. Draußen kam ihm vor, als riefe sie seinen Namen. Er horchte. Da war alles wieder still. Er mußte sich getäuscht haben. Und er war eigentlich froh. Sie hatte ja wahrscheinlich recht. Und er konnte sich kaum ein stärkeres Erlebnis denken, als ihm diese Stunde geschenkt hat. Die Wirkung wird erst kommen. Das braucht bei ihm immer einige Zeit. Jetzt war er noch wie betäubt.


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