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Siebzehntes Kapitel

Der Sumpf

Im Nordwesten des Sees lag ein weites Gebiet schwankenden Sumpf- und Moorgeländes, das seit Urbeginn der Welt geschwankt und Feuchtigkeit geatmet hatte. Es war ein trostloser, wenig einladender Ort, wo selbst im Hochsommer die Nässe nie verdunstete, und wo sogar den Schatten der Zedern Feuchtigkeit zu entströmen schien. Rings um den unsicheren Boden drängten sich die Bäume so dicht, als wollten sie aus diesem grundlosen Schlammbett sämtliche Nahrung aufsaugen. Dort wuchs die stachelige Tamariske, die Eisenixie, die schwarze Wasserpappel und die silberne Birke. Dort erhob auch die Schierlingstanne ihre grünen Federbüsche hoch über die übrigen Nadelbäume, die so eng beieinander wuchsen, daß ihre unteren Äste zu spröden Hölzern zusammengeschrumpft waren, welche auf den geringsten Druck hin abbrachen und so von weitem schon das Rotwild warnten. Die größeren Bäume, wie die Tamarisken und die Zedern, mieden freilich die sumpfigsten Stellen; dagegen wagten sich die Ellern- und Zaubernußsträucher mit der Unerschrockenheit geringerer Geschlechter kühn in die gefährliche Zone hinaus und wurden in dem Moraste so heimisch, wie die Geschöpfe der Vorzeit in dem urweltlichen Schlamm. Ja, einer der ältesten Bäume, eine Wasserpappel, neigte sich so weit über jene grundlosen Tiefen, ohne jedoch darin zu versinken, daß sie mit ihren Wurzeln den halben Erdteil durchbohrt zu haben schien und sich offenbar an New York festklammerte.

Doch das größte Wunder dieses Moores bildete das Torfmoos, das sich zu den wunderbarsten Teppichen mit herrlich gefärbten Webfäden verflocht. Überall dehnten sich seine winzigen Berge und Täler gleich der Zauberlandschaft der indianischen Elfen, die auch heute noch nicht ausgestorben sind. Dieses Moos zog als erstes Thunderboy an und führte ihn zu der Entdeckung des Sumpfes. Als er eines Morgens bei einer seiner fruchtlosen Versuche, Quosk zu belauschen, das Seeufer entlangruderte, fing seine Nase, die gleich der eines Tieres niemals ruhte, einen neuen Geruch auf. Es war ein durchdringender, angenehmer Geruch, der ihm wohl gefiel, und er sog ihn tief in die Lungen ein. Daraufhin ging er buchstäblich immer seiner Nase nach, bis er den Rand des Sumpfes erreichte, und dort lernte er den Duft des Torfmooses im Mond der Rosen erst richtig kennen. Und noch viele andere Dinge dufteten süß, Zedern und Sassafraslorbeer, Mekkabalsam und wohlriechende Gräser. Und die vielen Düfte all dieses Grünens und Blühens verquickten sich zu einem wunderbaren Wohlgeruch, der die Nasen der Wildgeschöpfe schon von weitem traf.

Kaum hatte Thunderboy den Morast entdeckt, als er stocksteif stehenblieb. Das ist die beste Methode, herauszubekommen, was für Wesen die Wildwechsel hinauf- und hinabstreifen. Er war nämlich fest überzeugt, daß allerlei Nasen den Wind beschnupperten, obgleich er dafür keinen rechten Grund angeben konnte. Aber mochte er auch noch so stille stehen, seine Gegenwart blieb nicht unbemerkt. Die Strandläuferin wußte zwar nicht, wer sich hier nahte, aber sie spürte ganz genau die Gegenwart eines fremden Wesens und drückte ihr lebhaftes Mißfallen durch eine Reihe scharfer, kurz aufeinanderfolgender Laute aus, die das ganze Sumpfvolk von einem Ende des Moores bis zum anderen warnten. Es war wirklich ungemein ärgerlich! Weshalb konnte sie nicht den Schnabel halten, sobald sie entdeckt hatte, daß Thunderboy ein durchaus friedfertiges Geschöpf war und nichts weiter verlangte, als seinerseits in Ruhe gelassen zu werden? Doch eine Strandläuferin ist nun einmal eine Strandläuferin und hat sich über sämtliche Wesen, die sich ihrer Füße und Beine bedienen, aufgeregt, seitdem es Eier und Sand gibt. Erst allmählich besann sie sich eines Besseren und ließ sich von neuem auf ihrem Neste nieder.

Als sie fortgeflogen war und Stille sich wiederum über den Sumpf senkte, nahm Thunderboy seine geduldige Beobachtung wieder auf. Lange Zeit rührte sich nichts. Dennoch erklang von allen Seiten ein leises Atmen und Raunen, wie es in jedem Sumpfe zu Hause ist, als bewege die Feuchtigkeit ihre Lippen und blase dem Schlamme den Lebensodem ein. Blasen stiegen aus schwarzen Wasserpfützen auf und zerplatzten geheimnisvoll in unregelmäßigen Zwischenräumen, als existiere dort in der schleimigen Unterwelt allerlei Leben. Jahrhundert um Jahrhundert hatte der Sumpf viele Zeichen einer versunkenen Welt von sich gegeben, die nur heimlich zu atmen schien und niemals bis an seine Oberfläche drang. Und doch – mochten die Jahrhunderte auch über ihn hinweggehen und zahllose Monde zunehmen und schwinden, die Zeit hatte mit ihm nichts zu schaffen. Die Jahre, so wie der rote und der weiße Mann sie zählen, krochen aus den trockeneren Zonen der Welt bis an seine schwankenden Ufer heran und wurden gleich dem Erlenlaub in seine fauligen Tiefen gesogen und mehrten den unterirdischen Schlamm.

Nach einer Weile knackte ein Tannenzweig. Augenblicklich schärften sich Thunderboys Sinne, aber er war ein viel zu erfahrener Jäger, um sich hastig nach der Richtung, von der das Geräusch gekommen, umzudrehen. Statt dessen bewegte er langsam die Pupillen, und ihnen folgte ebenso langsam sein Haupt, als hätten jene es nach sich gezogen. Anfänglich gewahrte er nichts als die unabsehbaren Reihen der Rottannen. Dann schoben sich eine Nase, ein Paar nervöse Ohren und zwei sammetweiche Augen behutsam durch das Nadelgewirr, und Thunderboy wußte: ein Reh war im Begriff, sich aus dem Walde hinauszuwagen. Aber weshalb kam es hierher? Hier konnte es doch nicht trinken wollen, wo der See keine hundert Meter entfernt lag und in jeder Hinsicht eine weit angenehmere Tränke als die verräterischen Ränder des Sumpfes bot, an denen das Wasser – wenigstens was man davon zu sehen bekam – von der uralten Fäulnis vorzeitlichen Schlammes pechschwarz gefärbt war? Das Tier sicherte nach rechts und nach links und schien Thunderboy dann gerade ins Gesicht zu starren. Aber er wußte genau, ein Geschöpf der Wildnis entdeckt den Menschen sehr oft selbst dann nicht, wenn er ihm unmittelbar vor Augen steht, solange er sich nur mäuschenstill verhält. Obendrein warnt es der Geruchsinn weit öfter als Augen oder Ohren. Jetzt jedoch rührte sich kein Lüftchen, und obwohl die Nüstern des Rehs in einem fort zuckten und sich kräuselten, vermischte sich das wenige, was sich von Thunderboys Sein außerhalb seines Körpers ergoß, mit dem stärkeren Duft des Torfmooses, ohne das Reh zu erreichen. Trotzdem war es ganz klar, daß es sich keineswegs sicher fühlte. Selbst als es sich so weit ein Herz faßte, um hinaus ins Freie zu treten, sog es immer noch mit feinfühligen Nüstern die Luft ein, als warne es ein geheimnisvoller sechster Sinn, daß die Gegend nicht so menschenleer sei, wie es den Anschein hatte. Bald jedoch überwand der Geruch des Mooses alle Bedenken, und das Tier ergab sich ganz dem lockenden Reiz. Des Rehes Nase dürstete und trank den köstlichen Duft in raschen kleinen Zügen, bis seine Lungen ganz damit angefüllt waren. Kaum aber hatte es diesen berauschenden Wohlgeruch in sich aufgenommen, als sein Selbstvertrauen zu wachsen schien und es behutsam die schräge Böschung hinuntergeschritten kam. Gerade als Thunderboy erwartete, es am Fuße des Abhanges innehalten zu sehen, wagte es sich zu seinem grenzenlosen Erstaunen kühn in den Sumpf hinein. Mit jedem Schritt, den es tat, glaubte er es dem Versinken nahe. Statt dessen sah er es weiter und weiter hinaus über das schwankende Moor schreiten, als läge ein Zauber in seinen Füßen. Schon hatte es die Mitte des Sumpfes erreicht; jetzt umringten es die schwarzen Wassertümpel gleich weitaufgerissenen, schleimigen Schlünden, begierig, es in ihre Rachen zu saugen. Mit angehaltenem Atem beobachtete Thunderboy das Tier. Wenn es jetzt einen falschen Schritt tat! Mit bebenden Nüstern trank es immer noch den geliebten Wohlgeruch; dann blieb es stehen, und Thunderboy glaubte, es würde, nachdem es sich sattgetrunken, auf sicheren Grund und Boden zurückkehren. Statt dessen beobachtete er, wie des Tieres leise sich wiegender Körper in Aufmerksamkeit erstarrte, als habe es sich über irgend etwas erschreckt. Nervös spitzte es die langen Ohren, bald nach der einen, bald nach der anderen Seite. Ein mattes Geräusch, so matt, daß es lediglich von dem Rascheln der Blätter im Wind herrühren mochte, kam und ging. Das war alles. Doch diese kaum wahrnehmbare Botschaft genügte, um das Reh vor dem Nahen einer noch unsichtbaren Gefahr zu warnen. Thunderboy, der mit den Sitten und Gewohnheiten der Waldbewohner wohl vertraut war, wußte, das Tier würde eine zweite Warnung nicht erst abwarten. Er erwartete daher, es umkehren zu sehen, um noch einmal die gefahrvolle Strecke bis zu seinem Ausgangspunkte zurückzulegen, und wollte seinen Augen nicht trauen, als es im Gegenteil, ohne zu zögern, seinen Weg über den Sumpf fortsetzte.

Weiter ging es, immer weiter, ohne innezuhalten und scheinbar ohne jedes Bedenken. Endlich packte Thunderboy eine derartige Neugier, daß er auf die Stelle hinaustrat, von wo aus das Reh die wunderbare Sumpfüberquerung unternommen hatte. Hier fand er die Erklärung des Mirakels. Eine Fährte führte hinunter bis an den Rand des Morastes, und gerade dort, wo man glaubte, daß sie abbrechen würde, lief sie weiter quer über das Sumpfgelände bis nach dem gegenüberliegenden Ufer ... Hatte er den Mut, ihr zu folgen? Das Reh war glücklich hinübergelangt; aber die Rehe waren ja berühmte Pfadfinder und trugen in ihren Hufen irgendeinen Instinkt, der sie alle gefahrvollen Stellen meiden hieß, und der mit solch unfehlbarer Sicherheit arbeitete, daß man hätte meinen können, sie trügen einen Teil ihres Gehirns in ihren Füßen. Außerdem vermochten sie kraft einer einzigen Zusammenziehung ihrer Muskeln weite Entfernungen zu überspringen, sobald eine rasche Warnung einen solchen Sprung unvermeidlich machte. Und stets pflegten sie dabei auf allen vier Beinen zu landen, sicher ausbalanciert und zu jedem neuen Schritte bereit, wie immer der auch ausfallen mochte. Thunderboys Hirn arbeitete fast ebenso rasch wie das eines Rehs, aber der Große Geist hatte ihm eine andere Sorte Beine beschert. Das war der ganze Unterschied. Dabei liebte er Abenteuer. Dieser Fährte quer über den Sumpf zu folgen, bedeutete eine neuartige Erfahrung, und die damit verbundene Gefahr verlieh ihr nur erhöhten Reiz. Schließlich waren Gefahren hier in dem großen, freien Leben der Wälder etwas Alltägliches; konnte man dieses große, freie Leben ohne Gefahr nicht genießen, so war er eben bereit, sie auf sich zu nehmen.

Kaum hatte er die Böschung verlassen, so spürte er den Unterschied in der Beschaffenheit des Bodens unter seinen Füßen. Der Weg führte nicht länger über feste Erde, er schwankte unter seinen Schritten. Über dem Schlamm hatten sich die Fibern und Wurzeln des Torfmooses zu einem starken Teppich verflochten, der einem festen Gewebe glich. Zahlreiche Monde waren zu seiner Fertigstellung benötigt worden, bevor die Fährte ausgetreten werden konnte. Wer diese Sache als erster gewagt – welcher kühne Hirsch oder vorsichtige Rehbock zum ersten Male den Fuß auf jenes Gespinst gesetzt und seine Haltbarkeit erprobt hatte – das freilich fragte Thunderboy nicht, während er sich weiter und weiter in das sumpfige Gebiet hinaustastete.

Immer stärker schwankte der Boden unter seinen Füßen. Er mußte sich anstrengen, im Gehen das Gleichgewicht zu bewahren. Es gab Augenblicke, in denen es schien, als müsse der Teppich zerreißen, da das Wasser schon durch die Wurzeln emporquoll und in Thunderboys Fußspuren kleine Lachen bildete. Doch jetzt befand er sich mitten im Herzen des Abenteuers, und der Reiz des Unbekannten hinderte ihn umzukehren. Dort, wo das Reh gegangen war, würde auch er sich hinwagen. Trotz der glucksenden Tümpel, trotz des dunklen Raunens, trotz des noch finstereren Schweigens der schwarzen Pfützen, die scheinbar hinab bis zu den Wurzeln der Welt reichten, ja trotz der verräterischen Tücke der Zickzackspur und der grundlosen Tiefe des Schlamms schritt er mutigen Herzens vorwärts.

Weshalb blickte er sich plötzlich um? Weshalb blickt das Renntier sich um, obwohl seine Ohren keinen Laut aufgefangen haben? Weshalb unterbricht der Moschusochse das Weiden in dem einsamen Polargebiet, um gleich einem vorsintflutlichen Gespenst in der Ferne zu verschwinden? Welche Kraft treibt des Elches mächtige, gespaltene Hufe im scharfen Trab Meile für Meile über die Eiswüste, auf der Flucht vor einer Gefahr, die er weder hören, noch sehen, noch riechen kann? Was ist das für ein sechster Sinn, den die Wildgeschöpfe, Menschen wie Tiere, besitzen?

Als Thunderboy in der Mitte des Sumpfes den Kopf wendete, bot sich ihm ein Anblick, der seinen Herzschlag wild beschleunigte. Dort, gerade an der Stelle, wo die Fährte den Morast berührte, stand ein großes Tier, größer als der stärkste Wolf, den er je gesehen. Die Form seiner Ohren allein verriet, daß es sich hier um keinen Wolf handelte: sie waren kürzer und weniger spitz. Aufhorchend schlug es mit dem Schwanze, der sehr lang und dick war, langsam von einer Seite zur anderen, und duckte sich halb und halb zu Boden, während es ihn aus großen, runden Augen scharf beobachtete. Noch nie, soweit Thunderboy sich erinnern konnte, hatte er ein derartiges Tier gesehen. Auf den ersten Blick gefiel es ihm durchaus nicht. Es sah ganz wie ein Geschöpf aus, das aus einer schier unglaublichen Entfernung mit einem einzigen Sprung seine Beute erreichen konnte, um sie in Stücke zu zerreißen und zu verschlingen. Aber Thunderboy war kein Feigling, wenn es sich darum handelte, sich Aug in Auge mit einem Raubtier zu messen. Ihm fest und ohne zu blinzeln ins Gesicht zu blicken, die ganze Kraft seines Geistes mittels der eigenen Augen in die herausfordernden Lichter des wilden Tieres zu senden: darin bestand das Geheimnis der Meisterschaft, – die alte indianische Medizin, die so alt ist wie die Wildwechsel selbst.

Doch im gegenwärtigen Augenblick stand Thunderboy seinem Gegner nicht unmittelbar gegenüber. Die halbe Breite des Morastes trennte ihn von den herausfordernden Augen am Ufersaum. Diese schienen seiner dort zu warten, um ihm bei der Rückkehr den Weg abzuschneiden. Vielleicht war es doch ganz gut, daß er sich schon so weit draußen im Sumpfe befand. Jedenfalls bildete das einen Grund mehr, nicht umzukehren.

Wieder schritt er ein Stückchen vorwärts. Nach einer kleinen Weile drehte er sich noch einmal um. Im nämlichen Augenblick sah er das Tier aus dem Walde heraus den Sumpf betreten. Dabei setzte es vorsichtig die weichgepolsterten Sohlen und prüfte Schritt für Schritt den gewundenen Pfad auf seine Tragfähigkeit. Doch selbst, als es gewahrte, daß Thunderboy sich umgedreht hatte, um es zu beobachten, zögerte es nicht, sondern schritt unentwegt weiter. Thunderboy wartete nicht länger. Mochte der Weg, der vor ihm lag, auch gefährlich sein, das, was sich in seinem Rücken auf ihn zubewegte, konnte eine noch viel größere Gefahr bedeuten. Auf festem Grund und Boden hätte er sich vielleicht anders benommen. Das war eine Sache für sich. Hier draußen, mit der grundlosen Tiefe unter seinen Füßen und der unbekannten Gefahr im Rücken, gab er Fersengeld!

Die Fährte schwankte unter seinen Tritten. Der Boden hob und senkte sich gleich Wasser im Wind. Er konnte nicht standhalten! Er mußte versagen! Die Fasern des Torfmooses waren zum Zerreißen angespannt. Unter dem heftigen Druck der hastenden Sohlen drohten sie jeden Moment nachzugeben. Und je näher dieser Moment zu rücken schien, um so eiliger rannte Thunderboy, getrieben von der fieberhaften Überzeugung, daß nur Eile ihn zu retten vermöchte, und zwar nicht so sehr vor der Gefahr im Rücken wie vor der, die sein Fortkommen bedrohte.

Er gelangte an eine Stelle, wo der Weg sich gabelte. Er wußte nicht, welcher der beiden Fährten er jetzt folgen sollte, wählte die falsche und begriff sofort, weshalb die Spur sich hier teilte. Der ältere Weg, über den zahlreiche Füße hinweggegangen waren, war endlich in der Tiefe versunken. Unmittelbar vor ihm lag ein länglicher, schwarzer, nur zum Teil von Unkraut überwucherter Tümpel. Zu Thunderboys Glück hatte die Schule des Urwalds ihn die Kunst gelehrt, in kürzester Frist innezuhalten und seinen Körper blitzschnell, ehe man noch mit der Wimper zucken konnte, nach der einen oder anderen Seite zu drehen. Als nun die Fährte zu seinen Füßen sich in schlammigem Brei verlor, warf er sich herum und sprang zur Seite auf das moosige, die beiden Pfade verbindende Gespinst. In der nächsten Sekunde hatte er sich bereits wieder hochgeschnellt und lief aus Leibeskräften den neueren Weg entlang. Jetzt lugte er die ganze Zeit über scharf in alle Richtungen nach neuen Wasserlöchern aus. Auch dieser zweite Pfad schwankte und wankte, wie der alte es getan, trug aber im Laufen Thunderboys Körpergewicht. Weiter und weiter jagte er mit fast der gleichen Schnelligkeit wie das Reh, dem er jetzt folgte, ohne auch nur eine Sekunde lang den Blick von der Spur abzuwenden und sich umzuschauen: – so erreichte er endlich festen Grund und Boden.

Ohne abzuwarten, ob das unbekannte Tier ihm nachging, stürmte er weiter durch den Wald. Unterwegs horchte er auf jedes Geräusch, das auf eine Verfolgung schließen lassen konnte, aber nichts rührte sich.

Es war recht dunkel unter den Bäumen. Der Wald schien die unangenehme Eigenschaft zu besitzen, sich gerade dort zu verdichten, wo man sich am meisten nach Licht sehnte; der grüne Dämmer, in dessen Tiefen der Blick sich in undurchdringlichem Zwielicht verlor, wimmelte anscheinend ständig von verstohlenem, nie einzufangendem Leben. Je weiter Thunderboy kam, um so überzeugter war er, daß man ihm folgte. Doch obwohl er sich wiederholt umblickte, gewahrte er kein Lebewesen. Endlich erreichte er einen Punkt, wo ein Windbruch ihn zwang, eine neue Richtung zu wählen. Zwar stieß er auf der anderen Seite wieder auf den alten Pfad, jetzt aber zwang ihn irgend etwas, sich umzuschauen. Und richtig, dort auf der Spitze des geknickten Baumstammes, funkelte ihn das Tier aus unerschrockenen Augen aufmerksam an.

Thunderboy war ihm jetzt so nahe, daß er jede Einzelheit an ihm zu erkennen vermochte. Das durch die Blätter fallende Sonnenlicht zeichnete ein leuchtendes Schattenmuster auf seinen Pelz. Die Farbe dieses Pelzes war ein gelbliches Braun, das ins Rötliche spielte, wo das Sonnenlicht es traf, und an dem unteren Teil von des Tieres Körper verblaßte das rötliche Braun zu einem gelblichen Weiß. Während das Tier sich so, die kräftigen Beine unter dem Leib zusammengezogen, auf dem Baumstamm hinkauerte, ließ es seinen langen, buschigen, an der Spitze dunkelbraun getönten Schwanz gerade herunterhängen, als wolle es eigens auf ihn die Aufmerksamkeit lenken.

Thunderboy starrte dieses schlanke, hohlflankige Geschöpf mit dem biegsamen Körper und dem edlen Haupte an, wobei er mehr Bewunderung als Furcht spürte. In erster Linie gaben die Augen ihm sein Selbstvertrauen zurück; es waren wilde, aber nicht grausame Augen – zum mindesten blickten sie nicht grausam, während sie auf ihm ruhten. Er wußte, solange er das Tier nur unentwegt anschaute, ohne selbst die geringste Furcht zu verraten, drohte ihm keine Gefahr.

Lange Zeit rührte er sich nicht vom Fleck, derweil ging aber allerlei in seinem Gehirne vor. Er sprach nicht, ja, er wurde sich seiner Gefühle nicht einmal voll bewußt; und doch strömten gleichsam Empfindungen von ihm aus und übermittelten dem Tiere eine stumme Botschaft, die, hätte er sie in Worte gekleidet, etwa gelautet haben würde:

»Ich fürchte mich nicht vor dir. Das, was aus den Höhlungen deines Hauptes blickt, ist gut. Solange du so dreinschaust, wirst du mir keinen Schaden zufügen. Und auch ich wünsche dir keinen Schaden zuzufügen.«

Nach Erhalt dieser Botschaft war das Tier durchaus zufrieden, seinen neuen Bekannten aus leuchtenden Augen freundschaftlich zu mustern, wobei es langsam mit dem Schweif wedelte und einen leisen, heiseren und eintönigen Laut, gleich dem Schnurren einer Katze, von sich gab. So verging die Zeit, ohne daß einer von ihnen sich bewegt hätte; doch war beider Verhalten ganz gleich, nur daß Thunderboy nicht schnurrte und auch keinen Schwanz zum Wedeln hatte.

Endlich wurde Thunderboy des Nichtstuns müde und setzte sich langsam und geräuschlos und ohne das Tier aus den Augen zu lassen, wieder in Marsch. Kaum jedoch war er zwischen den Bäumen verschwunden, da sprang das fremde Geschöpf leichtfüßig von dem umgeknickten Stamm herunter und folgte ihm auf gepolsterten Sohlen.

Thunderboy erreichte das Lager, als die Sonne bereits die halbe Strecke vom Mittag bis zum Abend zurückgelegt hatte und Katoya mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt war.

»Du warst lange fort,« sagte sie. »Was hast du die ganze Zeit über getrieben?«

»Ich bin über Wasser geschritten und habe unterwegs ein fremdes Tier getroffen.«

Katoya zeigte über eine so unerwartete Antwort keinerlei Erstaunen.

»Ist das Tier auch über das Wasser gegangen?« erkundigte sie sich.

»Später hat es das getan, und als es mir folgte, lief ich weg.«

»Und dann ist es ebenfalls gelaufen?« bemerkte Katoya ruhig.

Thunderboy blickte sie verwundert an. Ihre Worte klangen so bestimmt, als wäre sie dabei gewesen. Und doch war das ausgeschlossen. Wie kam es, daß sie so genau Bescheid wußte, ohne die Sache miterlebt zu haben?

»Wahrscheinlich wird es gelaufen sein,« antwortete er nachdenklich. »Es ist mir durch den Wald gefolgt, und ich habe es lange angeschaut. Am Oberkörper war es dunkel wie ein Wolf, mit lichterem Fell unten auf der Bauchseite. Es hatte auch einen langen, dichtbehaarten Schwanz. Mit diesem Schwanze hat es allerlei geredet, ohne daß ich es verstehen konnte. Ich wollte, ich hätte auch einen Schwanz, dann hätte ich mitreden können. – Ich habe mich auch gar nicht gefürchtet,« fügte er noch hinzu, da das Gesagte auf seine Großmutter offenbar nicht den gewünschten tiefen Eindruck machte.

»Hat es in seiner Kehle ein Geräusch wie dieses hier gemacht?« forschte Katoya, indem sie das Tier so geschickt nachahmte, daß Thunderboy vor Staunen außer sich geriet. Viel zu erregt zum Sprechen, nickte er nur bestätigend.

»Kein Wunder, daß du dich nicht fürchtetest,« erwiderte Katoya leicht geringschätzig. »Der Silberlöwe greift keinen Menschen – ja nicht einmal ein Kind an. Er ist der Freund des Menschen hier in den mächtigen Wäldern. Er war auch deiner Mutter Freund, als er sie vor den Wölfen errettete.«

Die Geschichte jenes anderen Löwen, der seine Mutter gerettet hatte, als er noch zu klein war, um sich ihrer zu erinnern, war Thunderboy wohl vertraut. Ja, so oft hatte Katoya sie ihm erzählt – stets wenn ihr Vorrat an Legenden erschöpft war – daß der Bericht allmählich selbst die Würde einer Legende angenommen hatte und einen Teil jenes bunten Durcheinanders an Mythologie bildete, die Thunderboy in seinem Kopfe trug. Immer aber war der Löwe der Legende ein ›Medizinlöwe‹ und den anderen weit überlegen gewesen, und mangels genauer Kenntnisse hatte Thunderboy in seiner Phantasie ein Geschöpf erschaffen, das keinem lebenden Kuguar, der je einen Hirsch gejagt, auch nur im entferntesten glich.

»Weshalb ist er nicht gefährlich?« forschte er, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte.

Feierlich entgegnete Katoya: »Weil der Große Geist, als er die Tiere schuf, dem Silberlöwen die Liebe zu den Menschen ins Herz legte.«

»Weshalb hat er sie nicht auch den anderen Tieren gegeben? Sind sie vielleicht in den Wald gelaufen, noch ehe er mit ihnen ganz fertig war?«

»Der Große Geist hat jedem Tier eine andere Medizin gegeben,« entgegnete seine Großmutter streng. »Weshalb, weiß ich nicht. Ich war nicht dabei, als er jedem seine Medizin austeilte.«

»Wo warst du denn, wenn du nicht dabei warst?« fragte Thunderboy kühn.

Falls er gehofft hatte, seine Großmutter durch diese Frage in Verlegenheit zu bringen, irrte er sich gründlich. Ohne zu zögern antwortete sie:

»Ich ruhte unter den Schwingen des Donnervogels. Dort warten alle guten Menschen, bis er Zeit hat, sie auszubrüten.«


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