Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ein großer Mann aus der Provinz in Paris

Erster Teil

Weder Lucien, noch Frau von Bargeton, noch Gentil, noch Albertine, die Kammerfrau, sprachen jemals von den Vorfällen dieser Reise; aber man darf annehmen, daß die fortwährende Anwesenheit der Dienerschaft sie für einen Liebhaber, der alle Wonnen einer Entführung erwartet hatte, sehr verdrießlich gestaltete. Lucien, der zum erstenmal in seinem Leben Extrapost fuhr, war wie aus den Wolken gefallen, als er fast die ganze Summe, die er für ein Jahr seines Lebens bestimmt hatte, auf der Straße von Angoulême nach Paris verschwinden sah. Wie alle Menschen, die die Reize der Kindlichkeit mit der Kraft der Begabung vereinigen, hatte er den Fehler, daß er beim Anblick von Dingen, die für ihn neu waren, seine naive Verwunderung nicht unterdrückte. Ein Mann muß eine Frau gut studieren und darf seine Gefühle und Gedanken nicht gleich im Entstehen sehen lassen. Eine Geliebte, die Zärtlichkeit und Größe verbindet, lächelt über Kindereien und versteht sie; aber wenn sie nur ein bißchen Eitelkeit hat, verzeiht sie ihrem Geliebten nicht, wenn er sich kindisch, eitel oder kleinlich zeigt. Viele Frauen übertreiben den Kultus mit ihrem Geliebten so sehr, daß sie immer einen Abgott in ihm finden wollen; während die, die einen Mann um seiner selbst willen und nicht zuerst in bezug auf sich lieben, seine kleinen Züge ebenso verehren wie seine Größe. Lucien hatte noch nicht gemerkt, daß die Liebe bei Frau von Bargeton auf die Eitelkeit gepfropft war. Er beging den Fehler, das Lächeln nicht zu beachten, das Louise während dieser Reise manchmal nicht unterdrücken konnte, wenn er sich das possierliche Benehmen einer jungen, zum erstenmal aus ihrem Loch kommenden Ratte erlaubte, anstatt sich zurückzuhalten.

Die Reisenden stiegen im Hotel du Gaillard-Bois in der Rue de l'Echelle vor Tagesanbruch ab. Die beiden Liebenden waren so ermüdet, daß sich Louise vor allem hinlegen wollte, was sie auch tat. Sie versäumte aber nicht, Lucien vorher anzuempfehlen, er solle sich ein Zimmer über ihrem Gemach nehmen. Lucien schlief bis vier Uhr nachmittags. Frau von Bargeton ließ ihn zum Diner wecken; er kleidete sich, als er hörte, wieviel Uhr es wäre, schnell an und fand Louise in einer der elenden Kammern, die die Schande von Paris sind, wo es trotz aller Ansprüche auf Eleganz kein einziges Hotel gibt, in dem ein reicher Reisender sich zu Hause fühlen kann. Obwohl Lucien sich von seinem plötzlichen Erwachen noch benommen fühlte, erkannte er doch seine Louise in dieser kalten, sonnenlosen Kammer nicht wieder. Die Vorhänge waren verblichen, der Fußboden war in schlechtem Zustande, die Möbel waren unansehnlich, abgeschmackt, entweder alt oder aus zweiter Hand gekauft. Es gibt tatsächlich manche Frauen, die, wenn sie einmal von den Gestalten, den Dingen, den Räumen, die ihnen als Umrahmung dienen, getrennt sind, nicht mehr dasselbe Aussehen und nicht denselben Wert haben. Die lebendigen Physiognomien besitzen eine Art Atmosphäre, die zu ihnen gehört, wie das Helldunkel der flämischen Gemälde ein notwendiges Zubehör des Lebens der Gestalten ist, die das Genie der Maler hineingestellt hat. Die Menschen der Provinz sind fast alle so. Und dann schien Frau von Bargeton würdevoller und nachdenklicher, als sie es in einem Augenblick sein durfte, wo ein schrankenloses Glück beginnen sollte. Lucien war zunächst nicht in der Lage, sich zu beklagen; Gentil und Albertine bedienten sie. Das Diner hatte nicht mehr den verschwenderischen und vorzüglichen Charakter, der für das Provinzleben kennzeichnend ist. Die Gerichte, die aus einem benachbarten Restaurant kamen, boten sich, von der Gewinnsucht bemessen, recht armselig; sie schmeckten nach kleinen Leuten. Paris ist in diesen kleinen Dingen, zu denen die Leute mit geringem Vermögen verurteilt sind, recht häßlich. Lucien wartete auf das Ende der Mahlzeit, um Louise zu befragen, deren Veränderung ihm unerklärlich war. Er täuschte sich nicht: ein ernstes Ereignis – denn die Überlegungen sind die Ereignisse des innern Lebens – war während seines Schlafes eingetreten.

Gegen zwei Uhr nachmittags war Sixtus du Châtelet im Hotel erschienen, hatte Albertine wecken lassen, den Wunsch ausgesprochen, ihre Herrin zu sprechen, und war dann zurückgekommen, nachdem er Frau von Bargeton kaum Zeit gelassen hatte, sich anzukleiden. Anaïs, deren Neugier durch dieses seltsame Auftauchen des Herrn du Châtelet erregt war – glaubte sie doch, vor allen verborgen zu sein –, hatte ihn gegen drei Uhr empfangen.

»Ich bin Ihnen gefolgt, auf die Gefahr hin, von meinen Vorgesetzten einen Rüffel zu bekommen,« so begrüßte er sie, »denn ich sah voraus, wie es mit Ihnen steht. Aber selbst wenn ich meine Stelle verliere, ist es besser, als daß Sie eine Verlorene werden!«

»Was soll das heißen?« rief Frau von Bargeton.

»Ich sehe wohl, Sie lieben Lucien,« fuhr er mit einer Miene fort, in der sich Zärtlichkeit und Resignation mischten; »denn man muß wohl einen Mann lieben, wenn man an gar nichts denkt, wenn man alle Schicklichkeit außer acht läßt, wenn Sie es tun, die Sie so gut wissen, was sich schickt! Glauben Sie denn, liebe, angebetete Naïs, daß Sie bei Madame d'Espard oder in irgendeinem Salon von Paris empfangen werden, wenn man erfährt, daß Sie mit einem jungen Manne, und dazu noch nach dem Duell Herrn von Bargetons mit Herrn von Chandour, aus Angoulême so gut wie geflüchtet sind? Der Aufenthalt Ihres Mannes in l'Escarbas sieht wie eine Trennung aus. In einem solchen Falle pflegen sich Männer von Stande für ihre Frauen zu schlagen und lassen sie dann laufen. Lieben Sie Herrn von Rubempré, beschützen Sie ihn, machen Sie, was Sie wollen, aber wohnen Sie nicht zusammen! Wenn hier irgend jemand erführe, daß Sie im selben Wagen gereist sind, wäre Ihnen die Tür zu der Welt, die Sie aufsuchen wollen, verschlossen. Überdies, Naïs, bringen Sie einem jungen Mann, den Sie noch mit niemand verglichen haben, der noch keine Probe abgelegt hat, der Sie hier vielleicht für irgendeine Pariserin, die er seinem Ehrgeiz dienlicher findet, vergißt, bringen Sie ihm keine solchen Opfer. Ich will dem, den Sie lieben, nicht schaden, aber Sie müssen mir gestatten, Ihre Interessen den seinen vorzuziehen und Ihnen zu sagen: Erforschen Sie ihn, bedenken Sie die ganze Bedeutung Ihres Schritts. Wenn Sie die Türen geschlossen finden, wenn die Frauen sich weigern, Sie zu empfangen, dann sollen Sie wenigstens so große Opfer nicht zu bedauern haben; Sie sollen wissen, daß der, dem Sie sie bringen, sie immer verdient und sie würdigt. Madame d'Espard ist um so mehr prüde und streng, als sie selbst von ihrem Manne getrennt lebt, ohne daß die Welt in das Geheimnis ihres Zwists hat dringen können; aber die Navarreins, die Blamont-Chauvré, die Lenoncourt, alle ihre Verwandten stehen auf ihrer Seite, die prüdesten Frauen verkehren bei ihr und empfangen sie respektvoll, so daß der Marquis d'Espard ins Unrecht gesetzt scheint. Schon beim ersten Besuch, den Sie ihr machen, werden Sie merken, wie richtig meine Ratschläge sind. Ohne Frage, ich kann es Ihnen voraussagen, ich kenne Paris: kaum sind Sie bei der Marquise eingetreten, kommen Ihnen verzweifelte Gedanken, sie könnte erfahren, daß Sie im Hotel du Gaillard-Bois mit dem Sohn eines Apothekers abgestiegen sind, mag er übrigens auch Herr von Rubempré heißen wollen. Sie müssen sich hier auf Rivalinnen gefaßt machen, die in ganz anderer Art verschlagen und schlau sind wie Amélie; sie werden schnell herausgefunden haben, wer Sie sind, wo Sie sind, woher Sie kommen, was Sie treiben. Sie haben auf Inkognito gerechnet; aber Sie gehören zu den Menschen, für die es kein Inkognito gibt. Werden Sie nicht überall Angoulême treffen? Da sind die Deputierten der Charente, die zur Kammereröffnung kommen; da ist der General, der in Paris auf Urlaub ist; aber es genügt ja, daß ein einziger Einwohner Angoulêmes Sie sieht, damit Ihr Leben eine seltsame Wendung nimmt: Sie werden nur noch die Geliebte Luciens sein. Wenn Sie mich zu irgend etwas brauchen, was es auch sei, ich bin bei dem Generalsteuerdirektor, Rue du Faubourg St.-Honoré, zwei Schritte von dem Hause Madame d'Espards, zu treffen. Ich kenne die Marschallin von Carigliano, Frau von Sérizy und den Ministerpräsidenten gut genug; um Sie dort einzuführen; aber Sie lernen bei Madame d'Espard so viele Leute kennen, daß Sie mich nicht brauchen. Sie werden den Wunsch nicht nötig haben, in diesen oder jenen Salon zu gehen, Sie werden in allen Salons erwünscht sein.«

Châtelet konnte sprechen, ohne daß Frau von Bargeton ihn unterbrach, sie war von der Richtigkeit seiner Bemerkungen niedergeschlagen. Die Königin von Angoulême hatte in der Tat auf das Inkognito gerechnet.

»Sie haben recht, lieber Freund,« sagte sie, »aber was tun?«

»Gestatten Sie mir,« antwortete Châtelet, »Ihnen eine passende möblierte Wohnung zu suchen; Sie führen dann ein billigeres Leben als in den Gasthöfen und sind bei sich zu Hause; und wenn Sie meinem Rat folgen, bringen Sie da schon die heutige Nacht zu.«

»Aber woher haben Sie meine Adresse erfahren?« fragte sie.

»Ihr Wagen war leicht zu erkennen, und überdies war ich Ihnen gefolgt. In Sèvres sagte der Postillion, der Sie geführt hat, meinem Ihre Adresse. Wollen Sie mir gestatten, für Ihre Wohnung zu sorgen? Ich werde Ihnen bald schreiben, wo ich Sie untergebracht habe.«

»Gut, tun Sie das«, erwiderte sie.

Dieses Wort schien nichts und war alles. Der Baron du Châtelet hatte zu einer Frau von Welt die Sprache der Welt geredet. Er war in der ganzen Eleganz einer Pariser Kleidung aufgetreten; ein hübsches Kabriolett mit einem schmucken Pferd davor hatte ihn hergebracht. Zufällig stellte sich Frau von Bargeton ans Fenster, um über ihre Lage nachzudenken, und sah den alten Stutzer abfahren. Einige Augenblicke später stellte sich Lucien, der plötzlich geweckt worden war und sich eilig angezogen hatte, in seiner Nankinghose vom vorigen Jahre und seinem kümmerlichen Rock vor ihre Blicke. Er war schön; aber lächerlich gekleidet. Man ziehe den Apollo des Belvedere oder den Antinous als Wasserträger an: wer wird dann die göttliche Gestalt des griechischen oder römischen Meißels erkennen? Die Augen vergleichen, ehe das Herz das rasche mechanische Urteil richtiggestellt hat. Der Gegensatz zwischen Lucien und Châtelet war zu heftig, als daß er nicht die Augen Louisens frappieren mußte. Als gegen sechs Uhr das Diner zu Ende war, winkte Frau von Bargeton Lucien zu sich auf ein erbärmliches Kanapee aus rotem, gelbgeblümtem Kattun, auf das sie sich gesetzt hatte.

»Mein Lucien,« sagte sie, »meinst du nicht, wenn wir eine Torheit begangen haben, die uns beide in gleicher Weise in tödliche Gefahr bringt, daß es vernünftig ist, sie wieder gutzumachen? Liebes Kind, wir dürfen in Paris nicht zusammen wohnen, und dürfen den Verdacht nicht aufkommen lassen, daß wir zusammen hierhergekommen sind. Deine Zukunft hängt sehr von meiner Stellung ab, und ich darf sie auf keine Weise aufs Spiel setzen. Ich werde mir also noch heute abend ein paar Schritte von hier eine Wohnung nehmen, aber du bleibst in diesem Hotel wohnen, und wir können uns alle Tage sehen, ohne daß jemand etwas dagegen sagen kann.«

Louise erklärte Lucien, der sie mit großen Augen ansah, die Gesetze der großen Welt. Er wußte zwar nicht, daß die Frauen, die ihre Torheiten korrigieren, damit auch ihre Liebe korrigieren, aber er merkte, daß er nicht mehr der Lucien von Angoulême war. Louise sprach ihm nur von sich, von ihren Interessen, von ihrem Ruf, von der Welt; und um ihren Egoismus zu entschuldigen, versuchte sie, ihn glauben zu machen, es handele sich um ihn. Er hatte kein Recht auf Louise, die so schnell wieder Frau von Bargeton geworden war, und was schlimmer war, er hatte keine Macht über sie. So konnte er schwere Tränen nicht zurückhalten, die ihm aus den Augen stürzten.

»Wenn ich dein Ruhm bin, bist du für mich noch mehr: du bist meine einzige Hoffnung und meine ganze Zukunft. Ich hatte gedacht, daß du, wie du meine Erfolge teilst, auch mein Unglück teilen solltest, und nun sollen wir uns jetzt schon trennen!«

»Du tadelst mein Verhalten,« versetzte sie, »du liebst mich nicht.«

Lucien sah sie so schmerzlich an, daß sie sich nicht enthalten konnte, hinzuzufügen: »Lieber Junge, ich bleibe, wenn du willst. Wir gehen zugrunde und stehen ohne jeden Beistand da. Aber wenn wir beide in gleicher Weise im Elend und beide von der Welt verstoßen sind; wenn der Mißerfolg – denn man muß alles ins Auge fassen – uns bis nach l'Escarbas zurückgeworfen hat, dann erinnere dich, mein Lieber, daß ich dieses Ende vorausgesehen habe und dir vorschlug, nach den Gesetzen der Welt ans Ziel zu gelangen und ihnen zu gehorchen.«

»Louise,« antwortete er und umarmte sie, »ich bin erschreckt, daß ich dich so klug sehe. Vergiß nicht, daß ich ein Kind bin, daß ich mich ganz und völlig deinem lieben Willen überlassen habe. Ich wollte über Menschen und Dinge aus eigener Kraft siegen; aber wenn ich mit deiner Hilfe schneller ans Ziel kommen kann als allein, werde ich sehr glücklich sein, dir all mein Glück zu verdanken. Verzeih! Ich habe zuviel auf dich gesetzt, um nicht alles fürchten zu müssen. Für mich ist eine Trennung der Vorläufer des Verlassenwerdens; und verlassen zu werden ist der Tod.«

»Aber, liebes Kind, die Welt verlangt wenig von dir«, erwiderte sie. »Es handelt sich nur darum, daß du hier die Nacht zubringst, und du kannst den ganzen Tag bei mir sein, ohne daß jemand etwas daran finden darf.«

Einige Zärtlichkeiten beruhigten Lucien vollends. Eine Stunde später brachte Gentil ein paar Zeilen von Châtelet, der Frau von Bargeton mitteilte, daß er ihr in der Rue Neuve-de-Luxembourg eine Wohnung gemietet hätte. Sie ließ sich die Lage dieser Straße erklären, die von der Rue de l'Echelle nicht sehr entfernt war, und sagte zu Lucien: »Wir sind Nachbarn.«

Zwei Stunden später bestieg sie einen Wagen, den ihr Châtelet geschickt hatte, und fuhr in ihre neue Wohnung. Es war eine von denen, in die die Möbelhändler Möbel stellen, um sie an reiche Deputierte oder an hohe Persönlichkeiten zu vermieten, die für kurze Zeit nach Paris gekommen sind; sie war üppig, aber unbequem eingerichtet. Lucien kehrte gegen elf Uhr in sein kleines Hotel zurück und hatte von Paris noch nichts gesehen als den kleinen Teil der Rue St.-Honoré, der zwischen der Rue Neuve-de-Luxembourg und der Rue de l'Echelle liegt. Er legte sich in seiner elenden kleinen Kammer schlafen, die er unwillkürlich mit dem prächtigen Gemach Louisens vergleichen mußte. Kaum hatte er Frau von Bargeton verlassen, als der Baron du Châtelet anlangte. Er kam in strahlender Balltoilette von einer Gesellschaft beim Minister des Äußern zurück. Er wollte Frau von Bargeton über alle seine Veranstaltungen Rechenschaft ablegen. Louise war unruhig, dieser Luxus ängstigte sie. Die Provinzgewohnheiten hatten schließlich auch sie erfaßt, sie war in ihren Ausgaben genau geworden; sie sah so auf Sparsamkeit, daß sie in Paris für geizig gelten konnte. Sie hatte etwa zwanzigtausend Franken in Form einer Anweisung auf den Generalsteuerdirektor mitgebracht und hatte diese Summe zur Deckung ihrer Ausgaben während der nächsten vier Jahre bestimmt. Jetzt fürchtete sie schon, nicht genug zu haben und Schulden zu machen. Châtelet teilte ihr mit, daß ihre Wohnung sie nur sechshundert Franken im Monat kostete.

»Was ist daran Schlimmes?« fragte er, als er den Ruck bemerkte, den diese Mitteilung bei Naïs erzielte. »Sie haben einen Wagen für fünfhundert Franken im Monat zu Ihrer Verfügung, das macht im ganzen fünfzig Louis. Sie haben im übrigen nur noch an Ihre Toilette zu denken. Wenn Sie aus Herrn von Bargeton einen Generalsteuerdirektor machen oder ihm eine Stellung im Haushalt des Königs verschaffen wollen, dürfen Sie nicht wie eine arme Frau aussehen. Hier wird nur den Reichen gegeben. Es ist sehr gut, daß Sie Gentil zur Begleitung und Albertine als Zofe haben, denn die Bedienten in Paris ruinieren einen. Essen werden Sie selten zu Hause, so eingeführt wie Sie bald sein werden.«

Frau von Bargeton und der Baron plauderten von Paris. Châlelet erzählte die Neuigkeiten des Tages, die tausend Nichtigkeiten, die man wissen muß, wenn man für einen Pariser gelten will. Er gab bald Naïs Ratschläge über die Geschäfte, in denen sie kaufen sollte: er nannte ihr Herbault für die Barette, Juliette für die Hüte und Häubchen; er gab ihr die Adresse der Schneiderin, die Viktorine ersetzen sollte, kurz, er machte ihr die Notwendigkeit begreiflich, sich zu entangoulêmieren. Dann verabschiedete er sich nach dem letzten guten Einfall, auf den er noch glücklich gekommen war.

»Morgen«, sagte er nachlässig, »habe ich ohne Zweifel eine Loge in einem Theater; ich werde Sie und Herrn von Rubemprè abholen; Sie gestatten mir doch gewiß, Sie beide in Paris einzuführen.«

»Er hat mehr Adel im Charakter, als ich dachte«, sagte sich Frau von Bargeton, als sie hörte, daß er auch Lucien einladen wollte.

Im Juni wissen die Minister nicht, was sie mit ihren Theaterlogen anfangen sollen; die ministeriellen Deputierten und ihre Mandanten sind in den Weinbergen beschäftigt oder besorgen ihre Ernte, ihre anspruchsvollsten Bekannten sind auf dem Lande oder verreist, daher sehen die schönsten Logen der Pariser Theater um diese Zeit sehr seltsame Gäste, die von den gewohnten Besuchern nie wiedergesehen werden und die dem Publikum das Aussehen eines abgenutzten Teppichs geben. Châtelet hatte schon daran gedacht, daß er infolge dieses Umstandes ohne viel Kosten Naïs die Vergnügungen verschaffen könnte, nach denen die Provinzialen am gierigsten sind. Als am nächsten Tag Lucien zum erstenmal hinging, traf er Louise nicht an. Frau von Bargeton war ausgegangen, um einige unumgängliche Einkäufe zu besorgen. Sie mußte mit den würdigen und berühmten Autoritäten in Sachen der Frauentoilette Rats pflegen, die Châtelet ihr genannt hatte, denn sie hatte der Marquise d'Espard ihre Ankunft mitgeteilt. Obwohl Frau von Bargeton das Selbstvertrauen besaß, das die gebietende Stellung langer Jahre mit sich bringt, hatte sie seltsamerweise Angst, sie könnte als Provinzialin erscheinen. Es fehlte ihr nicht an Takt, um zu wissen, wie sehr die Beziehungen zwischen Frauen von den ersten Eindrücken abhängen; und obwohl sie sich imstande wußte, sehr schnell auf das Niveau der überlegenen Frauen, wie Madame d'Espard, zu gelangen, fühlte sie doch, daß sie bei ihrem ersten Auftreten Wohlwollen brauchte, und wollte es an keinem Faktor des Erfolgs fehlen lassen. Daher war sie Châtelet überaus dankbar, daß er ihr die Mittel angegeben hatte, sich mit der vornehmen Welt von Paris in Einklang zu setzen. Durch einen seltsamen Zufall befand sich die Marquise in einer Lage, die es ihr sehr erwünscht machte, jemandem aus der Familie ihres Gatten einen Dienst zu erweisen. Ohne ersichtlichen Grund hatte sich der Marquis d'Espard von der Welt zurückgezogen, er kümmerte sich weder um seine Geschäfte, noch um Politik, noch um seine Familie, noch um seine Frau. Die Marquise, die so ihre eigene Herrin geworden war, fühlte das Bedürfnis, nach wie vor die Billigung der Gesellschaft zu genießen; daher war sie glücklich, unter diesen Umständen den Marquis so zu ersetzen, daß sie die Protektion seiner Familie übernahm. Sie wollte sich dieser Gönnerschaft ostentativ unterziehen, um das Unrecht ihres Gatten zu unterstreichen. Am selben Tage noch schrieb sie an Frau von Vargeton, geborene Nègrepelisse, eines der reizenden Briefchen, deren Form so hübsch ist, daß man Zeit braucht, um hinter ihren Mangel an Inhalt zu kommen:

›Sie wäre glücklich über einen Umstand, der eine Frau ihrer Familie ihr näher brächte, von der sie sprechen gehört hätte und die sie kennen zu lernen wünschte, denn die freundschaftlichen Beziehungen in Paris wären nicht so fest gegründet, daß man nicht wünschen müßte, einen mehr auf Erden zu haben, den man lieben könnte, und wenn das nicht sein könnte, wäre es nur eine Illusion mehr, die man mit den übrigen bestatten müßte. Sie stelle sich ihrer Cousine ganz zur Verfügung und hätte sie schon aufgesucht, wenn nicht ein Unwohlsein sie zu Hause festhielte; aber sie wäre ihr schon sehr verbunden, daß sie an sie gedacht hätte.‹

Während seines ersten Herumstreifens über die Boulevards und die Rue de la Paix beschäftigte sich Lucien, wie alle Ankömmlinge, viel mehr mit den Dingen als mit den Personen. In Paris ziehen die Massen zuallererst die Aufmerksamkeit auf sich: der Luxus der Läden, die Höhe der Häuser, das Wagengerassel, die fortwährenden Gegensätze zwischen dem größten Luxus und dem äußersten Elend springen zuerst in die Augen. Dieser Phantasiemensch war wie benommen von der Menge, in der er ein Fremder war, und verspürte eine Art ungeheurer Verkleinerung seiner selbst. Menschen, die in der Provinz eine Art Ansehen genießen und dort bei jedem Schritt auf einen Beweis ihrer Wichtigkeit stoßen, können sich nicht an diesen völligen und plötzlichen Verlust ihres Wertes gewöhnen. Bei sich zu Hause etwas sein und in Paris nichts sein, das sind zwei so verschiedene Zustände, daß ein Übergang nötig ist; und wer zu plötzlich vom einen zum andern übergeht, kommt sich wie vernichtet vor. Für einen jungen Dichter, der ein Echo für all seine Gefühle, einen Vertrauten für alle Gedanken, eine Seele gefunden hatte, mit der er seine kleinsten Stimmungen teilen konnte, mußte Paris eine entsetzliche Wüste sein. Lucien hatte seinen schönen blauen Anzug noch nicht abgeholt, so daß er durch die Armseligkeit, um nicht zu sagen die Abgenutztheit seiner Kleidung geniert war, als er sich zu der Stunde, wo Frau von Bargeton zurückgekehrt sein sollte, zu ihr begab; er traf bei ihr den Baron du Châtelet, der sie beide in den Rocher de Cancale zum Diner fuhr. Lucien, der von dem Wirbel des Pariser Lebens wie betäubt war, konnte nichts zu Louise sagen, sie waren zu dritt im Wagen; aber er drückte ihr die Hand, und sie erwiderte freundschaftlich alle Gedanken, die er so zum Ausdruck brachte. Nach dem Essen führte Châtelet seine beiden Gäste nach dem Vaudeville. Lucien empfand bei dem Anblick Châtelets eine geheime Verstimmung; er verfluchte den Zufall, der ihn nach Paris gebracht hatte. Der Steuerdirektor schob den Grund seiner Reise auf seinen Ehrgeiz: er hoffte, zum Generalsekretär einer Behörde ernannt zu werden und als vortragender Rat ins Ministerium zu kommen; er wollte sehen, wie es mit den Versprechungen stünde, die man ihm gemacht hatte, denn ein Mann wie er konnte nicht Steuerdirektor bleiben; er wollte lieber gar nichts sein, Abgeordneter werden, in den diplomatischen Dienst zurückkehren. Er war gewachsen; Lucien mußte in diesem alten Gecken die Überlegenheit des Mannes von Welt anerkennen, der auf der Höhe des Pariser Lebens stand; besonders schämte er sich, ihm ein Vergnügen zu verdanken. Wo der Dichter unruhig und geniert war, benahm sich der frühere Privatsekretär wie ein Fisch im Wasser. Er lächelte über das Zögern, das Staunen, die Fragen, die kleinen Irrtümer, zu denen der Mangel an Übung seinen Nebenbuhler brachte, wie die alten Seebären sich über die Neulinge lustig machen, die zum erstenmal aufs Wasser kommen. Das Vergnügen, das Lucien empfand, als er zum erstenmal in Paris im Theater war, wog die Verstimmung auf, in die ihn sein Unbehagen versetzte. Dieser Abend war dadurch bemerkenswert, daß er ihm, ohne daß er sich dessen bewußt wurde, eine große Menge seiner Ideen über das Provinzleben raubte. Der Kreis erweiterte sich, die Gesellschaft nahm andere Dimensionen an. Einige hübsche Pariserinnen, die so elegant und frisch gekleidet waren, gaben ihm Gelegenheit zu der Wahrnehmung, wie altmodisch, obwohl anspruchsvoll genug, die Toilette der Frau von Bargeton war; weder die Stoffe, noch der Zuschnitt, noch die Farben waren mehr in Mode. Die Haartracht, die ihn in Angoulême so bezaubert hatte, schien ihm nun im Vergleich mit den feinen Kunstwerken, die er bei jeder zweiten Frau sah, schrecklich geschmacklos.

»Wird sie so bleiben?« fragte er sich, und ahnte nicht, daß der Tag dazu verwendet worden war, die Umwandlung vorzubereiten.

In der Provinz gibt es keine Auswahl und keine Möglichkeit der Vergleichung; die Gewohnheit, sie zu sehen, gibt den Physiognomien eine konventionelle Schönheit. Eine Frau, die in der Provinz für hübsch gilt, findet, wenn sie nach Paris verpflanzt wird, nicht die geringste Beachtung, denn sie ist nur schön im Sinne des Sprichworts: Unter den Blinden ist der Einäugige König. Luciens Augen machten die Vergleichung, die Frau von Bargeton am Tage vorher zwischen ihm und Châtelet angestellt hatte. Ihrerseits überließ sich Frau von Bargeton seltsamen Gedankengängen über ihren Geliebten. Der arme Dichter war zwar auffallend schön, aber er hatte nicht die Spur von Haltung. Sein Gehrock, dessen Ärmel zu kurz waren, seine kläglichen Provinzhandschuhe, seine Weste, die zu knapp war, ließen ihn neben den jungen Leuten im ersten Rang sehr lächerlich erscheinen. Frau von Bargeton fand, daß er eine klägliche Figur machte. Châtelet, der ohne Ansprüche um sie beschäftigt war, der für sie so liebevoll sorgte und damit eine tiefe Leidenschaft verriet, Châtelet, der elegant und behaglich auftrat, wie jemand, der wieder in sein Element gekommen ist, eroberte in zwei Tagen den ganzen Boden, den er in einem halben Jahr verloren hatte. Man gibt zwar gewöhnlich nicht zu, daß die Gefühle sich plötzlich ändern, aber es ist sicher, daß zwei Liebende sich oft schneller trennen, als sie sich gefunden haben. Es bereitete sich bei Frau von Bargeton und bei Lucien eine gegenseitige Enttäuschung vor, deren Ursache Paris war. Das Leben wuchs in den Augen des Dichters, wie die Gesellschaft für Louise ein neues Gesicht annahm. Für ihn wie für sie bedurfte es nur eines Zufalls, damit das Band zerschnitten wurde, das sie vereinigte. Dieser Beilhieb, der für Lucien schrecklich war, ließ nicht lange auf sich warten. Frau von Bargeton brachte den Dichter in sein Hotel und kehrte in Gesellschaft von Châtelet zu sich nach Hause zurück, was dem armen Liebhaber äußerst mißfiel.

»Was werden sie über mich sprechen?« dachte er, als er die Treppe zu seiner öden Kammer hinaufging.

»Der arme Junge ist hervorragend langweilig«, sagte Châtelet, als der Wagenschlag wieder geschlossen war. »So ist es mit allen, die eine Welt von Gedanken in ihrem Herzen und Hirn bergen. Die Menschen, die in Kunstwerken, mit denen sie sich lange herumtragen, so viel auszudenken haben, bezeigen eine gewisse Verachtung gegen die Konversation, die doch ein Verkehr ist, in dem der Geist in kleine Münze umgewechselt wird«, sagte die stolze Nègrepelisse, die noch den Mut hatte, Lucien zu verteidigen, weniger um Luciens als um ihrer selbst willen.

»Ich gebe Ihnen das gerne zu,« sagte der Baron, »allein wir leben mit Menschen und nicht mit Büchern. Hören Sie, liebe Naïs, ich sehe, es ist noch nichts zwischen Ihnen und ihm, ich bin entzückt darüber. Wenn Sie sich entschließen, in Ihr Leben ein Interesse einzuführen, das Ihnen bis jetzt gefehlt hat, dann bitte ich herzlich, lassen Sie es nicht eins für dieses angebliche Genie sein. Wenn Sie sich täuschten! Wenn Sie in ein paar Tagen, wo Sie Gelegenheit haben, ihn mit wirklichen Talenten, mit ernstlich hervorragenden Männern, die Sie sehen werden, zu vergleichen, wenn Sie da merkten, meine liebe schöne Sirene, daß Sie nicht einen großen Sänger auf Ihre reizende Schulter genommen und zum Hafen getragen haben, sondern einen kleinen Affen ohne Manieren, ohne Bedeutung, einen dummen Prahlhans, der in Houmeau Geist haben kann, aber in Paris ein überaus gewöhnlicher Bursche wird! Alles in allem werden hier in jeder Woche Gedichtbücher herausgegeben, deren schlechtestes noch so gut ist wie die ganze Dichterei des Herrn Chardon. Ich bitte Sie, warten Sie, vergleichen Sie! Morgen am Freitag spielt man in der Oper,« fügte er hinzu, als er sah, daß der Wagen in die Rue Neuve-de-Luxembourg einfuhr; »Madame d'Espard verfügt über die Loge des ersten Kammerherrn des Königs und wird Sie ohne Zweifel dahin mitnehmen. Ich will Sie in Ihrem Glanze sehen und werde in die Loge der Frau von Sérizy kommen. Man gibt ›Die Danaiden‹.«

»Adieu«, sagte sie.

Am andern Tag versuchte Frau von Bargeton, sich eine Vormittagstoilette zusammenzustellen, die zum Besuch bei ihrer Cousine, der Madame d'Espard, paßte. Es war ziemlich kühl, und sie fand in ihren altmodischen Sachen von Angoulême nichts Besseres als ein Kleid aus grünem Samt, das sehr extravagant garniert war. Lucien seinerseits fühlte die Notwendigkeit, seinen famosen blauen Anzug holen zu gehen, denn er hatte vor seinem kümmerlichen Gehrock Abscheu und wollte sich immer in seinem Anzug zeigen, weil er dachte, er könnte die Marquise d'Espard treffen oder aufs Geratewohl zu ihr gehen. Er stieg in eine Droschke, um sein Gepäck sofort zu holen. In zwei Stunden gab er drei oder vier Franken aus, was ihm über die Geldverhältnisse des Pariser Lebens zu denken gab. Nachdem er sich aufs eleganteste ausstaffiert hatte, begab er sich nach der Rue Neuve-de-Luxembourg, wo er auf der Schwelle Gentil in Gesellschaft eines Leibjägers antraf, der einen großartigen Federhut trug.

»Ich wollte eben zu Ihnen gehen; Madame übergab mir das Briefchen für Sie«, sagte Gentil, der sich auf die Ausdrucksweise, in der man in Paris den Respekt bezeigt, nicht verstand und an die Gutmütigkeit der Sitten in der Provinz gewöhnt war.

Der Leibjäger hielt den Dichter für einen Bedienten. Lucien öffnete das Billett und erfuhr, daß Frau von Bargeton den Tag bei Marquise d'Espard verbrachte und abends in die Oper ginge; aber sie bat Lucien, er möchte sich dort einfinden, ihre Cousine gestatte ihr gern, dem jungen Dichter einen Platz in ihrer Loge einzuräumen, die Marquise mache sich ein Vergnügen daraus, ihm diesen Genuß zu verschaffen.

»Sie liebt mich also! Meine Angst ist töricht;« sagte sich Lucien; »sie stellt mich noch heute abend ihrer Cousine vor.«

Er war seelenvergnügt und wollte die Zeit bis zu diesem glücklichen Abend fröhlich verbringen. Er wandte sich nach den Tuilerien und dachte dort bis zu der Stunde, wo er bei Véry zu Mittag essen wollte, spazieren zu gehen. Lucien ging also tänzelnd, hüpfend, leichtfüßig über die Terrasse des Feuillants und betrachtete sich die Spaziergänger, die hübschen Frauen mit ihren Anbetern, die Stutzer, die Arm in Arm gingen und einander im Vorübergehen zunickten. Wie anders war diese Terrasse als Beaulieu! Die Vögel dieser prächtigen Voliere waren viel entzückender als die von Angoulême! Da war all die Farbenpracht, die die Vogelarten Indiens oder Amerikas vor den grauen Farben der europäischen Vögel auszeichnet. Lucien verbrachte zwei grausame Stunden in den Tuilerien; er nahm eine strenge Selbstprüfung vor und hielt Gericht über sich. Zunächst sah er bei keinem dieser eleganten jungen Leute einen Gehrock. Wenn er einen Mann mit einem Gehrock sah, war es ein Greis, der nicht mehr in Betracht kam, irgendein armer Teufel, ein Vorstadtrentier oder ein Bureauschreiber. Nachdem er bemerkt hatte, daß es in Paris einen Anzug für den Vormittag und einen für den Abend gab, erkannte unser Dichter, dessen Stimmungen so lebhaft, dessen Blicke so scharf waren, die Häßlichkeit des Plunders, den er am Leibe trug, die Mängel, die seinen Gehrock mit Lächerlichkeit schlugen, dessen Schnitt altmodisch, dessen Blau unecht, dessen Kragen entsetzlich plump war, dessen Vorderschöße durch die Länge der Zeit zipflig geworden waren; die Knöpfe waren abgegriffen, die Falten wiesen peinliche weiße Stellen auf. Ferner war seine Weste zu kurz und der Schnitt in so grotesker Weise provinzmäßig, daß er, um sie zu verstecken, schnell seinen Rock zuknöpfte. Schließlich sah er nur bei gewöhnlichen Leuten Nankinghosen. Leute von Stand trugen köstliche Phantasiestoffe oder das immer tadellose Weiß! Überdies wurden alle Hosen mit Stegen getragen, und seine stieß sehr übel mit seinen Stiefelabsätzen zusammen, gegen die die Ränder des eingeschrumpften Stoffs eine heftige Abneigung zeigten. Er trug eine weiße Krawatte, deren Enden seine Schwester bestickt hatte, die ähnliche bei Herrn du Hautoy und Herrn von Chandour gesehen und sich beeilt hatte, ihrem Bruder eine ebensolche zu machen. Nicht nur trug niemand, abgesehen von ehrwürdigen Leuten, einigen alten Finanzmännern oder gestrengen Beamten, am Vormittag eine weiße Binde, sondern der arme Lucien mußte auch noch jenseits des Gitters auf dem Trottoir der Rue de Rivoli den Laufburschen eines Krämers mit einem Korb auf dem Kopf entdecken, an dem unser Angoulêmer zu seinem Schmerz genau dieselben bestickten Schlipsenden sah, die ihm vermutlich irgendein Nähmädchen, das seine Geliebte war, gemacht hatte. Bei diesem Anblick verspürte Lucien einen Stich ins Herz, in dieses noch schlecht erklärte Organ, in das sich unsere Reizbarkeit flüchtet, zu dem die Menschen, seit es Empfinden gibt, bei übergroßen Freuden wie Schmerzen die Hand führen. Man mache diesem Bericht nicht den Vorwurf der Knabenhaftigkeit. Gewiß liegt darin für die Reichen, die diese Art Schmerzen nie gekannt haben, etwas Armseliges und Unglaubliches; aber die Nöte der Unglücklichen verdienen nicht weniger Aufmerksamkeit als die Krisen, die das Leben der Mächtigen und Bevorzugten der Erde umwälzen. Gibt es nicht ferner gleichviel Schmerz auf beiden Seiten? Der Schmerz steigert alles. Man ändere schließlich die Ausdrücke: an Stelle eines mehr oder weniger schönen Gewandes setze man ein Ordensband, eine Auszeichnung, einen Titel. Haben diese scheinbar kleinen Dinge nicht über glänzende Existenzen Qualen gebracht? Die Frage der Kleidung ist überdies bei denen von größter Bedeutung, die den Anschein erregen wollen, als hätten sie, was sie nicht haben; denn das ist oft das beste Mittel, es später zu besitzen. Lucien brach der kalte Schweiß aus, wenn er daran dachte, daß er in einem solchen Anzug am Abend vor der Marquise d'Espard erscheinen sollte, vor einer Verwandten des ersten Kammerherrn des Königs, vor einer Dame, bei der die Berühmtheiten aller Art, die Elite der Berühmtheiten verkehrte.

»Ich sehe aus wie ein Apothekerssohn, wie ein richtiger Ladenschwengel«, sagte er wütend zu sich selbst, wenn er die zierlichen, koketten, eleganten jungen Leute aus dem Faubourg Saint-Germain vorbeigehen sah, die eine Art und ein Wesen hatten, das sie durch ihre schlanke Erscheinung, durch ihre edle Haltung, durch ihren Gesichtsschnitt alle einander ähnlich machte; und doch waren sie, durch den Rahmen, den sich jeder ausgesucht hatte, um sich zur Geltung zu bringen, alle verschieden voneinander. Alle ließen sie ihre Vorzüge leuchten, wie denn die jungen Männer in Paris ebenso wie die Frauen sich darauf verstehen, sich in Szene zu setzen. Lucien hatte von seiner Mutter die erlesenen körperlichen Qualitäten ererbt, deren Vorzüge vor seinen Augen lagen; aber dieses Gold lag noch im Erze, war noch nicht bearbeitet. Seine Haare waren schlecht geschnitten; anstatt seiner großen Figur durch geschmeidiges Fischbein einen Halt zu geben, fühlte er sich in einem gräßlichen Kragen eingeengt; seine Krawatte hatte keine Festigkeit, und so hing ihm der Kopf traurig herunter. Welche Frau hätte in dem gemeinen Schuhzeug, das er aus Angoulême mitgebracht hatte, seine hübschen Füße vermutet? Welcher junge Mann hätte ihn um seine hübsche Taille beneidet, die in dem blauen Sack versteckt war, den er bisher für einen Rock gehalten hatte? Er sah entzückende Knöpfe auf Hemden, die weißen Glanz sprühten – das seine war gelblich. Alle diese eleganten Adligen waren entzückend behandschuht – er hatte Handschuhe wie ein Gendarm! Da wiegte einer einen Spazierstock mit einem famosen Griff zwischen den Fingern; da trug einer Manschetten am Hemd, die mit zierlichen Goldknöpfen geschlossen waren; einer unterhielt sich mit einer Dame, spielte dabei mit einer reizenden Peitsche, und die weiten Falten seiner Hose, an der kleine Spritzerchen waren, seine klirrenden Sporen, sein enganliegender Rock zeigten, daß er im Begriff war, wieder eins der beiden Pferde zu besteigen, die von einem kaum faustgroßen Groom gehalten wurden. Ein anderer zog aus seiner Westentasche eine Uhr heraus, die platt wie eine Münze war, und sah auf sie wie ein Mann, der zu einem Rendezvous zu früh oder zu spät gekommen ist. Als Lucien diese reizenden Kleinigkeiten wahrnahm, an die er nie gedacht hatte, stieg vor ihm die Welt des notwendigen Überflüssigen auf; er zitterte bei dem Gedanken, daß man ein riesiges Vermögen brauchte, um die Rolle des hübschen jungen Mannes zu spielen! Je mehr er diese jungen Leute, die so glücklich und ungezwungen aussahen, betrachtete, um so mehr kam ihm sein seltsames Aussehen zum Bewußtsein, das Aussehen eines Menschen, der nicht weiß, wo der Weg hinführt, auf dem er sich befindet; der nicht weiß, wo Palais Royal ist, wenn er davor steht, und der einen Vorübergehenden fragt, wo der Louvre ist, und die Antwort erhält: »Sie sind darin.« Lucien sah sich von dieser Welt durch einen Abgrund getrennt. Er fragte sich, auf welche Weise er hinüberkommen könnte, denn er wollte dieser schlanken und feinen Pariser Jugend gleich werden. Alle diese Stadt-Edelleute grüßten Damen, die himmlisch angezogen, himmlisch schön waren, Damen, für die Lucien sich gern um den Preis eines einzigen Kusses hätte in Stücke hauen lassen, wie der Page der Gräfin Königsmark. In den Tiefen seines Gedächtnisses erschien Louise, mit diesen Königinnen verglichen, wie eine alte Frau. Er begegnete mehreren dieser Frauen, von denen man in der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts sprechen wird, deren Geist, Schönheit und Liebschaften nicht weniger berühmt sein werden als die der Königinnen der alten Zeit. Er sah ein herrliches Mädchen vorübergehen, das Fräulein Destouches, die unter dem Namen Camille Maupin so bekannt war, eine bedeutende Schriftstellerin, deren Schönheit ebenso groß war wie die Überlegenheit ihres Geistes. Die Spaziergänger und die Frauen flüsterten sich einander ihren Namen zu.

»Ah!« sagte er bei sich selbst, »da geht die Poesie in Person.«

Was war Frau von Bargeton neben diesem himmlischen Geschöpf, das in Jugend, Hoffnung und Zukunft strahlte, mit seinem sanften Lächeln und den schwarzen Augen, die weit wie der Himmel und glühend wie die Sonne waren? Sie plauderte lachend mit Frau Firmiani, einer der reizendsten Frauen von Paris. Eine Stimme in ihm rief wohl: ›Der Geist ist der Hebel, mit dem man die Welt bewegt‹; aber eine andere Stimme rief ihm zu, der Stützpunkt des Geistes wäre das Geld. Er wollte nicht länger auf diesem Schauplatz seines Zusammenbruchs und seiner Niederlage weilen. Er fragte sich nach dem Palais Royal zurecht, denn er war in seinem Viertel noch nicht ortskundig, und ging dahin. Er trat bei Véry ein und bestellte, um die Annehmlichkeiten von Paris kennen zu lernen, ein Diner, das ihn in seiner Verzweiflung tröstete. Eine Flasche Bordeaux, Austern von Ostende, Fisch, Rebhuhn, Makkaroni und Obst waren das Nonplusultra seiner Wünsche. Er ließ sich diese kleine Üppigkeit wohlbekommen und dachte, er wolle heute abend bei der Marquise d'Espard eine Probe seines Geistes ablegen und die Kläglichkeit seines komischen Aufzugs durch die Entfaltung seiner geistigen Reichtümer wieder gutmachen. Er wurde durch die Rechnung aus seinen Träumen gerissen, die ihm fünfzig Franken, mit denen er in Paris sehr weit zu kommen geglaubt hatte, entriß. Dieses Diner kostete ihn einen Monat seiner Existenz in Angoulême. Er schloß also mit großem Respekt die Tür zu diesem Palast hinter sich und nahm sich vor, keinen Fuß mehr hineinzusetzen.

»Eva hatte recht,« sagte er bei sich, als er nach Hause ging, um Geld zu sich zu stecken, »die Pariser Preise sind nicht die Preise von Houmeau.«

Unterwegs warf er bewundernde Blicke in die Schaufenster der Schneider, und als er an die Toiletten dachte, die er am Vormittag gesehen hatte, rief er aus: »Nein, ich will nicht so als Vogelscheuche vor Madame d'Espard erscheinen!«

Mit der Schnelligkeit eines Windhundes lief er in sein Hotel, stieg in seine Kammer, nahm hundert Taler und begab sich wieder ins Palais Royal, um sich dort von Kopf bis zu Fuß neu einzukleiden. Er hatte dort Schuhmacher, Wäschegeschäfte, Westenschneider, Friseure gesehen; kurz, die Eleganz, die er sich anschaffen wollte, war in zehn Läden verteilt. Der erste Schneider, bei dem er eintrat, ließ ihn so viele Röcke probieren, als er wollte, und versicherte ihm, sie seien alle hochmodern. Als Lucien hinausging, war er im Besitz eines grünen Rocks, einer weißen Hose und einer Phantasieweste, und hatte zweihundert Franken ausgegeben. Er hatte bald ein paar sehr elegante Stiefel, die ihm gut saßen, gefunden. Kurz, nachdem er alles, was er brauchte, eingekauft hatte, ließ er den Friseur zu sich ins Hotel kommen, in das alle Lieferanten ihre Waren brachten. Um sieben Uhr abends stieg er in eine Droschke und fuhr, frisiert wie eine Wachsfigur, mit eleganter Weste und feinem Schlips, in die Oper. Er fühlte sich in dem Gehäuse, in dem er zum erstenmal steckte, ein wenig geniert. Entsprechend der Empfehlung Frau von Bargetons fragte er nach der Loge des ersten Kammerherrn. Beim Anblick eines Mannes, dessen geborgte Eleganz ihn nicht einem ersten Kammerherrn, sondern einem ersten Hochzeitskellner ähnlich machte, ersuchte ihn der Logenschließer, sein Billett vorzuzeigen.

»Ich habe keins.«

»Dann können Sie nicht eintreten«, antwortete man ihm trocken.

»Aber ich gehöre zur Gesellschaft von Madame d'Espard«, sagte er.

»Wir sind nicht verpflichtet, das zu wissen«, meinte der Angestellte und konnte sich nicht enthalten, mit seinen Kollegen ein unmerkliches Lächeln auszutauschen.

In diesem Augenblick hielt ein Wagen unter dem Säulengang. Ein Leibjäger, den Lucien nicht wiedererkannte, ließ den Wagentritt herunter, und zwei geputzte Frauen stiegen aus. Lucien, der von dem Logenschließer keine unverschämte Bemerkung, er solle Platz machen, hören wollte, trat vor den beiden Damen zurück.

»Aber diese Dame ist die Marquise d'Espard, die Sie zu kennen behaupten«, sagte der Logenschließer in ironischem Ton zu Lucien.

Lucien war sehr verdutzt, und um so mehr, als Frau von Bargeton tat, als ob sie ihn in seinem neuen Gefieder nicht kennte, aber als er auf sie zutrat, lächelte sie ihm zu und sagte: »Das trifft sich vortrefflich; kommen Sie.«

Die Logenschließer waren wieder ernsthaft geworden. Lucien folgte Frau von Bargeton, die, während man die breite Treppe hinaufging, ihren Rubempré ihrer Cousine vorstellte. Die Kammerherrnloge befindet sich in einem der Balkonvorsprünge in der Mitte des Theaters; man sieht dort nach allen Seiten und wird von allen Seiten gesehen. Lucien setzte sich hinter Frau von Bargeton auf einen Stuhl und war zufrieden, daß er im Dunkel saß.

»Herr von Rubempré,« sagte die Marquise in sehr freundlichem Tone, »Sie besuchen die Oper zum erstenmal, Sie müssen alles sehen. Nehmen Sie diesen Platz, setzen Sie sich nach vorn, wir erlauben es Ihnen.«

Lucien gehorchte. Der erste Akt der Oper näherte sich dem Ende.

»Sie haben Ihre Zeit gut angewendet«, sagte ihm Louise im ersten Augenblick der Überraschung über die Veränderung, die mit Lucien vorgegangen war, ins Ohr.

Louise war dieselbe geblieben. Die Nachbarschaft einer Modedame, der Marquise d'Espard, dieser Frau von Bargeton von Paris, schadete ihr sehr. Die brillante Pariserin ließ die Unvollkommenheiten der Provinzdame so hervortreten, daß Lucien, der auf doppelte Weise, von den vornehmen Schönen dieses pompösen Saals und von dieser außergewöhnlichen Frau, auf den Gegensatz aufmerksam gemacht wurde, endlich in der armen Anaïs von Nègrepelisse die Frau sah, wie sie wirklich war, und wie die Pariser sie sahen. Eine große, magere Frau mit rotem Teint, die verblüht war, fuchsblondes Haar hatte, deren Figur eckig und steif war, die eine gezierte und bombastische, völlig provinzmäßige Art zu sprechen hatte, und die vor allem schlecht gekleidet war! Wirklich, die Falten eines altmodischen Kleides von Paris zeugen noch von Geschmack, man kann etwas damit anfangen, man ahnt, was es einmal war, aber ein altmodisches Provinzkleid ist unmöglich, ist lächerlich. Das Kleid und die Frau ließen jede Grazie und Frische vermissen, der Samt war ebenso wie der Teint alt und fleckig. Lucien schämte sich, diese Gestalt von Fischbein geliebt zu haben, und nahm sich vor, den ersten Tugendanfall seiner Louise zu benutzen, um sie zu verlassen. Mit seinen vorzüglichen Augen sah er die Lorgnetten sich auf die Aristokratenlogen richten. Ohne Zweifel richteten die elegantesten Damen prüfende Blicke auf Frau von Bargeton, denn sie lächelten alle, wenn sie unter sich sprachen. Wenn Madame d'Espard aus den Bewegungen und dem Lächeln der Damen den Grund ihrer ironischen Bemerkungen erriet, so war sie durchaus unempfindlich dagegen. Zunächst mußte jeder in ihrer Gefährtin die arme Verwandte aus der Provinz erkennen, vor der keine Pariser Familie geschützt ist. Ferner hatte ihr ihre Cousine etwas ängstlich von der Toilette gesprochen, und sie hatte sie beruhigt, da sie sich überzeugte, daß Anaïs, wenn sie erst einmal angezogen war, bald die Pariser Manieren lernen würde. Es fehlte Frau von Bargeton zwar an Übung, aber sie hatte den angeborenen Stolz einer Adligen und jenes Undefinierbare, das man Rasse nennen kann. Am kommenden Montag würde es also schon anders aussehen. Überdies wußte die Marquise, daß das Publikum, wenn es erst erführe, daß diese Frau ihre Cousine wäre, seine Spöttereien einstellen und eine neue Probe abwarten würde, ehe es mit seinem Urteil fertig wäre. Lucien ahnte nicht, was für Veränderungen ein Schal um den Hals Louisens, ein hübsches Kleid, eine elegante Frisur und die Ratschläge Madame d'Espards an ihr hervorbringen könnten. Als sie die Treppe hinaufgingen, hatte die Marquise schon ihrer Cousine gesagt, sie sollte ihr Taschentuch nicht offen in der Hand tragen. Der gute oder schlechte Ton hängt von tausend Kleinigkeiten dieser Art ab, die eine geistvolle Frau ebenso schnell begreift, wie sie gewisse Frauen niemals lernen. Frau von Bargeton, die eifrig und voll guten Willens war, besaß mehr als genug Verstand, um zu merken, worin sie Fehler beging. So war Frau d'Espard gewiß, daß sie mit ihrer Schülerin Ehre einlegte, und unterzog sich gern ihrer Ausbildung. Es hatte sich überdies zwischen diesen beiden Frauen ein Bündnis ergeben, das durch ihre beiderseitigen Interessen befestigt wurde. Frau von Bargeton widmete dieser Göttin des Tages einen Kultus, deren Manieren, deren Geist und deren ganze Umgebung sie verführt, geblendet und bezaubert hatten. Sie hatte in Madame d'Espard die geheime Macht der ehrgeizigen großen Dame erkannt und sich gesagt, sie würde ans Ziel gelangen, wenn sie sich zum Trabanten dieses Gestirns machte; sie hatte sie also rückhaltlos bewundert. Die Marquise war für diese naive Bewunderung nicht unempfindlich gewesen, sie nahm Interesse an ihrer Cousine und fand sie arm und hilfsbedürftig; denn es paßte ihr ganz gut, eine Schülerin zu haben, und sie war zufrieden, in Frau von Bargeton eine Art Hofdame zu besitzen, eine Sklavin, die ihr Lob sänge. Ein solcher Schatz war unter den Frauen von Paris noch seltener als ein begeisterter Kritiker in der Zunft der Literaten. Indessen zeigte sich die Neugier des Publikums zu deutlich, als daß es die Neuangekommene nicht bemerkt hätte, und Madame d'Espard wollte sie freundlich in bezug auf diese Unruhe auf eine falsche Spur bringen.

»Wenn man uns Besuch macht,« sagte sie zu ihr, »erfahren wir vielleicht, welchem Umstand wir die Ehre dieses Interesses von seiten dieser Damen verdanken.«

»Ich fürchte sehr, mein altes Samtkleid und meine Angoulêmer Erscheinung wird die Pariserinnen amüsieren«, sagte Frau von Bargeton lachend. »Nein, Sie sind es nicht, es muß da etwas sein, was ich mir nicht erklären kann«, fügte sie hinzu und wandte sich dem Dichter zu, den sie zum erstenmal betrachtete und seltsam gekleidet fand.

»Da ist Herr du Châtelet«, sagte in diesem Augenblick Lucien und zeigte mit dem Finger nach der Loge der Frau von Sérizy, wo der alte, wie ein Jüngling herausgeputzte Geck eben eintrat.

Bei diesem Deuten mit dem Finger biß sich Frau von Bargeton vor Ärger auf die Lippen, denn die Marquise konnte einen Blick und ein Lächeln der Verwunderung nicht zurückhalten, die geringschätzig zu fragen schienen: »Woher kommt denn der junge Mann?« Louise fühlte sich in ihrer Liebe gedemütigt, und dieses Gefühl ist das peinlichste, das es für eine Französin gibt, und sie kann es ihrem Geliebten nie verzeihen. In dieser Welt, wo die Kleinigkeiten von großer Bedeutung sind, kann eine Bewegung oder ein Wort einen Anfänger ruinieren. Das Hauptverdienst der guten Manieren und des guten Tons der vornehmen Gesellschaft besteht darin, daß sie ein harmonisches Ganzes bilden, in dem nichts Anstoß erregen kann. Selbst solche Menschen, die infolge von Unkenntnis oder infolge irgendeiner Gedankenlosigkeit die Gesetze dieser Wissenschaft nicht befolgen, begreifen alle, daß in dieser Sache eine einzige Dissonanz, wie in der Musik, eine vollständige Verwirrung der Kunst selbst ist; denn wenn sie überhaupt bestehen soll, müssen alle ihre Bedingungen, auch in der geringsten Kleinigkeit, ausgeführt werden.

»Wer ist der Herr?« fragte die Marquise und blickte nach Châtelet. »Kennen Sie denn Frau von Sérizy schon?«

»Ah! das ist die berühmte Frau von Sérizy, die so viele Abenteuer gehabt hat und trotzdem überall empfangen wird!«

»Eine unerhörte Sache, meine Liebe,« antwortete die Marquise, »eine erklärliche, aber noch nicht erklärte Sache! Die einflußreichsten Männer sind ihre Freunde, und warum? Niemand wagt dieses Geheimnis zu ergründen. – Der Herr ist wohl der Löwe von Angoulême?«

»Aber der Baron du Châtelet«, sagte Anaïs, die ihrem Anbeter aus Eitelkeit in Paris den Titel gab, den sie ihm sonst abstritt, »ist ein Mann, der viel von sich reden gemacht hat. Er war der Reisegefährte des Herrn von Montriveau.«

»Ah!« sagte die Marquise. »Wenn ich diesen Namen höre, muß ich immer an die arme Herzogin von Langeais denken, die wie eine Sternschnuppe verschwunden ist. – Dort«, fuhr sie fort und zeigte nach einer Loge, »ist Herr von Rastignac und Frau von Nucingen. Sie ist die Frau eines Lieferanten, eines Bankiers, eines Spekulanten, eines Trödlers en gros, der sich der vornehmen Welt von Paris mit Hilfe seines Vermögens aufgedrängt hat; man sagt, er mache sich wenig Skrupel über die Mittel, es zu vergrößern; er gibt sich die größte Mühe, seine Treue für die Bourbonen zu beweisen, er hat schon versucht, bei mir Zutritt zu erlangen. Seine Frau hat sich jedenfalls gedacht, wenn sie die Loge der Frau von Langeais nähme, bekäme sie auch ihre Anmut, ihren Geist und Erfolg! Immer die alte Fabel von dem häßlichen Vogel, der sich mit Pfauenfedern schmückt!«

»Wie machen es Herr und Frau von Rastignac, von denen wir wissen, daß sie keine tausend Taler Einkommen haben, daß ihr Sohn in Paris leben kann?« fragte Lucien Frau von Bargeton, verwundert über die Eleganz und den Luxus, den die Kleidung des jungen Mannes zur Schau trug.

»Man sieht leicht, daß Sie aus Angoulême kommen«, antwortete die Marquise recht ironisch, ohne ihr Opernglas von den Augen zu nehmen.

Lucien verstand nicht, er überließ sich ganz dem Anblick der Logen und bemühte sich, die Urteile zu erraten, die dort über Frau von Bargeton gefällt wurden, und die Neugier, deren Gegenstand er selbst war. Louise ihrerseits war höchlich erstaunt, daß die Marquise von Luciens Schönheit einen so geringen Eindruck bekommen zu haben schien. »Er ist also nicht so schön, wie ich glaubte«, sagte sie sich.

Von da bis zu der Meinung, er sei auch weniger begabt, war nur noch ein Schritt. Der Vorhang war gefallen. Châtelet, der der Herzogin von Carigliano, deren Loge neben der von Madame d'Espard lag, einen Besuch machte, grüßte von dort aus Frau von Bargeton, die mit einer Neigung des Kopfes dankte. Eine Frau von Welt sieht alles, und so bemerkte die Marquise die auffallend vornehme Erscheinung Châtelets. In diesem Augenblick betraten nacheinander vier Personen die Loge der Marquise, vier Pariser Berühmtheiten.

Der erste war Herr von Marsay. Dieser Mann war berühmt durch die Leidenschaften, die er hervorrief; er fiel besonders durch eine mädchenhafte, weichliche, weibische Schönheit auf, die aber durch einen festen, ruhigen Blick gehoben wurde, der falsch und stechend wie der eines Tigers war; er wurde geliebt und gefürchtet. Lucien war ebenso schön; aber bei ihm war der Blick so sanft, sein blaues Auge war so hell, daß man ihn nicht der Kraft und Stärke für fähig hielt, durch die sich die Weiber so angezogen fühlen. Überdies brachte den Dichter noch nichts zur Geltung, während Marsay Lebendigkeit des Geistes, Siegesgewißheit und eine seiner Natur entsprechende Kleidung besaß, lauter Eigenschaften, die alle seine Rivalen ausstachen. Man versteht nun, was in seiner Nachbarschaft Lucien sein konnte, der steif, stutzerhaft aufgeputzt, hölzern und neu wie seine Kleider war! Von Marsay hatte durch den Geist, den er hineinlegte, und durch die anmutigen Manieren, mit denen er sie begleitete, das Recht erobert, Keckheiten zu sagen. Der Empfang, der ihm seitens der Marquise wurde, belehrte Frau von Bargeton schnell über die Macht dieses Menschen. Der zweite war der eine der beiden Vandenesse, der, der den Skandal mit der Lady Dudley gehabt hatte, ein sanfter, verständiger, bescheidener junger Mann, der durch Eigenschaften Erfolg hatte, die denen von Marsays ganz entgegengesetzt waren, und den die Cousine der Marquise, Frau von Mortsauf, ihr warm empfohlen hatte. Der dritte war der General von Montriveau, der an dem Untergang der Herzogin von Langeais schuld war. Der vierte war Herr von Canalis, einer der berühmtesten Dichter dieser Zeit, ein junger Mann im ersten Beginn seines Ruhmes, der stolzer auf seinen Adel als auf sein Talent war. Er spielte den Courmacher der Madame d'Espard, um seine Leidenschaft für die Herzogin von Chaulieu zu verstecken. Man konnte trotz seines anmutigen Wesens, das nicht ohne Geziertheit war, den brennenden Ehrgeiz merken, der ihn später in den Wirbel des politischen Lebens stürzte. Seine beinahe niedliche Schönheit, seine zarten Manieren verhüllten nur schlecht einen tiefen Egoismus und das unaufhörliche Rechnen einer damals noch fraglichen Existenz; aber der Umstand, daß er sich Frau von Chaulieu, eine Frau von über vierzig Jahren, erkoren hatte, trug ihm bereits Belohnungen von seiten des Hofes, den Beifall des Faubourg Saint-Germain und Beschimpfungen von seiten der Liberalen ein, die ihn den Pfaffendichter nannten.

Als Frau von Bargeton diese vier hervorragenden Gestalten sah, wurde ihr die geringe Aufmerksamkeit der Marquise für Lucien erklärlich. Als dann die Unterhaltung begann, als jeder dieser feinen gewandten Köpfe sich durch Wendungen ins rechte Licht setzte, die mehr Witz und mehr Tiefe hatten als alles, was Anaïs während eines ganzen Monats in der Provinz gehört hatte; als insbesondere der große Dichter in seiner suggestiven Art ein paar Worte sagte, in denen das Positive der ganzen Zeit lag, aber noch vergoldet von der Poesie, da begriff Louise, was ihr Châtelet am Tage vorher gesagt hatte; Lucien war nichts mehr. Jeder betrachtete den armen Unbekannten mit so grausamer Gleichgültigkeit, er stand so ganz wie ein Ausländer da, der die Sprache nicht verstand, daß die Marquise Mitleid mit ihm empfand.

»Gestatten Sie,« sagte sie zu Canalis, »Ihnen Herrn von Rubempré vorzustellen. Sie nehmen in der literarischen Welt eine so hohe Stellung ein, daß Sie einen Anfänger gewiß freundlich aufnehmen. Herr von Rubempré kommt von Angoulême und ist jedenfalls Ihrer Fürsprache bei denen, die hier das Genie zur Geltung bringen helfen, bedürftig. Es fehlt ihm leider noch an Feinden, die ihn mit ihren Angriffen berühmt machen könnten. Wäre es nicht originell genug, den Versuch zu machen, ihn durch die Freundschaft zu dem gelangen zu lassen, was Ihnen vom Hasse zuteil wird?«

Die vier Personen betrachteten Lucien, solange die Marquise sprach. Von Marsay nahm seine Lorgnette, um den Ankömmling anzusehen, obwohl er nur zwei Schritte von ihm entfernt war; sein Blick ging von Lucien zu Frau von Bargeton und von ihr zu ihm, man sah in seinen Miene die boshaften Gedanken, mit denen er sie zueinander gesellte, und sie waren beide überaus peinlich berührt; er prüfte sie wie zwei absonderliche Tiere und lächelte. Dieses Lächeln war ein Stich ins Herz für unsern großen Mann aus der Provinz. Felix von Vandenesse zeigte ein mitleidiges Gesicht, Montriveau warf einen Blick auf Lucien, mit dem er ihn bis auf die Knochen durchdrang.

»Meine Gnädige,« sagte Herr von Canalis und verbeugte sich, »Ich gehorche Ihnen, obwohl unser persönliches Interesse uns befiehlt, unsere Nebenbuhler nicht zu fördern; aber Sie haben uns ans Wunderbare gewöhnt.«

»Schön, machen Sie mir also das Vergnügen und kommen Sie Montag mit Herrn von Rubempré zu mir zum Diner, Sie werden dort gemütlicher über literarische Dinge miteinander plaudern können als hier; ich will versuchen, einige von den Literaturtyrannen und Berühmtheiten aufzutreiben, den Verfasser von ›Ourika‹ und einige wohlmeinende junge Dichter.«

»Frau Marquise,« sagte von Marsay, »wenn Sie den Herrn wegen seines Geistes unter Ihre Obhut nehmen, so will ich mich wegen seiner Schönheit seiner annehmen; ich werde ihm Ratschläge geben, die den glücklichsten Dandy von Paris aus ihm machen. Nachher kann er dichten, soviel er will.«

Frau von Bargeton dankte ihrer Cousine mit einem Blick, in dem tiefe Erkenntlichkeit lag.

»Ich wußte nicht, daß Sie gegen Männer von Geist so übelwollend sind,« sagte Montriveau zu Marsay; »das Glück tötet die Dichter.«

»Das ist wohl der Grund, warum Sie sich verheiraten wollen?« sagte der Dandy und wandte sich an Canalis, um zu sehen, ob Madame d'Espard von diesem Wort getroffen würde.

Canalis zuckte die Achseln, und Madame d'Espard, die Nichte der Frau von Chaulieu, lachte.

Lucien, der sich in seinen Kleidern wie eine ägyptische Statue in ihrer Hülle vorkam, schämte sich, daß er gar nichts antwortete. Endlich sagte er mit seiner zarten Stimme zur Marquise: »Ihre Güte verurteilt mich dazu, nur Erfolge zu haben.«

In diesem Augenblick trat Châtelet ein, der die Gelegenheit, sich von Montriveau, einem der mächtigsten Männer in der Pariser Gesellschaft, gewaltsam der Marquise vorstellen zu lassen, beim Schopfe nahm. Er begrüßte Frau von Bargeton und bat Madame d'Espard, ihm zu verzeihen, daß er so geradezu in ihre Loge eindränge, er hätte seinen Reisegefährten schon so lange nicht mehr gesehen. Montriveau und er sähen sich zum erstenmal wieder, seit sie sich mitten in der Wüste voneinander getrennt hätten.

»Sich in der Wüste zu trennen und in der Oper wiederzufinden«, sagte Lucien.

»Eine wahrhaft theatralische Erkennungsszene«, sagte Canalis.

Montriveau stellte den Baron du Châtelet der Marquise vor, und diese nahm den frühern Privatsekretär der Kaiserlichen Hoheit sehr freundlich auf, da sie ihn schon in drei Logen verkehren gesehen hatte, da Frau von Sérizy nur Leute von einiger Bedeutung um sich duldete, und da er schließlich der Reisegefährte Montriveaus war. Diese letzte Auszeichnung war von so großem Wert, daß Frau von Bargeton an dem Ton, den Blicken und dem ganzen Verhalten der vier großen Männer merkte, daß sie Châtelet unbestritten als einen ihresgleichen anerkannten. Das paschahafte Benehmen Châtelets in der Provinz war Naïs mit einem Male erklärt. Endlich bemerkte Châtelet auch Lucien und ließ ihm einen kurzen, trocknen und kalten Gruß zukommen, einen Gruß, durch den ein Mann den andern in Mißkredit bringt und den Leuten von Welt die untergeordnete Rolle verrät, die der andere in der Gesellschaft einnimmt. Er machte bei diesem Gruß eine hämische Miene, die zu sagen schien: »Wie kommt denn der hierher?« Châtelet wurde gut verstanden, denn Herr von Marsay beugte sich zu Montriveau und flüsterte ihm, so daß es der Baron hören mußte, ins Ohr: »Fragen Sie ihn doch, wer dieser kuriose Jüngling ist, der wie eine Gliederpuppe im Schaufenster eines Schneiders aussieht.«

Châtelet flüsterte ein paar Augenblicke mit seinem Reisegefährten; es konnte aussehen, als tauschten sie alte Erinnerungen aus, aber ohne Zweifel schlug er mit seinen Worten seinen Nebenbuhler zu Boden. Lucien war von dem schlagfertigen Witz, von der Feinheit, die diese Männer in ihre Antworten legten, überrascht; er war wie benommen von dem, was man bon mot nennt, und ganz besonders von der Zwanglosigkeit der Rede und der Gefälligkeit der Manieren. Er fand die verschwenderische Art und den Luxus an den Dingen, der ihn erschreckt hatte, jetzt in den Ideen wieder. Er fragte sich, durch welches Geheimnis diese Menschen ohne Besinnen treffende Antworten fänden, die ihm nur nach langem Nachdenken eingefallen wären. Und dann besaßen diese fünf Weltmänner dieses gefällige Wesen nicht nur in ihren Worten, sondern ebenso in ihrer Kleidung: sie hatten nichts Neues und nichts Altes am Leibe. Es war nichts Auffallendes an ihnen, und doch zog alles den Blick an. Ihr Luxus von heute war der von gestern und würde morgen der nämliche sein. Lucien kam dahinter, daß er wie ein Mann aussah, der sich zum erstenmal im Leben angezogen hat.

»Mein Lieber,« sagte Marsay zu Felix von Vandenesse, »dieser kleine Rastignac steigt wie ein Drachen in die Höhe! Da ist er bei der Marquise von Listomère, er macht Fortschritte, er betrachtet uns durch das Opernglas! Er kennt wohl den Herrn?« fügte der Dandy hinzu und wandte sich zu Lucien, ohne ihn anzusehen.

»Es wäre unwahrscheinlich,« erwiderte Frau von Bargeton, »wenn der Name des großen Mannes, auf den wir stolz sind, nicht bis zu ihm gedrungen wäre: seine Schwester war jüngst dabei, wie Herr von Rubempré uns sehr schöne Gedichte vorlas.«

Felix von Vandenesse und Herr von Marsay grüßten die Marquise und begaben sich in die Loge der Frau von Listomère, die die Schwester der Vandenesse war. Der zweite Akt begann, und man ließ Madame d'Espard, ihre Cousine und Lucien allein. Die einen begaben sich zu den Frauen, die neugierig waren, zu wissen, wer Frau von Bargeton war, und erklärten ihnen die Sache; die andern erzählten von der Ankunft des Dichters und machten sich über seinen Anzug lustig. Canalis begab sich in die Loge der Herzogin von Chaulieu zurück und kam nicht wieder. Lucien war glücklich über die Ablenkung von der Bühne her. Die Befürchtungen der Frau von Bargeton in bezug auf Lucien wurden durch die Beachtung gesteigert, die ihre Cousine dem Baron du Châtelet geschenkt hatte und die von ganz anderer Art war als ihre gönnerhafte Höflichkeit gegen Lucien. Während des zweiten Akts blieb die Loge der Frau von Listomère voller Leute, und es schien dort ein lebhaftes Gespräch im Gange, in dem es sich um Frau von Bargeton und Lucien handelte. Der junge Rastignac war offenbar der Spaßvogel dieser Loge, er rief das echt Pariser Lachen hervor, das sich jeden Tag einen neuen Gegenstand aussucht und es eilig hat, jedes Thema sofort zu erschöpfen und im Augenblick etwas Altes und Abgetanes daraus zu machen. Madame d'Espard war etwas unruhig, aber sie wußte, daß man die, die von einer Bosheit getroffen werden, nicht lange im unklaren darüber läßt, und wartete das Ende des Akts ab. Wenn die Gedanken und Gefühle sich der eigenen Person zugewendet haben, wie es bei Lucien und Frau von Bargeton der Fall war, geschehen in kurzer Zeit seltsame Dinge; die moralischen Umwälzungen vollziehen sich auf Grund von Gesetzen, deren Wirkung überaus rasch ist. Vor Louisens Gedächtnis standen die klugen, politischen Worte, die Châtelet ihr auf der Rückfahrt vom Vaudeville in bezug auf Lucien gesagt hatte. Jeder Satz war eine Prophezeiung, und Lucien ließ es sich angelegen sein, sie alle zu erfüllen. Der arme Junge, dessen Geschick ein wenig dem Jean Jacques Rousseaus glich, verlor seine Illusionen über Frau von Bargeton, wie sie die ihren über ihn verlor, und er glich seinem Vorbild insofern, daß er von Madame d'Espard bezaubert war und sich schnurstracks in sie verliebte. Junge Menschen oder Männer, die sich des Gefühlslebens ihrer Jugend erinnern, werden zugeben, daß diese plötzliche Liebe überaus naheliegend und natürlich war. Die entzückenden Manieren, die feine Sprache, die weiche Stimme, diese ganze so vornehme, so hochgestellte, so beneidete zarte Frau, diese Königin erschien dem Dichter, wie Frau von Bargeton ihm in Angoulême erschienen war. Die Beweglichkeit seines Charakters trieb ihn sofort an, sich diese hohe Gönnerschaft zu wünschen; das sicherste Mittel dazu war, das Weib zu besitzen, dann hätte er alles! Es war ihm in Angoulême geglückt, warum nicht ebenso in Paris? Unwillkürlich und trotz der Anziehungskraft der Oper, die etwas völlig Neues für ihn war, wandte sich sein Blick, wie magnetisch von dieser prächtigen Célimène angezogen, fortwährend ihr zu, und je mehr er sie ansah, um so mehr Lust bekam er, sie anzusehen! Frau von Bargeton fing einen dieser funkelnden Blicke Luciens auf; sie beobachtete ihn und sah, daß er mehr mit der Marquise als mit dem Vorgang auf der Bühne beschäftigt war. Sie hätte sich gut und gern damit abgefunden, wenn er sich um der fünfzig Töchter des Danaos willen nichts um sie gekümmert hätte; aber als ein Blick, der brennender, leidenschaftlicher und deutlicher war als die andern, ihr klarmachte, was in Luciens Herzen vorging, wurde sie eifersüchtig, freilich weniger für die Zukunft als für die Vergangenheit.

»Er hat mich nie so angesehen«, dachte sie. »Mein Gott, Châtelet hat recht.«

Jetzt erkannte sie den Irrtum ihrer Liebe. Wenn eine Frau dazu kommt, ihre Schwäche zu bereuen, fährt sie wie mit einem Schwamm über ihr Leben, um alles darin auszulöschen. Obwohl jeder Blick Luciens sie in Wut versetzte, blieb sie ruhig. Herr von Marsay kam im Zwischenakt wieder in die Loge und brachte Herrn von Listomère mit. Der ernste Mann und der junge Geck hatten der stolzen Marquise bald mitgeteilt, daß der Hochzeitskellner im Sonntagsstaat, der leider Zutritt in ihre Loge gefunden hätte, ebensowenig den Namen Herr von Rubempré zu führen berechtigt wäre, wie ein Jude einen Taufnamen hätte. Lucien wäre der Sohn eines Apothekers namens Chardon. Herr von Rastignac, der über die Vorgänge in Angoulême gut auf dem laufenden war, hatte schon zwei Logen auf Kosten dieser Mumie, die die Marquise ihre Cousine nannte, zum Lachen gebracht. Er meinte, es wäre sehr vorsichtig von dieser Dame, daß sie immer einen Apotheker mit sich führte, der jedenfalls durch allerlei Spezereien ihr künstliches Leben erhalten sollte. Kurz, Herr von Marsay erzählte einige der tausend Späße, die die Pariser in einem Augenblick machen und die ebenso schnell vergessen wie gesagt sind, aber hinter denen diesmal Châtelet, der Maschinist dieser karthagischen List, steckte.

»Meine Liebe,« sagte Madame d'Espard hinter ihrem Fächer zu Frau von Bargeton, »bitte, sagen Sie mir, ob Ihr Schützling wirklich Herr von Rubempré heißt!«

»Er hat den Namen seiner Mutter angenommen«, sagte Anaïs verlegen.

»Aber wie ist der Name seines Vaters?«

»Chardon.«

»Und was war dieser Chardon?«

»Apotheker.«

»Ich wußte es ja, liebe Freundin, daß sich ganz Paris nicht über eine Frau lustig machen konnte, die ich unter meinen Schutz nehme. Ich habe keine Lust, mich der Annehmlichkeit auszusetzen, daß Spaßvögel hierher in meine Loge kommen, die darüber entzückt sind, mich mit dem Sohn eines Apothekers zusammen zu sehen; wenn Sie mir das glauben, gehen wir zusammen weg, und zwar auf der Stelle.«

Madame d'Espard nahm eine recht verächtliche Miene an, ohne daß Lucien eine Ahnung hatte, womit er diese Änderung in ihrem Ausdruck verschuldet hätte. Er dachte, seine Weste wäre geschmacklos, was stimmte; sein Rock hätte einen verrückten Schnitt, was ebenfalls stimmte. Mit geheimer Bitterkeit sah er ein, daß er sich von einem geschickten Schneider noch einmal einkleiden lassen müsse, und nahm sich vor, morgen zum berühmtesten Schneider zu gehen, um es kommenden Montag mit den Männern, die er bei der Marquise finden würde, aufnehmen zu können. Obwohl er so ganz in Gedanken vertieft war, wendete er sein Auge nicht von der Bühne ab, auf der der dritte Akt gespielt wurde. Er betrachtete den Prunk dieses einzigen Schauspiels und überließ sich dabei seinen Träumereien über Madame d'Espard. Er war verzweifelt über die plötzliche Kälte, die in seltsamem Gegensatz zu den glühenden Erwägungen stand, mit denen er, unbekümmert um die ungeheuren Schwierigkeiten, die er gewahrte und besiegen wollte, auf diese neue Liebe losging. Er entriß sich seiner tiefen Versunkenheit, um den Blick wieder auf seine neue Göttin zu richten, aber als er den Kopf wandte, fand er sich allein, er hatte ein leichtes Geräusch gehört, die Tür hatte sich geschlossen, und Madame d'Espard hatte ihre Cousine fortgeführt. Lucien war im höchsten Grade über dieses plötzliche Fortgehen überrascht, aber gerade weil er es unerklärlich fand, dachte er nicht lange daran.

Als die beiden Frauen in ihren Wagen gestiegen waren, der durch die Rue de Richelieu nach dem Faubourg Saint-Honoré fuhr, sagte die Marquise mit verstelltem Zorn: »Liebes Kind, was denken Sie? Warten Sie doch, bis der Sohn eines Apothekers wirklich berühmt ist, bevor Sie sich für ihn interessieren. Die Herzogin von Chaulieu verleugnet jetzt noch Canalis, der berühmt und sogar von Adel ist. Dieser Bursche ist weder Ihr Sohn noch Ihr Geliebter, nicht wahr?« sagte diese hochmütige Frau und warf ihrer Cousine einen forschenden und unverhüllten Blick zu.

›Welches Glück für mich,‹ dachte Frau von Bargeton, ›daß ich dieses Bürschchen mir nicht zu nahe kommen ließ und daß ich ihm nichts gewährt habe!‹

»Nun also,« fuhr die Marquise fort, die den Augenausdruck ihrer Cousine als Antwort nahm, »lassen Sie es dabei bewenden, ich rate Ihnen gut. Sich einen berühmten Namen beizulegen! ... das ist eine Kühnheit, die die Gesellschaft sich nicht gefallen läßt. Meinetwegen soll es der Name seiner Mutter sein; aber bedenken Sie doch, meine Liebe, daß dem König allein das Recht zusteht, durch besondern Kabinettsbefehl den Namen der Rubempré dem Sohn einer Frau, die diesem Haus entstammt, beizulegen; wenn sie unter ihrem Stand geheiratet hat, wäre es eine ganz ungewöhnliche Gunst, und um sie zu erlangen, braucht man ein kolossales Vermögen, muß man Dienste geleistet haben und braucht sehr hohe Protektion. Dies Äußere eines Krämers im Sonntagsstaat beweist, daß der junge Mann weder reich noch von Adel ist; sein Gesicht ist hübsch, aber er scheint mir sehr dumm; kurz, er ist nicht gebildet. Wie kommt es, daß Sie ihn protegieren?«

Frau von Bargeton, die Lucien verleugnete, wie Lucien sie im stillen bei sich verleugnet hatte, bekam schreckliche Angst, ihre Cousine könnte die Wahrheit über ihre gemeinsame Reise erfahren.

»Liebe Cousine, es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie kompromittiert habe.«

»Man kompromittiert mich nicht,« sagte Frau d'Espard lächelnd; »ich denke nur an Sie.«

»Aber Sie haben ihn auf Montag zum Diner geladen.«

»Ich werde krank sein«, erwiderte die Marquise lebhaft. »Sie werden ihm das mitteilen, und ich werde meinem Portier seine beiden Namen nennen und die nötigen Anweisungen geben.«

Lucien bemerkte, daß im Zwischenakt alle in das Foyer gingen, und kam auf den Einfall, ebenfalls dort auf und ab zu gehen. Zunächst grüßte ihn niemand von den Herren, die in Madame d'Espards Loge gekommen waren, und keiner beachtete ihn, was unserm Dichter aus der Provinz sehr sonderbar vorkam. Dann sah ihn Châtelet, an den er sich klammern wollte, nur von der Seite an und schnitt ihn fortwährend. Er mußte sich, als er die Männer sah, die im Foyer hin und her wandelten, eingestehen, daß seine Kleidung recht lächerlich war, und setzte sich wieder in die Ecke seiner Loge. Dort war er bis zum Ende der Vorstellung fortwährend durch das prächtige Schauspiel des Balletts im fünften Akt, das durch seine Hölle so berühmt ist, dann durch den glänzenden Zuschauerraum, in dem sein Blick von Loge zu Loge schweifte, und schließlich durch seine eigenen Gedanken in Anspruch genommen, die angesichts der Pariser Gesellschaft recht eindringliche waren.

»Das ist also mein Reich,« sagte er sich, »das ist die Welt, die ich erobern soll!«

Er ging zu Fuß nach Hause und dachte an alles, was die großen Männer, die bei Madame d'Espard zur Aufwartung vorsprachen, gesagt hatten; ihr Benehmen, ihre Handbewegungen, die Art, zu kommen und zu gehen, alles kehrte mit erstaunlicher Treue in sein Gedächtnis zurück. Am nächsten Tag gegen Mittag war es sein erstes Geschäft, zu Staub zu gehen, der damals der berühmteste Schneider war. Mit Geld und guten Worten setzte er es durch, daß sein Anzug für den bedeutungsvollen Montag fertig werden sollte. Staub verstieg sich so weit, ihm für diesen entscheidenden Tag einen köstlichen Rock, eine Weste und eine Hose zu versprechen. Lucien bestellte sich bei einer Wäschenäherin Hemden, Taschentücher, eine ganze kleine Aussteuer, und ließ sich bei einem berühmten Schuhmacher das Maß für Schuhe und Stiefel nehmen. Er kaufte bei Verdier einen hübschen Stock, Handschuhe und Hemdknöpfe bei Madame Irlande, kurz, er versuchte, sich auf die Höhe der Dandys zu bringen. Als er alle seine Wünsche erfüllt hatte, begab er sich nach der Rue Neuve-de-Luxembourg und erfuhr, daß Louise ausgegangen war.

»Sie speist bei der Frau Marquise d'Espard und wird spät nach Hause kommen«, teilte ihm Albertine mit.

Lucien aß in einem Restaurant des Palais Royal für vierzig Sous zu Abend und legte sich frühzeitig zu Bett. Am Sonntag ging er schon um elf Uhr zu Louise; sie war noch nicht aufgestanden. Um zwei Uhr kam er wieder.

»Madame empfängt noch nicht,« sagte Albertine zu ihm, »aber sie hat mir ein Briefchen für Sie gegeben.«

»Sie empfängt noch nicht?« wiederholte Lucien. »Aber ich bin nicht der oder jener ...«

»Ich weiß nicht«, sagte Albertine und machte ein recht freches Gesicht.

Lucien, der weniger über die Antwort Albertinens erstaunt war, als daß er von Frau von Bargeton einen Brief bekam, nahm das Billett und las auf der Straße die folgenden trostlosen Zellen:

»Madame d'Espard ist nicht wohl; sie kann Sie am Montag nicht empfangen; mir geht es auch nicht gut, aber ich will mich doch ankleiden und ihr Gesellschaft leisten. Ich bedaure diese kleine Widerwärtigkeit sehr; aber Ihr Talent beruhigt mich, und Sie werden sich ohne Schwindelkünste durchsetzen.«

»Und keine Unterschrift«, sagte sich Lucien, der in den Tuilerien angelangt war, ohne daß es ihm zum Bewußtsein gekommen wäre, daß er weitergegangen war.

Die Gabe des zweiten Gesichts, die die Leute von Talent besitzen, ließ ihn die Katastrophe ahnen, die dieses frostige Billett ankündigte. Er ging in Gedanken verloren weiter, immer geradeaus, und betrachtete die Denkmäler der Place Louis XV. Es war schönes Wetter. Prächtige Equipagen fuhren fortwährend an ihm vorbei in der Richtung nach der großen Allee der Champs Elysées. Er folgte der Menge der Spaziergänger und sah nun die drei- oder viertausend Wagen, die an einem schönen Sonntag an diesem Ort zusammenströmen und ein Longchamp improvisieren. Von der Pracht der Pferde, der Toiletten und Livreen geblendet, ging er immer weiter und kam zum Triumphbogen, der damals begonnen worden war. Er kehrte um. Wie wurde ihm aber, als er Madame d'Espard und Frau von Bargeton in einer Kalesche mit einem prachtvollen Gespann auf sich zukommen sah, hinter der die Federn des Leibjägers flatterten, dessen grüne, goldgestickte Livree ihn zuerst auf sie aufmerksam machte. Die Wagenreihe kam ins Stocken, und Lucien konnte deutlich sehen, was für eine Umwandlung sich mit Louise vollzogen hatte. Sie war nicht zum Wiedererkennen: die Farben ihrer Toilette waren so gewählt, daß ihr Teint zur rechten Geltung kam; ihr Kleid war entzückend; ihre Haare waren anmutig frisiert und standen ihr gut zu Gesicht, und ihr Hut war von erlesenem Geschmack und konnte sich sogar neben dem der Marquise d'Espard sehen lassen, die maßgebend für die Mode war. Es gibt eine undefinierbare Art, einen Hut zu tragen: man setze den Hut ein wenig nach hinten, und man sieht keck aus; man setze ihn zu sehr nach vorn, dann sieht man verschmitzt aus; sitzt er zur Seite, bekommt man ein burschikoses Aussehen; und die Frauen von Welt setzen ihre Hüte, wie sie wollen, und sehen immer gut aus. Frau von Bargeton hatte dieses seltsame Problem sofort gelöst. Ein hübscher Gürtel stand gut zu ihrer schlanken Taille. Sie hatte die Handbewegungen und das Benehmen ihrer Cousine angenommen; sie saß wie sie da und spielte mit einem eleganten Riechdöschen, das mit einem Kettchen an einem der Finger der rechten Hand befestigt war, und zeigte so ihre zarte, schön behandschuhte Hand, ohne daß es so aussah, als ob sie sie zeigen wollte. Kurz, sie hatte sich Frau d'Espard ähnlich gemacht, ohne sie nachzuäffen; sie war die würdige Cousine der Marquise, die auf ihre Schülerin stolz zu sein schien. Die Damen und Herren, die auf der Allee spazieren gingen, sahen nach dem glänzenden Wagen, der die beiden Wappenschilder der d'Espard und der Blamont-Chauvry trug. Lucien war erstaunt über die große Zahl Personen, die die beiden Cousinen grüßten; er wußte nicht, daß dieses ganze Paris, das aus zwanzig Salons besteht, das Verwandtschaftsverhältnis der Frau von Bargeton und der Marquise d'Espard bereits kannte. Junge Herren zu Pferde, unter denen Lucien Herrn von Marsay und Rastignac bemerkte, schlossen sich der Kalesche an, um die beiden Cousinen ins Bois zu geleiten. Lucien konnte leicht an den Gesten der beiden Stutzer sehen, daß sie Frau von Bargeton über ihre Metamorphose Komplimente sagten. Madame d'Espard strahlte von Heiterkeit und Gesundheit: ihre Unpäßlichkeit war also nur ein Vorwand, um Lucien nicht zu empfangen, und sie dachte nicht daran, ihr Diner auf einen andern Tag zu verlegen. Der wütende Dichter näherte sich der Kalesche, ging langsam und grüßte die Damen, als er gerade vor ihnen stand: Frau von Bargeton wollte ihn nicht sehen, die Marquise betrachtete ihn durch ihr Lorgnon und erwiderte seinen Gruß nicht. Die Zurückweisung von seiten der Pariser Aristokratie war nicht so wie die der Herren von Angoulême: die Krautjunker hatten sich zwar bemüht, Lucien zu verletzen, hatten aber doch zugleich seine Macht anerkannt und ihn für einen Menschen genommen; während er für die Marquise d'Espard nicht einmal existierte. Es war kein Urteil, sondern eine Rechtsverweigerung. Den armen Dichter überlief ein gräßlicher Schüttelfrost, als Herr von Marsay ihn lorgnettierte; der Pariser Löwe ließ sein Lorgnon so seltsam herunterfallen, daß es Lucien vorkam, als wäre es das Beil der Guillotine. Die Kalesche fuhr vorbei. Wut und Rachsucht bemächtigten sich dieses verachteten Menschen: wenn Frau von Bargeton vor ihm gestanden hätte, würde er sie erwürgt haben; in seiner Phantasie war er Fouquier-Tinville, um die Wonne zu kosten, Frau d'Espard aufs Schafott zu schicken; er verspürte ein Gelüste, Herrn von Marsay mit einer der ausgesuchten Foltern zu bestrafen, wie sie die Wilden erfunden haben. Er sah Canalis vorüberreiten, elegant, wie es der gefälligste aller Dichter sein mußte, und immer mit der Hand am Hute zur Begrüßung der schönsten Frauen.

»Mein Gott! Gold, Gold um jeden Preis!« sagte sich Lucien, »das Geld ist die einzige Macht, vor der diese Welt kniet.« – »Nein!« rief ihm sein Gewissen zu, »sondern der Ruhm, und der Ruhm ist Arbeit! Arbeit! heißt die Parole Davids.« – »Mein Gott! warum bin ich hier? Aber ich werde triumphieren, ich werde in dieser Allee in der Kalesche fahren, und ein Leibjäger wird hinten stehen! Ich werde Weiber haben wie diese Marquise d'Espard!«

Als er diese wütenden Worte hervorstieß, aß er für vierzig Sous bei Hurbain. Am nächsten Tag um neun Uhr morgens ging er zu Louise, um ihr ihre Grausamkeit vorzuwerfen; Frau von Bargeton war nicht nur für ihn nicht zu sprechen, sondern der Portier ließ ihn noch nicht einmal die Treppe hinaufgehen; er blieb auf der Straße und stand bis Mittag Posten. Mittags kam Châtelet von Frau von Bargeton herunter, sah den Dichter von der Seite an und schnitt ihn. Lucien, der aufs äußerste gereizt war, ging seinem Nebenbuhler nach; als Châtelet merkte, daß er verfolgt wurde, drehte er sich um und grüßte ihn, in der offenbaren Absicht, nach dieser Höflichkeit weiterzugehen.

»Bitte, Herr du Châtelet,« sagte Lucien, »gestatten Sie mir eine Sekunde, ich habe nur zwei Worte zu sagen. Sie haben mir Freundschaft bezeigt, ich berufe mich darauf, um einen ganz leichten Dienst von Ihnen zu erbitten. Sie kommen von Frau von Bargeton: sagen Sie mir, warum ich bei ihr und der Marquise d'Espard in Ungnade gefallen bin.«

»Herr Chardon,« sagte Châtelet mit angenommener Gutmütigkeit, »wissen Sie, warum die Damen Sie in der Oper verlassen haben?«

»Nein«, erwiderte der arme Dichter.

»Nun, gleich bei Ihrem ersten Auftreten hat Ihnen Herr von Rastignac einen schlechten Dienst erwiesen. Der junge Dandy wurde über Sie befragt und hat kurz und bündig erklärt, daß Sie Chardon und nicht von Rubempré heißen, daß Ihre Mutter Wochenpflegerin ist; daß Ihr Vater bei Lebzeiten Apotheker in Houmeau, der Vorstadt Angoulêmes, war; daß Ihre Schwester ein reizendes Mädchen ist, die ausgezeichnet Hemden plättet und im Begriff steht, einen Buchdrucker von Angoulême namens Séchard zu heiraten. So ist die Welt! Wer sich zur Schau stellt, über den wird geredet. Herr von Marsay kam herüber und lachte mit der Marquise d'Espard auf Ihre Kosten, und die beiden Damen sind sofort geflohen, weil sie glaubten, in Ihrer Nähe kompromittiert zu werden. Machen Sie keinen Versuch, zur einen oder zur andern zu gehen, Frau von Bargeton würde von ihrer Cousine nicht mehr empfangen werden, wenn sie fortführe, Sie zu sehen. Sie haben Geist und Talent, versuchen Sie, sich zu rächen. Die Welt verachtet Sie, verachten Sie die Welt. Flüchten Sie in eine Mansarde, schaffen Sie dort Meisterwerke, erlangen Sie irgendeine Macht, und Sie werden die Welt zu Ihren Füßen sehen; Sie geben ihr alsdann die Wunden an derselben Stelle zurück, wo Sie sie empfangen haben. Je mehr Frau von Bargeton Ihnen Freundschaft bezeigt hat, um so fremder wird sie sich Ihnen jetzt geben. Das ist so mit den weiblichen Gefühlen. Aber es handelt sich in diesem Augenblick nicht darum, die Freundschaft von Anaïs wiederzuerobern, es handelt sich darum, sie nicht zur Feindin zu haben, und ich will Ihnen das Mittel sagen. Sie hat Ihnen geschrieben, geben Sie ihr alle ihre Briefe zurück, sie wird für dieses vornehme Benehmen erkenntlich sein; wenn Sie sie später brauchen, wird sie Ihnen nicht feindselig gesinnt sein. Ich für mein Teil habe eine so hohe Meinung von Ihrer Zukunft, daß ich Sie überall in Schutz genommen habe und daß Sie mich schon jetzt, wenn ich irgend etwas für Sie tun kann, bereit finden, Ihnen zu dienen.«

Lucien war so niedergeschmettert, so blaß und verstört, daß er dem alten Gecken, den die Pariser Luft wieder verjüngt hatte, den trocken höflichen Gruß nicht erwiderte, mit dem er ihn verließ. Er kehrte in sein Hotel zurück, wo er Staub in Person antraf, der angeblich gekommen war, um ihm seinen Anzug zu probieren, in Wahrheit aber, um von der Wirtin des Gaillard-Bois zu erfahren, wie es mit der Zahlungsfähigkeit seines unbekannten Kunden stünde. Lucien war mit der Post angekommen, Frau von Bargeton hatte ihn am letzten Donnerstag im Wagen ins Vaudeville gefahren. Diese Auskunft war gut. Staub nannte Lucien »Herr Graf« und zeigte ihm, mit welchem Talent er seine entzückenden Formen zur Geltung gebracht hatte.

»Ein junger Herr, der so angezogen ist,« sagte er zu ihm, »braucht nur in den Tuilerien spazieren zu gehen, nach Verlauf von vierzehn Tagen kann er eine reiche Engländerin heiraten.«

Dieser Scherz des deutschen Schneiders und die Vollendung seines Anzugs, die Feinheit des Tuchs, die Grazie, die er an sich selbst bemerkte, als er in den Spiegel sah, diese kleinen Dinge befreiten Lucien ein wenig von seiner Traurigkeit. Es schwebte ihm vor, Paris wäre die Residenz des Zufalls, und er glaubte für einen Augenblick an den Zufall. Hatte er nicht einen Gedichtband und einen prächtigen Roman, den ›Bogenschützen Karls IX.‹, im Manuskript! Er glaubte an sein Schicksal. Staub versprach den Rock und die übrigen Kleidungsstücke für den nächsten Tag. Am nächsten Tag kamen der Schuhmacher, die Wäschenäherin und der Schneider, alle mit ihren Rechnungen bewaffnet. Lucien verstand sich nicht darauf, sie loszuwerden, er stand noch unter dem Bann der Provinzgewohnheiten und bezahlte sie; aber nachdem er sie bezahlt hatte, blieben ihm von den zweitausend Franken, die er mit nach Paris gebracht hatte, nur noch dreihundertsechzig: seit einer Woche war er da! Trotzdem kleidete er sich an und ging aus, um auf der Terrasse des Feuillants spazieren zu gehen. Er nahm dort eine kleine Rache. Er war so vorzüglich gekleidet, so anmutig, so schön, daß mehrere Frauen ihn ansahen, und zwei oder drei waren über seine Schönheit so betroffen, daß sie sich nach ihm umblickten. Lucien studierte den Schritt und das Benehmen der jungen Leute und nahm einen Kursus in gutem Benehmen, während er dabei immer an seine dreihundertsechzig Franken dachte. Als er am Abend allein in seiner Kammer war, faßte er den Entschluß, mit dem Problem seines Aufenthaltes im Hotel du Gaillard-Bois, wo er im Glauben, er spare, nur die einfachsten Gerichte zum Frühstück genommen hatte, zu Rande zukommen. Er sagte, er wollte ausziehen, verlangte seine Rechnung und erfuhr, daß er hundert Franken schuldig war. Am nächsten Tag begab er sich ins Quartier latin, das David ihm um der Billigkeit willen empfohlen hatte. Nach langem Suchen fand er schließlich in der Rue de Cluny, in der Nähe der Sorbonne, ein elendes Hotel garni, wo er eine Kammer zu dem Preis, den er anlegen wollte, mietete. Er bezahlte sofort seine Wirtin vom Gaillard-Bois und zog noch am selben Tage in die Rue de Cluny. Sein Umzug kostete ihn nur eine Droschkenfahrt.

Nachdem er von seiner ärmlichen Kammer Besitz ergriffen hatte, suchte er alle Briefe der Frau von Bargeton zusammen, machte ein Päckchen daraus, legte es auf den Tisch und überblickte, bevor er ihr schrieb, in Gedanken diese verhängnisvolle Woche. Er dachte nicht daran, daß er zuerst rücksichtslos seine Geliebte verleugnet hatte, ohne sich darum zu kümmern, was aus seiner Louise in Paris werden würde; er sah nicht sein Unrecht: er sah seine gegenwärtige Lage; er klagte Frau von Bargeton an: sie hatte versprochen, ihn berühmt zu machen, und hatte ihn ruiniert. Er wurde wütend und stolz und schrieb in seinem krampfhaften Zorn den folgenden Brief:

»Madame! Was würden Sie von einer Frau sagen, der ein armer, schüchterner Junge gefallen hat, einer, der noch den ganzen edlen Glauben hat, den der Mensch später Illusionen nennt; von einer Frau, die die Reize der Koketterie, die Klugheit ihres Geistes und den schönsten Schein der mütterlichen Liebe anwenden würde, dieses Kind zu verführen? Die zärtlichsten Versprechungen, die Luftschlösser, die ihn entzücken, kosten sie nichts; sie entführt ihn, sie bemächtigt sich seiner, sie schilt ihn wegen seines geringen Vertrauens, sie schmeichelt ihm; und wenn nun das Kind seine Familie verläßt und ihr blind folgt, dann führt sie ihn an den Rand eines ungeheuren Meers, läßt ihn lächelnd ein gebrechliches Boot besteigen und überläßt ihn allein ohne Beistand den furchtbaren Wogen; dann lacht sie ihn auf dem Felsen, auf dem sie in Sicherheit ist, aus und wünscht ihm gute Reise. Diese Frau sind Sie; dieses Kind bin ich. In den Händen dieses Kindes befindet sich ein Andenken, das Ihre verbrecherische Gunst und Ihre Hingabe verraten könnte. Sie könnten erröten müssen, wenn Sie dem Kind, das den Wellen preisgegeben ist, wiederbegegneten und daran dächten, daß Sie es auf Ihrem Schoß gehabt haben. Wenn Sie diesen Brief lesen, wird das Andenken in Ihrem Besitz sein. Es steht Ihnen frei, alles zu vergessen. Nach den schönen Hoffnungen, die Ihre Hand mir am Himmel gewiesen hat, finde ich die Wirklichkeit des Elends im Schmutz von Paris. Während Sie glänzend und angebetet auf den Höhen der vornehmen Welt sich ergehen, bis zu deren Schwelle Sie mich geführt haben, werde ich in der elenden Dachstube, in die Sie mich verbannt haben, mit den Zähnen klappern. Aber vielleicht packt Sie die Reue mitten in den Festen und Vergnügungen, vielleicht denken Sie dann an das Kind, das Sie in den Abgrund gestürzt haben. Wohlan, Madame, denken Sie ohne Reue an das Kind! Aus der Tiefe seines Elends heraus reicht Ihnen dieses Kind das Letzte, was ihm geblieben ist: seine Verzeihung mit einem letzten Blick. Ja, Madame, dank Ihnen besitze ich weiter nichts. Nichts! Ist das nicht der Stoff, aus dem die Welt gemacht worden ist? Das Genie muß Gott nachahmen: ich will mit seiner Güte beginnen, ohne zu wissen, ob ich je seine Macht haben werde. Sie haben über nichts zu zittern, als daß ich schlecht werden könnte; Sie wären an meinen Lastern mitschuldig. Ach, ich beklage Sie, daß Sie zu dem Ruhm, dem ich jetzt an der Hand der Arbeit zusteuern will, nichts mehr beitragen können.«

Nachdem Lucien diesen pathetischen Brief geschrieben hatte, der aber voll der düstern Würde war, die dem Künstler von einundzwanzig Jahren oft in übertriebenem Maße zu eignen pflegt, trugen ihn seine Gedanken zu seiner Familie: er sah die hübsche Wohnung vor Augen, die David ihm auf Kosten eines Teils seines Vermögens eingerichtet hatte; die stillen, bescheidenen bürgerlichen Freuden, die er genossen hatte, tauchten vor ihm auf; die Gestalten seiner Mutter, seiner Schwester und Davids erhoben sich vor seinem Geiste, er sah noch einmal die Tränen, die sie bei seiner Abreise vergossen hatten, und er weinte selbst, denn er war allein in Paris, ohne Freunde, ohne Beschützer.

Einige Tage später schrieb Lucien an seine Schwester den folgenden Brief:

»Meine teure Eva! Die Schwestern haben das traurige Vorrecht, mit ihren Brüdern, die sich der Kunst geweiht haben, mehr Schmerzen als Freuden zu teilen, und ich fange an zu fürchten, Dir sehr zur Last zu fallen. Habe ich Euch alle, die Ihr Euch für mich aufgeopfert habt, nicht schon genug ausgenützt? Die Erinnerung an meine so ganz von den Freuden des Familienlebens ausgefüllte Vergangenheit hielt mich in der Verlassenheit meines jetzigen Lebens aufrecht. Bin ich doch mit der Geschwindigkeit eines Adlers, der zu Nest fliegt, durch den weiten Raum geeilt, der uns trennt, um in eine Sphäre wahrer Liebe zu gelangen, nachdem ich den ersten Jammer und die ersten Enttäuschungen der Pariser Welt gekostet habe. Haben Eure Lichter geknistert? Sind die Scheite in Eurem Kamin gerutscht? Hat es Euch im Ohr geklungen? Hat meine Mutter gesagt: ›Lucien denkt an uns‹? Hat David geantwortet: ›Er kämpft mit Menschen und Dingen‹? Liebe Eva, ich schreibe diesen Brief für Dich allein. Dir allein traue ich mich, das Gute und das Böse, das mir zustoßen wird, zu gestehen; ich weiß, ich werde über das eine wie über das andere erröten, denn hier ist das Gute so selten, wie es das Böse sein sollte. Du sollst viel in wenig Worten erfahren: Frau von Bargeton hat sich meiner geschämt, hat mich am neunten Tage nach meiner Ankunft verleugnet, verstoßen, mir den Laufpaß gegeben. Sie hat mich gesehen und hat den Kopf weggewandt, und ich habe, um ihr in die Welt folgen zu können, in der sie mich hochbringen wollte, siebzehnhundertundsechzig von den zweitausend Franken, die ich aus Angoulême mitbrachte und so schwer aufgetrieben habe, ausgegeben. Wofür? wirst Du fragen. Arme Schwester! Paris ist ein absonderlicher Schlund: man kann dort für achtzehn Sous zu Mittag essen, und das einfachste Diner eines feinen Restaurants kostet fünfzig Franken; Du bekommst Westen und Hosen für vier Franken und vierzig Sous: die Modeschneider machen Dir sie nicht unter hundert Franken. Man gibt einen Sou, um über die Rinnsteine der Straßen hinüberzukommen, wenn es regnet. Schließlich kostet die kleinste Wagenfahrt zweiunddreißig Sous. Nachdem ich zuerst im eleganten Viertel gewohnt habe, bin ich jetzt im Hotel de Cluny in der Rue de Cluny, einer der ärmlichsten und düstersten Gassen von Paris, die zwischen drei Kirchen und den alten Baulichkeiten der Sorbonne liegt. Ich bewohne ein möbliertes Zimmer im vierten Stock dieses Hotels, und obwohl es recht schmutzig und kahl ist, zahle ich immer noch fünfzehn Franken im Monat. Ich habe zum Frühstück für einen Sou Milch und ein kleines Brot für zwei Sous, aber ich esse sehr gut für zweiundzwanzig Sous in der Kneipe eines gewissen Flicoteaux, die sich an der Place de la Sorbonne befindet. Bis zum Winter werden meine Ausgaben sechzig Franken im Monat, alles inbegriffen, nicht übersteigen, so hoffe ich wenigstens. Auf diese Weise werden meine zweihundertvierzig Franken die ersten vier Monate ausreichen. Bis dahin habe ich ohne Zweifel den ›Bogenschützen Karls IX.‹ und die ›Margueriten‹ verkauft. Sei also nicht besorgt um meinetwillen. Die Gegenwart ist kalt, ärmlich und entblößt, aber die Zukunft wird heiter, reich und glänzend sein. Die meisten großen Männer sind durch diese Wechselfälle hindurchgegangen, die mich drücken, aber nicht unterbekommen sollen. Plautus, ein großer komischer Dichter, war Müllersknecht, Machiavelli schrieb seinen ›Fürsten‹ nachts, nachdem er den Tag mitten unter Arbeitern zugebracht hatte. Der große Cervantes, der in der Schlacht von Lepanto mitfocht, zum Sieg dieses großen Tages beitrug und dabei den Arm verlor, wurde von den Skribenten seiner Zeit ein alter plebejischer Krüppel genannt und konnte den zweiten Teil seines herrlichen ›Don Quijote‹ erst zehn Jahre nach dem ersten herausgeben, weil er keinen Verleger fand. So steht es mit uns nicht mehr. Kummer und Elend können nur die unbekannten Talente treffen; aber wenn sie durchgedrungen sind, werden die Schriftsteller reich, und ich werde reich werden. Ich führe übrigens ein geistiges Leben, ich verbringe den halben Tag in der Bibliothek Sainte-Geneviève, wo ich mir die Bildung hole, die mir fehlt, denn ohne die werde ich nicht vorwärts kommen. Heute bin ich also beinah glücklich. In wenig Tagen habe ich mich sehr erfreulich in meine Lage gefunden. Ich widme mich vom frühen Morgen an einer Arbeit, die mir Freude macht; für die Notdurft des Lebens ist gesorgt; ich denke viel, ich studiere, ich sehe nicht, was mich jetzt noch verwundern könnte, nachdem ich der großen Welt entsagt habe, in der meine Eitelkeit jeden Augenblick gekränkt werden konnte. Die berühmten Männer einer Zeit müssen in der Einsamkeit leben. Sind sie nicht wie die Vögel des Waldes? Sie singen, sie bezaubern die Natur, und niemand soll sie gewahren. So wird es mit mir sein, wenn anders ich irgend die ehrgeizigen Entwürfe meines Geistes verwirklichen kann. Ich traure Frau von Bargeton nicht nach. Eine Frau, die sich so benimmt, verdient nicht, daß man ihrer gedenkt. Ich bedaure auch nicht, Angoulême verlassen zu haben. Diese Frau hat gut daran getan, daß sie mich nach Paris schleuderte und mich hier meiner eigenen Kraft überließ. Das ist der Ort für Schriftsteller, Denker, Dichter. Hier allein gedeiht der Ruhm, und ich kenne die schönen Früchte, die er heutzutage hervorbringt. Hier allein können die Schriftsteller in den Museen und Sammlungen die lebendigen Werke der Geister der Vergangenheit finden, die die Phantasie erwärmen und anregen. Hier allein bieten die riesigen Bibliotheken, die immer geöffnet sind, dem Geiste Nahrung und Belehrung. In Paris endlich liegt in der Luft und in den geringsten Kleinigkeiten ein Geist, der eingeatmet wird und sich in den literarischen Schöpfungen ausprägt. Man lernt in einer halben Stunde durch ein Kaffeehausgespräch oder im Theater mehr, als in der Provinz in zehn Jahren. Wahrhaftig, hier ist alles Schauspiel, dient der Vergleichung und Belehrung. Über die Maßen billig, unglaublich teuer: das ist Paris. Hier findet jede Biene ihre Wabe, jede Seele eignet sich an, was zu ihr gehört. Ich habe also in diesem Augenblick manches zu leiden, aber nichts zu bereuen. Im Gegenteil, eine schöne Zukunft tut sich vor mir auf und erquickt mein Herz, das für einen Augenblick im Schmerz untergetaucht war. Lebwohl, liebe Schwester. Erwarte nicht, regelmäßig Briefe von mir zu erhalten: es ist eine der Eigentümlichkeiten von Paris, daß man wahrhaftig nicht weiß, wie die Zeit vergeht. Das Leben verläuft hier schrecklich geschwind. Ich küsse die Mutter, David und Dich zärtlicher als je.«

Flicoteaux ist ein Name, der sich manchem Gedächtnis eingeprägt hat. Die meisten Studenten, die in den ersten zwölf Jahren der Restauration im Quartier latin gewohnt haben, wissen von diesem Tempel des Hungers und Elends. Das Mittagessen bestand aus drei Gängen und kostete mit einem Schöppchen Wein oder einer Flasche Bier achtzehn Sous, und mit einer ganzen Flasche Wein zweiundzwanzig Sous. Was diesen Freund der Jugend ohne Zweifel gehindert hat, ein großes Vermögen zu erwerben, war ein Artikel seines Programms, der in großen Buchstaben auf seinen Plakaten zu lesen war und also lautete: »Brot kostet nichts!« was natürlich den Wirt sehr viel kostete. Viele berühmte Leute haben Flicoteaux zum Nährvater gehabt. Gewiß hat das Herz von mehr als einem berühmten Mann die Freuden von tausend unsagbaren Erinnerungen gekostet, wenn er die Front dieses Hauses mit den kleinen Fenstern an der Place de la Sorbonne und der Rue Neuve-de-Richelieu wiedersah, die Flicoteaux II und III noch bis zu den Julitagen im alten Stand gelassen hatten: sie wies noch die braune Farbe auf, das ganze alte respektable Aussehen, das eine tiefe Verachtung gegen das schwindelhafte Äußere an den Tag legte, während heutzutage fast alle Restaurateure aus ihrem Haus diese Art Annonce für die Augen auf Kosten des Magens machen. An Stelle des Haufens ausgestopften Wildbrets, das dazu bestimmt ist, nicht gekocht zu werden, an Stelle dieser absonderlichen Fische, die das Wort des Hanswursts bewahrheiten: »Ich habe einen schönen Karpfen gesehen, in acht Tagen will ich ihn kaufen«, an Stelle dieser Gerichte, die einem den Magen verderben, die in anlockenden Schaufenstern zum Genuß der Unteroffiziere und ihrer Schätze ausgestellt sind, stellte der wackere Flicoteaux Schüsseln aus, die mannigfach geflickt waren, auf denen Haufen von gekochten Pflaumen das Auge des Hungrigen erquickten, der sich darauf verlassen konnte, daß das Wort Dessert, mit dem auf andern Speisekarten so viel Mißbrauch getrieben wird, kein leerer Buchstabe ist. Die Sechspfundbrote, die in vier Stücke geschnitten auf den Tischen lagen, beruhigten hinsichtlich des versprochenen Gratisbrotes. So beschaffen war der Luxus dieses Wirtshauses, das Molière zu seiner Zeit gefeiert hätte, so drollig und bezeichnend ist der Witz, der in dem Namen Flicoteaux steckt. Flicoteaux existiert noch, er lebt so lange, wie die Studenten leben wollen. Man ißt sich dort satt, nicht mehr und nicht weniger; aber man ißt dort, wie man arbeitet, mit einer Energie, die melancholisch oder vergnügt ist, je nach Charakter oder Umständen. Dieses berühmte Wirtshaus bestand damals aus zwei langen und niedrigen rechteckigen Sälen, von denen der eine sein Licht von der Place de la Sorbonne, der andere von der Rue Neuve-de-Richelieu empfing; alle beide waren mit Tischen eingerichtet, die aus irgendeinem Klosterrefektorium zu stammen schienen, denn ihre Länge hatte etwas Mönchisches an sich, und auf den Gedecken lagen die Servietten der Abonnenten, die in numerierten Ringen aus billigem Metall steckten. Flicoteaux I wechselte seine Tischtücher nur alle Sonntage, aber Flicoteaux II hat sie, wie man sagt, zweimal in der Woche gewechselt, seit die Konkurrenz seine Dynastie bedroht hat. Dieses Restaurant ist ein Arbeitsraum mit den dazugehörigen Werkzeugen, und nicht ein Festsaal mit seiner Eleganz und seinen Vergnügungen; jeder geht schnell wieder hinaus. Alles ist in schneller Bewegung. Die Kellner eilen, ohne bummeln zu können, hin und her, sie sind alle beschäftigt, alle notwendig. Die Gerichte bieten wenig Abwechslung. Es gibt dort ewig Kartoffeln, und wenn es in ganz Irland keine Kartoffeln gäbe, und wenn sie in aller Welt fehlten, fände man sie bei Flicoteaux. Sie werden dort seit dreißig Jahren in dem blonden Ton, den Tizian so geliebt hat, auf den Tisch gestellt, sind mit gehackten Kräutern überstreut und genießen ein Vorrecht, um das sie die Frauen beneiden könnten; so wie man sie im Jahre 1814 gesehen hat, findet man sie im Jahre 1840 wieder. Hammelkoteletts oder Beefsteaks sind auf der Karte dieses Wirtshauses, was bei Véry Birkhähne oder Stör sind, nämlich außerordentliche Gerichte, die man schon vormittags bestellen muß. Das Ochsenfleisch stammt meistens von der weiblichen Linie der Familie, und der Sohn der Familie ist dort unter allen möglichen Verkleidungen zu treffen. Wenn die Merlane und die Makrelen zu den Küsten gekommen sind, sind sie auch bei Flicoteaux in Mengen zu treffen. Alles richtet sich dort nach den Launen der Jahreszeiten in Frankreich und nach den wechselnden Erträgnissen der Landwirtschaft. Man kann dort Dinge lernen, von denen die Reichen, die Müßiggänger, die Leute, die sich nichts um die Phasen der Natur kümmern, keine Ahnung haben. Der Student, der im Quartier latin haust, hat dagegen die genaueste Kenntnis der Jahreszeiten: er weiß, wann die Bohnen und die Schoten kommen, wann die ›Halle‹ mit Kohl vollgepfropft ist, er weiß, welcher Salat gerade im Überfluß vorhanden ist, und ob es wenig rote Rüben gibt. Eine alte Verleumdung, die auch in dem Augenblick, wo Lucien hinzog, noch nicht verstummt war, brachte das Auftauchen von Beefsteaks in Verbindung mit der Sterblichkeit der Pferde. Wenige Pariser Restaurants bieten ein so schönes Bild. Man findet da nur Jugend und Zuversicht, fröhlich ertragene Not, wenn schon manchmal auch leidenschaftliche und düstere, ernste und besorgte Mienen nicht fehlen. Die Kleidung wird im allgemeinen vernachlässigt. Jedoch bemerkt man auch Stammgäste, die gutgekleidet kommen. Sie wissen alle, was dieser außergewöhnliche Aufzug zu bedeuten hat: die Geliebte wird erwartet, man geht ins Theater oder macht einen Besuch in den höhern Sphären. Es haben sich dort, sagt man, Freundschaften zwischen einigen Studierenden geschlossen, die später berühmt geworden sind, wie man es übrigens auch in dieser Geschichte sehen wird. Trotzdem zeigen, mit Ausnahme der Landsleute, die zusammen am selben Tisch sitzen, die Essenden im allgemeinen einen Ernst, der schwer ins Lachen kommt, vielleicht infolge des gut christlich getauften Weins, der sich jeder Ausgelassenheit widersetzt. Die Besucher Flicoteaux' können sich an einige düstere und geheimnisvolle Personen erinnern, die in den Nebel des äußersten Elends eingehüllt waren und wohl zwei Jahre da aßen und dann wieder verschwanden, ohne daß selbst die neugierigsten Stammgäste etwas über diese dunklen Existenzen von Paris erfahren hätten. Die Freundschaften, die bei Flicoteaux begannen, wurden in den benachbarten Cafés bei der Glut eines gewürzten Punsches oder bei der Wärme einer kleinen Tasse Kaffee, der mit irgendeinem Schnaps gereicht wurde, besiegelt.

Während der ersten Tage seines Aufenthalts im Hotel de Cluny hatte Lucien, wie jeder Neuling, ein schüchternes und gesetztes Benehmen. Nach dem traurigen Scheitern des vornehmen Lebens, das sein Geld verzehrt hatte, warf er sich mit der ersten Hitze auf die Arbeit, die von den Schwierigkeiten und den Vergnügungen so schnell verscheucht wird, mit welchen Paris die höchsten und niedrigsten Existenzen anlockt und die nur mit der wilden Energie des wahren Talents oder der düstern Entschlossenheit des Ehrgeizes bezwungen werden können. Lucien begab sich schon gegen halb fünf Uhr zu Flicoteaux, nachdem er bemerkt hatte, daß es vorteilhafter war, unter den Ersten einzutreffen; es gab da noch mehr Abwechslung unter den Gerichten, und man fand noch, was man am liebsten aß. Wie jedes poetische Gemüt liebte er einen bestimmten Platz, und seine Wahl war nicht übel. Gleich am ersten Tag, als er bei Flicoteaux verkehrte, hatte er in der Nähe des Büfetts einen Tisch gesehen, an dem die Physiognomien der Essenden und ebenso die Bruchstücke von Gesprächen, die er aufschnappte, ihn Literaten vermuten ließen. Überdies sagte ihm sein Instinkt, daß er, wenn er sich in die Nähe des Büfetts setzte, in irgendeine Art Beziehung zu den Geschäftsführern des Restaurants käme. Auf die Länge der Zeit würde sich eine Bekanntschaft anbahnen, und er erlangte dann an dem Tage des finanziellen Zusammenbruchs ohne Zweifel den nötigen Kredit. Er hatte sich also an einen kleinen viereckigen Tisch neben dem Büfett gesetzt, wo er nur zwei Gedecke mit weißen Servietten ohne Ring sah, die vermutlich für Passanten bestimmt waren. Lucien gegenübersaß ein magerer, blasser junger Mann, der wahrscheinlich ebenso arm wie er selbst war und dessen schon welkes schönes Gesicht von entschwundenen Hoffnungen sprach, die auf seine Stirn Falten gebracht und in seiner Seele Furchen gelassen hatten, in denen kein Saatkorn mehr sprießen wollte. Lucien fühlte sich durch diese Anzeichen von Poesie und durch eine unwiderstehliche Sympathie zu dem Unbekannten hingezogen.

Dieser junge Mann, der erste, mit dem der Dichter aus Angoulême nach einer Woche kleiner Gefälligkeiten und gelegentlicher Worte und Bemerkungen, die sie austauschten, ins Plaudern kommen konnte, hieß Etienne Lousteau. Wie Lucien war Etienne aus der Provinz, aus einer kleinen Stadt des Berri gekommen und war seit zwei Jahren in Paris. Seine lebhaften Bewegungen, sein leuchtender Blick, seine gelegentlich schroffe Redeweise zeugten davon, daß er mit dem literarischen Leben eine bittere Bekanntschaft geschlossen hatte. Etienne war mit seiner Tragödie in der Tasche von Sancerre nach Paris gekommen; das nämliche hatte ihn angezogen, was Lucien nicht ruhen ließ: Ruhm, Macht und Geld. Dieser junge Mann, der zuerst einige Tage hintereinander da aß, kam dann nur noch hin und wieder. Als Lucien seinen Dichter, nachdem er fünf oder sechs Tage abwesend gewesen war, einmal wieder vorfand, hoffte er, ihn am nächsten Tag wiederzusehen; aber am nächsten Tag war der Platz von einem Unbekannten besetzt. Wenn junge Leute sich an einem Tage gesehen haben, wirkt das Feuer der Unterhaltung noch am nächsten Tage nach; aber diese Pausen nötigten Lucien jedesmal, das Eis von neuem zu brechen, und verzögerte so die Intimität, die während der ersten Wochen geringe Fortschritte machte. Lucien fragte die Büfettdame und erfuhr, sein künftiger Freund wäre Redakteur eines Blättchens, für das er Artikel über neue Bücher schriebe und über Stücke, die im Ambigu Comique, in der Gaieté, im Panorama Dramatique aufgeführt würden, referierte. Der junge Mann wurde mit einem Schlage in Luciens Augen eine gewichtige Person, und er nahm sich vor, die Unterhaltung mit ihm etwas freundschaftlicher zu gestalten und dies oder jenes Opfer zu bringen, um zu einem intimen Verhältnis zu kommen, das für einen Anfänger so wichtig sein konnte. Der Journalist blieb vierzehn Tage weg. Lucien wußte noch nicht, daß Etienne nur bei Flicoteaux aß, wenn er kein Geld hatte, und daß dieser Umstand ihm das düstere, enttäuschte Aussehen und die Kälte gab, der Lucien mit schmeichelndem Lächeln und freundlichen Worten begegnen wollte. Trotzdem mußte diese Verbindung reiflich überlegt werden, denn dieser unbekannte Journalist schien ein kostspieliges Leben zu führen, in dem etliche Gläschen Schnaps, Tassen Kaffee, Punschbowlen, Theatervorstellungen und Soupers eine Rolle spielten. In den ersten Tagen seines Aufenthalts im Quartier latin benahm sich nun Lucien wie ein armer Bursche, den seine erste Bekanntschaft mit dem Pariser Leben betäubt hat. Daher wagte es Lucien, nachdem er die Preise der Gerichte studiert und seine Börse gewogen hatte, nicht, die Gewohnheiten Etiennes anzunehmen, da er fürchtete, die Fehler könnten wieder beginnen, die er immer noch bereute. Er stand immer unter dem Bann der frommen Provinzgefühle, seine beiden Schutzengel David und Eva stellten sich beim kleinsten schlimmen Gedanken vor ihn hin und erinnerten ihn an die Hoffnungen, die man auf ihn setzte, an das Glück, das er seiner alten Mutter schuldig war, und an die reichen Verheißungen seines Geistes. Er verbrachte seine Vormittage auf der Bibliothek Sainte-Geneviève mit geschichtlichen Studien. Seine ersten Forschungen hatten ihn auf schreckliche Irrtümer in seinem Roman ›Der Bogenschütze Karls IX.‹ aufmerksam gemacht. Nach Schluß der Bibliothek ging er in seine feuchte, kalte Kammer, um sein Werk zu korrigieren, er unterdrückte ganze Kapitel und fügte neue hinzu. Nachdem er bei Flicoteaux gegessen hatte, begab er sich in die Passage du Commerce, las im Lesezimmer von Blosse Neuerscheinungen der Literatur, Zeitungen, Zeitschriften und Gedichtbücher, um über den Stand der geistigen Strömungen auf dem laufenden zu sein, und kehrte gegen Mitternacht in sein elendes Hotel zurück, ohne Holz oder Licht gebraucht zu haben. Diese Lektüre brachte in seinem Geiste einen solchen Umschwung hervor, daß er seine Sammlung Sonette über die Blumen, seine geliebten ›Margueriten‹ wieder vornahm und sie so radikal umarbeitete, daß keine hundert alte Verse stehen blieben. So führte also Lucien anfangs das unschuldige, reine Leben der jungen Menschen, die arm aus der Provinz kommen, die es bei Flicoteaux, wenn sie die Kneipe mit dem vergleichen, wie es im Vaterhause zuging, üppig finden, die sich auf Spaziergängen in den Alleen des Luxembourg erholen, wo sie mit scheuen Blicken und schwerem Herzen die schönen Frauen ansehen; das Leben der Jünglinge, die das Quartier latin nicht verlassen und in heiligem Eifer sich der Arbeit widmen und an ihre Zukunft denken. Aber Lucien, der zum Dichter geboren war, fühlte bald unbezwingliche Wünsche in sich aufsteigen und hatte keine Kraft mehr gegen die Verführungen der Theateranzeigen; das Théâtre Français, das Vaudeville, Les Variétés, die Opéra Comique, wo er ins Parterre ging, nahmen ihm sechzig Franken. Welcher Student konnte dem Glück widerstehen, Talma in seinen großen Rollen zu sehen? Das Theater, die erste Liebe jedes Dichtergeistes, bezauberte Lucien. Die Schauspieler und Schauspielerinnen schienen ihm verehrungswürdige Personen; er glaubte nicht an die Möglichkeit, sie anderswo als auf der Bühne, sie für traulichen Verkehr kennen lernen zu können. Diese Wesen, die ihm solche Genüsse verschafften, waren für ihn wunderbare Menschen, die von den Zeitungen wie die großen Staatsangelegenheiten behandelt wurden. Dramatischer Dichter sein, aufgeführt werden, was war das für ein entzückender Traum! Wenige Kühne, wie Casimir Delavigne, konnten ihn verwirklichen! Diese hoffnungsvollen Gedanken, diese Augenblicke des Glaubens an sich wurden von Anfällen der Verzweiflung abgelöst, und so blieb Lucien, trotz dem dumpfen Grollen mancher heißen Wünsche, auf den frommen Bahnen der Arbeit und der Sparsamkeit. Aus übergroßer Vorsicht verbot er es sich, ins Palais Royal, diese Stätte des Verderbens, zu gehen, wo er an einem einzigen Tage bei Véry fünfzig Franken und fast fünfhundert Franken für Kleidungsstücke ausgegeben hatte. Daher gestattete er sich, wenn er der Versuchung nachgab, Fleury, Talma, die beiden Baptiste oder Michot zu sehen, nur einen Platz auf der dunklen Galerie, für den man sich von halb sechs Uhr an anstellen mußte, wenn man nicht, wie die Nachzügler, an der Kasse einen Platz für zehn Sous kaufen wollte. Oft, wenn ein Student zwei Stunden gewartet hatte, wurden in das Ohr des armen Enttäuschten die Worte gerufen: »Es gibt keine Billette mehr.« Nach der Aufführung ging Lucien mit gesenkten Augen nach Hause und ließ seine Blicke nicht auf der Straße, auf der es jetzt von lebendigen Verführungen wimmelte, herumschweifen. Vielleicht stieß ihm das eine oder andere der überaus einfachen Abenteuer zu, die doch in der schüchternen Phantasie der jungen Leute eine ungeheure Rolle spielen. Als Lucien eines Tages über den niedrigen Stand seiner Gelder erschreckt war und seine Taler zählte, drängte sich ihm die Notwendigkeit auf, sich nach einem Verleger oder nach irgendwelcher bezahlten Lohnarbeit umzusehen. Der junge Journalist, den er im stillen zu seinem Freund ernannt hatte, kam nicht mehr zu Flicoteaux. Lucien wartete auf einen Zufall, der sich nicht einstellen wollte. In Paris gibt es nur für die Leute, die einen überaus großen Verkehr haben, Zufälle; die Zahl der Beziehungen vergrößert für sie die Aussichten auf Erfolg jeder Art, und auch der Zufall hält es mit den großen Bataillonen. Da Lucien noch die Vorsicht der Provinzmenschen besaß, wollte er nicht den Moment abwarten, wo er nur noch ein paar Taler besaß: er beschloß, einen Angriff auf die Verleger zu unternehmen. An einem ziemlich kühlen Septembermorgen durchschritt er mit seinen beiden Manuskripten unter dem Arm die Rue de la Harpe. Er ging bis zum Quai des Augustins und schlenderte langsam und zögernd am Ufer hin, betrachtete abwechselnd das Wasser der Seine und die Läden der Buchhändler, als wenn ein guter Geist ihm riete, sich lieber ins Wasser als in die Literatur zu werfen. Nach peinlichem Zögern, nach einer eingehenden Prüfung der mehr oder weniger angenehmen, heitern oder mürrischen Gesichter, die er durch die Scheiben oder an den Ladentüren sah, faßte er ein Haus ins Auge, vor dem eilige Ladendiener Bücher einpackten. Man war beim Expedieren, die Wände waren mit Ankündigungen bedeckt.

Zu verkaufen:

Der Einsiedler, von Vicomte d'Arlincourt, dritte Auflage. –
Léonidas, von Victor Ducange, fünf Bände in Quart, Luxusausgabe, Preis zwölf Franken. –
Moralische Schlußfolgerungen, von Kératry.

»Die sind glücklich!« rief Lucien.

Dieses Plakat, eine neue und originelle Schöpfung des berühmten Ladvocat, prangte damals zum erstenmal an den Wänden. Bald hatten die Nachahmer dieser Art Ankündigung, die eine der Quellen der öffentlichen Einnahmen wurde, Paris mit Plakaten in allen Farben überklebt. Lucien, dessen Herz schwer und bedrückt war, der noch vor kurzem in Angoulême so groß gewesen und jetzt in Paris so klein war, drückte sich endlich an den Häusern hin und nahm all seinen Mut zusammen, um in diesen Laden einzutreten, der von Gehilfen, Kunden, Buchhändlern – »und vielleicht Autoren!« dachte Lucien – wimmelte.

»Ich möchte Herrn Vidal oder Herrn Porchon sprechen«, sagte er zu einem Angestellten.

Er hatte auf dem Schild in großen Buchstaben gelesen: »Vidal & Porchon, Kommissionsbuchhändler für Frankreich und das Ausland«.

»Die Herren sind beide beschäftigt« antwortete ihm ein Gehilfe.

»Dann warte ich.«

Man ließ den Dichter im Laden, und er stöberte an den Bücherballen herum; zwei Stunden lang beschäftigte er sich damit, die Titel anzusehen, in den Büchern zu blättern und hier und da eine Seite zu lesen. Er lehnte sich schließlich an das Fenster eines Verschlags, das mit kleinen grünen Vorhängen verhüllt war und hinter dem sich seiner Vermutung nach Vidal oder Porchon aufhielten. Da hörte er das folgende Gespräch:

»Wollen Sie mir fünfhundert Exemplare abnehmen? Ich lasse sie Ihnen zu fünf Franken und gebe Ihnen 13/12.«

»Auf welchen Preis stellen sie sich denn?«

»Auf sechzehn Sous wenigstens.«

»Vier Franken vier Sous!« sagte Vidal oder Porchon zu dem, der seine Bücher anbot.

»Schön!« antwortete der Verkäufer.

»In Rechnung?« fragte der Käufer.

»Alter Schelm! und in anderthalb Jahren möchten Sie regulieren und mir Wechsel auf ein Jahr geben?«

»Nein, sofortige Regulierung«, antwortete Vidal oder Porchon.

»Mit welchem Ziel? Dreiviertel Jahr?« fragte der Buchhändler oder der Autor, der ohne Zweifel ein Buch anbot.

»Nein, mein Lieber, auf ein Jahr!« antwortete der eine der beiden Kommissionsbuchhändler.

Es trat einen Augenblick Schweigen ein.

»Sie schneiden mir den Hals ab!« rief der Unbekannte.

»Aber werden wir in einem Jahr fünfhundert Exemplare vom Léonidas untergebracht haben?« erwiderte der Kommissionär dem Verleger Victor Ducanges. »Wenn die Bücher so gingen, wie es die Verleger möchten, wären wir Millionäre, lieber Freund, aber sie gehen, wie das Publikum will. Man gibt die Romane Walter Scotts für achtzehn Sous den Band, bei Abnahme von drei Bänden das Stück für zwölf Sous, und Sie wollen, daß ich Ihre Schmöker teurer verkaufe? Wenn Sie wollen, daß ich mich für Ihre Romane interessiere, müssen Sie mir besondere Vorteile gewähren. – Vidal!«

Ein starker Mann kam hinter der Kasse hervor und ging mit der Feder hinter dem Ohr in den Verschlag.

»Wieviel Ducange hast du auf deiner letzten Reise angebracht?« fragte ihn Porchon.

»Ich habe zweihundert ›Greise von Calais‹ verklopft; aber ich habe dafür zwei andere Werke halb verschenken müssen, auf die man uns keinen so großen Rabatt gegeben hatte und die nette ›Krebse‹ geworden sind.«

Später hat Lucien erfahren, daß die Buchhändler die Bezeichnung ›Krebse‹ den Büchern geben, die in der tiefen Einsamkeit ihrer Lagerräume auf den Regalen einstauben.

»Du weißt übrigens,« fing Vidal wieder an, »daß Picard uns Romane geben will. Man verspricht uns zwanzig Prozent Rabatt auf den Buchhändlerpreis, um den Erfolg zu sichern.«

»Also gut, auf ein Jahr«, fing nun der Verleger in jämmerlichem Ton wieder an. Die letzte vertrauliche Mitteilung, die Vidal Porchon gemacht hatte, hatte ihn niedergeschmettert.

»Abgemacht?« fragte Porchon kurz und bündig den Unbekannten.

»Ja.«

Der Verleger ging. Lucien hörte, wie Porchon zu Vidal sagte: »Wir haben dreihundert Bestellungen darauf, wir werden die Regulierung hinausziehen, wir verkaufen den Léonidas für hundert Sous das Exemplar mit Sechsmonatsregulierung und ...«

»Und«, sagte Vidal, »dann haben wir fünfzehnhundert Franken gewonnen.«

»Oh, ich habe ihm angesehen, daß er in Verlegenheit ist.«

»Er ruiniert sich! Er zahlt Ducange für zweitausend Exemplare viertausend Franken.«

Lucien öffnete die kleine Tür zu diesem Verschlag und stellte Vidal.

»Meine Herren,« sagte er zu den beiden Kompagnons, »ich habe die Ehre, Sie zu begrüßen.«

Die Buchhändler dankten kaum.

»Ich bin der Verfasser eines Romans aus der französischen Geschichte, nach Art Walter Scotts, der Titel ist: ›Der Bogenschütze Karls IX.‹ Ich möchte Ihnen vorschlagen, ihn zu erwerben.«

Porchon warf einen ausdruckslosen Blick auf Lucien und legte die Feder auf das Pult. Vidal sah unsern Dichter brutal an und antwortete ihm:

»Werter Herr, wir sind keine Verleger, wir sind Kommissionäre. Wenn wir Bücher auf eigene Rechnung herausgeben, machen wir solche Geschäfte nur mit berühmten Namen. Wir kaufen übrigens nur ernsthafte Bücher, Geschichtswerke, Kompendien.«

»Aber mein Buch ist sehr ernsthaft; es handelt sich darum, den Kampf der Katholiken, die zum Absolutismus hielten, mit den Protestanten, die die Republik einführen wollten, richtig zu beleuchten.«

»Herr Vidal!« rief ein Gehilfe.

Vidal schlüpfte hinaus.

»Ihr Buch kann meinetwegen ein Meisterwerk sein,« erwiderte Porchon mit einer ziemlich unhöflichen Handbewegung, »aber wir machen unser Geschäft nur mit gedruckten Büchern. Sie müssen zu solchen gehen, die Manuskripte kaufen: Vater Doguereau, Rue du Coq, beim Louvre, ist zum Beispiel einer von denen, die in Romanen machen. Wenn Sie mit ihm fertig sind, gehen Sie zu Pollet, das ist ein Konkurrent von Doguereau.«

»Ich habe auch noch einen Band Gedichte ...«

»Herr Porchon!« rief man.

»Gedichte!« rief Porchon zornig. »Wofür halten Sie mich?« Er lachte ihm ins Gesicht und verschwand im Hintergrund seines Ladens.

Lucien wurde, als er über den Pont Neuf ging, von tausend Gedanken bestürmt. Was er von dem Rotwelsch der kaufmännischen Sprache verstanden hatte, sagte ihm, daß für diese Buchhändler die Bücher dasselbe wären, was baumwollene Mützen für Mützenhändler sind, eine Ware, die man teuer verkauft und billig einkauft.

»Ich habe mich an die falsche Adresse gewandt«, sagte er sich, aber er war doch niedergeschlagen über das brutale und materielle Aussehen, das die Literatur bekommen hatte.

In der Rue du Coq hielt er vor einem bescheidenen Laden, an dem er oft vorbeigegangen war. Auf dem Schild waren in gelben Lettern auf grünem Grund die Worte zu lesen: »Doguereau, Buchhändler«. Er erinnerte sich, diese Worte auf dem Titelblatt verschiedener Romane gefunden zu haben, die er im Lesezimmer von Blosse gelesen hatte. Er trat nicht ohne das innere Zaudern ein, das alle Phantasiemenschen empfinden, wenn sie die Gewißheit haben, vor einem Kampfe zu stehen. In dem Laden traf er einen absonderlichen alten Herrn, eins der Buchhändleroriginale aus der Kaiserzeit. Doguereau trug einen schwarzen Rock mit langen viereckigen Schößen, während es damals modern war, Fräcke mit spitzen Schößen zu tragen. Er hatte eine buntkarierte Weste aus gewöhnlichem Stoff, von der aus der Uhrtasche eine Stahlkette und ein kupferner Schlüssel auf seine bauschige schwarze Kniehose herunterhingen. Die Uhr schien so dick wie eine Zwiebel zu sein. Diese Tracht wurde von dicken, eisengrauen Wollstrümpfen und von Schuhen mit silbernen Schnallen vervollständigt. Der alte Mann trug den Kopf mit seinen grauen Haaren, die in recht poetischer Unordnung waren, unbedeckt. Vater Doguereau, wie ihn Porchon genannt hatte, erinnerte mit dem Rock, der Kniehose und den Schuhen an einen Professor, und mit der Weste, der Uhr und den Strümpfen an einen Kaufmann. Seine Physiognomie strafte diese absonderliche Verbrüderung nicht Lügen: er hatte das pedantische, doktrinäre, vergrübelte Gesicht eines Gelehrten und die lebhaften Augen, den mißtrauischen Mund, die unbestimmte Unruhe des Buchhändlers.

»Herr Doguereau?« fragte Lucien.

»So heiße ich.«

»Ich habe einen Roman geschrieben«, sagte Lucien.

»Sie sind sehr jung«, antwortete der Buchhändler.

»Aber, werter Herr, mein Alter hat nichts mit der Sache zu tun.«

»Da haben Sie recht!« sagte der alte Buchhändler und langte nach dem Manuskript. »Ei der Teufel! ›Der Bogenschütze Karls IX.‹, ein feiner Titel! Also, junger Herr, sagen Sie mir in zwei Worten, um was es sich handelt.«

»Es ist ein historisches Werk nach Art Walter Scotts. Der Kampf zwischen den Protestanten und Katholiken wird darin als Kampf zweier Regierungsformen dargestellt, in dem der Thron ernsthaft bedroht war.«

»Na ja, junger Herr, das ist schon 'ne Sache. Schön! Ich werde Ihr Werk lesen, ich verspreche es Ihnen. Ein Roman in der Art der Madame Radcliffe wäre mir lieber gewesen, aber wenn Sie geschickt arbeiten, wenn Sie ein bißchen Stil, Erfindung, Ideen, die Kunst zu spannen haben, bin ich Ihnen gern zu Diensten. Woran fehlts uns? ... an guten Manuskripten!«

»Wann kann ich wiederkommen?«

»Ich fahre heute abend aufs Land, werde übermorgen zurück sein, habe bis dahin Ihr Werk gelesen, und wenn es mir gefällt, können wir noch am selben Tag verhandeln.«

Als Lucien ihn so zugänglich fand, hatte er den üblen Einfall, das Manuskript der ›Margueriten‹ hervorzuziehen.

»Herr Doguereau, ich habe hier auch eine Sammlung Gedichte ...«

»Oh! Sie sind Lyriker! Ich will von Ihrem Roman nichts mehr wissen«, sagte der alte Herr und streckte ihm das Manuskript hin. »Die Reimschmiede verunglücken, wenn sie Prosa schreiben wollen. In der Prosa gibt es keine Flickwörter, da muß man unbedingt etwas sagen.«

»Aber, werter Herr, Walter Scott hat doch auch Verse gemacht ...«

»Da haben Sie recht«, sagte Doguereau, der schon wieder besänftigt war, überdies auch merkte, wie schlecht es dem jungen Mann ging. Er behielt das Manuskript. »Wo wohnen Sie? Ich werde Sie besuchen.«

Lucien gab seine Adresse an, ohne bei dem alten Herrn den geringsten Hintergedanken zu vermuten. Er merkte nicht, daß es sich um einen Buchhändler der alten Schule handelte, um einen Mann aus der Zeit, wo die Buchhändler den Wunsch hegten, Voltaire und Montesquieu in einer Dachkammer einschließen zu können und sie fast Hungers sterben zu lassen.

»Mein Rückweg führt mich gerade durchs Quartier latin«, sagte der alte Verleger zu ihm, nachdem er die Adresse gelesen hatte.

»Ein wackerer Herr«, dachte Lucien, als er sich von dem Buchhändler verabschiedet hatte. »Ich habe also einen Freund der Jugend gefunden, einen Kenner, der etwas versieht. Ich lasse es mir nicht nehmen, ich habe immer zu David gesagt, das Talent setzt sich in Paris leicht durch.«

Lucien ging glücklich und heiter nach Hause. Er träumte von Ruhm. Er dachte nicht mehr an die unheimlichen Worte, die ihm in dem Kontor von Vidal & Porchon ins Ohr gedrungen waren, er sah sich schon im Besitz von wenigstens zwölfhundert Franken. Für zwölfhundert Franken konnte er ein Jahr in Paris leben. Ein Jahr, in dem er neue Werke schreiben konnte. Wie viele Pläne baute er auf diese Hoffnung! Welchen süßen Träumen gab er sich hin, als er ein Leben vor sich sah, das auf die Arbeit gegründet war. Er gründete sich ein Heim, das er sich einrichtete, und es hätte wenig gefehlt, daß er nicht jetzt schon einige Anschaffungen machte. Er zügelte seine Ungeduld nur durch unausgesetztes Lesen im Lesekabinett von Blosse. Zwei Tage später kam der alte Doguereau, der von dem Stil, mit dem Lucien in seinem Erstlingswerk verschwenderisch umgegangen war, überrascht, von der Übertriebenheit der Charaktere, die im Geiste der Zeit lag, in der die Handlung spielte, entzückt, und von der wilden Phantasie, mit der ein junger Autor immer seinen ersten Plan entwirft – er war nicht verwöhnt, der Vater Doguereau –, frappiert war, er kam also in das Hotel, in dem sein Walter Scott in spe wohnte. Er war entschlossen, den ›Bogenschützen Karls IX.‹ für tausend Franken ein für allemal zu erwerben und Lucien durch einen Vertrag für künftige Werke an sich zu binden. Als der alte Fuchs das Hotel sah, überlegte er sich die Sache.

»Ein junger Mann, der hier wohnt, macht nur bescheidene Ansprüche, er liebt das Studium und die Arbeit, ich kann ihm nur achthundert Franken geben.«

Die Wirtin, die er nach Herrn Lucien von Rubempré fragte, antwortete ihm: »Im vierten Stock.«

Der Buchhändler streckte die Nase in die Höhe und nahm über dem vierten Stock nur noch den Himmel wahr.

»Der junge Herr«, dachte er sich, »ist ein hübscher Junge, er ist sogar sehr schön; wenn er zuviel Geld verdient, wird er liederlich und arbeitet nicht mehr. In unser beider Interesse werde ich ihm sechshundert Franken anbieten; aber in barem Geld, keine Wechsel.«

Er stieg die Treppe hinauf und klopfte an Luciens Tür. Lucien öffnete. Die Kammer war zum Verzweifeln kahl. Auf dem Tisch sah er eine Schale Milch und ein kleines Zweisousbrot. Diese Armut des Genies fiel dem wackern Doguereau auf.

»Möge er«, dachte er bei sich, »diese einfachen Sitten, diese frugalen Gewohnheiten, diese bescheidenen Bedürfnisse behalten.« – »Es freut mich. Sie zu sehen«, sagte er zu Lucien. »Sieh, sieh! ganz wie Jean Jacques, mit dem Sie mehr als eine Ähnlichkeit haben. In solchen Räumen brennt das Feuer des Genies, da werden die guten Bücher geschrieben. So sollten die Herren Schriftsteller leben, anstatt in den Kaffeehäusern und den Restaurants zu schlemmen, ihre Zeit, ihr Talent und unser Geld zu vergeuden.« Er setzte sich. »Junger Herr, Ihr Roman ist nicht übel. Ich war Professor der Rhetorik, ich kenne die französische Geschichte, es sind famose Sachen darin. Kurz, Sie haben eine Zukunft.«

»Ach, lieber Herr ...«

»Ja, ja, ich sage es Ihnen ja, wir können das Geschäft zusammen machen, ich kaufe Ihnen den Roman ab ...«

Luciens Herz war von heller Freude erfüllt, er bebte vor Vergnügen, er sollte in die literarische Welt eintreten, sollte endlich gedruckt werden.

»Ich kaufe ihn Ihnen für vierhundert Franken ab«, sagte Doguereau in honigsüßem Tone. Dabei blickte er Lucien auf eine Art an, die zeigen sollte, daß es sich um einen großmütigen Vorschlag handelte.

»Für den Band?« fragte Lucien.

»Für den ganzen Roman«, erwiderte Doguereau, ohne sich über die Überraschung Luciens zu wundern. »Aber«, fügte er hinzu, »in barem Geld. Sie verpflichten sich, mir sechs Jahre lang zwei solche zu liefern. Wenn der erste in einem halben Jahr vergriffen ist, zahle ich Ihnen für die folgenden sechshundert Franken. So bekommen Sie also, zwei im Jahr gerechnet, hundert Franken im Monat, haben ein gesichertes Leben und sind glücklich. Ich habe Autoren, denen ich nur dreihundert Franken für den Roman zahle. Für eine Übersetzung aus dem Englischen gebe ich zweihundert Franken. In früheren Zeiten wäre das ein unerhörter Preis gewesen.«

»Werter Herr, wir können uns nicht verständigen; bitte, geben Sie mir mein Manuskript wieder«, sagte Lucien wie zu Eis erstarrt.

»Bitte, hier!« erwiderte der alte Verleger. »Sie verstehen nichts vom Geschäft, lieber Herr. Ein Verleger, der den ersten Roman eines Autors herausgibt, riskiert sechzehnhundert Franken für Druck und Papier. Es ist leichter, einen Roman zu schreiben, als eine solche Summe zu finden. Ich habe hundert Romanmanuskripte zu Hause, aber ich habe keine hundertsechzigtausend Franken in der Kasse. O weh! so eine Summe habe ich in den zwanzig Jahren, seit ich Buchhändler bin, nicht verdient. Man erwirbt kein Vermögen, wenn man Romane druckt. Vidal & Porchon nehmen sie uns nur zu Bedingungen ab, die von Tag zu Tag drückender für uns werden. Sie riskieren Ihre Zeit, aber ich muß zweitausend Franken daranwagen. Wenn es kein Geschäft wird – denn Sie wissen ja, habent sua fata libelli –, verliere ich zweitausend Franken; Sie aber brauchen nichts weiter zu tun, als eine Ode gegen die Dummheit des Publikums herauszugeben. Denken Sie über das nach, was ich die Ehre habe, Ihnen zu sagen. Sie werden dann wieder zu mir kommen. – Sie kommen wieder!« wiederholte der Buchhändler nachdrücklich und beantwortete damit eine hochmütige Handbewegung, die Lucien nicht hatte zurückhalten können. »Sie werden nicht nur keinen Verleger finden, der zweitausend Franken für einen unbekannten jungen Menschen riskieren will, Sie finden nicht einmal einen Gehilfen, der sich die Mühe nimmt, Ihr Gekritzel zu lesen. Ich habe es gelesen und kann Ihnen mehrere Sprachschnitzer nachweisen. Sie haben ›bemerken‹ gesagt, wo es heißen müßte: ›eine Bemerkung machen‹, und haben ›trotz‹ mit dem Genitiv geschrieben: ›trotz‹ regiert den Dativ.« Lucien schien sehr geknickt. »Wenn ich Sie wiedersehe, haben Sie hundert Franken verloren,« fügte Doguereau hinzu, »ich gebe Ihnen dann nur noch hundert Taler.«

Er stand auf und grüßte, aber auf der Schwelle sagte er noch: »Wenn Sie nicht Talent und Zukunft hätten, wenn ich mich nicht für fleißige junge Leute interessierte, hätte ich Ihnen keine so guten Vorschläge gemacht. Hundert Franken im Monat! Vergessen Sie es nicht. Schließlich ist ein Roman in der Schublade nicht wie ein Pferd im Stall. Er ißt freilich kein Brot; aber er gibt auch keins!«

Lucien nahm sein Manuskript, warf es zu Boden und rief: »Ich verbrenne es lieber!«

»Sie sind ein Dichter!« erwiderte der Alte.

Lucien schlang sein Brot hinunter, trank seine Milch aus und ging fort. Sein Zimmer war nicht groß genug, er hätte sich in ihm um sich selbst gedreht, wie ein Löwe in seinem Käfig im Jardin des plantes. In der Bibliothek Sainte-Geneviève, in die Lucien gehen wollte, hatte er immer in derselben Ecke einen jungen Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren bemerkt, der mit einer Hingabe und einem Eifer arbeitete, die sich durch nichts ablenken und stören ließen und an denen die richtigen literarischen Arbeiter erkannt werden. Der junge Mann kam ohne Zweifel schon lange hin, die Angestellten und der Bibliothekar selbst erwiesen ihm Gefälligkeiten; der Bibliothekar erlaubte ihm, Bücher mitzunehmen, die der unbekannte Studierende, in dem Lucien einen Bruder im Elend und in der Hoffnung auf die Zukunft erkannte, am nächsten Tage wiederbrachte. Dieser fleißige Arbeiter war klein, mager und blaß, eine schöne Stirn war unter dichten schwarzen Haaren, die wirr darüberhingen, fast verborgen, er hatte schöne Hände und lenkte den Blick selbst der Gleichgültigen auf sich durch eine unbestimmte Ähnlichkeit, die er mit dem Porträt Bonapartes auf einem Stich nach Robert Lefèbvre hatte. Dieser Stich ist ein ganzes Gedicht voll glühender Melancholie, verhaltenem Ehrgeiz, versteckter Energie. Man betrachte es wohl: man findet darin Genie und Zurückhaltung, Zartheit und Größe. Die Augen sind geistvoll, wie Augen von Frauen. Der Blick durchdringt den Raum und verlangt nach Schwierigkeiten, die zu besiegen sind. Auch wenn der Name Bonaparte nicht unten stünde, würde man es lange betrachten. Der junge Mann, der diesem Stich so auffallend glich, trug gewöhnlich eine Strumpfhose in Schuhen mit plumpen Sohlen, einen Rock aus gewöhnlichem Tuch, eine schwarze Binde, eine graue Weste mit weißen Tupfen, die bis oben zugeknöpft war, und einen billigen Hut. Seine Verachtung gegen jede unnütze Toilette war unverkennbar. Diesen geheimnisvollen Unbekannten, der das Siegel auf der Stirne trug, das das Genie seinen Sklaven aufdrückt, traf Lucien am häufigsten von allen Stammgästen bei Flicoteaux; er aß dort, um zu leben, ohne sich um die Gerichte, mit denen er vertraut schien, weiter zu kümmern, und trank Wasser dazu. Auf der Bibliothek wie bei Flicoteaux zeigte er in allem eine Würde, die ohne Zweifel von dem Bewußtsein kam, daß sein Leben mit etwas Großem beschäftigt war, und die ihn unzugänglich machte. Sein Blick war nachdenklich. Auf seiner schönen, edel geschnittenen Stirne wohnte das Denken. Seine lebhaften schwarzen Augen, die gut und schnell sahen, sprachen von der Gewohnheit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er war sparsam in seinen Handbewegungen und bewahrte immer seine ernste Haltung. Lucien empfand unwillkürlich Respekt vor ihm. Schon mehrere Male hatten sie sich, wenn sie sich auf dem Wege zu oder von der Bibliothek oder dem Restaurant trafen, angesehen, als ob sie miteinander sprechen wollten, aber beide hatten es nicht gewagt. Der schweigsame junge Mann ging immer in den hintern Teil des Saals, dessen Fenster nach der Place de la Sorbonne gingen, und Lucien hatte also keine Gelegenheit, ihm näherzutreten, obwohl er sich zu diesem jungen Studierenden, an dem sich die undefinierbaren Anzeichen der Überlegenheit geltend machten, hingezogen fühlte. Beide waren, wie sie selbst später fanden, keusche und schüchterne Naturen, die sich all der Scheu und Zagheit überließen, die für Einsame eine notwendige und sogar angenehme Stimmung sind. Hätten sie sich nicht jetzt im Augenblick des Unheils, das Lucien zugestoßen war, plötzlich getroffen, wären sie vielleicht nie in Verbindung miteinander gekommen. Als Lucien nämlich in die Rue des Grès einbog, sah er den jungen Unbekannten, der von Sainte-Geneviève zurückkam.

»Die Bibliothek ist geschlossen, ich weiß nicht warum«, sagte er zu ihm.

In diesem Augenblick hatte Lucien Tränen in den Augen, und er dankte dem Unbekannten mit einer der Gesten, die beredter sind als die Sprache und die von Jüngling zu Jüngling sofort die Herzen öffnen. Sie gingen zusammen die Rue des Grès hinunter und wandten sich nach der Rue de la Harpe.

»Ich werde jetzt im Luxembourg spazieren gehen,« sagte Lucien, »wenn man erst ausgegangen ist, ist es nicht leicht, zum Arbeiten nach Hause zu gehen.«

»Man ist nicht mehr in seinem rechten Gedankengang«, bemerkte der Unbekannte. »Sie scheinen Kummer zu haben?«

»Ich habe eben ein seltsames Erlebnis gehabt«, sagte Lucien.

Er erzählte von seinem Besuch auf dem Kai und bei dem alten Buchhändler und von den Vorschlägen, die dieser ihm gemacht hatte, er nannte seinen Namen und fügte einige Worte über seine Lage hinzu. Seit ungefähr einem Monat hatte er sechzig Franken fürs Leben ausgegeben, dreißig Franken im Hotel, zwanzig Franken fürs Theater und zehn Franken fürs Lesekabinett, im ganzen hundertzwanzig Franken, und er hatte nur noch hundertzwanzig Franken übrig.

»Ihre Geschichte«, sagte der Unbekannte zu ihm, »ist die meine und die von tausend jungen Leuten von zwölfhundert, die jährlich aus der Provinz nach Paris kommen. Wir sind noch nicht die Unglücklichsten. Sehen Sie dieses Theater?« fragte er und wies auf den Giebel des ›Odéon‹. »Eines Tages zog in eins der Häuser, die auf dem Platze stehen, ein talentvoller Mann ein, der im tiefsten Elend war, er war, das ist eine Steigerung des Unglücks, die wir beide nicht kennen, verheiratet mit einer Frau, die er liebte; er besaß – man weiß nicht, soll mans ein Glück oder ein Unglück nennen – zwei Kinder, die Schulden fraßen ihn auf, aber er vertraute seiner Feder. Er überreichte dem Odéon ein fünfaktiges Lustspiel; es wird angenommen, es erlangt eine gute Besetzung, die Schauspieler studieren es ein, und der Direktor beschleunigt die Proben. Diese fünf Glücksfälle stellen Dramen vor, die noch schwieriger zu verwirklichen als fünf Akte zu schreiben sind. Der arme Schriftsteller, der auf einem Dachboden wohnt, den Sie von hier aus sehen können, erschöpft seine letzten Mittel, um während der Einstudierung seines Stücks leben zu können, seine Frau trägt ihre Kleider aufs Leihhaus, die Familie ißt nur Brot. Am Tage der letzten Probe, einen Tag vor der Aufführung, schuldeten sie dem Wirt, dem Bäcker, der Milchfrau, dem Portier fünfzig Franken. Der Dichter hatte das unumgänglich Notwendige behalten: einen Rock, ein Hemd, eine Hose, eine Weste und Stiefel. Er war des Erfolgs sicher, umarmte seine Frau und sagte ihr, sie stünden nun vor dem Ende ihres Elends. ›Endlich steht uns nichts mehr entgegen‹, rief er aus. – ›Es brennt,‹ sagte die Frau, ›sieh nur, das Odéon brennt!‹ Werter Herr, das Odéon brannte. Sie dürfen nicht klagen. Sie haben Kleider, Sie haben weder Frau noch Kinder, Sie haben für hundertzwanzig Franken Zufall in der Tasche und sind keinem Menschen etwas schuldig. Das Stück ist später im Théâtre Louvois hundertfünfzigmal aufgeführt worden. Der König hat dem Verfasser eine Pension bewilligt. Buffon hat gesagt: ›Das Genie ist die Geduld.‹ Die Geduld ist in der Tat das, was bei Menschen am meisten dem Verfahren gleicht, das die Natur in ihren Schöpfungen anwendet. Was ist die Kunst, werter Herr? Sie ist konzentrierte Natur.«

Die beiden jungen Leute gingen jetzt mit großen Schritten im Luxembourg hin und her. Lucien erfuhr bald den seitdem berühmt gewordenen Namen des jungen Mannes, der sich bemühte, ihn zu trösten. Es war Daniel d'Arthez, der heute einer der berühmtesten Schriftsteller unserer Zeit ist, einer der seltenen Menschen, die nach dem schönen Wort eines Dichters »ein schönes Talent und einen schönen Charakter« vereinigen.

»Man gelangt nicht billig dazu, ein großer Mann zu werden«, sagte Daniel mit seiner sanften Stimme. »Das Genie begießt seine Werke mit seinen Tränen. Das Talent ist auf geistigem Gebiet ein Geschöpf, das, wie alle lebendigen Wesen, eine Kindheit hat, die von Krankheiten nicht verschont bleibt. Die Gesellschaft stößt die unvollkommenen Talente zurück, wie die Natur die schwachen oder mißgebildeten Geschöpfe vernichtet. Wer sich über die Menschen erheben will, muß sich zu einem Kampf rüsten, darf vor keiner Schwierigkeit zurückschrecken. Ein großer Schriftsteller ist ein Märtyrer, der nicht sterben kann. Damit ist alles gesagt. Sie haben das Siegel des Genies auf der Stirn«, sagte d'Arthez zu Lucien, indem er ihn mit einem Blick umfaßte. »Wenn Sie nicht in der Brust den Willen haben, wenn Sie nicht die himmlische Geduld haben, wenn Sie nicht in dem Augenblick, wo die Launen des Geschicks Sie weit vom Ziel schleudern, wenn Sie da nicht, wie die Schildkröten, die, wo sie auch sein mögen, den Weg zu ihrem geliebten Meere einschlagen, gleich wieder unverzagt nach Ihrer Unendlichkeit streben, dann geben Sie den Kampf gleich heute auf.«

»Sie machen sich also auf Leiden gefaßt?« fragte Lucien.

»Auf Prüfungen aller Art, auf die Verleumdung, den Verrat, die Ungerechtigkeit meiner Rivalen, auf die Unverschämtheiten, die Schliche, die Geldgier der Handelsleute«, antwortete der junge Mann in resigniertem Tone. »Wenn Ihr Werk gut ist, was liegt an einer ersten Niederlage?«

»Wollen Sie es lesen und mir Ihr Urteil sagen?« fragte Lucien.

»Gern«, antwortete d'Arthez. »Ich wohne Rue des Quatre-Vents, in einem Hause, wo einer der berühmtesten Männer, einer der trefflichsten Geister unserer Zeit, eine Leuchte der Wissenschaft, Desplein, der größte Chirurg, den wir kennen, sein erstes Martyrium durchmachte und sich mit den ersten Schwierigkeiten des Lebens und des Ruhms in Paris herumschlagen mußte. Diese Erinnerung gibt mir jeden Abend die Dosis Mut, die ich jeden Morgen brauche. Ich wohne in dem Zimmer, wo er oft, wie Rousseau, aber ohne eine Therese, Brot und Kirschen gegessen hat. Kommen Sie in einer Stunde, ich werde zu Hause sein.«

Die beiden Dichter verabschiedeten sich voneinander mit einem Händedruck voll melancholischer Herzlichkeit. Lucien ging nach Hause, um sein Manuskript zu holen. Daniel d'Arthez trug seine Uhr aufs Leihhaus, um zwei Bund Holz kaufen zu können, damit er für seinen neuen Freund die Stube heizen konnte, denn es war kalt. Lucien fand sich pünktlich ein. Das Haus, in dem Daniel wohnte, war noch armseliger als sein Hotel. Man mußte erst durch einen düstern Gang hindurch, an dessen Ende die dunkle Treppe hinaufging. Das Zimmer Daniels lag im fünften Stock; es hatte zwei kleine Fenster, zwischen denen sich ein Regal aus schwarzem Holz befand, das voller Kartons stand, die mit Etiketten beklebt waren. Ein armseliges Bett aus angestrichenem Holz, das eher eine Pritsche zu nennen war, ein irgendwie aus zweiter Hand gekaufter Nachttisch und zwei Lehnstühle mit Roßhaarpolster standen im hintern Teil dieses Zimmers, dessen Tapeten vom Rauch und von der Zeit geschwärzt waren. Ein großer, mit vielen Papieren bedeckter Tisch stand zwischen dem Kamin und den beiden Fenstern. Diesem Kamin gegenüber befand sich eine elende Mahagonikommode. Ein längst abgenutzter Teppich lag über dem ganzen Fußboden. Dieser notwendige Luxus sparte das Heizen. Ein gewöhnlicher Schreibtischstuhl, dessen rotlederner Überzug vom vielen Sitzen weiß geworden war, und sechs schlechte Stühle vervollständigten die Einrichtung. Auf dem Kamin bemerkte Lucien einen alten Armleuchter, auf dem vier Wachskerzen steckten. Als Lucien fragte, warum es Wachskerzen wären, da er sonst in allen Dingen die Spuren der äußersten Armut sah, erwiderte ihm d'Arthez, der Geruch der Unschlittkerze wäre ihm unerträglich. Dieser Umstand sprach von großer Sensibilität. Die Vorlesung dauerte sieben Stunden. Daniel hörte, ohne ein Wort zu sagen oder eine Bemerkung zu machen, andächtig zu – ein Zeichen guten Tons, das man bei Zuhörern sehr selten findet.

»Nun?« fragte Lucien, während er das Manuskript auf den Kamin legte.

»Sie sind auf einem schönen und guten Wege,« antwortete der junge Mann ernst; »aber Ihr Werk muß verbessert werden. Wenn Sie nicht der Affe Walter Scotts sein wollen, müssen Sie sich eine andere Technik schaffen: Sie haben ihn nachgeahmt. Sie beginnen wie er mit langen Gesprächen, um Ihre Person einzuführen; wenn Sie geplaudert haben, gehen Sie zur Beschreibung und zur Handlung über. Das Gegeneinanderwirken der Kräfte, das jedem Werke, das dramatisch wirken soll, so notwendig ist, kommt an letzter Stelle. Sie müssen die Glieder des Verhältnisses vertauschen. Ersetzen Sie diese weitschweifigen Gespräche, die bei Scott prächtig, aber bei Ihnen farblos sind, durch Beschreibungen, für die unsere Sprache so trefflich geeignet ist. Der Dialog sollte bei Ihnen die erwartete Konsequenz sein, die Ihre Vorbereitungen krönt. Beginnen Sie gleich mit der Handlung. Fassen Sie Ihren Stoff bald von der Seite und bald von hinten an; kurz, Ihre Darstellung muß mannigfaltiger werden, und Sie dürfen nie der nämliche sein. Sie werden etwas Neues bringen, obwohl Sie die Form des dialogisierten Dramas des Schotten auf die französische Geschichte anwenden. Walter Scott ist ohne Leidenschaft, er kennt sie nicht, oder vielleicht wird sie ihm von den heuchlerischen Sitten seines Landes verboten. Für ihn ist die Frau die verkörperte Pflicht. Mit seltenen Ausnahmen sind seine Heldinnen immer dieselben, er hat, wie die Maler sagen, für sie nur ein Modell gehabt. Sie stammen alle von Clarissa Harlowe ab; er hat sie alle auf eine Idee gebracht und konnte so nur Exemplare des nämlichen Typus hinstellen, die durch ein mehr oder weniger lebhaftes Kolorit variiert sind. Die Frau trägt durch die Leidenschaft die Unordnung in die Gesellschaft. Die Leidenschaft hat unendlich viele Abstufungen. Schildern Sie doch die Leidenschaften, dann fließen Ihnen die unversiegbaren Quellen, deren sich dieser große Geist beraubt hat, um in allen Familien des prüden England gelesen zu werden. In Frankreich finden Sie in der leidenschaftlichsten Periode unserer Geschichte die reizenden Laster und die glänzenden Sitten des Katholizismus im Gegensatz zu den düstern Gestalten des Kalvinismus. Die Regierung eines jeden Königs von Karl dem Großen an erfordert mindestens einen Roman und manchmal vier oder fünf, wie zum Beispiel für Ludwig XIV., Heinrich IV. und Franz I. Auf diese Weise schreiben Sie eine malerische Geschichte Frankreichs, in der Sie die Möbel, die Häuser, die Einrichtungen, das Privatleben schildern und dabei den Geist der Zeit darstellen, anstatt daß Sie bekannte Tatsachen peinlich nacherzählen. Sie haben ein Mittel, originell zu sein, indem Sie nämlich die herkömmlichen Irrtümer, die die meisten unserer Könige entstellt darstellen, beseitigen. Wagen Sie es in Ihrem ersten Werk, die große und prächtige Gestalt der Katharina von Medici, die Sie den über sie noch im Umlauf befindlichen Vorurteilen geopfert haben, wiederherzustellen. Schildern Sie endlich Karl IX., wie er war, und nicht, wie ihn die protestantischen Schriftsteller hingestellt haben. Nach zehn Jahren ausdauernder Arbeit werden Ihnen Ruhm und Glück blühen.«

Es war jetzt neun Uhr. Lucien zeigte sich ebenso edelmütig, wie sein künftiger Freund, ohne daß er es wußte, am Vormittag gewesen war, und bot ihm an, mit ihm bei Edon zu essen, wo er zwölf Franken ausgab. Während dieses Abendessens vertraute Daniel Lucien das Geheimnis seiner Hoffnungen und seiner Studien an. D'Arthez erkannte kein außerordentliches Talent an, das nicht tiefe metaphysische Kenntnisse besaß. Er machte jetzt gerade Exzerpte aus allen philosophischen Schätzen der alten und neuen Zeit, um sie sich anzueignen. Er wollte, wie Molière, ein tiefer Philosoph sein, ehe er Komödien schrieb. Er studierte die geschriebene und die lebendige Welt, die Welt des Denkens und der Tatsachen. Er hatte gelehrte Naturforscher, junge Mediziner, politische Schriftsteller und Künstler zu Freunden, eine Gesellschaft von eifrigen, ernsthaften jungen Männern voller Zukunft. Er lebte von gewissenhaften und schlecht bezahlten Artikeln für biographische, enzyklopädische oder naturwissenschaftliche Lexika, von denen er nur so viele schrieb, als nötig war, um sein Leben zu fristen und denken zu können. D'Arthez arbeitete an einem Roman, den er nur begonnen hatte, um die Möglichkeiten der Sprache zu studieren. Dieses Buch, das noch unvollendet war und das er nach Laune vornahm oder liegen ließ, wollte er für die Tage der großen Not aufbewahren. Es war in Form eines Romans ein psychologisches Werk von großer Tragweite. Obwohl Daniel sehr bescheiden von sich und seinem Schaffen sprach, schien er Lucien ein Riese. Als sie um elf Uhr das Restaurant verließen, hatte Lucien für diese Tugend ohne Pathos, für diesen Charakter, der gar nicht wußte, wie erhaben er war, eine lebhafte Freundschaft gefaßt. Der Dichter mäkelte nicht an den Ratschlägen Daniels, er befolgte sie buchstäblich. Dieses schöne Talent, das schon durch das Nachdenken und durch eine einsiedlerische, nicht für die Öffentlichkeit, nur für ihn selbst bestimmte Kritik gereift war, hatte ihm mit einem Male das Tor zu den herrlichsten Phantasieschlössern eröffnet. Die Lippen des Provinzialen waren mit glühender Kohle berührt worden, und das Wort des Pariser Forschers fand in dem Hirn des Dichters von Angoulême einen gut vorbereiteten Boden. Lucien ging daran, sein Werk von Grund aus umzuarbeiten.

Unser großer Mann aus der Provinz, der glücklich war, in der Wüste von Paris ein Herz und ein edles Gemüt gefunden zu haben, das mit seinem harmonierte, tat, was alle jungen Leute tun, die nach Freundschaft dürsten: er klammerte sich wie eine chronische Krankheit an d'Arthez, er holte ihn ab, um mit ihm zur Bibliothek zu gehen, ging mit ihm an schönen Tagen im Luxembourg spazieren, aß mit ihm bei Flicoteaux und begleitete ihn dann jeden Abend bis zu seiner armseligen Wohnung, kurz, er drängte sich an ihn, wie ein Soldat in den eisigen Steppen Rußlands sich an seinen Nachbar drängte. Während der ersten Tage seiner Bekanntschaft mit Daniel bemerkte Lucien nicht ohne Kummer, wenn die Intimen beisammen waren, eine gewisse Verlegenheit, die durch seine Anwesenheit verursacht war. Die Unterhaltungen dieser überlegenen Männer, von denen ihm d'Arthez mit starker Begeisterung sprach, hielten sich in den Schranken einer Zurückhaltung, die zu den deutlichen Zeichen ihrer lebhaften Freundschaft nicht stimmen wollte. Lucien ging dann diskret fort, nicht ohne eine Art Schmerz über seine Verbannung und auch über die unbefriedigte Neugier, die diese Unbekannten in ihm erregten; denn alle nannten sich mit ihren Vornamen. Alle trugen wie d'Arthez auf der Stirn das Siegel des Forschungsgeistes. Nach geheimen Kämpfen, die Daniel, ohne daß es Lucien wußte, zu seinen Gunsten führen mußte, wurde er endlich würdig befunden, in diese Versammlung großer Geister aufgenommen zu werden. Lucien war von jetzt an in der Lage, diesen Personen näherzutreten, die durch die lebhaftesten Sympathien, durch den Ernst ihres geistigen Daseins miteinander verbunden waren und die sich fast jeden Abend bei d'Arthez versammelten. Alle ahnten in diesem den großen Schriftsteller: sie betrachteten ihn als ihren Führer, seitdem sie einen der außerordentlichsten Geister dieser Zeit, ein mystisches Genie, ihren früheren Führer, verloren hatten, der aus Gründen, die nicht hierher gehören, in seine Provinz zurückgekehrt war und von dem Lucien oft unter dem Namen Louis sprechen hörte. Man wird verstehen, wie diese bedeutenden Menschen das Interesse und die Neugier eines Dichters erregen mußten, wenn man sich an die unter ihnen erinnert, die seitdem, wie d'Arthez, den Vollglanz ihres Ruhmes erreicht haben; denn mehrere gingen unter.

Unter denen, die noch leben, befand sich Horace Bianchon, der damals Assistenzarzt am Hôtel-Dieu, dem größten Pariser Krankenhaus, war und seitdem eine der Leuchten der Pariser Schule und zu bekannt geworden ist, als daß es nötig wäre, seine Person zu schildern oder von seinem Charakter und der Natur seines Geistes des längeren zu sprechen. Dann kam Lion Giraud, dieser tiefe Philosoph, dieser kühne Theoretiker, der alle Systeme aufrührt, sie richtet, zum Ausdruck bringt, formuliert und zu Füßen seines Abgotts, der Menschheit, schleppt: immer groß, selbst in seinen Irrtümern, die durch seinen guten Glauben geadelt werden. Dieser unermüdliche Forscher, dieser gewissenhafte Gelehrte ist das Haupt einer moralischen und politischen Schule geworden, über deren Verdienst die Zeit allein urteilen kann. Wenn seine Überzeugungen ihm ein Schicksal in Regionen bereiteten, die denen seiner Kameraden fremd blieben, so ist er nichtsdestoweniger ihr treuer Freund geblieben. Die Kunst war durch Joseph Bridau, einen der besten Maler der jungen Schule, vertreten. Wenn das geheime Unglück nicht wäre, zu dem ihn eine zu eindrucksfähige Natur verdammt, hätte Joseph, dessen letztes Wort übrigens noch nicht gesprochen ist, ein Fortführer der großen Meister der italienischen Schule werden können: er hat die Zeichnung der Römer und die Farbe der Venezianer; aber die Liebe tötet ihn und durchbohrt nicht nur sein Herz, die Liebe schleudert ihm ihre Pfeile ins Hirn, bringt sein Leben in Unordnung und veranlaßt ihn zu den absonderlichsten Querzügen. Wenn seine jeweilige Geliebte ihn zu glücklich oder zu elend macht, schickt Joseph entweder Skizzen, auf denen die Farbe die ganze Zeichnung undeutlich macht, oder Bilder zur Ausstellung, die er unter der Last der eingebildeten Schmerzen vollenden wollte und auf denen ihn die Zeichnung so vorwiegend beschäftigt hat, daß die Farbe, die er willkürlich anbringt, kaum zu erkennen ist. Er täuscht fortwährend sowohl das Publikum wie seine Freunde. Hoffmann hätte ihn wegen seiner witzigen Einfälle, die er, kühn genug, in seiner Kunst zum Ausdruck brachte, wegen seiner Launen und seiner Phantasie angebetet. Wenn er ganz er selbst ist, erntet er Bewunderung, läßt sie sich gut schmecken und ist dann verwundert, wenn er für die mißglückten Werke kein Lob erfährt, in denen die Augen seiner Seele alles sehen, was für das Auge des Publikums nicht vorhanden ist. Er ist im höchsten Maße grillenhaft, und seine Freunde haben ihn ein fertiges Bild vernichten sehen, auf dem er die Luft zu deutlich gemalt fand. »Zu fertig,« sagte er, »zu schülerhaft!« Immer originell und manchmal wundervoll, hat er das ganze Glück und das ganze Unglück nervöser Naturen, bei denen die Vollkommenheit in Krankheit ausartet. Sein Geist ist der Bruder von Sternes Geist, obwohl er sich nicht literarisch betätigt. Seine Worte, seine Einfälle sind unerhört köstlich. Er ist beredt und weiß zu lieben, aber nie ohne Launen, die er ebenso in das Empfindungsleben wie in sein Schaffen trägt. Er war dem Zirkel genau um der Eigenschaften willen lieb, die die bürgerliche Welt seine Fehler genannt hätte. Endlich war da Fulgence Ridal, einer der Schriftsteller unserer Zeit, die die seltene komische Ader haben, ein Dichter, der sich um den Ruhm nicht kümmerte und auf das Theater nur seine vulgärsten Produkte brachte, während er die entzückendsten Szenen in der Geheimkammer seines Hirns für sich selbst oder für seine Freunde bewahrte; der vom Publikum nur so viel Geld verlangte, wie er für seine Unabhängigkeit brauchte, und der nichts mehr tun wollte, sowie er es hätte. Er war faul und fruchtbar wie Rossini, war, wie die großen komischen Dichter, wie Molière und Rabelais, genötigt, alle Dinge von beiden Seiten zu betrachten, er war Skeptiker, konnte lachen und lachte über alles. Fulgence Ridal ist ein großer praktischer Philosoph. Seine Weltweisheit, seine Beobachtungsgabe, seine Verachtung des Ruhms, den er ein Possenspiel nennt, haben sein Herz durchaus nicht verkümmert. Er ist ebenso tätig für einen andern, wie er gegen seine eigenen Interessen gleichgültig ist, und wenn er sich in Bewegung setzt, geschieht es für einen Freund. Er straft sein eines Rabelais würdiges Aussehen nicht Lügen, ist durchaus kein Verächter von gutem Essen und Trinken, läuft ihm aber nicht nach; er ist zugleich melancholisch und heiter, seine Freunde nennen ihn den Regimentshund – wie die Soldaten ihren Korporal zu heißen pflegen –, und nichts schildert ihn treffender als dieser Spitzname. Drei andere, die mindestens ebenso bedeutend waren wie diese vier Freunde, deren Profil hier gezeichnet wurde, mußten hintereinander zugrunde gehen. Zuerst Meyraux, der starb, nachdem er den berühmten Streit zwischen Cuvier und Geoffroy Saint Hilaire erregt hatte, die große Frage, die die wissenschaftliche Welt zwischen diese beiden ebenbürtigen Gegnern teilen sollte. Er starb einige Monate früher, als der Mann, der für eine beschränkte und analytische Wissenschaft gegen den Pantheisten eintrat, der noch lebt und den Deutschland verehrt. Meyraux war der Freund jenes Louis, den ein allzu früher Tod der Welt der Wissenschaft bald entreißen sollte. Diesen beiden Männern, die beide vom Tod gezeichnet waren, die beide heutzutage trotz der außerordentlichen Weite ihres Wissens und ihres Geistes unbekannt sind, muß man Michel Chrestien hinzufügen, einen geistesstarken Republikaner, der von der Föderation Europas träumte und im Jahre 1830 in der geistigen Bewegung der Saint-Simonisten eine große Rolle spielte. Michel Chrestien war ein Politiker von der Kraft eines Saint Just und Danton, aber dabei schlicht und zart wie ein junges Mädchen, voller Illusionen und voller Liebe; er besaß eine melodische Stimme, die Mozart, Weber oder Rossini entzückt hätte, und hatte eine bezaubernde Art, in der Poesie, Liebe und Hoffnungsfreudigkeit lagen, gewisse Lieder Bérangers zu singen. Dabei war er arm wie Lucien, wie Daniel, wie alle seine Freunde und fristete sein Leben mit der Unbekümmertheit eines Diogenes. Er machte Inhaltsverzeichnisse für große Werke, Prospekte für die Verleger und war im übrigen über seine Anschauungen und Theorien so stumm wie ein Grab über die Geheimnisse des Todes. Dieser fröhliche Zigeuner der Intelligenz, dieser große Staatsmann, der vielleicht das Antlitz der Welt umgestaltet hätte, starb als einfacher Soldat im Kloster Saint-Merri. Die Kugel irgendeines Krämers tötete da eines der edelsten Geschöpfe, die je auf französischem Boden lebten. Michel Chrestien starb nicht für seine eigenen Anschauungen. Seine Föderation bedrohte die europäische Aristokratie viel mehr als die republikanische Propaganda; sie war rationeller und weniger toll als die schauderhaften Ideen von unbegrenzter Freiheit, die die jungen Toren verkünden, die sich als Erben des Konvents gebärden. Dieser edle Plebejer wurde von allen, die ihn kannten, betrauert; es lebt keiner von ihnen, der nicht oft an diesen unbekannten großen Politiker denkt.

Diese neun Personen bildeten zusammen einen Zirkel, in dem Achtung und Freundschaft Frieden zwischen den entgegengesetztesten Meinungen und Theorien geboten. Daniel d'Arthez, ein Edelmann aus der Pikardie, vertrat mit der gleichen Überzeugung den Monarchismus, wie Michel Chrestien seinen europäischen Föderalismus, Fulgence Nidal machte sich über die philosophischen Theorien von Léon Giraud lustig, der seinerseits d'Arthez das Ende des Christentums und der Familie voraussagte. Michel Chrestien, der an die Religion Christi, des göttlichen Gesetzgebers und Predigers der Gleichheit, glaubte, verteidigte die Unsterblichkeit der Seele gegen das Seziermesser Bianchons, der ein scharfer Kritiker par excellence war. Sie diskutierten, aber sie stritten nicht. Sie hatten keinerlei Eitelkeit, da sie selber ihre einzigen Zuhörer waren. Sie teilten einander ihre Arbeiten mit und gaben sich mit der wundervollen Loyalität der Jugend gute Ratschläge. Handelte es sich um eine ernsthafte Angelegenheit, so vertrat der Gegner seine Meinung nicht weiter, sondern ging in den Gedankengang seines Freundes ein und war um so mehr bereit, ihm zu helfen, als er in einer Sache oder einem Werke, das abseits seiner eigenen Ideen war, unparteiisch sein konnte. Fast alle besaßen einen sanften und duldsamen Geist, zwei Eigenschaften, die ihre Überlegenheit bekundeten; der Neid, diese schreckliche Zuflucht unserer getäuschten Hoffnungen, unserer verkümmerten Talente, unserer Mißerfolge, unserer gekränkten Eitelkeit, war ihnen unbekannt. Überdies gingen sie alle auf ganz verschiedenen Wegen. Daher fühlten sich auch alle, die, wie Lucien, in ihre Gesellschaft aufgenommen wurden, wohl bei ihnen. Das wahre Talent ist immer gutmütig und treuherzig, offen, ohne Pedanterie; ein spitzes Wort von ihm schmeichelt dem Geist und trifft nie die Eigenliebe. War erst einmal die Scheu, die der Respekt verursachte, überwunden, so verbrachte man entzückende Stunden mit diesen erlesenen jungen Leuten. Der trauliche Verkehr schloß nie das Bewußtsein aus, das jeder von seinem Wert hatte, jeder empfand die tiefste Achtung vor seinem Nachbar, kurz, da jeder sich imstande fühlte, seinerseits bald der Gebende, bald der Nehmende zu sein, nahmen sie ohne alle Umstände voneinander an. Die Unterhaltungen waren immer reizvoll und nie ermüdend und erstreckten sich auf die mannigfaltigsten Gegenstände. Die feingeschliffenen Worte waren leicht wie Pfeile, schwirrten schnell und gingen in die Tiefe. Die große äußere Not und dieser Glanz des geistigen Reichtums standen in einem seltsamen Gegensatz. Niemand in diesem Kreis dachte anders an die Wirklichkeiten des Lebens, als um heitern Scherz damit zu treiben. An einem Tag, wo vor der Zeit Kälte eingetreten war, waren fünf Freunde von d'Arthez, als sie zu ihm kamen, auf denselben Gedanken gekommen und brachten alle fünf unter ihrem Mantel Holz mit – wie bei den Picknicks, wo jeder ein Gericht mitbringen soll und alle eine Pastete bringen. Es eignete ihnen allen jene Schönheit des Geistes, die auf die äußeren Formen einwirkt und die nicht weniger als das Arbeiten und die Nachtwachen den jungen Gesichtern einen himmlischen Glanz verleiht; sie hatten jene ein wenig gequälten Züge, die von der Reinheit des Lebens und vom Feuer des Gedankens stammen. Sie alle hatten echte hohe Dichterstirnen. Ihre lebhaften und glänzenden Augen zeugten für ein fleckenloses Leben. Die Leiden des Elends wurden von allen so heiter ertragen und so geradezu mit Glut umfangen, daß sie an dem Frohsinn nichts änderten, der den Gesichtern der jungen Leute, die noch von ernsten Lastern frei sind, eigen ist. Sie hatten sich in keine der erbärmlichen Kompromisse eingelassen, die infolge schlecht ertragener Not, der Lust, gleichviel durch welche Mittel ans Ziel zu gelangen, und der gefälligen Nachsicht, mit der die Literaten Verrat und Schlechtigkeit aufnehmen oder verzeihen, so viele Menschen verderben. Was Freundschaften unauflöslich macht und ihren Reiz verdoppelt, ist ein Gefühl, das der Liebe fehlt: die Sicherheit. Diese jungen Leute waren sich ihrer selbst gewiß: der Feind des einen wurde der Feind aller, sie hätten ihre wichtigsten Interessen hintangesetzt, um ihrer heiligen Herzensgemeinschaft zu dienen. Keiner von ihnen war einer Erbärmlichkeit fähig, und jeder konnte jeder Anschuldigung ein gewaltiges Nein entgegensetzen und den andern zuversichtlich verteidigen. Sie waren in gleicher Weise edelmütig und besaßen die gleiche Kraft in allen Angelegenheiten des Gefühls, und so konnten sie auf dem Gebiete der Wissenschaft und der Intelligenz alles denken und einander alles sagen; daher kam die Unschuld ihres Verkehrs, die Heiterkeit ihrer Rede. Sie waren sicher, einander zu verstehen, und so konnte ihr Geist nach Belieben abschweifen; so machten sie auch keinerlei Umstände miteinander, vertrauten sich ihre Schmerzen und Freuden an und dachten und litten aus vollem Herzen. Die entzückende Zartheit, die aus der Fabel von den beiden Freunden einen Schatz für große Seelen macht, war ihnen etwas Selbstverständliches. Ihre Strenge, wenn es sich darum handelte, ob ein Neuling in ihren Kreis zugelassen werden sollte, ist begreiflich: sie hatten zu sehr das Bewußtsein ihrer Größe und ihres Glücks, als daß sie es durch die Zulassung neuer unbekannter Elemente hätten stören lassen wollen.

Dieser Bund des Gefühls und der gemeinsamen Interessen dauerte ohne Störung oder Irrung zwanzig Jahre hindurch. Der Tod allein, der ihnen Louis Lambert, Meyraux und Michel Chrestien nahm, konnte diese edle Plejade vermindern. Als im Jahre 1832 dieser Letztgenannte sein Ende fand, begaben sich Horace Bianchon, Daniel d'Arthez, Léon Giraud, Joseph Bridau und Fulgence Ridal trotz der Gefahr des Schrittes nach Saint-Merri, um dort seinen Leichnam zu holen und ihm, aller leidenschaftlichen Politik zum Trotz, die letzten Ehren zu erweisen. Sie begleiteten die geliebten Reste nachts zum Friedhof Père Lachaise. Horace Bianchon hob alle Schwierigkeiten und wich vor keiner zurück; er suchte die Minister auf und verleugnete seine alte Freundschaft für den verstorbenen Föderalisten nicht. Es war eine rührende Szene, die unaustilgbar im Gedächtnis der wenigen Freunde eingegraben ist, die zusammen mit den fünf berühmten Männern dort waren. Wer sich auf diesen eleganten Friedhof begibt, sieht dort ein Grab, das für dauernde Zeiten gekauft ist. Aus dem Rasen erhebt sich ein Kreuz aus schwarzem Holz, auf dem in roten Lettern der Name Michel Chrestien steht. Es ist das einzige Denkmal dieser Art auf diesem vornehmen Friedhof. Die fünf Freunde waren der Meinung, man müsse diesem schlichten Menschen mit solcher Schlichtheit huldigen.

In dieser kalten Mansarde verwirklichten sich also die schönsten Träume des Herzens. Da kamen Brüder zusammen, die alle auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft gleich hoch standen, belehrten sich gegenseitig voll guten Willens, sagten sich alles, selbst ihre schlechten Gedanken. Alle besaßen ein riesiges Wissen, und alle waren im Tiegel des Elends geprüft. Nachdem Lucien einmal unter diese erlesenen Personen aufgenommen und als ebenbürtig anerkannt war, vertrat er unter ihnen die Poesie und die Schönheit. Man bat ihn um ein Sonett, wie er Michel Chrestien aufforderte, ihm ein Lied zu singen. So fand Lucien in der Wüste von Paris eine Oase in der Rue des Quatre-Vents.

Anfang Oktober hatte Lucien sein letztes Geld dazu verwandt, sich etwas Holz zu verschaffen, und stand nun inmitten der eifrigsten Arbeit an der Umgestaltung seines Werkes mittellos da. Daniel d'Arthez heizte mit Torf und ertrug heldenhaft seine Not: er klagte nicht, er hielt Ordnung wie eine alte Jungfer und glich einem Geizigen, so verstand er sich aufs Einteilen. Dieser Mut feuerte Lucien an, der als Neuling in dem Zirkel eine unüberwindliche Abneigung dagegen hatte, von seinem Elend zu sprechen. Eines Morgens ging er in die Rue du Coq, um Doguerau seinen ›Bogenschützen Karls IX.‹ zu verkaufen, traf ihn aber nicht an. Lucien wußte nicht, wieviel Nachsicht die großen Geister haben. Jeder seiner Freunde hatte Verständnis für die Schwächen, die den Dichtern eigen sind, für die Depressionen, die dem Aufschwung einer Seele folgen, die durch die Betrachtung der Natur, welche zu reproduzieren ihre Aufgabe, überreizt ist. Diese Männer, die in ihren eigenen Leiden so stark waren, waren sehr empfindlich angesichts der Schmerzen Luciens. Sie hatten seinen Geldmangel gemerkt. Der Zirkel krönte also seine Abende, die so schön mit Plaudereien, mit tiefen Betrachtungen, mit Poesie und trauten Bekenntnissen, mit Adlerflügen in die Gefilde des Geistes, in die Zukunft der Völker, in die Gebiete der Geschichte gefüllt waren, mit einem Zug, der bewies, wie schlecht Lucien seine neuen Freunde gekannt hatte.

»Lucien, mein Freund,« sagte Daniel zu ihm, »du bist gestern nicht zu Flicoteaux zum Essen gekommen, und wir wissen warum.«

Lucien konnte die Tränen, die ihm über die Wangen rollten, nicht zurückhalten.

»Es hat dir an Vertrauen zu uns gefehlt,« sagte Michel Chrestien zu ihm; »wir werden ein Kreuz auf den Kamin machen, und wenn wir zu zehnt sind ...«

»Wir haben alle«, unterbrach Bianchon, »irgendeine außergewöhnliche Arbeit gefunden: ich habe auf Rechnung Despleins einen reichen Kranken gepflegt; d'Arthez hat einen Artikel für die Revue Encyclopédique geschrieben; Chrestien wollte eines Abends in den Champs Elysées als Bänkelsänger auftreten, aber er hat eine Broschüre für jemanden zu schreiben bekommen, der ein Politiker werden will, und hat ihm für sechshundert Franken Machiavelli geliefert; Léon Giraud hat bei seinem Verleger fünfzig Franken Vorschuß bekommen; Joseph hat Skizzen verkauft, und Fulgence hat am Montag sein Stück aufführen lassen und hat ein volles Haus gehabt.«

»Hier sind zweihundert Franken,« sagte Daniel, »nimm sie, und tu's nicht wieder.«

»Was nicht gar: will er uns auch noch umarmen, als ob wir etwas Besonderes getan hätten«, sagte Chrestien.

Damit wir verstehen, welche Wonnen Lucien im Kreise dieser lebendigen Enzyklopädie herrlicher Geister kostete, in der Mitte dieser jungen Männer, von denen jeder eine besondere Eigenart besaß, die er aus seiner besonderen wissenschaftlichen Tätigkeit zog, genügt es, die Antworten mitzuteilen, die Lucien am Tag darauf auf einen Brief bekam, den er an seine Familie geschrieben hatte; es war ein Meisterstück der Empfindung und des Vertrauens gewesen, ein schrecklicher Schrei, den ihm seine Not entpreßt hatte:

David Séchard an Lucien

»Lieber Lucien! Beiliegend findest Du einen Wechsel, nach neunzig Tagen zahlbar, auf Deine Order über zweihundert Franken. Du kannst ihn bei Herrn Métivier, Papierhändler, unserm Geschäftsfreund in Paris in der Rue Serpente, umsetzen. Lieber Lucien, wir haben absolut nichts. Meine Frau hat die Leitung der Druckerei übernommen und entledigt sich ihrer Aufgabe mit einer solchen Hingabe, Geduld und Energie, daß ich den Himmel segnen muß, der mir einen solchen Engel zum Weibe gegeben hat. Sie selbst hat festgestellt, daß es unmöglich für uns ist, Dir den geringsten Beistand zu leisten. Aber, mein Freund, ich sehe Dich auf einem so guten Wege, Du wirst auf ihm von so großen und edlen Seelen begleitet, daß Du, unterstützt von solchen fast göttlichen Köpfen, wie die Herren Daniel d'Arthez, Michel Chrestien und Léon Giraud, beraten von den Herren Bianchon, Meyraux und Ridal, die wir alle aus Deinem lieben Brief kennen gelernt haben, Dein schönes Ziel sicher erreichen wirst. Ohne daß es Eva weiß, habe ich also diesen Wechsel unterschrieben, den ich am Tage der Fälligkeit irgendwie hoffe einlösen zu können. Geh nicht von Deinem Wege ab: er ist rauh, aber er wird ruhmvoll sein. Ich würde lieber tausend Übel erleiden, als daß ich denken müßte, Du wärest in dem Morast von Paris versunken, in den ich so viele habe fallen sehen. Habe den Mut, wie Du es tust, die schlechten Orte, die bösen Menschen, die Leichtsinnigen und gewisse Literaten zu meiden, die ich während meines Aufenthalts in Paris ihrem wahren Wesen nach kennen gelernt habe. Kurz, sei der würdige Jünger der vortrefflichen Geister, die Du meinem Herzen nahegebracht hast. Dein Verhalten wird bald seinen Lohn finden. Leb wohl, geliebter Bruder; Du hast mir das Herz erquickt, ich hatte von Dir nicht soviel Mut erwartet.

David.«

 

Eva Séchard an Lucien

»Mein Freund! Dein Brief hat uns alle zum Weinen gebracht. Die edlen Herzen, zu denen Dich Dein guter Engel geleitet hat, sollen es wissen: eine Mutter, eine arme junge Frau beten abends und morgens für sie; und wenn die glühendsten Gebete bis zu Gottes Thron dringen können, dann wird es ihnen allen wohlergehn. Ja, lieber Bruder, ihre Namen sind in mein Herz eingegraben. Oh! ich werde sie eines Tages kennen lernen. Ich werde, und müßte ich zu Fuß gehen, ihnen für ihre Freundschaft zu Dir danken, denn sie war wie ein Balsam auf meine Wunden. Hier, mein Lieber, arbeiten wir als arme Handwerker. Mein Mann, dieser unbekannte große Mann, den ich jeden Tag mehr liebe, weil ich immer neue Schätze in seinem Herzen entdecke, vernachlässigt seine Druckerei, und ich ahne warum: Deine und unsere Not und die unserer Mutter würgen an ihm. Unser geliebter David wird, wie Prometheus, von einem Geier zerfleischt, von einem bittern Kummer mit scharfem Schnabel. An sich selbst denkt der Edle fast gar nicht, er hofft auf ein großes Vermögen. Er verbringt den ganzen Tag damit, Experimente über die Herstellung des Papiers zu machen; er hat mich gebeten, mich an seiner Stelle um die Geschäfte zu kümmern, in denen er mich unterstützt, soweit es seine Beschäftigung zuläßt. Leider, muß ich sagen, bin ich guter Hoffnung. Dieses Ereignis, das mich überglücklich gemacht hätte, betrübt mich in der Lage, in der wir uns befinden. Meine arme Mutter ist wieder jung geworden, sie hat neue Kräfte für ihren anstrengenden Beruf als Krankenpflegerin gefunden. Wenn wir keine Geldsorgen hätten, wären wir glücklich. Der alte Séchard will seinem Sohn keinen Heller geben; David war zu ihm gegangen, eine Kleinigkeit bei ihm zu borgen, um Dir helfen zu können, denn Dein Brief hatte ihn ganz verzweifelt gemacht. ›Ich kenne Lucien, er wird den Kopf verlieren und Dummheiten machen‹, sagte er. Ich habe sehr mit ihm gescholten. ›Mein Bruder sollte sich irgendwie verfehlen?‹ habe ich ihm geantwortet. ›Lucien weiß, daß ich darüber vor Kummer stürbe.‹ Mutter und ich haben, ohne daß David es ahnt, einige Sachen versetzt; Mutter wird sie wieder einlösen, sowie sie etwas Geld eingenommen hat. Wir haben auf diese Weise also hundert Franken schaffen können, die ich Dir zuschicke. Sei nicht böse darüber, daß ich auf Deinen ersten Brief nicht geantwortet habe. Unsere Lage war so, daß ich die Nächte durchwachen mußte, ich habe wie ein Mann gearbeitet. Oh! ich wußte nicht, daß ich so viel Kraft habe. Frau von Bargeton ist eine herzlose und seelenlose Frau; selbst wenn sie Dich nicht mehr liebte, war sie es sich selber schuldig, Dich zu schützen und Dir beizustehen, nachdem sie Dich aus unsern Armen gerissen und Dich in diesen entsetzlichen Ozean Paris geworfen hat, wo es des Segens Gottes bedarf, um in diesen furchtbaren Wogen von Menschen und Interessen wahre Freundschaft zu treffen. Du brauchst ihr nicht nachzutrauern. Ich hatte gewünscht, daß Du ein hingebendes weibliches Wesen, eine, die mir gleicht, für Dich fändest, aber jetzt, wo ich weiß, daß Du Freunde hast, die uns ersetzen, bin ich ruhig. Entfalte Deine Schwingen, mein Schöner, Großer, Geliebter! Du sollst unser Ruhm werden, wie Du jetzt unsere Liebe bist.

Eva.«

 

»Mein geliebtes Kind! Nach dem, was Dir Deine Schwester geschrieben hat, kann ich Dich nur segnen und Dir versichern, daß meine Gebete und meine Gedanken zum Nachteil derer, die ich um mich sehe, nur Dir geweiht sind; denn es gibt Herzen, in denen nur die Abwesenden herrschen, und so ist es mit dem Herzen

Deiner Mutter.«

So konnte also Lucien zwei Tage später seinen Freunden das Darlehn, das sie ihm so liebreich dargeboten hatten, zurückbringen. Nie vielleicht war ihm das Leben schöner erschienen, aber die Regung seiner Eigenliebe entging den scharfen Blicken und dem sensiblen Wesen seiner Freunde nicht.

»Es sieht so aus, als hättest du Angst, uns etwas schuldig zu sein«, rief Fulgence.

»Oh, das Vergnügen, das er an den Tag legt, ist in meinen Augen eine ernste Sache«, sagte Michel Chrestien; »es bestätigt, was ich schon beobachtet habe: Lucien ist eitel.«

»Er ist ein Dichter«, sagte d'Arthez. »Wollt ihr mir eines Gefühles wegen böse sein, das so natürlich ist?«

»Man muß ihm zugute halten, daß er es uns nicht verborgen hat,« sagte Léon Giraud, »er ist noch offen; aber ich fürchte, später wird er Angst vor uns haben.«

»Warum das?« fragte Lucien.

»Wir lesen in deinem Herzen«, erwiderte Joseph Bridau.

»Es lebt in dir«, sagte Michel Chrestien zu ihm, »ein teuflischer Geist, mit Hilfe dessen du in deinen eigenen Augen Dinge rechtfertigen wirst, die unsern Prinzipien ganz entgegengesetzt sind. Du wirst ein Sophist sein, nicht in deinen Ideen, aber in den Handlungen.«

»Ah! ich fürchte es auch«, sagte d'Arthez. »Lucien, du wirst in deinem Innern großartige Erwägungen anstellen, in denen du als großer Mann dastehst, und ihr Ergebnis wird ein Tun sein, das zu tadeln ist ... Du wirst nie in Übereinstimmung mit dir selbst sein.«

»Worauf stützt ihr denn eure Anklage?« fragte Lucien.

»Deine Eitelkeit, mein lieber Dichter, ist so groß, daß du sie sogar in deine Freundschaft hineinbringst«, rief Fulgence. »Alle Eitelkeit dieser Art verrät einen schrecklichen Egoismus und tötet die Freundschaft.«

»O mein Gott!« rief Lucien, »wißt ihr denn nicht, wie ich euch liebe?«

»Wenn du uns liebtest, wie wir uns untereinander, hättest du dich dann mit solchem Pathos beeilt, uns zurückzuerstatten, was wir dir mit solchem Vergnügen gegeben haben?«

»Hier wird nicht geliehen, hier wird gegeben«, sagte Joseph Bridau rauh zu ihm.

»Halte uns nicht für grausam, lieber Junge,« sagte Michel Chrestien, »wir sind nur Menschen, die voraussehen. Wir haben Angst, du könntest eines Tages die Freuden einer kleinen Rache den Freuden unserer reinen Freundschaft vorziehen. Lies den ›Tasso‹ von Goethe, das größte Werk dieses schönen Geistes, da erfährst du, daß der Dichter die glänzenden Stoffe, die Feste, die Triumphe, den schönen Schein liebt: sei du Tasso ohne seine Narrheit. Die Welt und ihre Vergnügungen rufen dich! Bleibe hier ... übertrage alles, was du an nichtigen Dingen begehrst, in den Bereich der Ideen. Muß es schon eine Narrheit sein, dann laß deine Handlungen tugendhaft und deine Ideen frevlerisch sein, anstatt, wie es dir d'Arthez voraussagte, gut zu denken und dich schlecht zu benehmen.«

Lucien ließ den Kopf hängen: seine Freunde hatten recht. »Ich gestehe, ich bin nicht so stark wie ihr«, sagte er und warf ihnen einen entzückenden Blick zu. »Ich habe nicht Hüften und Schultern, um Paris zu tragen, um tapfer zu kämpfen. Die Natur hat uns verschiedene Temperamente und Fähigkeiten gegeben, und ihr kennt besser als einer die Kehrseite der Laster und Tugenden. Ich bin schon müde, ich gestehe es euch.«

»Wir werden dich stützen,« sagte d'Arthez, »gerade dazu hat man treue Freunde.«

»Die Hilfe, die ich eben erhalten habe, reicht nicht weit, und wir sind alle miteinander gleich arm; ich werde bald wieder Not leiden. Chrestien, der sich dem ersten besten verdingen muß, hat keinen Einfluß auf Verleger. Bianchon hat nichts mit diesen Geschäften zu tun. D'Arthez kennt nur wissenschaftliche oder Spezialverleger, die mit den Herausgebern von Neuerscheinungen keine Berührung haben. Horace, Fulgence Ridal und Bridau arbeiten auf einem Gebiet, das sie meilenweit von Buchhändlern fernhält. Ich muß einen Entschluß fassen.«

»Fasse doch unsern,« sagte Bianchon, »leiden und aushalten! Tapfer leiden und unermüdlich arbeiten.«

»Aber was für euch nur Leiden ist, ist für mich Tod«, rief Lucien lebhaft.

»Ehe der Hahn dreimal kräht,« sagte Léon Giraud lächelnd, »wird der Mensch die Sache der Arbeit für die der Faulheit und der Laster von Paris verraten haben.«

»Wie weit habt ihrs mit der Arbeit gebracht?« fragte Lucien lachend.

»Wenn man von Paris nach Italien reist, findet man Rom nicht halbwegs«, erwiderte Joseph Bridau. »Für dich müßten die Erbsen fertig zubereitet und in Butter gedämpft wachsen.«

»Das tun sie nur für die Erstgebornen der Pairs von Frankreich«, sagte Michel Chrestien. »Wir andern säen sie, begießen sie, und sie schmecken uns besser.«

Die Unterhaltung wurde scherzhaft und ging auf andere Gegenstände über. Diese Männer mit scharfem Geist und zartem Empfinden bemühten sich, Lucien den kleinen Streit vergessen zu lassen. Er wußte von jetzt an, wie schwer es wäre, sie zu täuschen. Er langte bald bei einer innern Verzweiflung an, die er sorgfältig vor seinen Freunden verbarg, da er sie für unversöhnliche und gestrenge Richter hielt. Sein südländischer Geist, der die Skala der Gefühle so leicht durcheilte, brachte ihn zu den entgegengesetztesten Entschlüssen.

Mehrere Male sprach er davon, die journalistische Laufbahn einzuschlagen, und immer sagten ihm seine Freunde: »Hüte dich davor!«

»Das wäre das Grab des schönen, anmutigen Lucien, den wir lieben und kennen«, sagte d'Arthez. »Du könntest dem fortwährenden Gegensatz von Vergnügen und Arbeit im Dasein des Journalisten nicht widerstehen; und widerstehen ist die Grundlage aller Tugend. Du wärst so entzückt, Macht auszuüben über die Werke des Gedankens, Justiz zu üben, daß du in zwei Monaten Journalist wärst. Journalist sein, das heißt in der Republik der Geister Prokonsul werden. Wer alles sagen darf, gelangt dazu, alles zu tun! Diese Maxime stammt von Napoleon, und sie versteht sich von selbst.«

»Werdet denn ihr nicht bei mir sein?« fragte Lucien.

»Nein, nicht mehr«, rief Fulgence. »Wenn du Journalist bist, denkst du ebensowenig mehr an uns, wie eine glänzende und berühmte Opernsängerin in ihrem seidengefütterten Wagen an ihr Dorf, ihre Holzschuhe und ihre Kühe denkt. Du hast die Eigenschaften des Journalisten nur zu sehr: den Glanz und die Schnelligkeit des Denkens. Du wirst niemals einen witzigen Einfall unterdrücken, gleichviel ob du einem Freund damit weh tust. Ich sehe die Journalisten in den Foyers der Theater, sie sind mir grauenhaft. Der Journalismus ist eine Hölle, ein Abgrund von Ungerechtigkeit, Lüge und Verrat, den man nur durchschreiten und aus dem man nur dann hervorsteigen kann, wenn man wie Dante von dem göttlichen Lorbeer Virgils geschützt wird.«

Je mehr der Zirkel Lucien von diesem Weg abbringen wollte, um so mehr verlockte ihn seine Lust, die Gefahr kennen zu lernen, es mit ihm zu wagen; und er fing an, bei sich selbst zu erwägen: ›Wäre es nicht lächerlich, sich noch einmal vom Mangel überraschen zu lassen, ohne etwas gegen ihn getan zu haben?‹ Angesichts des Mißerfolgs seiner Schritte zur Unterbringung seines ersten Romans hatte Lucien wenig Neigung, einen zweiten zu schreiben. Wovon sollte er überdies in der Zeit, während er ihn schriebe, leben? Seinen Vorrat Geduld hatte er in dem einen Monat der Entbehrungen erschöpft. Konnte er nicht in vornehmer Weise tun, was die Journalisten gewissenlos und würdelos taten? Seine Freunde beleidigten ihn mit ihrem Mißtrauen, er wollte ihnen die Stärke seines Geistes beweisen. Vielleicht könnte er ihnen eines Tages nützlich sein, könnte der Herold ihres Ruhmes werden.

»Was ist überhaupt eine Freundschaft, die davor zurückschreckt, mit dem Freund durch dick und dünn zu gehen?« fragte er eines Abends Michel Chrestien, den er in Gesellschaft von Léon Giraud nach Hause begleitet hatte.

»Wir schrecken vor nichts zurück«, antwortete Michel Chrestien. »Wenn du das Unglück hättest, deine Geliebte zu töten, hülfe ich dir, die Spuren des Verbrechens zu verwischen, und könnte dich noch achten; aber wenn du ein Spion würdest, würde ich dich mit Schaudern fliehen, denn du wärst ein systematischer Tropf und Halunke. Da hast du mit zwei Worten den Journalismus. Die Freundschaft verzeiht den Irrtum, die unüberlegte Aufwallung der Leidenschaft; gegenüber dem Vorsatz, mit seiner Seele, seinem Geist und seinem Denken Handel zu treiben, muß sie unversöhnlich sein.«

»Kann ich nicht Journalist sein, bis ich meine Gedichtsammlung und meinen Roman verkauft habe, und dann sofort von der Zeitung fortgehen?«

»Machiavelli könnte das tun, aber nicht Lucien von Rubempré«, sagte Léon Giraud.

»Wohlan,« rief Lucien, »ich will euch beweisen, daß ich es so gut wie Machiavelli kann.«

»Oh!« rief Michel und griff nach Léons Hand, »dieses Wort war gefährlich für ihn. – Lucien,« fuhr er fort, »du hast dreihundert Franken, also so viel, daß du drei Monate bequem davon leben kannst; nun also: arbeite, schreib einen zweiten Roman, d'Arthez und Fulgence werden dir für den Stoff an die Hand gehen; du wirst in die Höhe kommen, du wirst ein guter Erzähler. Ich will mich in eins dieser Bordelle des Denkens begeben und will drei Monate lang Journalist werden; ich will deine Bücher bei einem Verleger anbringen, dessen Neuerscheinungen ich angreifen will; ich werde die Artikel schreiben, ich werde welche für dich erlangen; wir wollen den Erfolg organisieren, du wirst ein großer Mann und bleibst unser Lucien.«

»Du verachtest mich also sehr, da du glaubst, daß ich da zugrunde gehe, wo du heil davonkommst?« erwiderte der Dichter. »Verzeih ihm, mein Gott, er ist ein Kind!« rief Michel Chrestien.

Lucien hatte, nachdem sein Geist an den bisherigen Abenden bei d'Arthez in Bewegung gekommen war, die Scherze und die Artikel der kleinen Zeitungen studiert. Er war sich sicher, den witzigsten Redakteuren mindestens ebenbürtig zu sein, versuchte sich heimlich in dieser Gedankengymnastik und verließ eines Morgens mit dem triumphierenden Vorsatz das Haus, bei irgendeinem Regimentsführer dieser leichten Truppen der Presse sich anwerben zu lassen. Er warf sich in seinen feinsten Anzug und ging. Auf seinem Weg über die Brücken dachte er sich, Schriftsteller und Journalisten, kurz, seine künftigen Brüder müßten ein wenig mehr Freundlichkeit und Uneigennützigkeit haben, als die zwei Sorten Buchhändler, an denen seine Hoffnungen gescheitert waren. Er würde auf Sympathien stoßen, auf gute und freundliche Geneigheit, ähnlich der, die er im Kreise der Rue des Quatre-Vents gefunden hatte. Die erregten Stimmungen des Vorgefühls und der Ahnung, denen sich die Phantasiemenschen so gern überlassen, alles was er gehört und bekämpft hatte, stürmte auf ihn ein. So langte er in der Rue Saint-Fiacre beim Boulevard Montmartre vor dem Hause an, wo sich die Geschäftsräume des Kleinen Journals befanden. Als er davorstand, empfand er ein heftiges Beben, wie ein Jüngling, der in ein schlechtes Haus eintreten will. Trotzdem stieg er die Treppe zu den Geschäftsräumen hinauf, die im ersten Stock lagen. In dem ersten Zimmer, das durch eine zur Hälfte aus Brettern und zur Hälfte aus Gitterwerk, das bis zur Decke reichte, bestehende Scheidewand in zwei gleiche Teile getrennt war, traf er einen einarmigen Invaliden, der mit seiner einzigen Hand ein paar Stöße Papier auf dem Kopf trug und zwischen den Zähnen eine Anzahl Streifen mit Stempelmarken hatte. Dieser arme Mann, dessen Gesicht gelb und voll roter Buckel war, was ihm den Spitznamen Koloquint eingetragen hatte, wies ihm hinter dem Gitter den Zerberus der Zeitung. Es war ein pensionierter Offizier mit einem Orden. Unter seiner Nase hing ein mächtig großer Schnurrbart, er trug eine schwarzseidene Mütze auf dem Kopf und steckte, wie eine Schildkröte in ihrem Panzer, in einem weiten blauen Rock.

»Von welchem Tag an wollen Sie abonnieren?« fragte ihn der frühere kaiserliche Offizier.

»Ich komme nicht wegen eines Abonnements«, erwiderte Lucien.

Unser Dichter bemerkte jetzt über der Tür, die der, durch die er eingetreten war, gegenüberlag, einen Anschlag, auf dem die Worte standen: »Zur Redaktion«, und darunter »Verbotener Eingang«.

»Also eine Beschwerde?« fing der Soldat Napoleons wieder an. »Ja gewiß, wir sind hart gegen Mariette gewesen. Was soll ich machen? Ich weiß noch nicht einmal warum. Aber wenn Sie Rechenschaft verlangen, stehe ich zur Verfügung«, fügte er hinzu und blickte nach dem Degen und den Pistolen, die als Wahrzeichen des Rittertums unserer Zeit als dekoratives Gebinde an der Wand hingen.

»Noch weniger. Ich möchte den Chefredakteur sprechen.«

»Es ist nie jemand vor vier Uhr da.«

»Hören Sie, alter Giroudeau, es sind elf Spalten, und die machen, wenn jede zu hundert Sous gerechnet wird, fünfundfünfzig Franken; vierzig habe ich bekommen: Sie sind mir also, wie ich Ihnen sagte, noch fünfzehn schuldig ...«

Diese Worte kamen von einem Menschen mit einem kleinen schlauen Gesicht, das aussah wie das Weiße eines schlechtgekochten Eies und in dem zwei Augen lagen, die lichtblau waren, aber vor Bosheit funkelten. Es gehörte einem schlanken jungen Mann, der hinter dem undurchsichtigen Körper des alten Offiziers verborgen war. Diese Stimme machte Lucien schaudern, sie klang wie das Miauen der Katzen und das erstickte kurze Aufheulen der Hyäne.

»Ja, mein lieber Rekrut,« antwortete der pensionierte Offizier, »aber Sie zählen die Titel und die Zwischenräume mit, und ich habe Auftrag von Finot, alle Zeilen zusammenzuaddieren und sie durch die Zahl der Zeilen, die jede Spalte haben soll, zu dividieren. Nachdem ich diese Henkersarbeit an Ihrem Beitrag vorgenommen habe, kommen drei Spalten weniger heraus.«

»Er zahlt die Zwischenräume nicht, der Wucherer! und er zahlt sie seinem Sozius für seine Arbeiten fortwährend. Ich gehe zu Etienne Lousteau, zu Vernou ...«

»Ich darf nicht über die Instruktion hinausgehen, mein Lieber«, sagte der Offizier. »Wie! wegen fünfzehn Franken toben Sie gegen Ihren Ernährer, und dabei schreiben Sie Ihre Artikel so leicht, wie ich eine Zigarre rauche! Was ist dann weiter! Sie zahlen Ihren Freunden eine Punschbowle weniger, oder Sie gewinnen eine Partie Billard mehr, und alles ist gut!«

»Finot macht Ersparnisse, die ihn teuer zu stehen kommen werden«, antwortete der Mitarbeiter und ging fort.

»Sollte man nicht meinen, er sei Voltaire oder Rousseau?« sagte der Kassierer zu sich selbst und sah dabei unsern Dichter an.

»Ich werde um vier Uhr wiederkommen«, sagte Lucien.

Während der Auseinandersetzung hatte Lucien die Bildnisse von Benjamin Constant, dem General Foy, siebzehn berühmten Rednern der liberalen Partei und dazwischen wieder Karikaturen gegen die Regierung gesehen. Sein Blick war hauptsächlich gegen die Tür, die zu dem Allerheiligsten führte, gerichtet, in dem das witzige Blatt verfaßt werden mußte, das ihn alle Tage amüsierte und sich des Rechts erfreute, die Könige und die ernstesten Ereignisse lächerlich zu machen, kurz, mit einem guten Witz alles in der Welt als fragwürdig hinzustellen. Er schlenderte auf den Boulevards herum, und dieses Vergnügen, das ihm ganz neu war, fesselte ihn so, daß er die Uhren in den Uhrmacherläden vier Uhr anzeigen sah, ohne zu merken, daß er noch nichts gegessen hatte. Der Dichter kehrte schnell wieder nach der Rue Saint-Fiacre um, stieg die Treppe hinauf, öffnete die Tür, fand den alten Offizier nicht wieder vor, wohingegen der Invalide über seinem Stempelpapier saß und an einer Brotkruste nagte. Er saß mit resigniertem Gesicht auf seinem Posten, hier bei der Zeitung, wie früher im Dienst, und verstand jetzt ebensowenig, was um ihn her vorging, wie er früher die Gründe zu den vom Kaiser befohlenen Eilmärschen verstanden hatte. Lucien kam auf den kühnen Gedanken, den bedrohlichen Wächter zu täuschen; er behielt den Hut auf dem Kopf, durchschritt das Zimmer und öffnete, als wenn er zum Hause gehörte, die Tür zum Allerheiligsten. Er sah sich schnell in dem Redaktionszimmer um und gewahrte einen runden, mit grünem Tuch überzogenen Tisch und sechs Stühle aus Birkenholz mit Sitzen aus noch neuem Strohgeflecht. Der gestrichene Fußboden dieses Zimmers war nicht gebohnert, aber er war sauber, was anzeigte, daß er wenig benutzt wurde. Über dem Kamin hing ein Spiegel, den Kaminsims zierten eine kleinbürgerlich aussehende, verstaubte Standuhr und zwei Leuchter mit nachlässig hineingesteckten Kerzen; Visitenkarten waren umhergestreut. Auf dem Tisch lagen alte Zeitungen unordentlich um ein Tintenfaß herum, in dem die Tinte eingetrocknet war und wie Lack aussah, Federkiele umgaben es wie Sonnenstrahlen. Auf elenden Papierfetzen sah er Artikel, die mit unleserlicher und fast hieroglyphischer Schrift geschrieben waren; die Papiere waren oben von den Setzern der Druckerei eingerissen, die auf diese Weise die bereits erledigten Artikel bezeichnen. Dann bewunderte er hier und da Karikaturen, die recht witzig auf grauem Papier von Leuten gezeichnet waren, die ohne Zweifel versucht hatten, die Zeit totzuschlagen, indem sie ihre Hände damit beschäftigten, irgend etwas totzuschlagen. Auf der billigen grünen Tapete sah er mit Stecknadeln befestigt neun verschiedene Federzeichnungen, Karikaturen gegen den ›Einsiedler‹, ein Buch, das damals in ganz Europa einen unerhörten Erfolg gehabt hatte und dessen die Journalisten überdrüssig zu sein schienen: Der Einsiedler erscheint in der Provinz und berückt die Frauen. – Der Einsiedler wird in einem Schloß gelesen. – Wirkung des Einsiedlers auf die Haustiere. – Der Einsiedler wird den Wilden gebracht und erlangt den glänzendsten Erfolg. – Der Einsiedler wird ins Chinesische übersetzt und vom Verfasser in Peking dem Kaiser überreicht. – Am Mont Sauvage, Elodie wird vergewaltigt. Diese Karikatur schien Lucien schamlos, aber sie brachte ihn zum Lachen. – Der Einsiedler wird von den Zeitungen in feierlicher Prozession unter einem Baldachin herumgetragen. – Der Einsiedler bringt eine Druckpresse zum Explodieren und verletzt die ›Bären‹. – Von hinten gelesen, versetzt der Einsiedler die Mitglieder der Akademie durch hervorragende Schönheiten in Entzücken. – Lucien sah auf einem Zeitungsstreifband eine Zeichnung, die einen Mitarbeiter mit ausgestrecktem Hut darstellte, und darunter stand: »Finot, meine hundert Franken!« Unter diesen Worten befand sich die Unterschrift eines Mannes, der sehr bekannt geworden ist, aber niemals berühmt werden wird. Zwischen dem Kamin und dem Fenster standen ein Sekretärschreibtisch, ein Mahagonilehnstuhl und ein Papierkorb; vor dem Kamin lag ein länglicher Teppich; alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. An den Fenstern waren nur kleine Vorhänge. Auf der Sekretärplatte lagen ungefähr zwanzig Werke, die während des Tages eingegangen waren: Zeichnungen, Noten, Karikaturen auf die Charte, ein Exemplar der neunzehnten Auflage des ›Einsiedlers‹, der noch immer zu vielen Scherzen Anlaß gab, und ein Dutzend versiegelte Briefe. Als Lucien diese sonderbare Einrichtung lange genug betrachtet und allerlei hin und her überlegt hatte, ging er, als es fünf Uhr schlug, wieder zu dem Invaliden hinaus, um ihn zu fragen, wie lange es noch dauern könnte. Koloquint war mit seiner Brotkruste fertig geworden und wartete mit der Geduld einer Schildwache auf den ordengeschmückten pensionierten Offizier, der vielleicht auf dem Boulevard spazieren ging. In diesem Augenblick erschien eine weibliche Gestalt in der Tür; man hatte schon vorher das Rauschen ihres Kleides auf der Treppe und den leichten Tritt einer Frau, der so gut zu erkennen ist, gehört. Sie war recht hübsch.

»Werter Herr,« sagte sie zu Lucien, »ich weiß, warum Sie die Hüte von Fräulein Virginie so sehr loben, und ich will mich zunächst auf ein Jahr abonnieren; aber sagen Sie mir Ihre Bedingungen ...«

»Mein Fräulein, ich gehöre nicht zur Zeitung!«

»Ein Abonnement vom ersten Oktober an?« fragte der Invalide.

»Was wünscht die Dame?« fragte der alte Offizier, der eben eintrat.

Er konferierte mit der hübschen Modistin. Als Lucien, den das Warten ungeduldig machte, wieder in das erste Zimmer ging, hörte er den letzten Satz des Gesprächs:

»Aber gewiß, es wird mir sehr angenehm sein. Fräulein Florentine kann jederzeit in meinen Laden kommen und auswählen, was sie wünscht. Ich reserviere die Bänder. Also abgemacht: Sie nennen diese Virginie nicht mehr, diese Pfuscherin, die nicht imstande ist, eine Form zu erfinden; ich aber, wissen Sie, ich erfinde!«

Lucien horte eine Anzahl Taler in die Kasse fallen. Dann fing der Offizier an, sein Geld durchzuzählen.

»Sagen Sie einmal, ich warte nun seit einer Stunde«, sagte der Dichter mit recht ärgerlichem Gesicht.

»Sie sind noch nicht gekommen?« sagte der Veteran aus den napoleonischen Kriegen, und tat aus Höflichkeit, als ob er erschrecke; »das wundert mich nicht, ich habe sie schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Sie müssen bedenken, wir halten in der Mitte des Monats! Diese Schlauberger kommen nur, wenn ausgezahlt wird, vom Neunundzwanzigsten bis zum Dreißigsten.«

»Und Herr Finot?« fragte Lucien, der den Namen des Chefredakteurs behalten hatte.

»Er ist zu Hause, in der Rue Feydeau. Alter Koloquint, bring ihm alles, was gekommen ist, wenn du das Papier in die Druckerei trägst.«

»Ja, wo wird denn die Zeitung gemacht?« sagte Lucien wie im Selbstgespräch.

»Die Zeitung?« wiederholte der Angestellte, der zugleich von Koloquint das Geld in Empfang nahm, das er von den Stempelmarken herausgebracht hatte, »die Zeitung? ... hm, hm! – Alter, sei morgen um sechs Uhr in der Druckerei und sieh zu, daß die Austräger schnell auf die Straße kommen. – Die Zeitung, werter Herr, wird auf der Straße gemacht, in der Wohnung der Mitarbeiter, in der Druckerei, zwischen elf und zwölf Uhr nachts. Als wir noch den Kaiser hatten, gab es diese Anstalten für Druckerschwärze noch nicht. Ah! er hätte euch das mit vier Mann und einem Korporal ausgetrieben und hätte sich nicht, wie die jetzt, mit Phrasen dumm machen lassen. Aber genug davon. Wenn mein Neffe seine Rechnung dabei findet und man für den Abkömmling einer gewissen Familie schreibt – hm, hm! Sie wissen schon –, so ist das schließlich kein Fehler. Aber mir scheint, die Abonnenten rücken hier nicht in geschlossenen Kolonnen an, ich werde den Posten aufgeben.«

»Sie scheinen mit der Redaktion des Blattes Bescheid zu wissen?«

»In finanzieller Beziehung, hm, hm!« sagte der Offizier und räusperte sich kräftig. »Je nach dem Talent hundert Sous bis herunter zu drei Franken für die Spalte von fünfzig Zeilen à fünfzig Buchstaben, ohne Zwischenräume, da haben Sie's. Die Mitarbeiter, das sind sonderbare Käuze, so kleine junge Leute, die ich nicht einmal als Trainsoldaten hätte haben mögen! Die denken, weil sie Krähenfüße auf weißes Papier kritzeln können, sie könnten einen alten Dragonerrittmeister der Kaiserlichen Garde, einen pensionierten Bataillonschef, der mit Napoleon in allen Hauptstädten Europas einzog, über die Schulter ansehen ...«

Das Wrack aus der Napoleonszeit bürstete seinen blauen Rock aus und bekundete deutlich die Absicht, fortzugehen. Lucien, der sich so vor die Tür gesetzt sah, faßte den Mut, von seiner Absicht geradeheraus zu reden.

»Ich bin gekommen, um Mitarbeiter zu werden,« sagte er, »und ich schwöre Ihnen, daß ich vor einem Rittmeister der Kaiserlichen Garde, vor allen Männern von Erz hohe Achtung habe ...«

»Gut gesagt, junger Zivilist,« erwiderte der Offizier; »aber in welche Mitarbeiterklasse wollen Sie eintreten?« fügte der Haudegen hinzu und stieg rücksichtslos vor Lucien die Treppe hinunter. Er hielt nur an, um beim Portier seine Zigarre anzuzünden. »Wenn Abonnenten kommen, empfangen Sie sie und notieren Sie die Adresse, Mutter Chollet. – Immer Abonnenten, ich kenne nichts weiter als Abonnenten«, fuhr er, zu Lucien gewandt, fort. »Finot ist mein Neffe, der einzige in der Familie, der meine Lage erleichtert hat. Wer also mit Finot Streit anfangen will, findet den alten Giroudeau, Rittmeister bei den Gardedragonern, der als schlichter Reiter in der Armee des Sambre-et-Meuse begonnen hat und fünf Jahre Fechtmeister bei den ersten Husaren in der italienischen Armee gewesen ist! Eins, zwei, und der Kerl, der was zu klagen hat, ist ein Leichnam!« fügte er hinzu und machte eine Handbewegung, wie wenn er einen Ausfall machte. »Also, junger Herr, wir haben verschiedene Gattungen bei den Redakteuren und Mitarbeitern: da ist der eine, der redigiert und bekommt sein Gehalt, ein anderer redigiert und bekommt nichts, das nennen wir einen Volontär; endlich ist da der Redakteur, der nichts redigiert, und der ist nicht der Dümmste; er macht keine Fehler, der Herr, er gibt sich für einen Schriftsteller aus, gehört zum Blatt, zahlt uns Diners, bummelt in die Theater, hält eine Schauspielerin aus und ist sehr glücklich. Was wollen Sie werden?«

»Aber natürlich ein Redakteur, der ordentlich arbeitet und demnach auch ordentlich bezahlt wird.«

»Na, sehen Sie, Sie sind wie alle Rekruten, die gleich Marschall von Frankreich werden wollen! Glauben Sie dem alten Giroudeau, in Gliedern links schwenkt, immer langsam voran, überlegen Sie sich die Sache und lesen Sie lieber Nägel aus dem Rinnstein auf, wie der wackere Kerl da, der gedient hat, man siehts an seiner Haltung. – Ist das nicht ein Graus, daß ein alter Soldat, der sich tausendmal vor die Mündung der Kanone gestellt hat, in Paris Nägel sammeln muß? Großer Gott, du bist doch ein trauriger Kerl, du hast nicht zum Kaiser gehalten! – Sehen Sie, junger Herr, dieses Individuum, das Sie heute morgen gesehen haben, hat in diesem Monat vierzig Franken verdient. Wird es Ihnen besser gehen? Und Finot sagt, es sei der witzigste von allen seinen Mitarbeitern.«

»Hat man Ihnen, als Sie bei Sambre-et-Meuse zur Armee gingen, gesagt, es sei gefährlich?«

»Donner und Doria!«

»Nun also?«

»Nun also, suchen Sie meinen Neffen Finot auf, der ein wackerer Kerl ist, der anständigste Bursche, den Sie treffen können, wenn Sie ihn treffen, denn er tummelt sich wie ein Fisch. Sehen Sie, bei seinem Handwerk spielt das Schreiben keine Rolle, er muß nur dafür sorgen, daß die andern schreiben. Es scheint, die Halunken schmausen lieber mit Schauspielerinnen, als daß sie Papier verschmieren. Oh, das sind kuriose Käuze! Habe die Ehre, Sie zu grüßen.«

Der Kassierer setzte seinen furchtbaren, mit Blei ausgefüllten Spazierstock in Bewegung und ließ Lucien auf dem Boulevard. Er war über dies Bild einer Redaktion ebenso erstaunt wie damals über das endgültige Ergebnis in der Literatur bei Vidal & Porchon. Lucien lief zehnmal zu Andoche Finot, dem Chefredakteur des Blattes, nach der Rue Feydeau, ohne ihn ein einziges Mal anzutreffen. Am frühen Morgen war Finot noch nicht nach Hause gekommen. Mittags war er unterwegs: er frühstückte, sagte man, in dem und dem Café. Lucien ging ins Café, fragte die Büfettdame nach Finot: er war eben fortgegangen. Schließlich wurde Lucien müde, hielt Finot für eine apokryphe und fabelhafte Person und fand es einfacher, bei Flicoteaux Etienne Lousteau abzuwarten. Dieser junge Journalist würde ihm ohne Zweifel das Geheimnis erklären, das über dem Blatt, mit dem er verbunden war, waltete.

Seit dem gesegneten Tag, an dem Lucien Daniel d'Arthez kennen gelernt, hatte er bei Flicoteaux den Platz gewechselt: die beiden Freunde saßen beim Essen nebeneinander und plauderten mit leiser Stimme von hoher Literatur, von Gegenständen, die man behandeln könnte, von der Technik, mit der sie dargestellt werden müßten, wie man den Beginn und die Schürzung des Knotens machen müßte. Zurzeit war Daniel d'Arthez damit beschäftigt, das Manuskript des ›Bogenschützen Karls IX.‹ zu korrigieren; er änderte ganze Kapitel, schrieb die schönen Seiten, die darin sind, er fügte die prächtige Vorrede hinzu, die vielleicht das Beste an dem Buche ist und so viel Klarheit in die junge Literatur gebracht hat. Eines Tages, als Lucien neben Daniel saß, der auf ihn gewartet hatte und seine Hand in der seinen hielt, sah er Etienne Lousteau eben zur Tür hereinkommen. Lucien ließ die Hand Daniels plötzlich los und sagte zu dem Kellner, er wolle auf seinem alten Platz neben dem Büfett essen. D'Arthez warf Lucien einen sanft erschrockenen Blick zu, in dem die Verzeihung schon neben dem Vorwurf lag. Das traf den Dichter so stark, daß er wieder nach der Hand Daniels griff, um sie ihm noch einmal zu drücken. »Es handelt sich für mich um eine wichtige Sache, ich spreche noch mit dir darüber«, sagte er zu ihm.

Lucien war im Augenblick auf seinem alten Platz, wo Lousteau sich hinsetzte; er grüßte zuerst. Die Unterhaltung war bald im Gange und kam so schnell vorwärts, daß Lucien das Manuskript seiner ›Margueriten‹ holen ging, während Lousteau weiteraß. Er hatte die Erlaubnis erlangt, seine Sonette dem Journalisten vorlegen zu dürfen, und glaubte darauf rechnen zu können, daß er ihm bei der Suche nach einem Verleger und beim Eintritt in die Zeitung wohlwollend helfen würde. Als er wiederkam, sah Lucien in der hintern Ecke des Restaurants Daniel traurig mit aufgestütztem Kopf dasitzen und empfand seinen melancholischen Blick; aber die Angst vor der Not und der Ehrgeiz trieben ihn vorwärts, und er tat so, als ob er seinen brüderlichen Freund nicht sähe, und schloß sich Lousteau an. Gegen Abend setzten sich der Journalist und der Neuling ins Grüne, in dem Teil des Luxembourg, der von der großen Allee von der Sternwarte her zur Rue de l'Ouest führt. Diese Straße war damals eine große Pfütze, die an Brettern und Sümpfen vorbeiführte, und Häuser gab es da nur in der Gegend der Rue de Vaugirard. Die Straße war so wenig besucht, daß ein Liebespärchen in dem Augenblick, wo Paris bei Tische sitzt, sich dort streiten und das Unterpfand der Versöhnung geben konnte, ohne fürchten zu müssen, gesehen zu werden. Der einzige Störenfried konnte der Veteran sein, der an dem kleinen Tor der Rue de l'Ouest Posten stand, wenn es sich der ehrwürdige Soldat etwa einfallen ließ, die Zahl der Schritte, mit denen er immer hin und her geht, zu vergrößern. In dieser Allee, auf einer Bank zwischen zwei Linden, hörte Etienne die Sonette, die Lucien als Probe aus den ›Margueriten‹ ausgewählt hatte. Etienne Lousteau, der nach zwei Jahren Lehrlingszeit als Journalist den Fuß im Steigbügel und unter den berühmten Männern der Zeit einige Freunde hatte, war in Luciens Augen eine gewichtige Person. So hielt es unser Provinzdichter, während er in dem Manuskript der ›Margueriten‹ hin und her blätterte, für nötig, eine Art Vorrede zu halten.

»Das Sonett ist eine der schwierigsten Aufgaben der Poesie. Man hat diese kleine Dichtungsgattung recht vernachlässigt. Niemand in Frankreich hat es mit Petrarca aufnehmen können, dessen Sprache viel geschmeidiger als unsere ist, und Gedankenspiele zuläßt, die unser Positivismus – verzeihen Sie dieses Wort – zurückweist. Ich hielt es also für originell, zuerst mit einer Sammlung Sonette herauszukommen. Victor Hugo hat die Ode gewählt, Canalis vertritt die leichte Gattung, Béranger hat das Monopol für das Lied, Casimir Delavigne hat die Tragödie und Lamartine die Gedankendichtung in Besitz.«

»Gehören Sie zur klassischen oder zur romantischen Richtung?« fragte ihn Lousteau.

Die erstaunte Miene Luciens verriet eine so völlige Unkenntnis von dem Stand der Dinge in der Republik der schönen Literatur, daß Lousteau es für nötig hielt, ihn aufzuklären.

»Mein Lieber, Sie treffen zu einer Zeit ein, wo eine Schlacht im vollen Gange ist. Sie müssen sich schnell entscheiden. Die Literatur ist von Anfang an in verschiedene Zonen eingeteilt; aber unsere großen Männer sind in zwei Lager auseinandergefallen. Die Royalisten sind Romantiker, die Liberalen sind Klassiker. Die Meinungsverschiedenheit auf literarischem Gebiete kommt zu der politischen Meinungsverschiedenheit, und es ergibt sich daraus ein Krieg, der zwischen den aufsteigenden und den entthronten Berühmtheiten mit allen Waffen geführt wird, mit Strömen Tinte, mit Witzworten, die wie Dolchstiche wirken, mit scharfen Verleumdungen, mit beleidigenden Spitznamen. Grotesk und seltsam ist es dabei, daß die romantischen Royalisten literarische Freiheit und die Aufhebung der Gesetze verlangen, die unserer Literatur konventionelle Formen geben, während die Liberalen die Einheiten, den Alexandriner und das klassische Thema beibehalten wollen. Die literarischen Anschauungen widerstreiten also in jedem Lager den politischen. Wenn Sie Eklektiker sind, haben Sie keinen Menschen für sich. Auf welche Seite schlagen Sie sich?«

»Welche sind die Stärkeren?«

»Die liberalen Zeitungen haben viel mehr Abonnenten als die royalistischen und ministeriellen; trotzdem dringt Canalis durch, obwohl er monarchisch und religiös ist, obwohl er vom Hof und von der Geistlichkeit protegiert wird. – Bah! Sonett, das ist Literatur aus der Zeit vor Boileau«, sagte Etienne, als er sah, wie Lucien erschreckt war, daß er zwischen zwei Bannern wählen sollte. »Seien Sie Romantiker; die Romantiker sind junge Leute, und die Klassiker sind Perücken: die Romantiker werden siegen.«

Das Wort ›Perücke‹ war die letzte Bezeichnung, die die Journalisten der Romantiker gefunden hatten, um die Klassiker lächerlich zu machen.

»Das Maßliebchen« sagte Lucien und wählte damit das erste der beiden Sonette, die den Titel der Sammlung erklärten und als Einführung dienten:

Maßliebchen, mit den Farben so gewählt,
Ihr blüht nicht nur zu unsrer Augenweide;
Ein Wissen kündet ihr mit eurem Kleide
Von Liebesheimlichkeit, die uns verhehlt.

Das goldne Innere, das euch beseelt,
Von Silber eingefaßt, ist wie Geschmeide,
Daran der Spitzen Purpurrot vom Leide,
Wie es dem Sieg beschieden ist, erzählt.

Ist es, weil ihr an jenem Tag ersprossen.
Da Jesus, als er auferstand, ergossen
Des Himmels Seligkeit in unsre Brust –

Daß euch der Herbst noch einmal sieht erglänzen?
Im Herzen weckend, Sinnbild kurzer Lust,
Die Blütezeit von unsern zwanzig Lenzen.

Lucien war über die völlige Unbeweglichkeit Lousteaus, während er dieses Sonett hörte, betroffen; er kannte noch nicht die entmutigende Unerschütterlichkeit, die von der Gewohnheit zu kritisieren herkommt und welche die Journalisten, die der Prosa, der Dramen und der Verse überdrüssig sind, an sich haben. Der Dichter, der an Äußerungen des Beifalls gewöhnt war, unterdrückte seine Enttäuschung; er las das Sonett, das Frau von Bargeton und einige seiner Freunde aus dem Zirkel am liebsten hatten. »Das wird ihm vielleicht ein Wort entlocken«, dachte er.

                Die Marguerite

Ich bin die Marguerite, und man pries
Als schönste Blume mich im Wiesenflor;
Der Sucher, der von vielen mich erkor,
Als Zierde immer mich willkommen hieß.

Doch eine unheilvolle Gabe wies
Mir ein Verhängnis, ungeahnt zuvor:
Die Wahrheit dankt mir der verliebte Tor,
Und ich muß sterben, wenn ich sie verhieß.

Um meine Ruhe ist es nun geschehn;
Die Zukunft in zwei Worten zu gestehn,
Fall' ich der Liebe Wißbegier zum Raub.

Von meinem weißen Strahlenkranze trennt
Man Blatt um Blatt und tritt mich in den Staub,
Verächtlich, wenn man mein Geheimnis kennt.

Als er fertig war, sah der Dichter seinen Aristarch an; Etienne Lousteau sah die Bäume an.

»Nun?« fragte Lucien.

»Nun, immer weiter, mein Lieber, höre ich nicht zu? In Paris ist es ein Lob, wenn man zuhört, ohne ein Wort zu sagen.«

»Haben Sie genug?« fragte Lucien zaghaft.

»Fahren Sie fort«, antwortete der Journalist kurz und bündig.

Lucien las das folgende Sonett; aber er las es in verzweifelter Stimmung, und die unerschütterliche Kaltblütigkeit Lousteaus nahm seinem Vortrag die Wärme. Wäre er im literarischen Leben bewanderter gewesen, so hätte er gewußt, daß bei den Schriftstellern das Schweigen und die Grobheit unter solchen Umständen die Eifersucht auf ein schönes Werk verraten, ebenso wie ihre Bewunderung das Vergnügen zeigt, das ein mäßiges Werk ihnen einflößt, weil es ihrer Eigenliebe nicht weh tut.

                Die Kamelie

Aus jeder Blume redet die Natur:
Die Rose spricht von Liebe immerdar,
Des Veilchens Duft ist wie der Seele Spur,
Die Lilie leuchtet hoheitsvoll und klar.

Doch die Kamelie, Tochter der Kultur,
Duftlos und ohne Majestät, obzwar
Sie glänzt, scheint ein Symbol des Schmachtens nur
Der Jungfrauschaft, noch kalt und unfruchtbar.

Doch im Theater seh ich von Balkonen
Gern der Kamelien keusche Blütenkronen
In ihrem alabasterfarbnen Blaß

Das Haar der schönen jungen Frauen schmücken,
Die uns so eigen und so zart berücken,
Wie Marmorstatuen von Phidias.

»Was halten Sie von meinen armen Sonetten?« fragte Lucien jetzt geradeheraus.

»Wollen Sie die Wahrheit hören?« erwiderte Lousteau.

»Ich bin jung genug, um sie zu lieben, und ich habe zu sehr den Wunsch, mich durchzusetzen, um sie nicht hören zu können, ohne mich zu ärgern, aber nicht ohne zu verzweifeln«, antwortete Lucien.

»Nun also, mein Lieber: die geschraubten Ausdrücke des ersten Sonetts zeigen, daß es sich um ein Gedicht handelt, das Sie in Angoulême gemacht haben und das Ihnen ohne Zweifel so schwer fiel, daß Sie nicht gern darauf verzichten möchten, das zweite und das dritte schmecken schon nach Paris; aber lesen Sie mir noch eins!« fügte er mit einer Handbewegung hinzu, die Lucien entzückend schien.

Durch diese Aufforderung bekam Lucien Mut und las mit mehr Zuversicht das Sonett, das d'Arthez und Bridau, vielleicht wegen seines Kolorits, am liebsten hatten.

                      Die Tulpe

Man kennt mich: Holland ist mein Vaterland,
Und meine Zwiebel gilt dem geizgen Vlamen
Oftmals noch höher als ein Diamant,
Vertraut er meiner Art und meinem Namen.

Von Haltung bin ich stolz; denn mein Gewand
Zieren gemalte Wappen, wie bei Damen
Von vornehmer Geburt und hohem Stand:
Drachen, die Purpur oder Gold umrahmen.

Der Himmelsgärtner wob ein Kleid mir ganz
Aus Sonnenstrahlengold und hat noch Glanz
Dazu vom Königspurpur abgestreift.

Ich überstrahle alles um mich her:
Nur, ach! der Duft fehlt meinem Kelche, der
Wie eine Chinavase schön geschweift.

»Nun?« fragte Lucien nach einem Augenblick des Schweigens, der ihm über die Maßen lang vorkam.

»Mein Lieber,« sagte Etienne Lousteau ernst und sah dabei nach den Spitzen der Stiefel, die Lucien von Angoulême mitgebracht hatte und immer noch trug, »ich rate Ihnen, Ihre Stiefel mit Ihrer Tinte zu schwärzen, um die Wichse zu sparen; aus Ihren Federn Zahnstocher zu machen, damit Sie so aussehen, als ob Sie ein Diner eingenommen hätten, wenn Sie von Flicoteaux kommen und in der schönen Allee dieses Gartens spazieren gehen; und sich irgendeine Stelle zu suchen. Werden Sie Schreiber bei einem Gerichtsvollzieher, wenn Sie ein Herz haben; Kommis, wenn Sie Blei im Kreuz haben; oder Soldat, wenn Sie Militärmusik lieben. Sie haben das Zeug zu drei Dichtern in sich; aber ehe Sie durchgedrungen sind, können Sie sechsmal verhungert sein, wenn Sie darauf rechnen, von den Erzeugnissen Ihrer Poesie leben zu können. Nach den allzu jugendlichen Reden, die Sie führen, haben Sie die Absicht, aus Ihrem Tintenfaß Geld herauszuschlagen. Ich sage nichts gegen Ihre Gedichte, die sind viel besser als all die Gedichtbände, die auf den Regalen der Buchhändler verschimmeln. Diese eleganten Ladenhüter, die wegen ihres Velinpapiers ein wenig teurer zu stehen kommen als die andern, lassen sich fast alle an den Ufern der Seine nieder, wo Sie ihre Gesänge studieren können, wenn Sie eines Tages eine lehrreiche Wallfahrt an die Kais von Paris von der Auslage des alten Jérôme an der Notre-Dame-Brücke bis zum Pont Royal machen wollen. Sie finden da alle die »poetischen Versuche«, die »Inspirationen«, die »Flüge in die Höhe«, die »Hymnen«, die »Gesänge«, die »Balladen«, die »Oden«, kurz alles, was in sieben Jahren ausgebrütet worden ist, Dichter, die mit Staub überzogen, die von den Droschken mit Kot bespritzt und von allen Vorbeigehenden, die das Titelblatt sehen wollen, zerfetzt sind. Sie kennen keinen Menschen, Sie haben zu keinem Blatt Beziehungen: Ihre ›Margueriten‹ werden keusch in der Knospe bleiben, wie Sie sie da in der Hand halten, sie werden niemals in der Sonne der Öffentlichkeit aufsprießen, sie werden nie mit breiten Rändern und mit Blumenornamenten versehen erscheinen, wie sie der berühmte Dauriat, der Buchhändler der berühmten Dichter, herausgibt. Armer Bursche, ich bin wie Sie mit dem Herzen voller Hoffnungen hierher gekommen, auch mich hat die Liebe zur Kunst getrieben, auch mich hat es unersättlich nach dem Ruhm gedürstet: ich habe die Wirklichkeiten des Handwerks, die Schwierigkeiten des Buchhandels und das Positive des Elends gefunden. Meine wilde Begeisterung, die sich jetzt gelegt hat, und meine erste Glut verbargen mir die Maschinerie der Welt; ich habe sie inzwischen kennen gelernt, bin von allen Rädern getroffen worden, bin an die Pfosten gestoßen, habe mich am Öl schmutzig gemacht, habe das Klirren der Ketten und das Sausen der Schwungräder gehört. Sie werden wie ich die Erfahrung machen, daß sich unter all den schönen Dingen, von denen Sie träumen, Menschen, Leidenschaften und Notwendigkeiten bewegen. Sie werden sich notgedrungen auf schreckliche Kämpfe einlassen, in denen ein Werk dem andern, ein Mensch dem andern, eine Partei der andern gegenübersteht, wo es gilt, sich systematisch zu schlagen, um nicht von den Seinen im Stich gelassen zu werden. Diese niedrigen Kämpfe ernüchtern die Seele, machen das Herz schlecht und ermüden ohne allen Nutzen; denn all Ihr Bemühen dient oft nur dazu, einen Menschen zum Ruhm zu bringen, den Sie hassen, ein Talent zweiten Ranges, das Ihnen zum Trotz als Genie hingestellt wird. Das literarische Leben hat seine Kulissen. Das Parterre klatscht Beifall, gleichviel ob der Erfolg mit List erschlichen oder verdient ist; die Mittel, die immer häßlich sind, die geschminkten Statisten, die Claqueure und die Herrschaften mit den Freibilletten, all das bleibt hinter den Kulissen. Sie sind noch im Parterre; es ist noch Zeit, treten Sie zurück, bevor Sie einen Fuß auf die erste Stufe zu dem Thron setzen, den sich so viele Ehrgeizige streitig machen, und Sie entehren sich nicht, wie ich es tue, um das Leben zu fristen.« In den Augen Lousteaus standen Tränen. »Wissen Sie, wie ich lebe?« fuhr er fort, und eine Art Wut lag in seiner Stimme. »Das bißchen Geld, das mir meine Familie geben konnte, war bald verzehrt. Ich stand mittellos da, nachdem ich beim Théâtre Français ein Stück angebracht hatte. Im Théâtre Français genügt die Protektion eines Prinzen oder eines königlichen Kammerherrn nicht, um eine günstige Besetzung zu erlangen: die Schauspieler geben nur denen nach, die ihrer Eigenliebe drohen. Wenn Sie die Macht haben, es durchzusetzen, daß von dem ersten Liebhaber geschrieben wird, er leide an Asthma, von der ersten Liebhaberin, sie habe irgendwo ein Geschwür, von der Soubrette, sie rieche aus dem Mund, dann werden Sie aufgeführt. Ich weiß nicht, ob ich heute in zwei Jahren, so wie ich da vor Ihnen stehe, imstande sein werde, eine solche Macht zu erlangen: man braucht zu viele Freunde. Wo, wie und wodurch mein Brot verdienen? Diese Frage mußte ich mir vorlegen, als der Hunger näher und näher an mich herankam. Nach vielen Versuchen, nachdem ich für Doguereau einen anonymen Roman geschrieben hatte, für den er zweihundert Franken bezahlte – er hat nicht viel daran verdient –, stand es bei mir fest, daß der Journalismus einzig und allein mir Brot geben könnte. Aber wie war es möglich, in die Redaktionen einzudringen? Ich will Ihnen nicht von meinen vergeblichen Schritten und Bittgängen erzählen, auch nicht von dem halben Jahr, das ich als Volontär arbeitete, wo ich mir sagen lassen mußte, ich verscheuchte die Abonnenten, während ich sie im Gegenteil anlockte. Reden wir nicht von diesen Schändlichkeiten. Heute bespreche ich die Aufführungen der Boulevardtheater fast umsonst in dem Blatt, das Finot gehört, diesem ungeschlachten Kerl, der noch zwei- oder dreimal im Monat im Café Voltaire frühstückt – aber gehen Sie nicht hin! Finot ist Chefredakteur. Wissen Sie, wovon ich lebe? Ich verkaufe die Billette, die mir diese Theaterdirektoren geben, damit ich ihnen in der Zeitung nicht unangenehm werde, die Bücher, die mir die Verleger schicken und die ich besprechen soll. Endlich treibe ich, wenn sich erst Finot befriedigt hat, mit den Naturalien Handel, die die Industriellen uns liefern, für oder gegen die Finot mir erlaubt Artikel zu schreiben. Eine Arznei gegen Blähungen, die »Sultaninpasta«, ein Haaröl, die »brasilianische Mixtur« zahlen für ein scherzhaftes Artikelchen zwanzig oder dreißig Franken. Ich bin gezwungen, den Verleger anzukläffen, der dem Blatt wenig Exemplare gibt: die Zeitung nimmt zwei davon, die Finot verkauft, und ich bekomme zwei, die ich ebenfalls verkaufe; und wenn ein Verleger ein Meisterwerk herausbrächte, und mit den Exemplaren geizte, würde er totgeschlagen. Das ist gemein, aber ich lebe von diesem Handwerk und hundert andere wie ich! Glauben Sie aber nicht, die politische Welt wäre besser als die literarische: alles in diesen beiden Welten ist Korruption; jeder Mensch, der damit zu tun hat, korrumpiert oder wird korrumpiert. Wenn es sich um ein Verlagsunternehmen handelt, das einigermaßen bedeutend ist, dann bezahlt mich der Verleger, aus Furcht, angegriffen zu werden. Und dann stehen meine Einnahmen im Verhältnis zu den Prospekten. Wenn die Prospekte wie die Pilze aus der Erde wachsen, dann ergießt sich das Geld in Strömen in meinen Geldbeutel, und ich halte meine Freunde frei. Ist im Buchhandel nichts los, dann esse ich bei Flicoteaux. Die Schauspielerinnen zahlen auch für das Lob, aber die geschicktesten zahlen für die Kritik; was sie am meisten fürchten, ist das Totschweigen. Daher ist eine Kritik, die geeignet ist, an anderer Stelle bekämpft zu werden, mehr wert und wird höher bezahlt als ein trockenes Lob, das am nächsten Tag vergessen ist. Die Polemik, mein Lieber, ist die Grundlage der Berühmtheit. Mit diesem Handwerk des Bravos auf dem Gebiet der Ideen und des Ansehens der Gewerbetreibenden, der Literaten und Schauspieler verdiene ich monatlich fünfzig Taler, kann ich einen Roman für fünfhundert Franken verkaufen und fange an, ein gefürchteter Mann zu werden. Wenn ich nicht mehr auf Kosten eines Drogisten, der sich als Mylord aufspielt, bei Florine lebe, sondern mich selber einrichten kann; wenn ich zu einem großen Blatt komme und dort das Feuilleton redigiere, dann, mein Lieber, wird von Stund an Florine eine große Schauspielerin; und was ich alles werden kann, weiß ich nicht: Minister oder ein ehrlicher Mann, es ist noch alles möglich.« Er hob seinen gebeugten Kopf und warf einen schrecklichen Blick voller Verzweiflung und Anklage gegen die Wipfel der Bäume. »Und von mir ist eine schöne Tragödie angenommen! Und unter meinen Papieren ist eine Dichtung, die umkommen wird! Und ich war gut! Mein Herz war rein! Jetzt habe ich eine Schauspielerin vom Panorama Dramatique zur Geliebten, und früher träumte ich von den vornehmsten Frauen der großen Welt, die meine Geliebten sein sollten! Und wenn ein Verleger meinem Blatt ein Exemplar verweigert, dann mache ich ein Buch schlecht, das ich schön finde.«

Lucien war zu Tränen gerührt und drückte Etienne die Hand.

»Außerhalb der literarischen Welt,« sagte der Journalist, stand auf und wandte sich der großen Allee zu, die zur Sternwarte führt, in der die beiden Dichter, wie, um besser atmen zu können, auf und ab gingen, »außerhalb der literarischen Welt gibt es keinen Menschen, der die schreckliche Odyssee kennt, auf der man zu dem gelangt, was man, je nach den Talenten, Beliebtheit, Mode, Ansehen, Renommee, Berühmtheit, Popularität nennen muß. Das alles sind verschiedene Stufen, die zum echten, zum ganz großen Ruhme führen und ihn nie ersetzen können. Dieses glänzende geistige Phänomen setzt sich aus tausend Zufällen zusammen, die so oft wechseln, daß es kein Beispiel von zwei Menschen gibt, die sich auf demselben Wege durchgesetzt haben. Canalis und Nathan sind zwei untereinander unähnliche Beispiele, die sich nie wiederholen werden. D'Arthez, der sich mit Arbeiten halb tot macht, wird durch einen andern Zufall berühmt werden. Diese so ersehnte Berühmtheit ist fast immer eine gekrönte Prostituierte. Jawohl, für die niedrigen Literaturgattungen ist sie das arme Mädchen, das an den Straßenecken friert; für die Literatur zweiten Ranges ist sie das ausgehaltene Mädchen, das aus den schlechten Häusern des Journalismus stammt und dem ich als Zuhälter diene; für die vornehme Literatur ist sie die übermütige, glänzende Kurtisane, die ihr eigenes Haus hat, dem Staat Steuern zahlt, die großen Herren empfängt, sie gut und schlecht behandelt, die ihre eigene Livree und ihren Wagen hat und ihre wütenden Gläubiger warten lassen kann. Ah! auch für mich war sie einst, wie jetzt für Sie, ein Engel mit bunten Flügeln, in weißem Gewande, in der einen Hand einen Palmzweig, in der andern einen flammenden Degen tragend, auch für mich stammte sie einst zu gleicher Zeit von dem mythischen Gebilde, das in der Tiefe eines Brunnens lebt, und von dem tugendhaften armen Mädchen, das verstoßen in der Vorstadt wohnt, auch für mich war sie einst nur zu erlangen im Schimmer der Tugend, durch die Anstrengungen eines edlen Muts, auch für mich flog sie einst als Heilige, Unbefleckte zum Himmel zurück, oder sie starb beschimpft, zertreten, gewaltsam niedergeworfen, vergessen auf dem Armenkarren; aber diese Menschen mit erzumgürtetem Hirn, mit Herzen, die unter den Schneelasten der Erfahrung noch warm sind, sind an dem Orte, den Sie zu unsern Füßen sehen, selten.« Dabei zeigte er auf die große Stadt, die im Abendrot dalag.

Sein Zirkel aus der Rue des Quatre-Vents erschien plötzlich wie eine Vision vor Luciens Augen und bewegte seine Seele, aber er wurde von Lousteau mitgerissen, der in seiner furchtbaren Klage fortfuhr.

»Sie sind selten und dünn gesät in dieser Gärgrube, selten, wie die wahren Liebenden in der Welt, in der man liebt; selten, wie die ehrlich erworbenen Vermögen in der Finanzwelt; selten, wie ein anständiger Mensch im Journalismus. Der erste, der mir seine Erfahrungen mitgeteilt und der mir dasselbe gesagt hat, was ich jetzt Ihnen sage, hat vergebens geredet, wie ich ohne Zweifel vergebens zu Ihnen rede. Es ist immer dieselbe Glut, die in jedem Jahr eine gleiche, wenn nicht wachsende Zahl unschuldiger, unreifer Ehrgeiziger aus der Provinz hierher treibt, die sich erhobenen Hauptes und stolzen Herzens daran machen, die Dame Mode zu erringen, diese neue Prinzessin Turandot aus Tausendundein Tag, deren Prinz Kalaf jeder sein möchte. Aber keiner löst das Rätsel. Alle fallen sie in den Graben des Elends, in den Schmutz der Zeitung, in die Sümpfe der Bücherfabrikation. Wie Bettler suchen sie alles mögliche zusammen: biographische Artikel, Klatschnotizen, Pariser Neuigkeiten aus den Zeitungen oder Stoff für Bücher, die logisch denkende Händler mit gedrucktem Papier bei ihnen bestellen, die einen Schmarren, der in vierzehn Tagen abgesetzt wird, lieber haben als ein Meisterwerk, das sich langsam verkauft. Diese Raupen, die zugrunde gehen, ehe sie Schmetterlinge werden, leben von der Verleumdung und der Infamie und sind bereit, auf den Befehl eines Paschas vom ›Constitutionnel‹, der ›Quotidienne‹ oder den ›Débats‹, auf einen Wink der Verleger, auf das Ersuchen eines neidischen Kollegen, oft bloß für ein Diner, ein werdendes Talent herunterzureißen oder zu rühmen. Wer die Hindernisse alle überstiegen hat, vergißt den Jammer seines Anfangs. Ich, der ich mit Ihnen spreche, habe ein halbes Jahr lang Artikel geschrieben und habe all meinen Geist hineingelegt, und für wen? für einen Elenden, der sie für seine ausgab, der auf diese Proben hin Feuilletonredakteur geworden ist; er hat mich nicht als Mitarbeiter angenommen, er hat mir noch keine hundert Sous gegeben, und wenn ich ihn sehe, bin ich gezwungen, ihm die Hand zu reichen.«

»Und warum?« fragte Lucien stolz.

»Es kann der Fall eintreten, daß ich zehn Zeilen in seinem Feuilleton unterbringen muß«, antwortete Lousteau kalt. »Denn, mein Lieber, Arbeiten ist nicht das Geheimnis des Glücks in der Literatur, es handelt sich darum, die Arbeit der andern auszubeuten. Die Zeitungsbesitzer sind Unternehmer, wir sind Handlanger. Je mittelmäßiger ein Mensch ist, um so schneller gelangt er ans Ziel; er kann lebendige Kröten verschlucken, sich mit allem zufriedengeben, den niedrigen kleinen Gelüsten der literarischen Despoten schmeicheln, wie einer, der als Anfänger aus Limoges kam, Hector Merlin, der bereits in einer Zeitung des rechten Zentrums politische Artikel schreibt und an unserm Kleinen Journal mitarbeitet; ich habe gesehen, wie er einem Chefredakteur den Hut aufhob, der ihm heruntergefallen war. Dieser Bursche wird sich, während sich die andern Ehrgeizigen voller Neid gegenseitig bekämpfen, zwischen ihnen durchschlängeln, wird keinem etwas tun und wird ans Ziel gelangen. Ich habe Mitleid mit Ihnen. Ich sehe mich in Ihnen, wie ich gewesen bin, und ich bin sicher, in einem oder zwei Jahren sind Sie, was ich bin. Sie glauben an geheime Eifersucht, an irgendein persönliches Interesse bei diesen bittern Ratschlägen; aber sie sind von der Verzweiflung des Verdammten eingegeben, der aus der Hölle nicht mehr herauskommt. Niemand wagt zu sagen, was ich Ihnen mit dem Schmerz eines Menschen, der im Herzen getroffen ist, und wie ein zweiter Hiob auf dem Misthaufen zurufe: ›Sieh meine Geschwüre!‹«

»Gleichviel, ob auf diesem Felde oder auf einem andern, ich muß kämpfen,« sagte Lucien.

»So hören Sie es denn!« erwiderte Lousteau, »dieser Kampf wird nie zur Ruhe kommen, wenn Sie Talent haben; denn Ihre beste Chance wäre, keins zu haben. Ihr strenges Gewissen, das heute rein ist, wird sich vor denen beugen, in deren Händen Ihr Erfolg ruht, die Ihnen mit einem Wort zum Leben verhelfen können, es aber nicht sagen wollen; denn, glauben Sie mir, der beliebte Schriftsteller ist anmaßender und härter gegen die Anfänger, als der brutalste Verleger. Wo der Verleger nur einen Verlust fürchtet, erblickt der Schriftsteller einen Rivalen: der eine komplimentiert Sie hinaus, der andere schlägt Sie zu Boden. Armer Jüngling! Sie wollen schöne Werke schreiben und schöpfen aus Ihrem Herzen die Zärtlichkeit, das Mark, die Energie, lassen das alles durch Ihre Feder gehen und breiten es als Leidenschaft, als Empfindung, als schöne Sätze aus! Ja, Sie schreiben, statt zu handeln. Sie siegen, statt zu kämpfen. Sie lieben, Sie hassen, Sie leben in Ihren Büchern; aber wenn Sie Ihren ganzen Reichtum Ihrem Stil gegeben haben, wenn Sie Ihr Gold und Ihren Purpur für Ihre Gestalten verschwendet haben, wenn Sie in Lumpen durch die Straßen von Paris gehen und beglückt darüber sind, daß Sie mit den Standesamtsregistern gewetteifert haben und Geschöpfe namens Adolf, Corinna, Clarissa, Renée oder Manon in die Welt gesetzt haben, wenn Sie mit dieser Schöpfung Ihr Leben und Ihren Magen verdorben haben, dann müssen Sie erleben, wie sie von den Journalisten in den Lagunen des Totschweigens verleumdet, verraten, verkauft und verstoßen, wie sie von Ihren besten Freunden begraben wird. Können Sie den Tag erwarten, wo Ihre Schöpfung, wer weiß von wem? wann? wie? wiedererweckt wird? Es gibt ein prächtiges Buch: der pianto der Ungläubigen, ›Obermann‹, das einsam und verlassen in der Wüste der Buchhändlermagazine schlummert und das die Buchhändler darum spöttisch einen Ladenhüter nennen: wann wird für dieses Buch Ostern kommen? Niemand weiß es! Suchen Sie vor allem einmal einen Verleger, der den Mut hat, Ihre ›Margueriten‹ zu drucken. Ich rede gar nicht von Honorar, das er Ihnen zahlen soll, ich rede nur vom Druck. Da werden Sie seltsame Dinge erleben.«

Diese rauhe Rede, die je nach der Stimmung, die sie gerade zum Ausdruck brachte, von Lousteau mit mannigfacher Betonung gesprochen wurde, fiel wie eine Lawine auf Luciens Herz und erstarrte es mit eisiger Kälte. Er blieb eine Zeitlang aufrecht und stumm stehen. Endlich taute sein Herz, als ob es von der furchtbaren Poesie der Schwierigkeiten gereizt würde, wieder auf. Er drückte Lousteaus Hand und rief ihm zu:

»Ich werde siegen!«

»Schön!« sagte der Journalist. »Wieder ein Christ, der in die Arena steigt, um von den Bestien gefressen zu werden. – Heute abend, mein Lieber, ist eine Premiere im Panorama Dramatique, sie fängt erst um acht Uhr an, es ist sechs Uhr; ziehen Sie Ihren besten Anzug an, machen Sie sich fein. Holen Sie mich ab. Ich wohne Rue de la Harpe über dem Café Servel, im vierten Stock. Wir gehen zuerst zu Dauriat. Sie bleiben dabei, nicht wahr? Schön, ich werde Sie heute abend mit einem der Könige des Verlagsbuchhandels und mit ein paar Journalisten bekannt machen. Nach der Vorstellung soupieren wir mit etlichen Freunden bei meiner Geliebten, denn was wir bei Flicoteaux gegessen haben, zählt nicht als Mahlzeit mit. Sie werden dort Finot finden, den Chefredakteur und Besitzer meines Blattes. Sie kennen das Wort Minettes im Vaudeville: ›Die Zeit ist ein feiner Kerl‹? Schön; der Zufall soll für uns auch ein feiner Kerl sein, wir müssen es mit ihm versuchen.«

»Ich werde diesen Tag nie vergessen«, sagte Lucien.

»Wappnen Sie sich mit Ihrem Manuskript, und machen Sie sich fein, weniger für Florine, als für den Verleger.«

Die kameradschaftliche Gutmütigkeit, die dem leidenschaftlichen Schrei des Dichters, der den literarischen Krieg schilderte, gefolgt war, rührte Lucien ebenso lebhaft, wie er jüngst an derselben Stelle von den ernsten und heiligen Worten d'Arthez' ergriffen worden war. Der unerfahrene junge Mann war von der Aussicht auf den bevorstehenden Kampf, den er mit den Menschen aufnehmen wollte, erregt und hatte keine Ahnung von dem wirklichen Aussehen des moralischen Elends, das ihm der Journalist voraussagte. Er wußte nicht, daß er vor zwei verschiedenen Wegen stand, zwischen zwei Systemen, die sein Freundeskreis und der Journalismus vertraten. Der eine von beiden war lang, ehrenhaft, sicher; der andere voller Klippen und Gefahren, voll schmutziger Pfützen, in denen sein Gewissen besudelt werden sollte. Sein Charakter bestimmte ihn dazu, den kürzesten, anscheinend angenehmsten Weg einzuschlagen, zu den entscheidenden und schnellen Mitteln zu greifen. Er sah in diesem Augenblick keinen Unterschied zwischen der edlen Freundschaft eines d'Arthez und der leichtsinnigen Kameradschaft Lousteaus. Sein beweglicher Geist sah in der Zeitung eine Waffe, die zu seiner Verfügung stand; er fühlte in sich die Kraft und die Geschicklichkeit, sie zu handhaben, er wollte nach ihr greifen. Er war entzückt über die Anerbietungen seines neuen Freundes, dessen Hand auf die seine mit einer Nonchalance klopfte, die ihm reizend schien; wie hätte er auch wissen können, daß in der Armee der Presse jeder Freunde braucht, wie die Generale Soldaten brauchen! Lousteau, der seine Entschlossenheit bemerkte, preßte ihn zum Kollegen, in der Hoffnung, ihn sich zu verbinden. Der Journalist verhielt sich zu seinem ersten Freund, wie Lucien zu diesem ersten Beschützer: der eine wollte Korporal werden, der andere Soldat sein. Der Neuling ging fröhlich in sein Hotel zurück, wo er eine ebenso sorgfältige Toilette machte wie an dem Unglückstag, da er in der Loge der Marquise d'Espard in der Großen Oper hatte paradieren wollen, aber seine Kleider standen ihm schon besser, er hatte sich an sie gewöhnt. Er zog seine schöne enganliegende helle Hose an, seine eleganten Stiefel, die ihm vierzig Franken gekostet hatten, und seinen Gesellschaftsrock. Er ließ seine feinen wogenden blonden Haare frisieren, parfümieren und locken. Auf seiner Stirn strahlte die Kühnheit, die er aus dem Gefühl seines Werts und seiner Zukunft schöpfte. Er ließ seine Mädchenhände sorgfältig behandeln, ihre mandelförmigen Nägel wurden blank und rosig. Von einem schwarzseidenen Kragen hob sich die weiße Rundung seines Kinns entzückend ab. Nie war ein schönerer Jüngling vom Quartier latin herabgekommen: er strahlte wie ein griechischer Gott. Er nahm eine Droschke und war um dreiviertel sieben Uhr vor der Tür des Hauses, in dem sich das Café Servel befand. Die Portiersfrau sagte ihm, er müßte in den vierten Stock klettern, und gab ihm eine ziemlich komplizierte Beschreibung. So vorbereitet, fand er nicht ohne Mühe am Ende eines langen, dunklen Ganges eine offene Tür und sah das klassische Zimmer des Quartier latin. Das Elend der jungen Leute, das in der Rue de Cluny, bei d'Arthez, bei Chrestien, überall herrschte, war ihm auch hierher gefolgt. Aber überall prägt es sich in einer Weise aus, die dem Charakter des Dulders entspricht. Hier war das Elend düster. Ein Bett aus Nußbaumholz ohne Vorhänge, neben dem ein elender Teppichfetzen lag, der nach dem Trödlerladen aussah; an den Fenstern Gardinen, die vom Rauch eines Kamins, der keinen Zug hatte, und vom Zigarrenrauch geschwärzt waren; auf dem Kamin eine Carcellampe, die Florine ihm geschenkt hatte und die dem Leihhaus noch nicht verfallen war; ferner eine wurmstichige Mahagonikommode, ein Tisch, auf dem Papiere und zwei oder drei struppige Federkiele herumlagen, von Büchern weiter nichts, als was gestern oder heute eingegangen war: so sah das Mobiliar dieser Zimmer aus, in dem es keinerlei Wertgegenstände gab, wohl aber eine häßliche Sammlung von schlechtem Schuhzeug und von alten ausgefransten Socken, die in einer Ecke herumlagen; in einer andern Ecke Zigarrenstummel, schmutzige Taschentücher, zwei Hemden und drei Schlipse. Kurz, es war ein Literatenbiwak, das mit Dingen möbliert war, die nicht da waren, und die absonderlichste Kahlheit aufwies, die man sich denken kann. Auf dem Kaminsims lagen ein Rasiermesser, ein paar Pistolen und eine Zigarrenkiste umher. An der Wand sah Lucien zwei gekreuzte Degen unter einer Fechtmaske. Drei Stühle und zwei Fauteuils, die für das schlechteste Hotel garni dieser Straße kaum noch gut gewesen wären, vervollständigten die Einrichtung. Dieses Zimmer, das zugleich schmutzig und öde war, sprach von einem Leben ohne Ruhe und ohne Würde: es wurde darin geschlafen, hastig gearbeitet, man sah ihm an, daß man ungern darin wohnte und es schnell wieder verließ. Welcher Unterschied zwischen dieser zynischen Unordnung und dem saubern, gesitteten Elend bei d'Arthez! ... Lucien vernahm nicht die heimliche Stimme dieses Gedankens, denn Etienne rief ihm einen Scherz zu, um die Nacktheit des Lasters zu verkleiden.

»Da sehen Sie mein Hundeloch; meine großen Empfangsräume befinden sich in der Rue de Bondy, in der neuen Wohnung, die unser Drogist Florine eingerichtet hat. Wir werden sie heute abend einweihen.«

Etienne Lousteau trug eine schwarze Hose, blank gewichste Stiefel, einen Rock, der bis zum Hals zugeknöpft war; sein Hemd, das er wohl bei Florine wechseln sollte, war unter einem Samtkragen verborgen, und er bürstete seinen Hut, um ihm das Aussehen eines neuen zu geben.

»Gehen wir!« sagte Lucien.

»Noch nicht; ich muß Geld haben und warte noch auf einen Buchhändler; vielleicht gibts heute abend ein Spiel, und ich habe keinen Heller; und außerdem brauche ich Handschuhe.«

In diesem Augenblick hörten die beiden neuen Freunde Männerschritte auf dem Flur.

»Das ist er«, sagte Lousteau. »Mein Lieber, Sie werden jetzt sehen, wie die Vorsehung aussieht, wenn sie sich den Dichtern zeigt. Bevor Sie Dauriat, den berühmten Buchhändler, in seinem Glanze sehen, sollen Sie den Buchhändler vom Quai des Augustins zu Gesicht bekommen, den Buchhändler, der dem Journalisten als Bankier dient, den literarischen Alteisentrödler, den pfiffigen Grünkramhändler. – Nur herein, alter Tartar!« rief Lousteau.

»Da bin ich«, hörte man eine Stimme, die so rissig klang wie von einer zersprungenen Glocke.

»Mit Geld?«

»Geld? Geld gibt es keins mehr im Buchhandel«, antwortete ein junger Mann, der hereintrat und dabei Lucien neugierig ansah.

»Zunächst sind Sie mir fünfzig Franken schuldig,« sagte Lousteau; »dann sind da zwei Exemplare einer ›Reise nach Ägypten‹, die man sehr rühmt; es sind eine Menge Stiche darin, sie werden sich leicht verkaufen: Finot ist damit für zwei Artikel bezahlt worden, die ich schreiben muß. Ferner zwei von den letzten Romanen von Victor Ducange, einem Schriftsteller, der in der Vorstadt Marais berühmt ist. Des weiteren zwei Exemplare vom zweiten Buch eines Anfängers, Paul de Kock, der im selben Genre arbeitet. Weiter zwei ›Isolde von Dôle‹, ein hübsches Buch für die Provinz. Im ganzen, billig gerechnet, hundert Franken. Sie sind mir also hundert Franken schuldig, kleiner Barbet.«

Barbet sah die Bücher an und prüfte sorgfältig den Schnitt und die Umschläge.

»Oh! sie sind vorzüglich erhalten,« rief Lousteau, »die ›Reise‹ ist nicht aufgeschnitten, und der Paul de Kock und der Ducange auch nicht, und ebensowenig das da auf dem Kamin, ›Betrachtungen über die Symbolik‹, das ich noch mit dazugebe; der Mythus ist so langweilig, daß ich es verschenke, damit nicht Tausende von Milben darin wachsen.«

»Ja,« sagte Lucien, »wie wollen Sie denn Ihre Artikel schreiben?«

Barbet warf auf Lucien einen überaus erstaunten Blick und sah dann Etienne grinsend an.

»Man sieht, der Herr hat nicht das Unglück, von der Literatur zu sein.«

»Nein, Barbet, nein. Der Herr ist ein Dichter, ein großer Dichter, der Canalis, Biranger und Delavigne in die Tasche stecken wird. Er wird es weit bringen, vorausgesetzt, daß er sich nicht ins Wasser stürzt, dann bringt er es auch noch bis Saint-Cloud.«

»Wenn ich dem Herrn einen Rat geben darf, möchte ich sagen, das Versemachen lieber aufzugeben und sich auf die Prosa zu verlegen. Die Antiquare machen sich nichts mehr aus Versen.«

Barbet trug einen schlechten Überrock, der mit einem einzigen Knopf zugeknöpft war, sein Hals war fett, er hielt den Hut in der Hand, er trug Schuhe; unter seiner halboffenen Weste sah man ein anständiges grobes Hemd aus starker Leinwand. Es fehlte seinem runden Gesicht, aus dem zwei habgierige Augen hervorstachen, nicht an Gutmütigkeit; aber er hatte die Unsicherheit und Unruhe in seinem Blick, die Menschen eignen, welche daran gewöhnt sind, daß man Geld von ihnen verlangt, und die welches haben. Er war zugleich rund und behende, schlank, mit einem kleinen Embonpoint. Nachdem er sich vor zwei Jahren selbständig gemacht, hatte er auf dem Kai ein elendes Lädchen gemietet, und von da aus besorgte er seine Gänge zu den Journalisten, den Autoren, den Buchdruckern, denen er zu niedrigem Preis die Bücher abkaufte, die sie geschenkt bekommen hatten, und verdiente so jeden Tag etliche zehn oder zwanzig Franken. Er hatte große Ersparnisse gemacht, schnupperte die Bedürfnisse eines jeden heraus, spürte immer gute Geschäfte auf und diskontierte den Schriftstellern, wenn sie in Verlegenheit waren, mit einem Diskont von fünfzehn oder zwanzig Prozent die Wechsel der Verleger, denen er dann am nächsten Tag gegen Barzahlung zu herabgesetzten Preisen etliche gute Bücher abkaufte, die begehrt waren; zur Zahlung gab er ihnen dann statt Geld ihre eigenen Wechsel. Er hatte seine Studien gemacht, und seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, Gedichtbüchern und modernen Romanen sorgfältig aus dem Wege zu gehen. Er liebte die kleinen Sammelwerke, die belehrenden Bücher, die im ganzen nicht mehr als tausend Franken kosteten und die er nach seinem Belieben ausbeuten konnte, wie z. B. ›Die französische Geschichte für das Verständnis der Kinder‹, ›Die Buchhaltung in zwanzig Lektionen‹, ›Die Botanik für junge Mädchen‹. Er hatte sich schon zwei oder drei gute Bücher entgehen lassen, nachdem er die Autoren zwanzigmal zu sich hatte kommen lassen, ohne sich entschließen zu können, ihnen ihr Manuskript abzukaufen. Wenn man ihm seine Feigheit vorwarf, zeigte er den Bericht eines berühmten Prozesses vor, dessen Text ihm nichts kostete, da er ihn aus den Zeitungen genommen hatte, und der ihm zwei- oder dreitausend Franken eingebracht hatte.

Barbet war der furchtsame Buchhändler, der fast keine Bedürfnisse hat, der wenig Wechsel unterschreibt, der in den Fakturen, die er bekommt, eifrig nach kleinen Vorteilen sucht und Abzüge macht, der seine Bücher selbst, man weiß nicht wohin, wegträgt, sie aber anbringt und sich bezahlen läßt. Er war der Schrecken der Buchdrucker, die nicht wußten, was sie mit ihm anfangen sollten: er zog bei der Bezahlung Rabatt ab und drückte die Preise, wenn er merkte, daß der Drucker das Geld brauchte; dann gab er denen, die er geschröpft hatte, keine Aufträge mehr, weil er fürchtete, sie könnten ihn begaunern.

»Nun, wie wirds mit unserm Geschäft?« fragte Lousteau.

»Ja, mein Guter,« sagte Barbet vertraulich, »ich habe in meinem Laden sechstausend Bände zu verkaufen. Wissen Sie, ein alter Buchhändler hat einmal gesagt: ›Was tu ich mit Büchern? sie bringen nichts zu Buch.‹ Der Buchhandel steht schlecht.«

»Wenn Sie in seinen Laden gingen, lieber Lucien,« sagte Etienne, »fänden Sie auf einem Schreibtisch aus Kastanienholz, den er aus der Konkursmasse irgendeines bankrotten Weinhändlers erstanden hat, eine Kerze, die nicht geputzt ist, weil sie dann weniger schnell herunterbrennt. Bei dieser fragwürdigen Beleuchtung würden Sie leere Regale sehen. Dieses Nichts wird von einem kleinen Kerl in blauer Weste gehütet, der auf den Fingern pfeift, bald auf dem linken und bald auf dem rechten Fuß steht oder sich mit den Händen auf den Rücken schlägt, wie ein Kutscher auf seinem Bock. Sehen Sie her! Er hat nicht mehr Bücher, als Sie hier sehen. Niemand würde vermuten, was für ein Geschäft er macht.«

»Hier haben Sie einen Wechsel über hundert Franken auf drei Monate,« sagte Barbet, der das Lächeln nicht zurückhalten konnte, als er ein gestempeltes Papier aus der Tasche zog, »und ich nehme Ihre Schmöker mit. Wissen Sie, ich kann kein bares Geld mehr geben, der Verkauf geht zu schlecht. Ich dachte mir, daß Sie mich brauchen werden, ich hatte keinen Heller und habe, um Ihnen dienlich zu sein, einen Wechsel unterschrieben, denn ich gebe meine Unterschrift nicht gern.«

»Sie wollen also auch noch Dank und Hochachtung!« sagte Lousteau.

»Obwohl man seine Wechsel nicht mit Gefühlen einlöst, akzeptiere ich trotzdem Ihre Hochachtung«, sagte Barbet.

»Aber ich brauche Handschuhe, und die Parfümeriegeschäfte werden so kläglich sein, daß sie Ihr Papier nicht annehmen«, fuhr Lousteau fort. »Halt, da ist ein famoser Stich, hier in der obersten Schublade der Kommode, er ist achtzig Franken wert, er ist avant la lettre, aber nach dem Artikel, denn ich habe einen ziemlich spaßigen darüber geschrieben: ›Hippokrates weist die Geschenke des Artaxerxes zurück!‹ Da konnte es allerlei Hiebe setzen. Na, ist das nicht ein schönes Blatt, das für alle Ärzte paßt, die die übertriebenen Geschenke der Pariser Krösusse zurückweisen? Unter dem Stich liegen auch noch Stücker dreißig Romanzen. Nehmen Sie den ganzen Schwindel und geben Sie mir vierzig Franken.«

»Vierzig Franken!« jammerte der Buchhändler und stieß einen Schrei aus wie ein erschrockenes Huhn; »höchstens zwanzig. Die kann ich auch noch verlieren«, fügte er hinzu.

»Wo sind die zwanzig Franken?« fragte Lousteau.

»Wahrhaftig, ich weiß nicht, ob ich sie habe«, sagte Barbet und suchte in seinen Taschen. »Da sind sie. Sie plündern mich aus, Sie haben eine Macht über mich ...«

»Schon gut, wir müssen gehen«, sagte Lousteau, nahm Luciens Manuskript und schmierte zwischen Bindfaden und Papier mit der Feder etwas Tinte.

»Haben Sie noch etwas?« fragte Barbet.

»Nichts, kleiner Shylock. Ich werde dir ein vorzügliches Geschäft verschaffen – an dem du tausend Taler verlieren sollst, zur Strafe, weil du mich so bestiehlst«, sagte Etienne halblaut zu Lucien.

»Und Ihre Artikel?« sagte Lucien, als sie dem Palais Royal zusteuerten.

»Sie haben keine Ahnung, wie so etwas hingepfuscht wird. In der ›Reise nach Ägypten‹ habe ich geblättert und hier und da Stellen gelesen, ohne sie aufzuschneiden, ich habe elf Sprachfehler darin entdeckt. Ich werde eine Spalte schreiben des Inhalts, daß der Verfasser vielleicht die Sprache der Enten versteht, die auf den ägyptischen Steinblöcken, die man Obelisken nennt, ausgehauen sind, aber daß er ganz gewiß seine eigene Sprache nicht versteht, und ich werde es ihm beweisen. Ich werde sagen, er hätte sich, anstatt uns von Naturgeschichte und Altertümern zu reden, nur mit der Zukunft Ägyptens beschäftigen sollen, mit dem Fortschritt der Zivilisation, mit den Mitteln, Ägypten für Frankreich zu gewinnen, das es einmal erobert und wieder verloren hat und jetzt noch durch moralische Einflüsse an sich bringen kann. Dazu eine patriotische Rodomontade, das Ganze gespickt mit Tiraden über Marseille, die Levante, unsern Handel.«

»Aber wenn er das getan hätte, was sagten Sie dann?«

»Dann sagte ich, er hätte, anstatt uns mit Politik zu langweilen, sich mit der Kunst beschäftigen und uns das Land nach seiner malerischen und landschaftlichen Seite schildern müssen. Der Kritiker wird dann sentimental. Wir sind überschwemmt mit Politik, sagt er, sie langweilt uns, man findet sie überall. Ich werde meine Sehnsucht nach jenen reizenden Reisebeschreibungen aussprechen, in denen man uns die Schwierigkeiten der Seefahrt, den Reiz der Fahrt durch eine Meerenge, die Freuden der Fahrt über den Äquator schilderte, kurz alles, was die wissen wollen, die nie eine Reise machen. Man macht sich, ohne sie zu tadeln, über die Reisenden lustig, die einen Vogel, der vorbeikommt, einen fliegenden Fisch, einen Fischzug, die festgestellten geographischen Orte, die bezeichneten Untiefen als große Ereignisse feiern. Man verlangt wissenschaftliche Tatsachen, von denen niemand etwas versteht, und die darum wie alles, was tief, geheimnisvoll und unbegreiflich ist, einen besondern Zauber ausüben. Der Abonnent lacht, er ist zufrieden. Was die Romane angeht, so gibt es in der Welt niemanden, der so viel Romane verschlingt wie Florine; sie gibt mir den Inhalt an, und nach dem, was sie mir sagt, schmiere ich meinen Artikel. Wenn sie von dem, was sie die Schriftstellerphrasen nennt, gelangweilt worden ist, kommt mir das Buch beachtenswert vor, und ich lasse den Verleger noch um ein Exemplar ersuchen, der freut sich, daß er einen günstigen Artikel haben soll, und schickt es gerne.«

»Mein Gott! aber die Kritik, die heilige Kritik!« rief Lucien, der noch voll von den Anschauungen seines Zirkels war.

»Mein Lieber,« sagte Lousteau, »die Kritik ist eine Bürste, die man bei leichten Stoffen nicht verwenden darf, weil sie da alles wegnähme. Hören Sie, reden wir von etwas anderem. Sehen Sie die Tinte hier?« fragte er und zeigte ihm das Manuskript der ›Margueriten‹. »Ich habe mit ein wenig Tinte Ihren Bindfaden mit dem Papier verbunden. Wenn Dauriat Ihr Manuskript liest, wird es ihm sicher unmöglich sein, die Schnur wieder genau so anzubringen. Ihr Manuskript ist also so gut wie versiegelt. Das ist nicht unnütz für die Erfahrung, die Sie machen wollen. Und dabei vergessen Sie nicht, daß Sie nicht allein und ohne Gönner zu diesem Verleger kommen, wie die kleinen jungen Leute, die zu zehn Verlegern gehen, ehe sie einen finden, der ihnen einen Stuhl anbietet ...«

Lucien hatte die Wahrheit dieser Bemerkung schon kennen gelernt. Lousteau bezahlte den Kutscher, indem er ihm drei Franken gab. Zur großen Verblüffung Luciens, der über die Verschwendung, die solcher Not gefolgt, erstaunt war. Alsdann traten die beiden Freunde in die Galeries de Bois, in denen sich damals die Verlagsbuchhandlung befand. Zu jener Zeit bildeten die Galeries de Bois eine der bemerkenswertesten Sehenswürdigkeiten von Paris. Es ist nicht ohne Wert, diesen gemeinen Basar zu schildern, denn er hat sechsunddreißig Jahre lang im pariser Leben eine so große Rolle gespielt, daß es wenig Menschen über vierzig Jahre gibt, denen diese Beschreibung, die unsern jungen Leuten unglaublich erscheinen muß, nicht Vergnügen machte. An der Stelle der kalten, hohen und breiten Galerie d'Orleans, die eine Art Gewächshaus ohne Blumen war, standen Baracken oder, um genauer zu sein, Bretterhütten; sie hatten eine schlechte Bedachung, waren klein; auf den Hof und den Garten hinaus blickten elende Fenster, wie man sie kläglicher kaum in den schmutzigsten Kneipen der pariser Außenbezirke findet. Drei Reihen Buden bildeten so zwei Galerien, die ungefähr zwölf Fuß hoch waren. Die in der Mitte gelegenen Buden gingen nach beiden Galerien, deren Atmosphäre ihnen eine verpestete Luft lieferte und deren Dach durch die immer schmutzigen Scheiben wenig Licht hindurchließ. Es strömten so viele Menschen in diese Galerien, daß die engen Zellen, von denen manche nur sechs Fuß breit und acht bis zehn Fuß lang waren, bis zu tausend Taler Miete kosteten. Die Buden waren durch kleine grüne Laubengänge geschützt, vielleicht um die Menge zu verhindern, durch ihr Gedränge die elenden dünnen Wände einzudrücken, die die Magazine nach hinten abschlossen. Dort also befand sich ein Raum von zwei oder drei Fuß, auf dem die absonderlichsten Erzeugnisse einer der Wissenschaft unbekannten Botanik wuchsen, und dazwischen befanden sich die Erzeugnisse verschiedener, nicht weniger blühender Industrien. Makulatur lag dicht neben einem Rosenstock, so daß die Blüten der Rhetorik von den verkümmerten Blüten dieses schlecht gepflegten, wenn schon mit stinkenden Abfällen gedüngten Gartens umduftet waren. In den Zweigen blühten Bänder in allen Farben oder Buchhändlerprospekte. Die Abfälle der Mode erstickten das Pflanzenleben: man konnte einen Knäuel Bänder auf grünem Rasen finden, und es konnte einem geschehen, daß man eine Dahlie zu bewundern glaubte, bis man bei näherem Zugreifen merkte, daß es eine seidene Schleife war. An diesem abenteuerlichen Basar war auf beiden Seiten, nach dem Hof und nach dem Garten zu, alles Absonderliche zu finden, was der Pariser Schmutz hervorgebracht hat: der Maueranstrich war heruntergespült, der Verputz ausgeflickt, es gab absonderliche Schilder zu lesen. Nach dem Garten und dem Hofe zu beschmutzte das Pariser Publikum die kleinen grünen Laubengänge in der abscheulichsten Weise. Ein ekelhafter und widerwärtiger Streifen auf beiden Seiten schien also empfindlichen Leuten zu verbieten, sich den Galerien zu nähern, aber die leckeren Leute wichen ebensowenig vor diesen Schrecknissen zurück, wie die Prinzen in den Märchen vor den Drachen und den Hindernissen zurückweichen, die ein böser Geist zwischen sie und die Prinzessinnen stellt. Durch diese Galerien ging wie heutzutage eine Passage, zu der man wie heutigestags durch die beiden Säulenhallen gelangte, die vor der Revolution begonnen und aus Mangel an Geld nicht fertiggestellt wurden. Die schöne Steingalerie, die zum Théâtre Français führt, bildete damals eine enge Passage, die unverhältnismäßig hoch und so schlecht gedeckt war, daß es dort oft hineinregnete. Man nannte sie Glasgalerie, um sie von den Galeries de Bois, den Holzgalerien, zu unterscheiden. Die Dächer dieser Höhlen waren übrigens alle in so schlechtem Zustand, daß das Haus Orleans einen Prozeß mit einem berühmten Kaschmir- und Seidenstoffhändler hatte, dem Waren in hohem Wert in einer Nacht verdorben waren. Der Kaufmann gewann den Prozeß. An manchen Stellen diente ein geteertes Zelttuch als Dach. Der Boden der Glasgalerie, in der Chevet den Grund zu seinem Vermögen legte, und der der Holzgalerien war der natürliche Boden von Paris, vermehrt um den künstlichen Boden, den die Stiefel und Schuhe des Publikums hineinbrachten. Zu jeder Zeit stießen die Füße an Berge und Täler von hartgewordenem Straßenkot, den die Kaufleute unaufhörlich hinausfegten, und Fremde mußten sich erst daran gewöhnen, wenn sie dort gingen.

Diese widerwärtige Anhäufung von Kotstücken, diese Fenster, die vom Regen und vom Staub eingeschmutzt waren, diese niedrigen, außen mit Lumpen bedeckten Hütten, der Schmutz des begonnenen Mauerwerks, dieses Ganze, das wie ein Zigeunerlager aussah, Jahrmarktsbuden, provisorische Gerüste, mit denen man in Paris die Denkmäler umgibt, die man nicht baut, dieses Zerrbild paßte ausgezeichnet zu den verschiedensten Geschäften, die in Massen unter diesem schamlosen, frechen Schirmdach betrieben wurden. Mitten unter dem ausgelassenen Treiben und der tollen Lustigkeit sind dort von der Revolution von 1789 an bis zur Revolution von 1830 die wichtigsten Dinge vor sich gegangen. Zwanzig Jahre lang war die Börse gegenüber im Parterre des Palais. So wurden dort die öffentliche Meinung und der Ruhm gemacht und zunichte gemacht, ebenso wie die politischen und die Geldgeschäfte. Man gab sich vor und nach der Börse in diesen Galerien ein Rendezvous. Das Paris der Bankiers und der Großkaufleute füllte oft den ganzen Hof des Palais Royal und strömte, wenn es regnete, unter dieses Obdach. Es lag in der Natur dieses Baues, der, man weiß nicht wie, an diesem Ort erwachsen war, daß er außerordentlich dröhnte. Es schallte nur so vom Gelächter. Wenn es am einen Ende einen Streit gab, wußte man am andern, um was es sich handelte. Es gab da nur Buchhändler, Poesie, Politik und Prosa, Modistinnen und schließlich Freudenmädchen, die nur abends kamen. Da blühten die Neuigkeiten und die Bücher, junger und alter Ruhm, die Verschwörungen der Tribüne und die Lügen der Verleger. Dort wurden dem Publikum, das sich darauf versteifte sie nur da zu erwerben, die Neuerscheinungen verkauft. Dort sind an einem einzigen Abend mehrere tausend Exemplare eines Pamphlets von Paul Louis Courier oder ›Das Abenteuer der Tochter eines Königs‹ verkauft worden, die der erste Schlag waren, den das Haus Orleans gegen die Charte Ludwigs XVIII. führte. Zu der Zeit, als Lucien dort zu sehen war, hatten einige Buden ziemlich elegante Schaufenster; aber diese Buden gehörten zu den Reihen, die auf den Garten oder den Hof gingen. Bis zu dem Tag, an dem diese seltsame Ansiedlung unter dem Hammer des Architekten Fontaine zertrümmert wurde, waren die zwischen den beiden Galerien gelegenen Buden ganz offen und wurden, wie die Jahrmarktsbuden in der Provinz, von Pfeilern gestützt; so konnte man über die Waren oder die Glastüren hinweg auf beide Galerien sehen. Da es unmöglich war, dort zu heizen, gebrauchten die Kaufleute nur Fußwärmer und hatten selbst eine Feuerwehr gebildet, denn eine Unvorsichtigkeit konnte in einer Viertelstunde diese Ansammlung von Brettern, die von der Sonne ausgetrocknet und mit Gaze, Musselin und Papier angefüllt war, in Flammen aufgehen lassen. Die Buden der Modistinnen steckten voller unglaublicher Hüte, die weniger zum Verkauf als zur Schaustellung da zu sein schienen, zu Hunderten auf Haubenstöcken hingen und die Galerien mit ihren tausend Farben beflaggten. Zwanzig Jahre hindurch haben sich alle Vorbeigehenden gefragt, auf welchen Köpfen diese eingestaubten Hüte ihre Laufbahn vollendeten. Putzmacherinnen, die im allgemeinen häßlich, aber keck waren, riefen die Frauen mit zudringlichen Worten nach der Gewohnheit und in der Sprache der Markthalle an. Eine Modistin, deren Zunge ebenso lose war, wie ihre Augen immer in Bewegung waren, stand auf einer Fußbank und rief den Passanten unaufhörlich zu: »Kaufen Sie sich einen hübschen Hut, Madame! – Kaufen Sie mir doch etwas ab!« Ihr reicher und malerischer Wortschatz wurde durch ihren Tonfall, ihre Blicke und ihre kritischen Bemerkungen über die Vorübergehenden noch mannigfaltiger. Die Buchhändler und die Modistinnen lebten in gutem Einvernehmen. In der Passage, die so stolz den Namen Glasgalerie führte, fanden sich die sonderbarsten Gewerbe. Dort hatten sich die Bauchredner, die Marktschreier aller Art niedergelassen, die Buden, in denen man nichts sieht und die, in denen einem die ganze Welt gezeigt wird. Dort hat sich zum erstenmal ein Mann etabliert, der dann auf allen Märkten zu sehen war und dabei sieben- oder achthunderttausend Franken verdient hat. Er hatte als Wahrzeichen eine Sonne, die sich in einem schwarzen Rahmen drehte, um den in roter Schrift die leuchtenden Worte standen: »Hier sieht man, was Gott nicht sehen kann. Preis zwei Sous.« Der Ausrufer ließ nie eine Person allein hinein, und nie mehr als zwei. War man eingetreten, so stand man mit der Nase dicht vor einem großen Spiegel, plötzlich erschallte eine Stimme, die den Berliner Hoffmann in Schrecken gesetzt hätte, denn sie klang wie ein Automat, dessen Feder abschnurrt: »Meine Herren, Sie sehen hier, was in aller Ewigkeit Gott nicht sehen kann, nämlich Ihr Ebenbild. Gott hat kein Ebenbild!« Die Leute gingen dann beschämt hinaus, ohne ihre Torheit einzugestehen. Aus allen kleinen Türen hörte man ähnliche Stimmen, die Panoramen, Ansichten von Konstantinopel, Marionettenspiele, schachspielende Automaten, Hunde, die die schönste Frau herausfinden konnten, anpriesen. Der Bauchredner Fitz-James ist hier im Café Borel aufgetreten, bevor er nach Montmartre ging, sich den Studenten des Polytechnikums anschloß und dort starb. Es gab dort Obst- und Blumenfrauen und einen berühmten Schneider, dessen Uniformstickereien am Abend wie Sonnen glänzten. Am Vormittag bis gegen zwei Uhr nachmittags war es in den Holzgalerien still, düster und verlassen. Die Handeltreibenden plauderten miteinander, als ob sie bei sich zu Hause wären. Das Rendezvous, das sich die Bevölkerung von Paris dort gab, begann erst gegen drei Uhr, zur Börsenzeit. Sowie die Menge kam, machten sich die jungen Leute, die nach Literatur dürsteten und kein Geld hatten, bei den Ständen der Buchhändler an das unentgeltliche Lesen. Die Gehilfen, die über die ausgestellten Bücher zu wachen hatten, waren freundlich genug, die armen Leute die Seiten umdrehen zu lassen. Ein Duodezband von zweihundert Seiten, wie Smarra, Peter Schlemihl, Jean Sbogar, Jocko, war in zwei Sitzungen verschlungen. In dieser Zeit gab es noch keine Lesekabinette; wenn man ein Buch lesen wollte, mußte man es kaufen; daher wurden damals die Romane in einer Anzahl verkauft, die heutzutage fabelhaft schiene. Es lag also in diesem Almosen, das man der jungen gierigen und armen Intelligenz schenkte, etwas echt Französisches. Die Poesie dieses schrecklichen Basars setzte mit dem Beginn des Abends ein. Von allen umliegenden Straßen kamen eine große Zahl Freudenmädchen, die dort unentgeltlich auf und ab gehen durften. Von allen Ecken von Paris eilten sie herbei, um »im Palais zu arbeiten«. Die Sterngalerien gehörten privilegierten Häusern, die für das Recht, wie Prinzessinnen gekleidete Geschöpfe zwischen dem oder jenem Säulenbogen und auf dem entsprechenden Platz im Garten auszustellen, bezahlen mußten, während die Holzgalerien für die Prostitution ein öffentliches Gebiet waren, das ›Palais‹ par excellence, denn unter dem Wort verstand man damals den Tempel der Prostitution. Ein Weib konnte dahin kommen, in Begleitung ihres Opfers wieder gehen und ihn hinführen, wohin sie wollte. Diese Weiber lockten also am Abend eine so beträchtliche Menschenmenge in die Holzgalerien, daß man wie in der Prozession oder auf einem Maskenball Schritt für Schritt gehen mußte. Diese Langsamkeit, die keinen Menschen störte, diente zur Besichtigung. Die Weiber trugen eine Kleidung, die es heute nicht mehr gibt. Die Art, wie sie bis zur Mitte des Rückens und auch vorn sehr tief ausgeschnitten waren, ihre unglaublichen Haartrachten, mit denen jede den Blick auf sich lenken wollte, die eine mit der hohen Haube der Frauen von Caux, die andere auf spanische Art, die dritte mit Locken wie ein Pudel, die vierte glatt gescheitelt; ihre weißbestrumpften Beine, die sie bei jeder Gelegenheit, aber nie zur Unzeit zeigten: diese ganz verruchte Poesie ist verloren gegangen. Die Frechheit der Fragen und Antworten, dieser ganze öffentliche Zynismus, der zu dem Ort paßte, findet sich nicht mehr, weder auf dem Maskenball noch auf den berühmten Bällen, die heutzutage abgehalten werden. Es war schrecklich und lustig. Das leuchtende Fleisch der Schultern und des Halses schimmerte zwischen den fast immer dunklen Anzügen der Männer hervor und brachte die prächtigsten Gegensätze zustande. Das Durcheinander der Stimmen und das Geräusch der vielen Tritte klang schon in der Mitte des Gartens wie ein dumpfer Lärm, wie ein Baß, der die Begleitung abgab für das Lachen der Mädchen oder das Geschrei irgendeines Zwistes. Angesehene Personen, hervorragende Männer streiften dort an Menschen mit Galgengesichtern. Diese unglaublichen Zusammenkünfte übten selbst auf die kühlsten Naturen einen unwiderstehlichen Reiz aus. Und so ist denn auch ganz Paris bis zum letzten Augenblick hingegangen; es ist auf den Holzbrettern auf und ab spaziert, die der Architekt, solange er die Keller baute, darüber gelegt hatte. Der Untergang dieser abscheulichen hölzernen Anlage ist überaus und einmütig beklagt worden.

Der Buchhändler Ladvocat hatte sich seit einigen Tagen in dem Winkel der Passage, der diese Galerien in der Mitte teilte, vor Dauriat niedergelassen, diesem heute vergessenen kühnen jungen Mann, der den Weg urbar machte, auf dem seitdem sein Konkurrent zu großem Vermögen gekommen ist. Die Bude Dauriats befand sich in einer der Reihen, die auf den Garten gingen, und die Ladvocats ging auf den Hof. Die Bude Dauriats war in zwei Teile geteilt, deren einer sein Buchhandelslager, während der andere sein Kontor war. Lucien, der zum erstenmal zur Abendzeit hinkam, war über den Anblick erstaunt, dem die provinzialen und die jungen Leute nicht widerstehen konnten. Er verlor bald seinen Führer.

»Wenn du so schön wärst wie der junge Mann, dürftest du mich lieben«, sagte ein Mädchen zu einem alten Mann und deutete dabei auf Lucien.

Lucien wurde rot wie ein junges Mädchen und folgte dem Strom in einem Zustand von Starrheit und Aufregung, der schwer zu beschreiben wäre. Die Blicke der Weiber forderten ihn heraus, die weiße Rundung der Schultern, die verlockenden Halsausschnitte blendeten ihn, er klammerte sich an sein Manuskript und drückte es an sich, damit es ihm nicht gestohlen würde – der Unschuldige!

»Mein Herr!« rief er, als er einen Arm nach seinem greifen fühlte und glaubte, irgendein Schriftsteller hätte ihm seine Gedichte stehlen wollen.

Er erkannte seinen Freund Lousteau, der zu ihm sagte: »Ich dachte mir wohl, daß Sie hier vorbeikommen müßten.«

Der Dichter stand an der Ladentür, und Lousteau führte ihn in den Laden, der voller Menschen war, die den Pascha der Buchhandlung sprechen wollten. Drucker, Papierlieferanten und Zeichner standen um Gehilfen herum und befragten sie über die Geschäfte, die sie interessierten, oder standen in Gedanken.

»Halt, da ist Finot, der Chef meines Blattes; er plaudert mit einem talentvollen jungen Mann, Félicien Vernou, einem kleinen Schlingel, der so gefährlich ist wie eine geheime Krankheit.«

»Nun,« sagte Finot, der mit Vernou auf Lousteau zutrat, »du hast eine Premiere. Ich habe über die Loge verfügt.«

»Du hast sie Braulard verkauft?«

»Was machts? Du bekommst schon einen Platz. Was willst du von Dauriat? Ach, daß ichs nicht vergesse! Es ist abgemacht, daß wir Paul de Kock stark loben, Dauriat hat zweihundert Exemplare genommen, und Victor Ducange lehnt ab, einen Roman für ihn zu schreiben. Dauriat sagt, er will einen neuen Autor im selben Genre kreieren. Du wirst Paul de Kock über Ducange stellen.«

»Aber ich habe mit Ducange zusammen ein Stück an der Gaieté«, sagte Lousteau.

»Was machts? Du sagst ihm, der Artikel sei von mir, und er sei ganz wild gewesen, du aber hättest ihn gemildert, dann ist er dir Dank schuldig.«

»Könntest du mir nicht diesen kleinen Wechsel über hundert Franken von Dauriats Kassierer diskontieren lassen?« fragte Etienne Finot. »Du weißt, wir soupieren zusammen zur Einweihung der neuen Wohnung Florines.«

»Richtig, ja, du hältst uns frei«, sagte Finot und machte ein Gesicht, als ob er sich erst besinnen müßte. »Ach, Gabusson,« sagte er, nahm Barbets Wechsel und überreichte ihn dem Kassierer, »geben Sie dem Herrn für mich neunzig Franken. – Giriere den Wechsel, mein Bester.«

Lousteau nahm die Feder des Kassierers, während dieser das Geld aufzählte, und schrieb seinen Namen auf den Wechsel. Lucien war ganz Auge und Ohr und verlor keine Silbe von diesem Gespräch.

»Das ist noch nicht alles, lieber Freund, ich sage nicht danke schön, wir müssen einander in allem beistehen. Ich muß den Herrn hier mit Dauriat bekannt machen, und du mußt ihn dazu bringen, daß er uns Gehör schenkt.«

»Um was handelt es sich?« fragte Finot.

»Um eine Gedichtsammlung«, antwortete Lucien.

»Oh!« sagte Finot und trat zurück.

»Der Herr«, sagte Vernou mit einem Blick auf Lucien, »hat noch nicht lange mit Verlegern zu tun, sonst hätte er sein Manuskript schon im entlegensten Winkel seiner Wohnung vergraben.«

In diesem Augenblick trat ein schöner junger Mann, Emile Blondet, herein, der im ›Journal des Débats‹ mit Artikeln debütiert hatte, die großes Aufsehen machten, gab Finot und Lousteau die Hand und grüßte Vernou oberflächlich.

»Komm mit uns zum Souper, um Mitternacht, bei Florine«, sagte Lousteau zu ihm.

»Ich bin dabei,« antwortete der junge Mann, »aber wer wird alles da sein?«

»Oh!« erwiderte Lousteau, »da sind Florine und der Drogist Matifat, Bruel, der Dramatiker, der Florine zu ihrem Debüt eine Rolle gegeben hat; ein altes Kerlchen, Vater Cardot und sein Schwiegersohn Camusot; ferner Finot ...«

»Bist du mit deinem Drogisten zufrieden?«

»Er wird uns keine Drogen vorsetzen«, erwiderte Lucien.

»Der Herr ist sehr witzig«, sagte Emile Blondet ganz ernst und sah Lucien an. »Er wird auch an dem Souper teilnehmen, Lousteau?«

»Ja.«

»Es wird lustig werden.«

Lucien war bis hinter die Ohren errötet.

»Dauert es noch lange, Dauriat?« fragte Blondet und klopfte an die Scheibe, hinter der Dauriat an seinem Schreibtisch saß.

»Ich stehe zur Verfügung, lieber Freund.«

»Schön«, sagte Lousteau zu seinem Schützling. »Der junge Mann, der fast ebenso jung ist wie Sie, ist an den ›Débats‹. Er ist einer der Fürsten der Kritik: er ist gefürchtet, Dauriat wird ihm schmeicheln, und dann können wir dem Pascha der Vignetten und der Druckerschwärze von unserm Geschäft sprechen; sonst kämen wir um elf Uhr noch nicht an die Reihe. Die Zahl der Wartenden wird immer größer.«

Lucien und Lousteau traten jetzt nahe an Blondet, Finot und Vernou heran und bildeten unmittelbar vor dem Eingang zu Dauriats Kontor eine geschlossene Gruppe.

»Womit ist er beschäftigt?« fragte Blondet Gabusson, den ersten Gehilfen, der aufstand, um ihn zu begrüßen.

»Er kauft eine Wochenschrift, die er wieder in Schwung bringen will, um sie dem Einfluß der ›Minerva‹, die zu ausschließlich Eymery dient, und dem ›Conservateur‹, der zu blind zu den Romantikern hält, entgegenzustellen.«

»Wird er gut zahlen?«

»Wie immer ... zuviel!« erwiderte der Kassierer.

In diesem Augenblick trat ein junger Mann herein, von dem eben ein vorzüglicher Roman erschienen war, der schnellen Absatz und den schönsten Erfolg gefunden halte, ein Roman, dessen zweite Auflage eben für Dauriat gedruckt wurde. Der junge Mann war eine außergewöhnliche und bizarre Erscheinung, die gleich die Künstlernatur verriet, und er fiel Lucien sehr auf.

»Das ist Nathan«, sagte Lousteau unserm Provinzdichter ins Ohr.

Nathan trat trotz dem Ausdruck wilden Stolzes in seinem damals noch ganz jugendlichen Gesicht an die Journalisten mit gezogenem Hut heran und stand fast demütig vor Blondet, den er bis jetzt nur vom Sehen kannte. Blondet und Finot behielten ihre Hüte auf dem Kopf.

»Ich bin glücklich über die Gelegenheit, die mir der Zufall verschafft ...«

»Er ist so verlegen, daß er in Pleonasmen spricht«, sagte Félicien zu Lousteau.

». ... Ihnen meine Dankbarkeit für den schönen Artikel auszusprechen, den Sie so freundlich waren im ›Journal des Débats‹ über mich zu schreiben. Mein Buch verdankt Ihnen die Hälfte seines Erfolgs.«

»Nein, mein Lieber, nein«, sagte Blondet mit gutmütiger Gönnermiene. »Hol mich der Teufel! Sie haben Talent, und ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Da Ihr Artikel schon erschienen ist, kann es ja nicht aussehen, als ob ich dem Mächtigen schmeicheln wollte; wir können also ungeniert zueinander sein. Wollen Sie mir die Ehre und das Vergnügen machen, morgen mit mir zu essen? Finot wird dabei sein. – Lousteau, alter Freund, du sagst nicht nein«, fügte Nathan hinzu und schüttelte Etienne die Hand. – »Ah, Sie sind auf einem schönen Wege,« sagte er wieder zu Blondet, »Sie sind der Erbe der Dussault, der Fiévée, der Geoffroy! Hoffmann hat über Sie mit Claude Vignon, seinem Schüler, der mein Freund ist, gesprochen und hat zu ihm gesagt, er könne ruhig sterben, da für die Existenz des ›Journal des Débats‹ gesorgt sei. Man muß Ihnen ein riesiges Honorar zahlen?«

»Hundert Franken für die Spalte«, sagte Blondet. »Der Preis ist nicht hoch, wenn man genötigt ist, Bücher zu besprechen, davon hundert zu lesen, bis man eins findet, mit dem man sich beschäftigt, wie das Ihre. Auf Ehre, Ihr Werk hat mir Vergnügen gemacht.«

»Und hat ihm fünfzehnhundert Franken eingebracht«, sagte Lousteau zu Lucien.

»Sie beschäftigen sich auch mit Politik?« fing Nathan wieder an.

»O ja, hie und da«, erwiderte Blondet.

Lucien, der sich hier wie ein Embryo vorkam, hatte das Buch Nathans bewundert, er verehrte den Verfasser wie einen Gott, und er war aufs höchste verblüfft über diese Kriecherei vor einem Kritiker, von dessen Namen und Bedeutung er nichts wußte.

»Werde ich mich je so benehmen? Muß man seine ganze Würde aufgeben?« fragte er sich. – »Setz doch deinen Hut auf, Nathan! Du hast ein schönes Buch geschrieben und der Kritiker nur einen Artikel.«

Diese Gedanken peitschten ihm das Blut durch die Adern. Er sah in jedem Augenblick schüchterne junge Leute, Schriftsteller, die Geld brauchten, hereintreten, die nach Dauriat fragten, aber, wenn sie die Bude voll sahen, daran verzweifelten, zu ihm zu dringen, und beim Hinausgehen sagten: »Ich werde wiederkommen.« Zwei oder drei Politiker plauderten in einer Gruppe, bei der politische Berühmtheiten standen, von der Einberufung der Kammern und von öffentlichen Angelegenheiten. Die Wochenschrift, über deren Ankauf Dauriat verhandelte, hatte das Recht, Politik zu treiben. In jener Zeit waren die Tribünen aus bedrucktem Papier selten geworden. Ein Blatt war ein so begehrtes Privileg wie ein Theater. Einer der einflußreichsten Aktionäre des ›Constitutionnel‹ befand sich in der Politikergruppe. Lousteau entledigte sich seines Amtes als Cicerone aufs trefflichste. So wuchs Dauriat in Luciens Geist von Satz zu Satz, er sah in diesem Laden Politik und Literatur vereint. Beim Anblick eines hervorragenden Dichters, der in diesem Laden die Muse an einen Journalisten verkuppelte, der die Kunst demütigte, wie das Weib in diesen fluchwürdigen Galerien gedemütigt und prostituiert wurde, empfing unser Provinziale eine furchtbare Lehre. Geld! das war die Lösung jedes Rätsels. Lucien fühlte sich allein, unbekannt und nur durch den Faden einer zweifelhaften Freundschaft mit dem Erfolg und dem Glück verknüpft. Er klagte seine wirklichen Freunde an, sie hätten ihm die Welt in falschem Lichte gezeigt, sie hätten ihn gehindert, sich mit der Feder in der Hand in dieses Getümmel zu stürzen.

»Ich wäre schon Blondet!« rief es in seinem Innern.

Lousteau, der droben auf dem Luxembourg wie ein verwundeter Adler gejammert hatte, der ihm so groß erschienen war, hatte nur noch kleine Dimensionen. Hier der Modebuchhändler, der all diese Existenzen möglich machte, schien ihm der wichtige Mann. Der Dichter empfand, als er so mit seinem Manuskript in der Hand dastand, ein quälendes Gefühl, das fast wie Furcht war. In der Mitte des Ladens sah er auf Sockeln von Holz, das wie Marmor bemalt war, Büsten von Byron, von Goethe und von Herrn von Canalis, von dem Dauriat einen Band zu bekommen hoffte, und der an dem Tage, an dem er in diesen Laden träte, mit Augen sehen könnte, wie hoch ihn der Buchhändler stellte. Unwillkürlich sank für Lucien sein eigener Wert, sein Mut verließ ihn, er gewahrte, wie groß der Einfluß dieses Dauriat auf sein Geschick sein mußte, und erwartete ungeduldig, daß er käme.

»Nun, Kinder,« sagte ein kleiner, stämmiger und dicker Mann, dessen Gesicht aussah wie das eines römischen Prokonsuls, wenn schon er in seinen Mienen eine gewisse Gutmütigkeit zur Schau trug, wodurch sich oberflächliche Leute leicht täuschen konnten, »seht in mir den Besitzer der einzigen Wochenschrift, die feil war, und die zweitausend Abonnenten hat.«

»Aufschneider! Die Stempelbehörde weiß nur von siebenhundert, und das finde ich auch eine sehr hübsche Zahl«, sagte Blondet. »Mein heiligstes Ehrenwort, es sind zwölfhundert. Ich habe zweitausend gesagt,« fügte er mit leiser Stimme hinzu, »weil die Papierhändler und die Buchdrucker hier sind. Ich hätte dich für taktvoller gehalten, kleiner Freund«, fuhr er mit lauter Stimme fort.

»Nehmen Sie Gesellschafter auf?« fragte Finot.

»Je nachdem«, erwiderte Dauriat. »Willst du dich zu einem Drittel für vierzigtausend Franken beteiligen?«

»Könnte schon sein, wenn Ihnen als Mitarbeiter Emile Blondet hier, Claude Vignon, Scribe, Théodore Leclercq, Félicien Vernou, Jay, Jouy, Lousteau ...«

»Und warum nicht Lucien von Rubempré?« unterbrach unser Provinzdichter kühn diese Worte Finots.

»Und Nathan genehm sind«, sagte Finot, ohne darauf zu achten.

»Und warum nicht jeder, der Maulaffen feilhält?« sagte der Buchhändler und wandte sich stirnrunzelnd an den Verfasser der ›Margueriten‹. »Mit wem habe ich die Ehre?« fragte er und blickte dabei Lucien herausfordernd an.

»Einen Augenblick, Dauriat«, antwortete Lousteau. »Ich habe den Herrn hierher gebracht. Während Finot Ihren Vorschlag überlegt, hören Sie mich an.«

Lucien brach der Schweiß im Rücken aus, als er die kalte, mißvergnügte Miene dieses gefürchteten Literaturpaschas sah, der Finot duzte, während Finot zu ihm »Sie« sagte, der den gefürchteten Blondet »kleiner Freund« nannte, der mit königlicher Gebärde Nathan die Hand hingestreckt und ihm vertraulich zugenickt hatte.

»Ein neues Geschäft, Kleiner?« rief Dauriat; »aber du weißt, ich habe elfhundert Manuskripte! – Ja, mein Herr,« rief er, »man hat mir elfhundert Manuskripte angeboten, fragen Sie Gabusson! Ich muß mir schließlich ein eigenes Bureau für die Verwaltung der Manuskripte anschaffen und muß mir ein Personal halten, das die Manuskripte liest und prüft; es werden Sitzungen abgehalten werden, für die ich Präsenzgelder zahlen muß, in denen über Wert und Unwert abgestimmt wird, und ein ständiger Sekretär wird mir Bericht erstatten. Das wird eine Filiale der Akademie, und die Akademiker werden in den Holzgalerien besser bezahlt werden als im Institut.«

»Das ist eine Idee«, sagte Blondet.

»Eine schlechte Idee«, erwiderte Dauriat. »Es ist nicht mein Geschäft, mich mit den Ausgeburten solcher Literaten abzugeben, die zur Literatur gehen, weil sie keine Kapitalisten und keine Schuhmacher, Feldwebel, Bediente, Verwalter oder Türsteher sein können! Hier soll nur eintreten, wessen Ruhm fertig ist! Werdet berühmt, und ihr findet bei mir Ströme von Gold. Da habe ich in den letzten zwei Jahren drei große Männer gemacht, und was habe ich nun? Drei Undankbare! Nathan will für die zweite Auflage seines Buches sechstausend Franken haben, und dabei hat es mich dreitausend Franken für Artikel gekostet und hat mir keine tausend eingebracht. Für die zwei Artikel von Blondet habe ich tausend Franken bezahlt und ein Diner gegeben, das mir fünfhundert Franken gekostet hat ...«

»Aber, werter Herr, wenn alle Buchhändler dasselbe sagten wie Sie, wie könnte man dann ein erstes Buch herausgeben?« fragte Lucien, in dessen Augen Blondet sehr an Wert verlor, als er hörte, welche Summe Dauriat für die Artikel in den ›Débats‹ gezahlt hatte.

»Das kümmert mich nicht«, antwortete Dauriat und schleuderte dem schönen Lucien, der ihn freundlich ansah, einen tödlichen Blick zu. »Ich gebe ein Buch nicht zu meinem Vergnügen heraus, ich will nicht zweitausend Franken riskieren, um zweitausend zu gewinnen; ich will in der Literatur spekulieren; ich veröffentliche vierzig Bände in zehntausend Exemplaren, wie es Panckoucke und die Beaudouin machen. Meine Macht und die Artikel, die ich mir verschaffe, bringen ein Geschäft von hunderttausend Talern in derselben Zeit zustande, die man dazu braucht, einen Band für zweitausend Franken zu verkaufen. Es macht ebensoviel Arbeit, einen neuen Namen, einen Autor und sein Buch durchzudrücken, als solche Sammelwerke wie ›Das Theater des Auslands‹, ›Siege und Eroberungen‹ oder die ›Memoiren über die Revolution‹ herauszugeben, die ein Vermögen bedeuten. Ich bin nicht da, um das Sprungbrett künftiger Berühmtheiten zu sein, sondern um Geld zu verdienen und den berühmten Männern davon abzugeben. Das Manuskript, das ich für hunderttausend Franken kaufe, ist weniger teuer als eines, dessen unbekannter Verfasser sechshundert Franken von mir haben will. Wenn ich nicht ganz und gar ein Mäzen bin, jedenfalls habe ich Anspruch auf den Dank der Literatur: ich habe den Preis der Manuskripte schon auf mehr als das Doppelte in die Höhe getrieben. Ich sage Ihnen das alles nur, weil Sie der Freund Lousteaus sind, mein Kleiner«, sagte Dauriat zu dem Dichter und klopfte ihm mit empörender Vertraulichkeit auf die Schulter. »Wollte ich mit allen Schriftstellern, die mich zu ihrem Verleger haben möchten, mich unterhalten, dann müßte ich meinen Laden zumachen, denn ich verbrauchte meine ganze Zeit in Gesprächen, die überaus angenehm wären, aber viel zu teuer. Ich bin noch nicht reich genug, um die Monologe jeder Eigenliebe anhören zu können. Das leiste ich mir im Theater, in den klassischen Tragödien.«

Die kostbare Toilette dieses schrecklichen Dauriat unterstützte die grausame Logik dieser Worte in den Augen unseres Provinzialen.

»Was ist es denn?« wandte sich Dauriat an Lousteau.

»Ein wundervolles Gedichtbuch.«

Als Dauriat dieses Wort hörte, wandte er sich mit einer Gebärde, die Talmas würdig gewesen wäre, zu Gabusson:

»Freund Gabusson, wer von heute an kommt, um mir Manuskripte anzubieten ... – ihr andern, hört ihr, was ich sage?« wandte er sich an drei Gehilfen, die hinter den Bücherstößen hervorkamen, als sie die zornige Stimme ihres Herrn hörten, der seine Nägel und seine wohlgepflegte Hand betrachtete – »wer mir Manuskripte bringen will, wird gefragt, ob es Verse sind oder Prosa. Sind es Verse, dann wird er sofort weggeschickt. Wer Verse macht, soll meinem Laden die Ferse zeigen.«

»Bravo! Das hat Dauriat gut gesagt«, riefen die Journalisten.

»Wahrhaftig!« rief der Buchhändler und ging, Luciens Manuskript in der Hand, mit großen Schritten im Laden auf und ab; »ihr Herren wißt nicht, was die Erfolge Lord Byrons, Lamartines, Victor Hugos, Casimir Delavignes, Canalis' und Bérangers für Unheil angerichtet haben. Ihr Ruhm hat uns eine Invasion der Barbaren eingebracht. Ich bin sicher, es gibt in diesem Augenblick im Verlagsbuchhandel tausend Manuskripte mit Versen, die alle den ›Korsar‹ und den ›Lara‹ nachahmen, lauter abgebrochene Stücke aus der Geschichte, ohne Kopf und ohne Schwanz. Die jungen Leute wollen durchaus originell sein und schreiben Strophen, die kein Mensch versteht, beschreibende Gedichte, in denen die junge Richtung neu zu sein glaubt, während sie nichts weiter bringt als Delille! Seit zwei Jahren vermehren sich die Lyriker wie die Maikäfer. Ich habe im letzten Jahr zwanzigtausend Franken an ihnen verloren! Fragen Sie Gabusson! Es kann in der Welt unsterbliche Dichter geben, ich kenne darunter Milchgesichter, die noch keinen Bart haben,« sagte er zu Lucien; »aber, junger Mann, für den Buchhandel gibt es nur vier Dichter: Béranger, Casimir Delavigne, Lamartine, Victor Hugo; denn Canalis ... das ist ein Dichter, der mit Artikeln in die Höhe gebracht worden ist.«

Lucien fühlte nicht den Mut in sich, sich in die Brust zu werfen und vor diesen einflußreichen Männern, die laut auflachten, den Stolz herauszukehren. Er merkte, daß er sich lächerlich machen würde, aber er verspürte ein heftiges Gelüste, dem Buchhändler an die Gurgel zu springen, seine Krawatte, die so abscheulich schön geknotet war, zu zerzausen, die goldene Kette, die auf seiner Weste glänzte, zu zerreißen, seine Uhr zu Boden zu werfen und zu zertreten. Die gereizte Eigenliebe öffnete der Rachsucht die Tür, und er schwor diesem Buchhändler, dem er zulächelte, einen tödlichen Haß.

»Die Poesie ist wie die Sonne, die die ewigen Wälder wachsen läßt und die auch die Mücken, die Schnaken und die Moskitos erzeugt«, sagte Blondet. »Es gibt keine Tugend, die nicht durch ein Laster ergänzt wird. Die Literatur erzeugt die Buchhändler.«

»Und die Journalisten«, rief Lousteau.

Dauriat lachte laut auf.

»Was ist das nun eigentlich?« fragte er und zeigte auf das Manuskript.

»Eine Sammlung Sonette, vor denen Petrarca zurückstehen muß«, erwiderte Lousteau.

»Wie meinst du das?« fragte Dauriat.

»Wie alle Welt«, sagte Lousteau, der auf allen Lippen ein leichtes Lächeln sah.

Lucien durfte nicht losbrechen, aber er schwitzte in seinen Kleidern.

»Schön, ich werde lesen«, sagte Dauriat und machte eine königliche Gebärde, die die ganze Bedeutung dieses Versprechens zeigen sollte. »Wenn deine Sonette auf der Höhe des neunzehnten Jahrhunderts stehen, Kleiner, dann mache ich aus dir einen großen Dichter.«

»Wenn er so geistvoll ist, wie er schön ist, laufen Sie keine große Gefahr«, sagte einer der berühmtesten Kammerredner, der mit einem Redakteur des ›Constitutionnel‹ und dem Herausgeber der ›Minerva‹ plauderte.

»General,« antwortete Dauriat, »Ruhm heißt für zwölftausend Franken Artikel und für tausend Taler Diners, fragen Sie den Verfasser des ›Einsiedler‹. Wenn Herr Benjamin Constant über diesen jungen Dichter einen Artikel schreiben will, werde ich mich nicht lange besinnen, das Geschäft abzuschließen.«

Bei dem Wort ›General‹ und als er den berühmten Benjamin Constant anreden hörte, kam der Laden unserm Provinzialen beinah wie der Olymp vor.

»Lousteau, ich habe mit dir zu sprechen,« sagte Finot; »aber ich sehe dich im Theater wieder. – Dauriat, ich mache das Geschäft, aber ich habe Bedingungen. Gehen wir in Ihr Kontor.«

»Komm, Kleiner«, sagte Dauriat und ließ Finot vor sich eintreten, dabei machte er zu zehn Personen hin, die wartend dastanden, eine Handbewegung, die zeigen sollte, daß er keine Zeit habe.

Als er schon beinah in der Tür verschwunden war, hielt ihn der ungeduldige Lucien fest.

»Sie behalten mein Manuskript, wann erhalte ich Antwort?«

»Ja, kleiner Dichter, komm doch in drei oder vier Tagen wieder, wir werden sehen.«

Lucien wurde von Lousteau fortgezogen, der ihm nicht die Zeit ließ, Vernou oder Blondet oder Raoul Nathan oder den General Foy oder Benjamin Constant zu grüßen, dessen Buch über die Hundert Tage eben erschienen war. Lucien hatte kaum Zeit, den blonden, feinen Kopf, das längliche Gesicht, die funkelnden Augen, den schöngeformten Mund des Mannes zu sehen, der zwanzig Jahre lang der Potemkin der Frau von Staël gewesen war und der die Bourbonen bekämpfte, wie er Napoleon bekämpft hatte, und der, von seinem Sieg niedergeschmettert, sterben sollte.

»Was für ein Laden!« rief Lucien, als er neben Lousteau in einem Einspänner saß.

»Ins Panorama Dramatique, aber schnell! Du bekommst dreißig Sous für die Fahrt«, rief Etienne dem Kutscher zu. –

»Dauriat ist ein Kerl, der für anderthalb Millionen Franken Bücher jährlich verkauft, er ist so 'ne Art Literaturminister«, antwortete Lousteau, dessen Eigenliebe angenehm gekitzelt war und der sich Lucien überlegen zeigen wollte. »Seine Habgier ist ebenso groß wie die Barbets, aber sie geht ins Große. Dauriat hat Manieren, er kann großmütig sein, aber er ist eitel; sein Geist setzt sich aus allem zusammen, was er um sich sagen hört; sein Laden ist ein berühmter Ort, den man besuchen muß. Man kann sich dort mit den hervorragendsten Leuten der Zeit unterhalten. Ein junger Mann lernt dort, mein Lieber, in einer Stunde mehr, als wenn er zehn Jahre über Büchern schwitzt. Man diskutiert dort über Artikel, man findet Stoffe, man knüpft mit berühmten oder einflußreichen Leuten an, die nützlich werden können. Wer sich heutzutage durchsetzen will, muß Beziehungen haben. Alles ist Zufall, Sie sehen es. Das Gefährlichste ist, Geist zu haben und ganz allein in seinem Winkel zu sitzen.«

»Aber wie impertinent er ist!« sagte Lucien.

»Bah! wir machen uns alle über Dauriat lustig«, antwortete Etienne. »Wenn man ihn braucht, trampelt er einem auf dem Bauch herum, braucht er das ›Journal des Débats‹, dann läßt Emile Blondet ihn tanzen wie einen Kreisel. Oh, wenn Sie in die Literatur kommen, werden Sie von der Art noch vieles sehen! Und was habe ich Ihnen gesagt?«

»Ja, Sie hatten recht«, antwortete Lucien. »Ich habe in diesem Laden noch Grausameres ausgestanden, als ich nach Ihrer Prophezeiung erwartete.«

»Und warum wollen Sie überhaupt etwas ausstehen? Was uns unser Leben kostet, der Gegenstand, der in langen Nächten der Arbeit unser Hirn zermürbt hat, all dieses Wandern im Land der Gedanken, das ganze Ergebnis unserer Arbeit, die Schöpfung, der wir Geist und Blut gegeben haben, wird für die Verleger ein gutes oder schlechtes Geschäft. Die Buchhändler verkaufen Ihr Buch oder verkaufen es nicht. Das ist für sie das ganze Problem. Ein Buch bedeutet ihnen riskiertes Kapital. Je schöner das Buch ist, um so weniger Aussichten hat es, verkauft zu werden. Jeder hervorragende Mann erhebt sich über die Massen, sein Erfolg steht also im geraden Verhältnis zu der Zeit, die nötig ist, um das Werk zur Geltung zu bringen. Kein Buchhändler will warten, das Buch von heute muß morgen verkauft werden. Auf Grund dieses Systems lehnen die Verleger die gewichtigen Bücher ab, die der hohen Anerkennung bedürfen und sie nur langsam finden.«

»D'Arthez hat recht«, rief Lucien.

»Sie kennen d'Arthez?« fragte Lousteau. »Ich kenne nichts Gefährlicheres als die einsamen Geister, die wie dieser Mann denken, sie könnten die Welt zu sich heraufziehen. Sie verleihen den jungen Phantasten einen fanatischen Glauben, der der starken Kraft, die wir zuerst in uns fühlen, schmeichelt, und so verhindern diese Männer des Nachruhms die jungen Leute, sich in dem Alter zu rühren, wo es möglich und nützlich ist, sich zu regen. Ich bin für Mohammeds System, der, nachdem er dem Berg vergebens befohlen hatte, zu ihm zu kommen, ausgerufen hat: ›Wenn der Berg nicht zu mir kommt, gehe ich zu ihm!‹«

Dieser Ausfall, in dem die Berechnung einen so einschneidenden Ausdruck gefunden hatte, bewirkte nur, daß Lucien zwischen dem System der geduldig ertragenen Armut, das sein Zirkel predigte, und der Lehre des Kampfes, die Lousteau ihm auseinandersetzte, schwankte. Daher blieb der Dichter von Angoulême bis zum Boulevard du Temple schweigsam.

Das Panorama Dramatique, das heute nicht mehr steht, war ein reizendes Theater, das gegenüber der Rue Charlot auf dem Boulevard du Temple gelegen war. Zwei Direktionen gingen darin zugrunde, ohne einen einzigen Erfolg zu erlangen, obwohl Vignol, einer von den Schauspielern, die sich in die Erbschaft Potiers geteilt haben, und ebenso Florine, die fünf Jahre später eine so berühmte Schauspielerin wurde, dort zuerst aufgetreten sind. Die Theater sind wie die Menschen dem Schicksal unterworfen. Das Panorama Dramatique mußte die Konkurrenz mit dem Ambigu, der Gaieté, der Porte-Saint-Martin und den Vaudevilletheatern aufnehmen; gegen deren Manöver, die Einschränkungen seiner Konzession und den Mangel an guten Stücken konnte es sich nicht halten. Die dramatischen Schriftsteller wollten nicht um eines Theaters willen, dessen Aussichten zweifelhaft waren, mit den bestehenden Theatern brechen. Indessen rechnete die Direktion auf das neue Stück, eine Art komischen Melodramas, das ein junger Dramatiker namens du Bruel, der früher mit verschiedenen berühmten Männern zusammengearbeitet hatte, wie er sagte, diesmal allein verfaßt hatte. Dieses Stück war für das erste Auftreten Florines verfaßt, die bis dahin Statistin in der Gaieté gewesen war und seit einem Jahr kleine Rollen gespielt hatte, in denen sie auffiel, ohne es jedoch zu erreichen, daß sie als Schauspielerin engagiert wurde, so daß das Panorama sie der Konkurrentin weggenommen hatte. Coralie, eine andere Schauspielerin, sollte ebenfalls in dem Stück zum erstenmal auftreten. Als die beiden Freunde angelangt waren, war Lucien erstaunt über ein Beispiel von der Macht der Presse, das er da sehen sollte.

»Der Herr gehört zu mir«, sagte Etienne zu dem Kontrolleur, der sich bis zum Boden verneigte.

»Sie werden sehr schwer Plätze finden«, sagte der Oberkontrolleur. »Es sind nur noch in der Direktionsloge Plätze frei.«

Etienne und Lucien irrten eine Zeitlang in den Gängen herum und verhandelten mit den Schließerinnen.

»Wir wollen auf die Bühne gehen. Wir werden mit dem Direktor sprechen, und er nimmt uns in seine Loge. Überdies stelle ich Sie der Heldin des Abends, Florine, vor.«

Auf ein Zeichen Lousteaus nahm der Orchesterportier einen kleinen Schlüssel und öffnete eine Tapetentür. Lucien folgte seinem Freund und kam plötzlich aus dem hellerleuchteten Korridor in die schwarze Höhle, die fast in allen Theatern die Verbindung zwischen dem Zuschauerraum und der Bühne herstellt. Dann stieg unser Provinzler einige feuchte Stufen hinauf und hatte die Bühne vor sich, wo ihn das seltsamste Schauspiel erwartete. Die Enge der Kulissenstützen, die Höhe des Theaters, die Rampenlichter, die, aus der Nähe gesehen, so greulichen Dekorationen, die geschminkten Schauspieler, ihre grotesken und aus so groben Stoffen verfertigten Kostüme, die Theaterarbeiter mit ölglänzenden Westen, die herunterhängenden Schnüre, der Regisseur, der mit dem Hut auf dem Kopf hin und her ging, die Statistinnen, die herumsaßen, die hängenden Hintergründe, die Feuerwehrleute, dieses Ganze von närrischen, traurigen, schmutzigen, schrecklichen, schimmernden Dingen glich so wenig dem, was Lucien von seinem Theaterplatz aus gesehen hatte, daß sein Staunen grenzenlos war. Ein braves und grobgebautes Melodrama names ›Bertram‹ war beinahe zu Ende, ein Stück, das nach einer Tragödie von Maturin verfaßt war, die Nodier, Lord Byron und Walter Scott außerordentlich schätzten, aber es in Paris zu gar keinem Erfolg bringen konnte.

»Lassen Sie meinen Arm nicht los, wenn Sie nicht in eine Versenkung fallen, oder einen Wald auf den Kopf bekommen, oder einen Palast umstürzen, oder an einer Hütte hängen bleiben wollen. – Ist Florine in ihrem Ankleidezimmer, Herzchen?« fragte er eine Schauspielerin, die den Schauspielern auf der Bühne zuhörte, weil sie jeden Augenblick auftreten mußte.

»Ja, mein Schatz. Ich danke dir für das, was du über mich gesagt hast. Das ist um so freundlicher von dir, da Florine bei uns engagiert ist.«

»Paß auf, versäum dein Stichwort nicht, Kleine«, sagte Lousteau zu ihr. »Eile dich, hoch mit den Pfötchen! Sag recht schön: ›Halt, Unglücklicher!‹ denn es sind heute zweitausend Franken eingekommen.«

Der verdutzte Lucien sah, wie die Schauspielerin die Miene ihrer Rolle aufsetzte, und hörte dann ihren Schrei: »Halt, Unglücklicher!« daß er vor Schreck fast erstarrte. Es war nicht mehr dieselbe Person.

»Das ist also das Theater«, sagte er zu Lousteau.

»Es ist wie der Laden in den Galeries de Bois und wie ein Literaturblatt: es wird überall mit Wasser gekocht«, antwortete ihm sein neuer Freund.

Nathan erschien.

»Für wen sind Sie denn hier?« fragte ihn Lousteau.

»Ich mache doch, bis ich etwas Besseres finde, die kleinen Theaternotizen in der ›Gazette‹«, erwiderte Nathan.

»Ach, soupieren Sie doch heute abend mit uns, und behandeln Sie dafür Florine gut«, sagte Lousteau zu ihm.

»Ganz zu Ihren Diensten«, antwortete Nathan.

»Sie wissen, sie wohnt jetzt Rue de Bondy.«

»Wer ist denn der hübsche junge Mann, den du bei dir hast kleiner Lousteau?« fragte die Schauspielerin, die von der Bühne wieder in die Kulissen kam.

»O Liebste, ein großer Dichter, ein Mann, der einmal berühmt wird. Da Sie beim Souper zusammen sein sollen, Herr Nathan, stelle ich Ihnen Herrn Lucien von Rubempré vor.«

»Sie haben einen schönen Namen«, sagte Raoul zu Lucien.

»Lucien! Herr Raoul Nathan«, sagte Etienne zu seinem neuen Freund.

»Meiner Treu! Herr Nathan, ich habe vor zwei Tagen Ihr Buch gelesen, und ich begreife nicht, wenn man dieses Ihr Buch und Ihre Gedichtsammlung geschrieben hat, daß Sie so ergeben gegen einen Journalisten sind.«

»Wir wollen Ihr erstes Buch abwarten«, antwortete Nathan und lächelte.

»Seht, seht! Die Ultras und die Liberalen reichen sich also die Hand?« rief Vernou, als er dieses Trio stehen sah. »Am Vormittag habe ich die Meinungen meines Blattes; aber am Abend denke ich, was ich will: bei Nacht sind alle Journalisten grau.«

»Etienne,« sagte Félicien zu Lousteau, »Finot ist mit mir gekommen, er sucht dich. Und ... da ist er schon.«

»Wetter noch mal! Gibt es wirklich keinen Platz?« fragte Finot.

»Sie haben immer einen in unsern Herzen«, sagte die Schauspielerin zu ihm und lächelte ihn holdselig an.

»Sieh da! die kleine Florville, du bist also schon von deiner Liebe kuriert. Es hieß, du seiest von einem russischen Fürsten entführt worden.«

»Entführt man die Frauen heutzutage?« erwiderte Florville, die die Schauspielerin war, die eben »Halt, Unglücklicher!« gerufen hatte. »Wir sind zehn Tage in Saint-Mandé geblieben, mein Fürst hat dafür der Direktion eine Entschädigung bezahlt. Der Direktor«, fuhr Florville lachend fort, »kann Gott bitten, viele russische Fürsten kommen zu lassen; ihre Entschädigungssummen füllten ihm ohne Ausgaben die Kasse.«

»Und du, Kleine,« sagte Finot zu einer hübschen Bäurin, die ihnen zuhörte, »wo hast du denn die Diamanten gestohlen, die du in den Ohren hast? Hast du einen indischen Fürsten geangelt?«

»Nein, aber einen englischen Stiefelwichshändler, der schon wieder fort ist! Nicht jede hat wie Florine und Coralie Millionäre, die sich zu Hause langweilen: die sind glücklich!«

»Du versäumst dein Stichwort, Florville,« rief Lousteau, »die Wichse deiner Freundin steigt dir in den Kopf.«

»Wenn du Erfolg haben willst,« sagte Nathan zu ihr, »dann darfst du nicht wie eine Furie schreien: ›Er ist gerettet!‹ Du mußt vielmehr ganz schlicht hereinkommen, bis an die Rampe treten und dann mit so'ner gewissen Bruststimme sagen: ›Er ist gerettet‹, wie die Pasta ihr ›O Patria!‹ im Tancred sagt. – Geh doch!« rief er ihr zu und stieß sie vorwärts.

»Zu spät, sie versäumt ihr Stichwort«, sagte Vernou.

»Was hat sie gemacht? Das Publikum klatscht aus Leibeskräften«, sagte Lousteau.

»Sie hat sich auf die Knie geworfen und dabei ihren Busen sehen lassen,« sagte die Witwe des Wichsfabrikanten, »das ist ihr großes Hilfsmittel.«

»Der Direktor gibt uns seine Loge, du findest mich da wieder«, sagte Finot zu Etienne.

Lousteau führte nunmehr Lucien hinter der Bühne durch das Labyrinth der Kulissen, der Korridore und der Treppen bis in den dritten Stock in ein kleines Zimmer. Nathan und Félicien Vernou hatten sich ihnen angeschlossen.

»Guten Abend! meine Herren«, sagte Florine. – »Mein Lieber,« sagte sie und wandte sich zu einem stämmigen kleinen Mann, der sich in einen Winkel drückte, »diese Herren gebieten über mein Schicksal, meine Zukunft ist in ihren Händen; aber ich hoffe, wenn Herr Lousteau nichts vergessen hat, sind sie morgen früh unter unserm Tisch ...«

»Vor allen Dingen: Sie werden Blondet von den ›Débats‹ haben,« sagte Etienne zu ihr, »den richtigen Blondet, Blondet in Person, kurz Blondet!«

»O mein süßer Lousteau, ich muß dich umarmen«, sagte sie und fiel ihm um den Hals.

Bei dieser Kundgebung nahm Matifat, das war der stämmige Mann, eine ernsthafte Miene an. Florine war sechzehn Jahre alt und mager. Ihre Schönheit, die vielversprechend war wie eine Knospe, konnte nur den Künstlern gefallen, denen eine Skizze lieber ist als ein fertiges Bild. Diese entzückende Schauspielerin hatte in ihren Zügen die ganze Zartheit, die ihr Wesen ausmacht, und glich damals Goethes Mignon. Matifat, ein reicher Drogist aus der Rue des Lombards, hatte gedacht, eine kleine Boulevardschauspielerin könnte nicht viel kosten; aber in elf Monaten hatte er für Florine sechzigtausend Franken ausgegeben. Nichts kam Lucien erstaunlicher vor als dieser ehrbare, biedere Kaufmann, der wie ein Säulenheiliger in diesem Verschlag von zehn Fuß im Geviert in seiner Ecke saß. Die Kammer war übrigens hübsch tapeziert und mit einem großen Stehspiegel, einem Diwan, zwei Stühlen, einem Teppich, einem Kamin und mehreren Schränken eingerichtet. Eine Kammerfrau zog eben die Schauspielerin als Spanierin an. Das Stück war ein Imbroglio, in dem Florine die Rolle einer Gräfin hatte.

»Dieses Geschöpf wird in fünf Jahren die schönste Schauspielerin von Paris sein«, sagte Nathan zu Félicien.

»Herzchen,« sagte Florine und wandte sich den drei Journalisten zu, »seid morgen recht nett gegen mich; zunächst habe ich für heute nacht Wagen bestellt, denn ihr sollt mir bezecht werden wie zu Fastnacht. Matifat hat Weine angeschafft, oh! Weine, die Ludwigs XVIII. würdig wären, und er hat den Koch des preußischen Gesandten engagiert.«

»Wir machen uns, wenn wir den Herrn nur sehen, auf Ungewöhnliches gefaßt«, sagte Nathan.

»Aber er weiß, daß er die gefährlichsten Männer von Paris zu Gast hat«, erwiderte Florine.

Matifat richtete einen unruhigen Blick auf Lucien, denn die große Schönheit des Jünglings erregte seine Eifersucht.

»Aber da ist jemand, den ich nicht kenne«, sagte Florine und faßte Lucien ins Auge. »Wer von euch hat den Apollo des Belvedere aus Florenz mitgebracht? Der Herr ist reizend wie eine Gestalt von Girodet.«

»Mein Fräulein,« sagte Lousteau, »der Herr ist ein Dichter aus der Provinz, den ich vergessen habe Ihnen vorzustellen. Sie sind heute abend so schön, daß es unmöglich ist, an die knabenhafte und philiströse Höflichkeit zu denken.«

»Ist er reich, daß er Gedichte macht?« fragte Florine.

»Arm wie Hiob«, antwortete Lucien.

»Recht verlockend für uns«, sagte die Schauspielerin.

Du Bruel, der Verfasser des Stücks, ein kleiner, schlanker junger Mann im Gehrock, der zugleich wie ein Bureaukrat, Grundbesitzer und Börsenmakler aussah, trat plötzlich ein.

»Kleine Florine, Sie können doch hoffentlich Ihre Rolle? Nur keine Gedächtnisschwäche! Bringen Sie die Szene des zweiten Akts gut heraus, beißend, scharf! Sprechen Sie die Stelle: ›Ich liebe Sie nicht!‹ wie wir besprochen haben.«

»Warum übernehmen Sie Rollen, in denen solche Sätze vorkommen?« sagte Matifat zu Florine.

Diese Bemerkung des Drogisten wurde mit allgemeinem Lachen begrüßt.

»Was macht das Ihnen?« antwortete sie, »ich sage es doch nicht zu Ihnen, dummer Mensch! – Er quält mich immer mit seinen Albernheiten«, fügte sie, zu den Schriftstellern gewendet, hinzu. »So wahr ich ein ehrbares Mädchen bin, ich würde es ihm heimzahlen, wenn mich das nicht ruinierte.«

»Das wäre schon recht, aber wenn Sie das sagen, werden Sie mich ansehen, wie wenn Sie Ihre Rolle lernen, und das macht mir angst«, antwortete der Drogist.

»Gut denn, ich werde den kleinen Lousteau ansehen«, erwiderte sie.

In den Korridoren ertönte eine Glocke.

»Ihr müßt alle fortgehen,« sagte Florine, »ich muß meine Rolle überlesen und suchen, sie zu verstehen.«

Lucien und Lousteau waren die letzten, die hinausgingen. Lousteau küßte Florine auf die Schulter, und Lucien hörte, wie die Schauspielerin sagte:

»Heute abend unmöglich. Das alte Schaf hat seiner Frau gesagt, er ginge aufs Land.«

»Finden Sie sie hübsch?« fragte Etienne Lucien.

»Aber, mein Bester, dieser Matifat ...« rief Lucien.

»Ach, mein liebes Kind, Sie kennen das Pariser Leben noch nicht,« antwortete ihm Lousteau, »es gibt Notwendigkeiten, denen man sich fügen muß! Es ist geradeso, wie wenn Sie eine verheiratete Frau liebten. Man findet sich darein.«

Etienne und Lucien gingen in eine Proszeniumsloge im Parterre, wo sie den Theaterdirektor und Finot vorfanden. Ihnen gegenüber in einer Loge saß Matifat mit einem seiner Freunde namens Camusot, einem Seidenhändler, der der Freund Coralies war; in ihrer Gesellschaft befand sich noch ein würdiger alter Herr, sein Schwiegervater. Die drei wackern Bürgersleute putzten ihre Operngläser und sahen ins Parkett, dessen unruhiges Hin und Her sie lebhaft zu interessieren schien. In den Logen sah man das absonderliche Premierenpublikum: Journalisten und ihre Mätressen, ausgehaltene Frauen und ihre Liebhaber, einige Gewohnheitstheaterbesucher, die an Premieren Gefallen fanden, und Damen aus der vornehmen Gesellschaft, die diese Art Aufregungen lieben. In einer Loge des ersten Rangs saß der Generaldirektor und seine Familie, der du Bruel in einer Finanzverwaltung untergebracht hatte, in der der Vaudeville-Verfasser die Bezüge einer Sinekure genoß. Lucien fiel seit dem Mittagessen von einem Erstaunen ins andere. Das literarische Leben, das ihm seit zwei Monaten so ärmlich und so entbehrungsvoll erschienen, das in Lousteaus Zimmer so gräßlich, in den Galeries de Bois so gedemütigt und zugleich so frech aufgetreten war, zeigte sich ihm jetzt in seltsamer Herrlichkeit und absonderlicher Gestalt. Dieses Gemisch aus Höhen und Tiefen, aus Kompromissen mit dem Gewissen, aus Überlegenheit und Erbärmlichkeit, aus Preisgebung und Genuß, aus Größe und Knechtschaft stumpfte ihn ab, wie einen, der einem unerhörten Schauspiel zusieht.

»Glauben Sie, daß das Stück von du Bruel Ihnen Geld einbringt?« fragte Finot den Direktor.

»Das Stück ist ein Intrigenstück, in dem du Bruel uns als Beaumarchais kommen wollte. Das Boulevardpublikum liebt diese Gattung nicht, es will mit Gefühlserregungen und Leidenschaften vollgepfropft werden. Der Witz ist bei ihm nicht beliebt. Alles hängt heute abend von Florine und Coralie ab, die entzückend schön und graziös sind. Diese beiden Mädchen haben sehr kurze Röcke, sie haben einen spanischen Tanz zu tanzen, sie können das Publikum fortreißen. Diese Vorstellung ist ein Spiel mit Würfeln. Wenn die Zeitungen mir im Falle des Erfolgs ein paar gute Artikel schreiben, kann ich hunderttausend Taler verdienen.«

»Wissen Sie, ich sehe schon, es wird nur ein Achtungserfolg«, sagte Finot.

»Es ist von den drei benachbarten Theatern eine Intrige gesponnen worden, man wird in jedem Falle zischen; aber ich habe dafür gesorgt, daß diese bösen Absichten vereitelt werden. Ich habe den Claqueurs, die gegen mich hierher geschickt wurden, mehr bezahlt, und sie werden sich bei ihrem Zischen ungeschickt anstellen. Es sind da zwei Kaufleute, von denen jeder, um Coralie und Florine einen Triumph zu verschaffen, hundert Billette genommen hat; sie haben sie solchen Bekannten gegeben, die imstande sind, mit der Intrige fertig zu werden. Die zweimal bezahlte Intrige wird zurückgewiesen, und ein solcher Vorgang bringt das Publikum immer in gute Stimmung.«

»Zweihundert Billette! Was für prächtige Kerle«, rief Finot.

»O ja, wenn ich noch zwei hübsche Schauspielerinnen hätte, die so üppig ausgehalten wären wie Florine und Coralie, wäre ich ein gemachter Mann.«

Seit zwei Stunden war in Luciens Ohren das Geld der Schlüssel zu allem. Im Theater, im Buchhandel und im Journalismus war nicht von Kunst und nicht von Ruhm die Rede. Diese ewigen Hammerschläge des großen Prägstocks der Münze, die ihm fortwährend auf den Kopf und aufs Herz fielen, zermarterten ihm Sinn und Gemüt. Während das Orchester die Ouvertüre spielte, konnte er sich nicht enthalten, dem Beifallklatschen und dem Zischen des Parterres, das schon in Aufruhr war, die Szenen ruhiger und reiner Poesie entgegenzuhalten, die er bei David in der Druckerei gekostet hatte, wenn sie beide die Wunder der Kunst, die edlen Siege des Geistes, den Ruhm mit weißen Fittichen vor Augen gesehen hatten. Er erinnerte sich an die Abende im Kreis seiner Pariser Freunde, und Tränen traten ihm in die Augen.

»Was haben Sie?« fragte ihn Etienne Lousteau.

»Ich sehe die Poesie in einer Pfütze«, antwortete er.

»Ach, lieber Freund, Sie haben noch Illusionen.«

»Aber muß man denn vor diesen plumpen Menschen Matifat und Camusot sich beugen und vor ihnen kriechen, wie sich die Schauspielerinnen vor den Journalisten beugen und wie wir vor den Verlegern?«

»Mein Lieber,« sagte ihm Etienne ins Ohr und wies auf Finot, »haben Sie nicht gesehen, wie dieser vierschrötige Kerl, der keinen Geist und kein Talent hat, aber geldgierig ist, um jeden Preis zu Vermögen kommen will und geschäftsgewandt ist, mir in Dauriats Laden vierzig Prozent abgenommen hat und dabei noch eine Miene machte, als ob ich ihm zu Dank verpflichtet sei? ... eben der Mann hat Briefe, in denen mehrere angehende Genies für hundert Franken vor ihm auf den Knien liegen.«

Das Herz krampfte sich Lucien vor Ekel zusammen; er erinnerte sich an die Zeichnung: »Finot, meine hundert Franken!« die er auf der grünen Tapete der Redaktion gesehen hatte.

»Lieber sterben«, sagte er.

»Lieber leben«, erwiderte Etienne.

Der Vorhang hob sich, und der Direktor stand auf und ging hinter die Kulissen, um einige Anordnungen zu treffen.

»Mein Lieber«, sagte Finot jetzt zu Etienne, »Dauriat hat mir sein Wort gegeben, ich bin mit einem Drittel Miteigentümer des Wochenblatts. Der Vertrag lautet, daß ich dreißigtausend Franken bar einzahle unter der Bedingung, daß ich Chefredakteur und Herausgeber werde. Das ist ein großartiges Geschäft. Blondet hat mir gesagt, daß man gesetzliche Einschränkungen gegen die Presse vorbereitet, nur die schon bestehenden Blätter werden bleiben. In einem halben Jahre braucht man eine Million, um ein neues Blatt zu gründen. Ich habe also abgeschlossen, ohne daß ich mehr als zehntausend Franken besitze. Höre, wenn du es dahin bringst, daß Matifat die Hälfte meines Anteils, ein Sechstel also, für dreißigtausend Franken kauft, gebe ich dir die Chefredaktion meines Kleinen Journals mit zweihundertfünfzig Franken im Monat. Du wirst mein Strohmann sein. Ich will immer auch ferner die Redaktion leiten können und dort alle meine Interessen wahren, es soll nur nicht so aussehen, als wenn ich etwas damit zu tun hätte. Alle Artikel werden dir für den Satz von hundert Sous die Spalte bezahlt; auf diese Weise kannst du einen Überschuß von fünfzehn Franken im Tag erzielen, denn du zahlst die Spalte nur mit drei Franken und hast überdies noch den Vorteil von den unbezahlten Mitarbeitern. Das sind also noch vierhundertfünfzig Franken im Monat. Aber ich will vollständig unbehindert nach meinem Belieben in dem Blatt die Menschen und die Vorgänge angreifen oder verteidigen, dabei kannst du doch Haß und Freundschaft pflegen, soweit das meiner Politik nicht in die Quere kommt. Vielleicht werde ich Ministerieller oder Ultra, das weiß ich noch nicht; aber unter der Hand will ich meine liberalen Beziehungen pflegen. Ich sage dir alles, du bist ein guter Kerl. Vielleicht überlasse ich dir die Kammerberichte in dem Blatt, für das ich sie mache, ich kann sie jedenfalls nicht behalten. Sorge also dafür, daß Florine das Geschäftchen zustande bringt, aber sie muß ihrem Drogisten tüchtig zusetzen! Ich habe nur vierundzwanzig Stunden, in denen ich zurücktreten kann, wenn ich nicht zahlen kann. Dauriat hat das andere Drittel für dreißigtausend Franken seinem Drucker und seinem Papierlieferanten verkauft. Er für sein Teil hat sein Drittel umsonst und gewinnt noch zehntausend Franken, weil das Ganze ihm nur fünfzigtausend kostet; aber in einem Jahr wird die Revue dem Hof zweihunderttausend Franken kosten, wenn er, wie man munkelt, den guten Einfall hat, die Zeitungen aufzukaufen und zu amortisieren.«

»Du hast Glück«, rief Lousteau.

»Wenn du die Zeiten des Elends durchgemacht hättest, die ich hinter mir habe, würdest du das Wort nicht gebrauchen. Aber siehst du, auch jetzt noch gibt es für mich ein Unglück, gegen das es kein Mittel gibt: ich bin der Sohn eines Hutmachers, der noch in der Rue du Coq seine Hüte verkauft. Da könnte mir nur eine Revolution helfen; und in Ermangelung einer Umwälzung der Gesellschaft muß ich Millionen haben. Ich weiß nicht, ob von den beiden Dingen die Revolution nicht das Leichtere ist. Wenn ich den Namen deines Freundes führte, wäre ich fein heraus. Still, da kommt der Direktor. Adieu!« sagte Finot und stand auf. »Ich gehe in die Oper, morgen habe ich vielleicht ein Duell: ich schreibe einen zerschmetternden Artikel gegen zwei Tänzerinnen, deren Freunde Generale sind, und zeichne ihn mit einem F. Ich greife die Oper aufs schärfste an.«

»Was Sie sagen!« machte der Direktor.

»Jawohl, jeder knickert mit mir,« antwortete Finot, »der eine nimmt mir meine Logen weg, der andere lehnt es ab, mir fünfzig Abonnements abzunehmen. Ich habe der Großen Oper mein Ultimatum gestellt: ich will jetzt hundert Abonnements und vier Logen im Monat. Wenn sie darauf eingehen, hat mein Blatt achthundert Abonnenten, die das Journal bekommen, und tausend zahlende. Ich kenne die Mittel, noch weitere zweihundert Abonnements zu bekommen: wir werden im Januar zwölfhundert haben ...«

»Sie ruinieren uns«, sagte der Direktor.

»Ja, Sie haben sehr zu jammern, Sie mit Ihren zehn Abonnements. Ich habe Ihnen zwei gute Artikel im ›Constitutionnel‹ verschafft.«

»O, ich beklage mich ja nicht über Sie«, rief der Direktor.

»Auf morgen abend, Lousteau«, sagte Finot. »Du gibst mir im Théâtre Français Antwort, es ist eine Premiere dort, und da ich den Artikel nicht schreiben kann, nimmst du meine Loge für die Zeitung. Ich gebe dir den Vorzug: du hast dich für mich abgequält, ich bin dankbar. Félicien Vernou schlägt mir vor, ihm ein Jahr lang kein Gehalt zu zahlen, und bietet mir zwanzigtausend Franken für eine Drittelbeteiligung am Blatt an; aber ich will der unumschränkte Herr des Blattes bleiben. Adieu!«

»Er heißt nicht umsonst Finot, der Schlaumeier«, sagte Lucien zu Lousteau.

»O, das ist ein Ausgekochter, der wird seinen Weg machen«, antwortete ihm Etienne, ohne sich darum zu kümmern, ob der pfiffige Mann, der eben die Logentür schloß, ihn hören konnte oder nicht.

»Der!« sagte der Direktor; »er wird Millionär sein, er wird allgemeines Ansehen genießen, er wird vielleicht Freunde haben ...«

»Mein Gott«, sagte Lucien, »was für ein Sumpf! Und Sie wollen dieses entzückende Mädchen zu so einem Geschäft benutzen?« sagte er und wies auf Florine, die ihnen Blicke zuwarf.

»Und es wird ihr gelingen. Sie wissen nicht, wie aufopfernd und wie geschickt diese lieben Mädchen sind«, erwiderte Lousteau.

»Sie machen alle ihre Fehler wieder gut, sie tilgen alle ihre Fehltritte durch die Stärke ihrer Liebe«, fügte der Direktor hinzu. »Die Leidenschaft einer Schauspielerin ist etwas sehr Schönes, besonders weil sie in einem so grellen Gegensatz zu ihrer Umgebung steht.«

»Es ist eine Liebe, wie wenn man im Kot einen Diamanten so köstlicher Art fände, daß er wert wäre, die stolzeste Krone zu zieren«, fuhr Lousteau fort.

»Aber«, begann jetzt der Direktor, »Coralie ist zerstreut. Unser Freund macht Coralie in sich verliebt und merkt es gar nicht; sie versäumt alle ihre Stichworte; sie ist nicht mehr bei der Sache; sie hat jetzt schon zum zweitenmal den Souffleur nicht gehört. Werter Herr, ich bitte Sie, setzen Sie sich hier in die Ecke«, sagte er zu Lucien. »Wenn Coralie in Sie verliebt ist, werde ich ihr sagen, Sie seien fortgegangen.«

»Aber nicht doch,« rief Lousteau; »sagen Sie ihr, der Herr werde beim Souper sein, und sie könnte dann mit ihm machen, was sie wollte; Sie werden sehen, sie spielt dann wie die Mars.«

Der Direktor ging.

»Mein Freund,« sagte Lucien zu Etienne, »wie! Sie machen sich kein Gewissen daraus, für die Hälfte einer Sache, die Finot eben für dreißigtausend Franken gekauft hat, Fräulein Florine von diesem Drogisten die nämliche Summe verlangen zu lassen?«

Lousteau ließ Lucien nicht Zeit, seine Betrachtung zu vollenden.

»Aber aus welchem Land stammen Sie denn, Menschenkind? Dieser Drogist ist kein Mensch, er ist nur ein Geldschrank, den die Liebe öffnet.«

»Aber Ihr Gewissen?«

»Ja, mein Lieber, sehen Sie, das Gewissen ist so ein Stock, mit dem jeder seinen Nächsten prügelt, den er aber für sich selbst nie benutzt. Was zum Teufel ist mit Ihnen los? Der Zufall tut für Sie an einem Tag das Wunder, auf das ich zwei Jahre lang gewartet habe, und Sie beschäftigen sich damit, von den Mitteln zu sprechen? Wie! Sie scheinen Geist zu haben, Sie besitzen die geistige Unabhängigkeit, die den intellektuellen Abenteurern in der Welt, in der wir sind, notwendig ist, und Sie plappern von Gewissensbedenken, wie die Nonne, die sich anklagt, sie habe ihr Ei mit Gier gegessen? ... Wenn Florine Glück hat, werde ich Chefredakteur, habe zweihundertfünfzig Franken Fixum, ich nehme die großen Theater, Vernou lasse ich die Vaudevilletheater, und Sie setzen den Fuß in den Steigbügel und werden mein Nachfolger in den Boulevardtheatern. Sie bekommen dann drei Franken für die Spalte und schreiben jeden Tag eine, das macht im Monat dreißig, die Ihnen neunzig Franken einbringen, Sie haben dann Bücher im Wert von sechzig Franken, die Sie Barbet verkaufen; dann können Sie monatlich von Ihren Theatern je zehn Billette verlangen, im ganzen vierzig Billette, die Sie für vierzig Franken an den Barbet der Theater verkaufen werden, mit dem Mann werde ich Sie in Verbindung bringen. Das macht also für Sie zweihundert Franken im Monat. Sie könnten, wenn Sie sich Finot nützlich machen, im Fall, daß Sie ein hervorragendes Talent entfalten, in seiner neuen Wochenschrift einen Artikel für hundert Franken unterbringen, denn dort unterzeichnet man die Artikel mit seinem Namen, und man kann nicht kneifen, wie in dem Kleinen Journal. Sie haben dann hundert Taler im Monat. Mein Lieber, es gibt sehr talentvolle Leute, wie zum Beispiel diesen armen d'Arthez, der alle Tage bei Flicoteaux ißt, bei denen es zehn Jahre dauert, ehe sie hundert Taler verdienen. Sie verschaffen sich mit Ihrer Feder viertausend Franken jährlich, ohne die Einnahmen aus dem Buchverlag zu rechnen, wenn Sie Bücher herausgeben. Nun, ein Unterpräfekt hat nur ein Gehalt von tausend Talern und mopst sich schrecklich in den kleinen Provinznestern. Ich sage nichts von dem Vergnügen, daß Sie ins Theater gehen können, ohne zu zahlen, denn dieses Vergnügen wird bald eine Plage, aber Sie haben in vier Theatern den Zutritt hinter die Kulissen. Wenn Sie zwei Monate hart und zurückhaltend sind, dann werden Sie mit Einladungen überschüttet, können fortwährend mit den Schauspielerinnen soupieren; ihre Liebhaber machen Ihnen den Hof, Sie essen nur bei Flicoteaux an den Tagen, wo Sie keine dreißig Sous in der Tasche und keine Einladung zum Essen haben. Heute um fünf Uhr im Luxembourg waren Sie noch in Verzweiflung, und nun haben Sie die Aussicht vor sich, eine der hundert privilegierten Personen zu werden, die für Frankreich die Meinung machen. Wenn wir Glück haben, können Sie in drei Tagen mit dreißig kleinen Witzen, von denen täglich drei gedruckt werden, einem Menschen das Leben zur Qual machen; Sie können bei allen Schauspielerinnen Ihrer Theater sich Lust und Vergnügen holen, Sie können ein gutes Stück zu Fall bringen und ganz Paris dazu bringen, in ein schlechtes zu laufen. Wenn Dauriat ablehnt, die ›Margueriten‹ zu drucken, ohne Ihnen etwas dafür zu geben, können Sie es zuwege bringen, daß er demütig und unterwürfig zu Ihnen kommt und sie Ihnen für zweitausend Franken abkauft. Wenn Sie Talent haben und gegen ihn in drei verschiedenen Zeitungen mit drei Artikeln losgehen, die irgendeine seiner Spekulationen oder ein Buch, auf das er rechnet, zu vernichten drohen, dann werden Sie sehen, wie er wie eine Schlingpflanze bis zu Ihrer Mansarde emporklettert und nicht mehr vom Fleck geht. Und Ihr Roman schließlich! Die Buchhändler, die Sie jetzt alle mehr oder weniger höflich zur Tür hinausweisen würden, werden dann vor Ihrer Tür warten, bis sie Zutritt finden, und das Manuskript, das der alte Doguereau Ihnen auf vierhundert Franken schätzte, wird bis zu viertausend Franken in die Höhe getrieben werden! Das ist der Nutzen, den das Journalistengewerbe trägt. Daher versperren wir allen Neulingen den Zutritt zu den Zeitungen; um da einzudringen, bedarf es nicht bloß eines großen Talents, sondern auch eines großen Glücks. Und Sie wollen sich gegen Ihr Glück wehren! Sehen Sie, wenn wir uns nicht heute bei Flicoteaux getroffen hätten, könnten Sie noch drei Jahre lang warten oder wie d'Arthez in einer Dachkammer verhungern. Bis d'Arthez so gelehrt wie Beyle und ein so großer Schriftsteller wie Rousseau geworden ist, haben wir unser Glück gemacht und werden Herren über sein Glück und seinen Ruhm sein. Finot wird Deputierter und Besitzer einer großen Zeitung werden; und wir werden, was wir sein wollen: Pairs von Frankreich oder Schuldgefangene in Sainte-Pelagie.«

»Und Finot wird seine große Zeitung den Ministern verkaufen, die ihm das meiste Geld zahlen, wie er seine Lobartikel an Madame Bastienne verkauft und Mademoiselle Virginie schlecht macht und beweist, daß die Hüte der ersten schöner sind als die, die das Blatt zuerst gepriesen hatte!« rief Lucien, der sich an die Szene erinnerte, deren Zeuge er gewesen war.

»Sie sind ein dummer Kerl«, antwortete Lousteau trocken. »Finot lief vor drei Jahren mit zerrissenen Stiefeln herum, aß bei Tabar für achtzehn Sous zu Mittag, sudelte für zehn Franken einen Prospekt, und wie sein Rock ihm auf dem Leib saß, das war ein so unerforschliches Geheimnis wie das der unbefleckten Empfängnis: Finot ist jetzt alleiniger Besitzer seines Blattes, das hunderttausend Franken wert ist; mit den bezahlten, aber nicht effektiven Abonnements, mit den wirklichen Abonnements und den indirekten Kontributionen, die sein Onkel erhebt, verdient er jährlich zwanzigtausend Franken; er hat täglich die üppigsten Diners der Welt, er hat seit einem Monat ein Kabriolett; und morgen ist er nun endlich an der Spitze einer Wochenschrift und hat ein Sechstel des Eigentums umsonst, hat fünfhundert Franken monatliches Gehalt, die er um tausend Franken für unentgeltliche Mitarbeit, die seine Teilhaber ihm bezahlen müssen, erhöhen wird. Sie werden der erste sein, der überglücklich ist, Finot drei Artikel umsonst zu geben, wenn er einwilligt, Ihnen fünfzig Franken für den Bogen zu zahlen. Wenn Sie einmal in einer ähnlichen Stellung sind, können Sie über Finot urteilen: man kann nur von seinesgleichen gerichtet werden. Haben Sie nicht eine großartige Zukunft, wenn Sie blind sich in Haß und Liebe nach den jeweiligen Umständen richten; wenn Sie angreifen, weil Finot Ihnen sagt: ›Greif an!‹; wenn Sie loben, weil er Ihnen sagt: ›Lobe!‹ Wenn Sie gegen jemanden Rache zu üben haben, dann brauchen Sie mir nur zu sagen: ›Lousteau, der Mann muß vernichtet werden!‹ und wir rücken jeden Morgen in unser Blatt ein Sätzchen ein, mit Hilfe dessen Sie Ihren Freund oder Ihren Feind aufs Rad flechten können. Und dann bringen Sie Ihr Opfer mit einem großen Artikel in dem Wochenblatt noch einmal um. Und schließlich, wenn es für Sie eine große Sache ist, läßt Finot, dem Sie sich inzwischen unentbehrlich gemacht haben, Sie in einer großen Zeitung, die zehn- oder zwölftausend Abonnenten hat, einen letzten Keulenschlag führen.«

»Sie glauben also, Florine wird ihren Drogisten dazu bestimmen können, das Geschäft zu machen?« fragte Lucien, der von den Aussichten geblendet war.

»Das glaube ich freilich! Wir sind am Zwischenakt, ich werde ihr sofort zwei Worte sagen, die Sache wird heute nacht in Ordnung gebracht. Wenn Florine verstanden hat, um was es sich handelt, hat sie meinen ganzen Geist und ihren dazu.«

»Und da sitzt nun dieser brave Kaufmann mit offenem Munde und bewundert Florine, ohne eine Ahnung zu haben, daß man ihm dreißigtausend Franken aus der Tasche holen wird!«

»Schon wieder eine Dummheit! Stiehlt man sie ihm denn?« rief Lousteau. »Aber, mein Lieber, wenn der Minister das Blatt kauft, dann bekommt der Drogist binnen einem halben Jahr vielleicht fünfzigtausend Franken für seine dreißigtausend. Und ferner wird Matifat nicht an das Blatt denken, sondern an die Interessen Florines. Wenn man erfährt, daß Matifat und Camusot – denn sie sollen sich in das Geschäft teilen – eine Zeitschrift besitzen, dann bringen alle Blätter freundliche Artikel über Florine und Coralie. Florine wird berühmt werden, sie bekommt vielleicht an einem andern Theater ein Engagement für zwölftausend Franken. Und schließlich spart Matifat die tausend Franken, die ihm jeden Monat die Geschenke und die Diners für die Journalisten kosten würden. Sie verstehen nichts von den Menschen und nichts vom Geschäft.«

»Der arme Mann!« sagte Lucien; »er hofft auf eine genußreiche Nacht.«

»Und«, fuhr Lousteau fort, »wird mit tausend Gründen gefoltert, bis er Florine die Quittung für das Sechstel gezeigt hat, das er Finot abkaufen muß. Und am nächsten Tage bin ich Chefredakteur und verdiene tausend Franken im Monat. Die Zeit meines Elends ist zu Ende!«

Lousteau ging. Lucien war wie betäubt. Er war tief in Gedanken versunken über die Welt, wie sie ist. Er hatte in den Galeries de Bois die Schliche des Buchhandels und die Küche des Ruhms kennengelernt, er war hinter den Kulissen des Theaters gewesen und gewahrte jetzt, wie es im Innern der Menschen aussah; er sah das Räderspiel des Pariser Lebens, den Mechanismus jeden Dings. Er hatte Lousteau, als er Florine auf der Bühne bewunderte, um sein Glück beneidet. Er hatte schon ein paar Augenblicke lang Matifat vergessen. Er verweilte dabei vielleicht fünf Minuten, aber er wußte nicht wie lange. Ihm war es eine Ewigkeit. Glühende Gedanken entzündeten seine Seele, wie seine Sinne von dem Anblick dieser Schauspielerinnen entflammt worden waren: ihre Augen waren verführerisch gewesen, und die Schminke hatte sie noch blitzender gemacht, die weiße Haut des tiefen Halsausschnitts hatte ihm entgegengeleuchtet, sie waren in kecke Baskinen mit sehr freiem Faltenwurf gekleidet gewesen, hatten kurze Röckchen angehabt, hatten ihre Beine gezeigt, die in roten Strümpfen mit grünen Zwickeln steckten, und hatten Schuhe getragen, mit denen man ein Parterre in Erregung setzen konnte. Zwei Sünden näherten sich ihm auf parallelen Linien, wie zwei Wasserflächen, die in einer Überschwemmung sich vereinigen wollen. Sie verzehrten den Dichter, der, mit aufgestütztem Kopf, den Arm auf dem roten Samt der Brüstung, mit herunterhängender Hand in der Ecke seiner Loge saß, die Augen starr auf den Vorhang gerichtet. Er war um so empfänglicher für die Verführungen dieses Lebens, das aus leuchtenden Blitzen und dunklen Wolken gemischt war, weil es nach der tiefen Nacht seines arbeitsamen, zurückgezogenen, eintönigen Lebens wie ein Feuerwerk flammte. Plötzlich durchbohrte ein verliebt leuchtender Blick den Theatervorhang und wurde von den lässig vor sich hinblickenden Augen Luciens bemerkt. Der Dichter erwachte aus seiner Erstarrung und erkannte das Auge Coralies, das verzehrend nach ihm blickte; er senkte den Kopf und sah nach Camusot, der eben die gegenüberliegende Loge betrat. Dieser Liebhaber war ein guter, breiter, dicker Seidenwarenhändler aus der Rue des Bourdonnais, Handelsrichter, Vater von vier Kindern und zum zweitenmal verheiratet. Er hatte ein Jahreseinkommen von achtzigtausend Franken, aber er war sechsundfünfzig Jahre alt, hatte den Kopf voll grauer Haare, die aussahen wie eine Nachtmütze, und das scheinheilige Gesicht eines Mannes, der sein Alter genoß und das Leben nicht ohne seinen Anteil an gründlichem Vergnügen verlassen wollte, nachdem er die tausendundein Verdrießlichkeiten des Kaufmannslebens durchgemacht hatte. Diese Stirn, die eine Farbe hatte wie frische Butter, diese blühenden, an ein Mönchlein erinnernden Wangen schienen nicht breit und üppig genug, um das strahlende Vergnügen des Biedermanns fassen zu können; Camusot war ohne seine Frau und hörte den stürmischen Beifall, der Coralie zujubelte. In Coralie war die ganze Eitelkeit dieses Bourgeois verkörpert, er spielte bei ihr den großen Herrn der guten alten Zeit. In diesem Augenblick glaubte er sich die Hälfte des Erfolgs der Schauspielerin zuschreiben zu dürfen, und er glaubte es um so mehr, als er ihn bezahlt hatte. Sein Verhalten wurde durch die Gegenwart seines Schwiegervaters sanktioniert, eines kleinen alten Herrn mit gepuderten Haaren und schalkhaften Augen, der aber trotzdem sehr würdig aussah. Der Widerwille Luciens erwachte wieder, er erinnerte sich an die reine ekstatische Liebe, die er ein Jahr lang für Frau von Bargeton empfunden hatte. Sofort entfaltete die Dichterliebe ihre weißen Fittiche, tausend Erinnerungen tauchten aus blauen Fernen auf und bestürmten den großen Mann aus Angoulême, der wieder in Träumerei versank. Der Vorhang hob sich. Coralie und Florine waren auf der Bühne.

»Meine Liebe, er denkt an dich so wenig wie an den Großmogul«, sagte Florine halblaut, während Coralie eine Antwort hersagte.

Lucien konnte das Lachen nicht zurückhalten und sah Coralie an. Dieses Weib, eine der reizendsten und entzückendsten Schauspielerinnen von Paris, die Rivalin von Frau Perrin und Fräulein Fleuriet, denen sie ähnlich war und deren Schicksal auch ihres sein sollte, war der Typus der Mädchen, die mit Willen die Männer bezaubern. Coralie hatte den prächtigen Typus des jüdischen Gesichtsschnitts, das lange Oval, einen Teint wie blondes Elfenbein, einen roten Mund wie eine Granate, ein zartgeschwungenes Kinn, das dem Rand eines Bechers glich. Unter den Lidern brannte ein kohlschwarzer Augapfel, und unter den langen Wimpern ahnte man den schmachtenden Blick, aus dem wohl manchmal die Glut der Wüste funkelte. Diese Augen waren von einem olivenfarbenen Kreis umschattet, und über ihnen schwangen sich dichte Brauen. Auf der braunen Stirn, über der das glattgescheitelte, ebenholzschwarze Haar lag, auf dem jetzt die Lichter glänzten wie auf einer Glasur, thronte ein prächtiger Geist, der an Genie glauben ließ. Aber wie viele Schauspielerinnen war Coralie trotz ihrer Kulissenironie geistlos; trotz ihrer Boudoirerfahrungen fehlte es ihr an Bildung, und sie hatte nur den Geist der Sinnlichkeit und die Güte verliebter Frauen. Konnte man sich übrigens um die Welt des Geistes kümmern, wenn sie den Blick mit ihren runden, glatten Armen, mit ihren spindelförmigen Fingern, ihren leuchtenden Schultern, ihren Brüsten, die an die Brüste erinnerten, die das Hohelied besingt, mit ihrem graziös beweglichen und gebogenen Nacken, mit ihren bewundernswert eleganten Beinen, die jetzt in roter Seide steckten, blendete? Diese Schönheiten einer wahrhaft orientalischen Poesie wurden noch durch die in unsern Theatern herkömmliche spanische Tracht gehoben. Coralie war die Wonne aller Zuschauer, alle Augen hingen an ihrer Taille, die entzückend von der Baskine umschlossen war, und kamen nicht los von ihrem andalusischen Gesäß, über dem der Rock sich in verführerisch kecken Wellenlinien erging. Es gab einen Augenblick, in dem Lucien, als er dieses Geschöpf sah, das nur für ihn spielte und sich um Camusot so wenig kümmerte, wie ein Bengel auf dem Olymp um eine weggeworfene Apfelschale, die Sinnenliebe über die reine Liebe stellte, den Genuß über die Sehnsucht, und der Dämon der Wollust ihm wilde Gedanken eingab.

»Ich weiß nichts von der Lust, die in einem prächtigen Schmause, im Weine, in den stofflichen Freuden steckt«, sagte er sich. »Ich habe bisher mehr im Denken als in der Wirklichkeit gelebt. Ein Mann, der alles schildern will, muß alles kennen. Heute steht mir nun mein erster üppiger Schmaus, meine erste Orgie in einer seltsamen Welt bevor, warum soll ich nicht einmal die berühmten Wonnen kosten, in die sich die großen Herren des vorigen Jahrhunderts stürzten, um mit Sünderinnen zu leben? Wenn es auch nur darum geschähe, sie in die schönen Gefilde der wahren Liebe mit hinüberzuführen; muß man nicht die Freuden, die Vollkommenheiten, die Leidenschaft, die Mannigfaltigkeit, die Raffiniertheit der Liebe bei Kurtisanen und Schauspielerinnen kennenlernen? Ist das nicht schließlich die Poesie der Sinne? Vor zwei Monaten schienen mir diese Frauen Göttinnen, die von unüberwindlichen Drachen behütet wurden; hier ist nun eine, deren Schönheit die Florinens übertrifft, um die ich Lousteau beneidete: warum soll ich vor ihrer Anwandlung fliehen, wenn vornehmste Herren solchen Frauen eine Nacht mit ihren reichsten Schätzen bezahlen? Wenn Hochgestellte den Fuß in diese Höhlen setzen, kümmern sie sich nicht um das, was vorher war und nachher sein wird. Ich wäre ein Esel, wenn ich empfindlicher wäre als Fürsten, besonders wo ich noch keine Frau liebe.« Lucien dachte nicht mehr an Camusot. Nachdem er Lousteau gegenüber den tiefsten Abscheu gegen die widerwärtigste aller Teilhaberschaften ausgesprochen hatte, fiel er in denselben Graben; die Gier erwachte in ihm, der Jesuitismus der Leidenschaft riß ihn fort.

»Coralie ist wild nach Ihnen«, sagte der hereintretende Lousteau zu ihm. »Ihre Schönheit, die der der berühmtesten Marmorstatuen Griechenlands ebenbürtig ist, richtet hinter den Kulissen eine unerhörte Verheerung an. Sie sind glücklich, mein Lieber. Mit ihren achtzehn Jahren kann Coralie in ein paar Tagen sechzigtausend Franken jährlich für ihre Schönheit haben. Sie ist noch ein durchaus ehrbares Mädchen. Ihre Mutter hat sie vor drei Jahren für sechzigtausend Franken verkauft, und sie hat bisher nur Kummer geerntet und dürstet nach dem Glück. Sie ist aus Verzweiflung zum Theater gegangen, sie verabscheute Herrn von Marsay, der sie zuerst besessen hat, und als sie der Galeere entrann – denn der König unserer Dandys hat sie bald freigegeben –, fand sie unsern guten Camusot, den sie kaum liebt; aber er ist wie ein Vater zu ihr, sie duldet ihn und läßt sich lieben. Sie hat schon die großartigsten Vorschläge zurückgewiesen und hält sich an Camusot, der sie nicht quält. Sie sind also ihre erste Liebe. Oh, es war ihr wie ein Pistolenschuß ins Herz, als sie Sie sah, und Florine ist zu ihr in ihr Ankleidezimmer gegangen, um ihr gut zuzureden, denn sie sitzt da und weint über Ihre Kälte. Das Stück wird durchfallen, Coralie kann ihre Rolle nicht mehr, und mit dem Engagement ans Gymnase, das Camusot ihr verschaffen wollte, ist es aus!«

»Ach! ... das arme Mädchen!« sagte Lucien. All seine Eitelkeit fühlte sich von diesen Worten geschmeichelt, und sein Herz war gebläht von Selbstgefühl. »Mein Lieber, mir begegnen an einem Abend mehr Ereignisse als in den ersten achtzehn Jahren meines Lebens.«

Und Lucien erzählte sein Liebesverhältnis zu Frau von Bargeton und seinen Haß gegen den Baron du Châtelet.

»Warten Sie mal, unserm Blatt fehlt es gerade an Angriffsstoff, wir werden ihm was versetzen. Dieser Baron ist ein Geck aus der Kaiserzeit, er ist ministeriell, er kommt uns gelegen, ich habe ihn oft in der Oper gesehen. Ihre große Dame seh ich vor Augen, sie ist oft in der Loge der Marquise d'Espard. Der Baron macht Ihrer früheren Geliebten, die übrigens eine recht dürre Person ist, den Hof. Hören Sie! Finot schickt mir eben die Nachricht, daß das Blatt kein Manuskript hat, einer unserer Mitarbeiter, ein Schlingel, der kleine Hector Merlin, spielt uns einen Streich, weil man ihm die Zwischenräume nicht bezahlt. Finot sudelt in Verzweiflung einen Artikel gegen die Oper. Also, mein Lieber, schreiben sie den Artikel über das Stück hier; hören Sie zu, passen Sie auf. Ich will in das Bureau des Direktors gehen und mich auf drei Spalten über Ihren Feind und die schöne Dame, die Sie verstoßen hat, besinnen. Die werden morgen keinen guten Tag haben ...«

»So also kommt das Blatt zustande?« fragte Lucien.

»Immer so«, antwortete Lousteau. »Ich bin seit zehn Monaten dabei, und das Blatt hat um acht Uhr abends noch nie Manuskript gehabt. Es wird immer geplant, aber nie durchgesetzt, einige Nummern im voraus fertig zu haben. Jetzt ist es zehn Uhr, und es ist noch keine Zeile da. Ich will, damit diese Nummer glänzend wird, Vernou und Nathan bitten, uns etliche zwanzig Bosheiten gegen die Deputierten, den Kanzler Cruzoe, die Minister und, wenns not tut, gegen unsere Freunde zu geben. In solcher Lage wäre man imstande, seinen Vater zu ermorden. Man ist wie ein Seeräuber, der seine Kanonen mit den Talern, die er erbeutet hat, ladet, um sich vor dem Tod zu retten. Schreiben Sie einen recht feinen Artikel, Sie haben dann bei Finot einen großen Stein im Brett: er ist dankbar aus Berechnung. Das ist die beste und solideste Dankbarkeit!«

»Was für Menschen sind denn die Journalisten!« rief Lucien.

»Wie! Man soll sich an einen Tisch setzen und geistreich sein? ...«

»Genau wie man eine Lampe anzündet ... solange sie noch Öl hat.«

In dem Augenblick, wo Lousteau die Logentür öffnete, traten der Direktor und du Bruel ein.

»Werter Herr,« sagte der Verfasser des Stücks zu Lucien, „gestatten Sie mir, daß ich in Ihrem Namen Coralie sage, Sie würden nach dem Souper mit ihr gehen; mein Stück fällt sonst durch. Das arme Mädchen weiß nicht mehr, was sie sagt und was sie tut: sie weint, wenn sie lachen soll, und sie lacht, wenn sie weinen müßte. Man hat schon gezischt. Sie können das Stück noch retten. Übrigens ist das Vergnügen, das Sie erwartet, ja kein Unglück.«

»Werter Herr, ich habe nicht die Gewohnheit, Nebenbuhler zu haben«, antwortete Lucien.

»Um Gottes willen, berichten Sie ihr diese Worte nicht,« rief der Direktor, zu dem Schriftsteller gewandt, »Coralie ist imstande, Camusot zum Fenster hinauszuwerfen und sich ganz und gar zugrunde zu richten. Dieser wackere steinreiche Seidenhändler gibt Coralie zweitausend Franken im Monat und zahlt alle ihre Kostüme und ihre Claqueure.«

»Da Ihr Versprechen mich zu nichts verpflichtet, retten Sie Ihr Stück«, sagte Lucien mit der Miene eines Paschas.

»Aber Sie dürfen nicht ein Gesicht machen, als ob Sie das reizende Mädchen von sich wiesen«, sagte du Bruel im Ton eines Bittstellers.

»Schön, ich soll den Artikel über Ihr Stück schreiben und soll zu Ihrer Premiere ein freundliches Gesicht machen. Sei es so!« rief der Dichter.

Der Autor ging. Vorher aber hatte er noch Coralie ein Zeichen gegeben, die von dem Augenblick an wundervoll spielte. Vignol, der die Rolle eines alten Alkalden übernommen hatte, in der er zum erstenmal sein Talent, Alte zu spielen, enthüllte, konnte inmitten donnernden Beifalls verkünden:

»Meine Herren, das Stück, das wir die Ehre hatten vor Ihnen zu spielen, ist von den Herren Raoul und de Cursy verfaßt.«

»Sieh mal an, Nathan hat mitgearbeitet,« sagte Lousteau, »ich wundere mich nicht mehr, daß er hier ist.«

»Coralie! Coralie!« rief das Parterre, das sich erhoben hatte. Aus der Loge, in der sich die beiden Kaufleute befanden, kam eine Donnerstimme, die rief: »Und Florine!«

»Florine und Coralie!« wiederholten nunmehr etliche Stimmen.

Der Vorhang ging in die Höhe, Vignol kam mit den beiden Schauspielerinnen nach vorn, denen Matifat und Camufot jeder einen Kranz zuwarfen, Coralie hob ihren auf und reichte ihn Lucien. Für Lucien waren diese beiden Stunden im Theater wie ein Traum. Die Kulissen hatten, so abscheulich sie aussahen, das Werk der Bezauberung begonnen. Der unschuldige Dichter hatte dort die Luft der Unordnung und der Wollust geatmet. In diesen schmutzigen Gängen, die mit Apparaten und Maschinen voll standen und in denen ölstarrende Lampen blakten, herrscht eine Art Pest, die die Seele verzehrt. Das Leben ist dort nicht mehr heilig und nicht mehr wirklich. Man lacht dort über alles Ernsthafte, und das Unmögliche scheint wahr. Das alles war für Lucien wie ein narkotisches Gift, und Coralie tauchte ihn vollends in eine trunkene Luft. Der Kronleuchter erlosch. Es waren nur noch die Logenschließerinnen im Saal, die die kleinen Bänke wegräumten und die Logen schlossen und damit ein eigentümliches Geräusch machten. Die Rampe, deren Lichter wie eine einzige Kerze erloschen, verbreitete einen entsetzlichen Geruch. Der Vorhang ging wieder hoch. Eine Laterne kam vom Schnürboden herab. Die Feuerwehrleute begannen mit den diensthabenden Angestellten ihre Runde. Auf die feenhafte Szene, auf das Bild der Logen, die mit schönen Frauen gefüllt waren, auf die blendenden Lichter, auf die glänzende Magie der neuen Dekorationen und Kostüme folgten die Kälte, das Dunkel, die gähnende Leere. Es war häßlich. Lucien stand in einem unsagbaren Staunen.

»Nun, kommst du, Kleiner?« sagte Lousteau von der Bühne herunter. »Spring von der Loge hierher.«

Mit einem Satz war Lucien auf der Bühne. Kaum erkannte er Florine und Coralie, die sich umgekleidet hatten und in ihre Mäntel und grobe Decken gehüllt waren. Auf dem Kopf trugen sie Hüte mit schwarzen Schleiern, und ihre ganze Erscheinung erinnerte an Schmetterlinge, die in ihre Larven zurückgekehrt waren.

»Wollen Sie mir die Ehre erweisen, mir Ihren Arm zu geben?« wandte sich Coralie zitternd ihm zu.

»Gern«, sagte Lucien, der das Herz der Schauspielerin wie das eines Vogels, den man in die Hand nimmt, gegen das seine schlagen spürte.

Die Schauspielerin schmiegte sich eng an den Dichter und tat es mit der Wollust einer Katze, die sich weich und warm am Bein ihres Herrn reibt.

»Wir werden also jetzt zusammen soupieren«, sagte sie zu ihm.

Alle vier verließen das Theater und sahen an der Hintertür, die für die Schauspieler bestimmt war und auf die Rue des Fossés-du-Temple hinausging, zwei Droschken halten. Coralie ließ Lucien in den Wagen steigen, in dem sich bereits Camusot und sein Schwiegervater, der alte Cardot, befanden. Sie bot du Bruel ebenfalls einen Platz an. Der Direktor fuhr mit Florine, Matifat und Lousteau.

»Infame Droschken sind das!« sagte Coralie.

»Warum haben Sie keine Equipage?« erwiderte du Bruel.

»Warum?« rief sie schlechtgelaunt. »Ich will es nicht vor Herrn Cardot sagen, der ohne Zweifel seinen Schwiegersohn erzogen hat. Würden Sie es glauben, daß dieser kleine alte Kerl, Herr Cardot, Florentine nur fünfhundert Franken im Monat gibt, gerade genug, um ihre Miete, ihr bißchen Essen und ihre Überschuhe zu bezahlen! Der alte Marquis von Rochegude, der ein Jahreseinkommen von sechsmalhunderttausend Franken hat, bietet mir seit zwei Monaten ein Coupé an. Aber ich bin eine Künstlerin und keine Dirne.«

»Sie werden übermorgen einen Wagen haben,« sagte Camusot freundlich, »aber Sie hatten mich nie darum gebeten.«

»Ist das etwas, worum man bittet, wie? Läßt man eine Frau, die man liebt, im Kot herumpatschen und Gefahr laufen, sich durchs Zufußgehen die Beine zu brechen? Nur die Ritter von der Elle lieben den Schmutz am Saum eines Kleides.«

Während sie diese Worte so ärgerlich sagte, daß Camusot sich schmerzlich getroffen fühlte, hatte Coralie Luciens Bein gefunden und drückte es zwischen ihren Beinen, sie hatte seine Hand ergriffen und gedrückt. Sie schwieg jetzt und schien einer der unsagbaren Freuden ganz hingegeben, die diese armen Geschöpfe für all ihren vergangenen Kummer und ihr Unglück entschädigen und in ihrer Seele eine Poesie entzünden, die andern Frauen, in deren Leben es zum Glück diese heftigen Gegensätze nicht gibt, unbekannt bleibt.

»Sie haben am Schluß so gut gespielt wie Fräulein Mars«, sagte du Bruel zu Coralie.

»Ja,« sagte Camusot, »das Fräulein hat im Anfang etwas gehabt, was sie störte, aber von der Mitte des zweiten Akts an war sie hinreißend. Ihr Erfolg ist zur Hälfte ihr zu verdanken.«

»Und ihr Erfolg zur Hälfte mir«, sagte du Bruel.

»Ihr streitet euch um Kaisers Bart«, sagte sie mit einer Stimme, in der ein Zittern war.

Die Schauspielerin benutzte einen Augenblick, wo es völlig dunkel war, um Luciens Hand an ihre Lippen zu ziehen, und küßte sie. Die Hand wurde feucht von ihren Tränen. Lucien war jetzt bis ins Mark erregt. Die demütige Hingabe der liebenden Kurtisanen trägt Wonnen in sich, die sie zu Engeln machen.

»Der Herr wird den Artikel schreiben,« sagte du Bruel, zu Lucien gewandt, »er kann einen schönen Absatz über unsere liebe Coralie schreiben.«

»Oh, erweisen Sie uns diesen kleinen Dienst!« sagte Camusot mit der Stimme eines Mannes, der vor Lucien auf den Knien lag, »Sie finden in mir einen Diener, der Ihnen jederzeit zur Verfügung steht.«

»Aber laßt doch dem Herrn seine Unabhängigkeit!« rief die Schauspielerin wütend, »er soll schreiben, was er will. Papa Camusot, kaufen Sie mir Wagen und keine Lobreden.«

»Sie werden sie sehr billig haben«, sagte Lucien höflich. »Ich habe nie etwas für Zeitungen geschrieben, ich kenne ihre Gebräuche nicht, Sie sollen die Jungfernschaft meiner Feder haben ...«

»Das ist lustig«, sagte du Bruel.

»Hier sind wir in der Rue de Bondy«, sagte der kleine alte Cardot, den der Ausfall Coralies niedergeschmettert hatte.

»Wenn ich die erste Regung deiner Feder bekomme, bekommst du die erste meines Herzens«, sagte Coralie in der kurzen Sekunde, während sie mit Lucien allein im Wagen war.

Coralie begab sich zu Florine ins Schlafzimmer, um dort die Toilette anzuziehen, die sie hergeschickt hatte. Lucien wußte nichts von dem Luxus, den die lebenslustigen reichen Kaufleute bei den Schauspielerinnen oder ihren Mätressen entfalten. Obwohl Matifat, der über kein so beträchtliches Vermögen verfügte wie sein Freund Camusot, die Sache ziemlich ärmlich gemacht hatte, war Lucien doch überrascht, als er einen künstlerisch eingerichteten Speisesaal sah, dessen Wände grüner mit goldenen Nägeln befestigter Samt bedeckte; er war von schönen Lampen erleuchtet, überall waren Schalen mit Blumen aufgestellt, und an den Speisesaal stieß ein Salon, der mit gelber, von braunem Ausputz unterbrochener Seide ausgeschlagen war; in ihm standen die feinen Möbel, wie sie damals modern waren, hing ein Kronleuchter von Thomire, lag ein Teppich mit persischen Mustern. Die Standuhr, die Kandelaber, der Kamin, alles war geschmackvoll. Matifat hatte alles von Grindot, einem jungen Architekten, der ihm ein Haus baute, einrichten lassen, und dieser kannte die Bestimmung der Wohnung und hatte sich besondere Mühe damit gegeben. Doch berührte Matifat, der immer Kaufmann blieb, die geringsten Kleinigkeiten nur mit großer Vorsicht, er schien immer die Ziffer der Rechnungen gegenwärtig zu haben und betrachtete diese Herrlichkeiten wie Kleinode, die man unvorsichtigerweise aus dem Schmuckkästchen genommen hat.

»Ich werde doch genötigt sein, das auch für Florentine zu tun«, diesen Gedanken las man in den Augen des alten Cardot.

Lucien begriff jetzt mit einem Male, warum der Zustand der Kammer, in der Lousteau wohnte, dem Journalisten nicht viel Sorge machte. Er war der heimliche König dieser Herrlichkeiten und freute sich an all den schönen Dingen. So benahm er sich denn auch, als er vor dem Kamin stand und mit dem Direktor plauderte, der du Bruel gratuliert hatte, als ob er der Hausherr wäre.

»Manuskript! Manuskript!« rief Finot, der hereintrat. »Es ist nichts im Redaktionskasten. Die Setzer haben meinen Artikel und werden bald damit fertig sein.«

»Wir werden welches haben«, sagte Etienne. »Wir finden in Florinens Boudoir einen Tisch und Feuer. Wenn Herr Matifat uns Papier und Tinte verschaffen will, schreiben wir das Blatt, während Florine und Coralie sich umkleiden.«

Cardot, Camusot und Matifat gingen eilends fort, um Federn, Federmesser und alles, was die beiden Schriftsteller brauchten, zu holen. In diesem Augenblick stürzte eine der hübschesten Tänzerinnen der Zeit, Tullia, in den Salon.

»Liebes Kind,« sagte sie zu Finot, »man bewilligt dir deine zehn Abonnements, sie kosten der Direktion nichts, sie sind schon untergebracht, beim Chor, dem Orchester und dem Ballettkorps. Dein Blatt ist so famos, daß sich niemand beklagt. Du sollst deine Logen haben. Hier ist der Preis für das erste Vierteljahr«, sagte sie und überreichte ihm zwei Banknoten. »Also mach mich nicht herunter«

»Ich bin verloren,« rief Finot, »ich habe keinen Leitartikel mehr für die Nummer, denn mein infames Geschimpfe muß nun wegbleiben ...«

»Wie schön du dich bewegst, meine göttliche Laïs«, rief Blondet, der der Tänzerin mit Nathan, Vernou und Claude Vignon, die mit ihm gekommen waren, gefolgt war. »Du bleibst bei uns zum Souper, liebes Kind, oder ich lasse dich zerdrücken wie einen Schmetterling, der du ja bist. Als Tänzerin wirst du hier, was das Talent angeht, keine Rivalität erregen; und was die Schönheit angeht, seid ihr alle zu gescheit, um öffentlich eifersüchtig zu sein.«

»Guter Gott! Freunde, du Bruel, Nathan, Blondet, rettet mich!« rief Finot, »ich brauche fünf Spalten.«

»Ich schreibe zwei über das Stück«, sagte Lucien.

»Ich habe Stoff für eine«, sagte Lousteau. »Also Nathan, Vernou, du Bruel, macht mir die kleinen Scherze für den Rest. Der wackere Blondet kann mir die beiden kleinen Spalten auf der ersten Seite füllen. Ich eile in die Druckerei. Zum Glück bist du mit deinem Wagen gekommen, Tullia.«

»Ja, aber der Herzog ist darin mit einem deutschen Minister«, sagte sie.

»Laden wir also den Herzog und den Minister ein«, sagte Nathan.

»Ein Deutscher trinkt gut und hört zu, wir wollen ihm so viele Kühnheiten sagen, daß er darüber seinem Hof berichtet«, rief Blondet.

»Wer unter uns allen ist reputierlich genug, um mit ihm zu sprechen?« sagte Finot. »Geh du, Bruel, du bist Beamter, führe den Herzog von Rhétoré und den Minister herauf. Gib Tullia den Arm. Gott, ist diese Tullia heute abend schön!«

»Wir werden zu dreizehn sein«, sagte Matifat erblassend.

»Nein, vierzehn,« rief Florentine, die eben eintrat, »ich will auf Mylord Cardot aufpassen.«

»Überdies«, sagte Lousteau, »hat Blondet Claude Vignon mitgebracht.«

»Ich habe ihn zum Trinken mitgebracht«, sagte Blondet und nahm ein Tintenfaß. »Und ihr«, sagte er zu Nathan und Vernou, »müßt für die sechsundfünfzig Flaschen Wein, die wir trinken werden, Witz haben. Bringt vor allem du Bruel auf den Damm, das ist ein Vaudevillist, der ist gewohnt, schlechte Witze zu machen, bearbeitet ihn, bis er etwas Gutes sagt.«

Lucien war von dem Wunsch erfüllt, vor so bedeutenden Personen seine Probe abzulegen, und er schrieb auf dem runden Tisch in Florinens Boudoir beim Glanz der rosa Kerzen, die Matifat angesteckt hatte, seinen ersten Artikel:

Panorama Dramatique

Erste Vorstellung des »Alkalden in der Klemme«, Imbroglio in drei Akten. –
Erstes Auftreten von Fräulein Florine. –
Fräulein Coralie. – Vignol.

Man kommt, man geht, man spricht, geht auf und ab, sucht etwas und findet nichts, alles ist durcheinander. Der Alkalde hat seine Tochter verloren und findet seine Mütze; aber die Mütze paßt ihm nicht, es muß die Mütze eines Diebes sein. Wo ist der Dieb? Man kommt, man geht, man spricht, man geht hin und her, man sucht von neuem. Der Alkalde findet schließlich einen Mann ohne seine Tochter und seine Tochter ohne einen Mann, was befriedigend für den Beamten, aber nicht für das Publikum ist. Es tritt wieder Ruhe ein, der Alkalde will den Mann befragen. Der alte Alkalde setzt sich in einen großen Alkaldensessel und bringt seine Alkaldenärmel in Ordnung. Spanien ist das einzige Land, in dem es Alkalden gibt, die in großen Ärmeln stecken, in dem man um den Hals der Alkalden die Krausen sieht, die auf den pariser Theatern die Hälfte ihres Berufs sind. Dieser Alkalde, der mit den kleinen Schritten eines engbrüstigen Alten so viel hin und her getrippelt ist, wird von Vignol gespielt. Vignol, der Nachfolger Poliers, ist ein junger Schauspieler, der die alten Männer so gut gibt, daß er die ältesten der alten Männer zum Lachen gebracht hat. In dieser braunroten Stirn, in dieser meckernden Stimme, in diesen spindeldürren Beinen, die am Leib eines Zittergreises bammeln, liegt ein Geschlecht von hundert alten Männern. Dieser junge Schauspieler ist so alt, daß er erschreckt; man hat Angst, seine Greisenhaftigkeit könnte sich wie eine ansteckende Krankheit verbreiten. Und was für ein prachtvoller Alkalde! Wie reizend ist das unruhige Lächeln! Welche wichtigtuerische Albernheit! Was für eine stumpfsinnige Würde! Was für eine richterliche Unsicherheit! Wie gut weiß dieser Mann, daß alles abwechselnd falsch und wahr werden kann! Wie verdient er, Minister eines konstitutionellen Königs zu sein! Auf jede Frage des Alkalden gibt der Unbekannte eine Frage zurück, Vignol antwortet, so daß der Alkalde, der von der Antwort gefragt wird, mit seinen Fragen alles aufklärt. Diese Szene ist überaus komisch. Es atmet ein molièrischer Geist in ihr, und der ganze Zuschauerraum hat herzlich gelacht. Alle auf der Bühne schienen einig zu sein; aber ich bin nicht imstande zu sagen, was klar und was dunkel ist: da oben war die Tochter des Alkalden, und sie wurde von einer richtigen Andalusierin dargestellt, von einer Spanierin mit spanischen Augen, mit spanischem Teint, mit spanischer Taille, mit spanischem Schritt, von einer Spanierin von Kopf bis zu Fuß, mit ihrem Dolch im Strumpfband, ihrer Liebe im Herzen, ihrem Kreuz an einem Bande über der Brust. Am Ende des Akts hat mich jemand gefragt, wie die Aufführung sei, und ich habe ihm geantwortet: ›Sie hat rote Strümpfe mit grünen Zwickeln, einen winzig kleinen Fuß in Lackschuhen und das schönste Bein Andalusiens!‹ Oh, diese Tochter des Alkalden, sie bringt einem die Liebe hoch, sie gibt einem schreckliche Gelüste, man ist versucht, auf die Bühne zu springen und ihr seine Hütte und sein Herz oder dreißigtausend Franken Einkommen und seine Feder anzubieten. Diese Andalusierin ist die schönste Schauspielerin von Paris: Coralie, da man sie mit ihrem Namen nennen muß, ist imstande, Gräfin oder Grisette zu werden. Man weiß nicht, in welcher Gestalt sie mehr gefiele. Sie wird sein, was sie will, sie ist zu allem geschaffen; ist das nicht das Beste, was man von einer Boulevardschauspielerin sagen kann?

Im zweiten Akt tritt eine Spanierin aus Paris auf, mit einem Gesicht, wie aus einer Kamee geschnitten, und ihren mörderischen Augen. Ich habe gefragt, woher sie käme, und man hat mir geantwortet, sie käme aus der Kulisse und hieße Fräulein Florine; aber ich habe meiner Treu nicht daran glauben können, so viel Feuer hatte sie in ihren Bewegungen, so viel Glut in ihrer Liebe. Diese Nebenbuhlerin der Tochter des Alkalden ist die Frau eines vornehmen Herrn, der in den Mantel Almavivas gekleidet ist, aus dem man Stoff für hundert vornehme Herren des Boulevards machen könnte. Florine hatte keine roten Strümpfe mit grünen Zwickeln und keine Lackschuhe, aber sie hatte eine Mantille, einen Schleier, den sie wundervoll benutzte, die große Dame, die sie ist! Sie hat prachtvoll gezeigt, daß die Tigerin zur Katze werden kann. Ich habe an den spitzen Worten, die diese beiden Spanierinnen sich sagten, gemerkt, daß es sich um irgendein Eifersuchtsdrama handelte. Als sich dann alles gütlich schlichten wollte, hat die Dummheit des Alkalden wieder alles durcheinander gebracht. Diese ganze Welt von Fackeln, von Reichen, von Dienern, von Figaros, von Herren, von Alkalden, von Mädchen und Frauen hat wieder angefangen zu suchen, zu gehen, zu kommen, sich hin und her zu drehen. Die Intrige verwickelte sich von neuem, und ich habe sie sich verwickeln lassen, denn diese beiden Frauen, die eifersüchtige Florine und die glückliche Coralie, haben mich von neuem in die Falten ihrer Baskine, ihrer Mantille gewickelt und haben mir ihre kleinen Füße ins Auge gestoßen.

Ich konnte den dritten Akt erreichen, ohne ein Unglück anzurichten, ohne das Einschreiten des Polizeikommissars nötig gemacht oder die Zuschauer in Aufruhr gebracht zu haben; und ich glaube von jetzt an an die Macht der öffentlichen und religiösen Moral, mit der man sich in der Deputiertenkammer so viel beschäftigt, daß man glauben sollte, es gäbe keine Moral mehr in Frankreich. Ich habe so viel verstanden, daß es sich um einen Mann handelt, der zwei Frauen liebt, ohne wiedergeliebt zu werden, oder der von ihnen geliebt wird, ohne sie zu lieben, der die Alkalden nicht liebt oder den sie nicht lieben, der aber, so viel ist sicher, ein wackerer Herr ist, der irgend jemanden liebt, sich selbst oder im schlimmsten Fall Gott, denn er wird Mönch. Wer mehr davon wissen will, gehe ins Panorama Dramatique. Man weiß jetzt zur Genüge, daß man ein erstes Mal hingehen muß, um sich an diesen sieghaften roten Strümpfen mit grünen Zwickeln, an diesem vielversprechenden kleinen Fuß, an diesen Augen, aus denen ein Sonnenstrahl hervorbricht, an all den feinen Dingen dieser als Andalusierin verkleideten Pariserin und der als Pariserin verkleideten Andalusierin zu weiden; und dann ein zweites Mal, um das Stück zu genießen, das durch die Gestalt des alten Mannes zum Totlachen und durch die Gestalt des verliebten Señors zum Weinen ist. Das Stück hat auf beiderlei Art Erfolg gehabt. Der Verfasser, der, wie man sagt, einen unserer großen Dichter zum Mitarbeiter hat, durfte, an jeder Hand ein verliebtes Mädchen, für den Erfolg danken: sein aufgeregtes Parterre ist vor Vergnügen beinahe umgekommen. Die Beine der beiden Mädchen schienen witziger zu sein als der Verfasser. Trotzdem fand man, als die beiden Rivalinnen weg waren, den Dialog geistvoll, was die Vortrefflichkelt des Stücks zur Genüge beweist. Der Verfasser wurde inmitten eines Beifallsturms genannt, der den Erbauer des Saals unruhig machte, aber der Verfasser, der an die heftigen Bewegungen des trunkenen Vesuvs, der unter dem Kronleuchter brodelt, gewöhnt ist, zitterte nicht: es ist Herr von Cursy. Die beiden Schauspielerinnen haben den berühmten Bolero von Sevilla getanzt, der ehemals vor den ehrwürdigen Vätern des Konzils Gnade gefunden hat und den die Zensur trotz der gefährlichen Keckheit der Stellungen erlaubt hat. Dieser Bolero allein genügt, um alle alten Herren anzuziehen, die nicht wissen, was sie mit dem Rest Liebe, der ihnen geblieben ist, machen sollen, und ich bin mitleidsvoll genug, ihnen zu raten, ihr Opernglas gut zu putzen.

Während Lucien diese Seite schrieb, die im Journalismus durch ihre neue und originelle Art Aufsehen erregte, schrieb Lousteau ein Artikelchen, betitelt ›Der Exgeck‹, das folgendermaßen begann:

»Der Geck der Kaiserzeit ist immer ein langer, magerer, wohlkonservierter Mann, der ein Korsett trägt und das Kreuz der Ehrenlegion hat. Er heißt so ähnlich wie Potelet, und um in die heutige Aristokratie zu passen, hat sich der kaiserliche Baron von sich aus ein »du« verehrt: er ist du Potelet, auf die Gefahr hin, im Falle der Revolution wieder ein schlichter Potelet zu werden. Da er übrigens wie sein Name ein Mann aus zwei Teilen ist, macht er im Faubourg Saint-Germain den Hof, nachdem er der ruhmreiche, nützliche und angenehme Schleppenträger der Schwester eines Mannes gewesen ist, den die Scham mich zu nennen verhindert. Wenn du Potelet seinen Dienst bei der Kaiserlichen Hoheit verleugnet, dann singt er doch noch die Romanzen seiner innig verehrten Wohltäterin ...«

Der Artikel war ein Gewebe aus recht albernen persönlichen Anspielungen, wie man sie in dieser Zeit machte, denn diese Gattung wurde seitdem, besonders durch den ›Figaro‹, erstaunlich vervollkommnet. Lousteau zog zwischen der Frau von Bargeton, der Baron du Châtelet den Hof machte, und einem Fischbein eine spaßhafte Parallele, die belustigte, ohne daß man die beiden Personen, die aufs Korn genommen wurden, kennen mußte. Châtelet war mit einem Reiher verglichen. Die Liebschaften dieses Reihers, der das Fischbein nicht hinunterschlucken konnte, das in drei Stücke brach, wenn er es fallen ließ, reizten unwiderstehlich zum Lachen. Dieser Spaß, der auf mehrere Artikel verteilt war, verursachte, wie man weiß, riesigen Aufruhr im Faubourg Saint-Germain und war einer von den tausendundein Gründen für die Härten des Preßgesetzes. Eine Stunde später kamen Blondet, Lousteau und Lucien wieder in den Salon, in dem die Gäste, der Herzog, der Minister, die vier Frauen, die drei Kaufleute, der Theaterdirektor und Finot miteinander plauderten. Ein Lehrling mit seiner Papiermütze auf dem Kopf war schon gekommen, um Manuskript für das Blatt zu verlangen.

»Die Gehilfen wollen fortgehen, wenn ich ihnen nichts bringe«, sagte er.

»Hier hast du zehn Franken, sie sollen warten«, sagte Finot.

»Wenn ich ihnen die gebe, fangen sie zu saufen an, und dann ists aus mit der Nummer.«

»Der Verstand dieses Kindes erschreckt mich«, sagte Finot.

In dem Augenblick, wo der Minister dem kleinen Kerl eine glänzende Zukunft prophezeite, traten die drei Schriftsteller ein. Blondet las einen überaus geistvollen Artikel gegen die Romantiker vor. Der Artikel Lousteaus rief Gelächter hervor. Der Herzog von Rhétoré riet, um das Faubourg Saint-Germain nicht zu sehr zu verschnupfen, ein indirektes Lob für Frau d'Espard einfließen zu lassen.

»Und nun lesen Sie uns, was Sie geschrieben haben«, sagte Finot zu Lucien.

Als Lucien, der vor Angst zitterte, fertig gelesen hatte, erhob sich lauter Beifall im Salon, die Schauspielerinnen umarmten den neugebackenen Journalisten, die drei Kaufleute drückten ihn an sich, daß er fast erstickte, du Bruel drückte ihm die Hand und hatte eine Träne im Auge, der Direktor endlich lud ihn zum Diner ein.

»Es gibt keine Kinder mehr«, sagte Blondet. »Da Herr von Chateaubriand das Wort ›Himmlisches Kind‹ schon für Victor Hugo geprägt hat, bin ich genötigt, Ihnen ganz schlicht zu sagen, daß Sie ein Mann sind, der Geist, Gemüt und Stil besitzt.«

»Der Herr gehört zu unserm Blatt«, sagte Finot, dankte Etienne und warf ihm den scharfen Blick des Ausbeuters zu.

»Was für Witze haben Sie gemacht?« fragte Lousteau Blondet und du Bruel.

»Hier haben Sie die von du Bruel«, sagte Nathan:

»Der Herr Vicomte Demosthenes sagte gestern, als er sah, wie sehr der Vicomte d'A ... das Publikum beschäftigt: ›Vielleicht lassen sie mich jetzt in Ruhe.‹ Eine Dame sagte zu einem Ultra, der von der Rede Herrn Pasquiers tadelnd sagte, sie setze das System von Decazes fort: ›Ja, aber er hat sehr monarchische Waden‹ ...«

»Wenn es auf diese Weise anfängt, wünsche ich weiter nichts; dann ist alles gut«, sagte Finot. »Bring ihnen das, lauf!« sagte er zu dem Lehrling. »Das Blatt sieht ein bißchen kunterbunt aus, aber es ist unsere beste Nummer.« Damit wandte er sich zu der Schriftstellergruppe, die Lucien bereits etwas tückisch betrachtete.

»Der Bursche hat Geist«, sagte Blondet.

»Sein Artikel ist gut«, sagte Claude Vignon. »Zu Tisch!« rief Matifat.

Der Herzog gab Florine den Arm, Coralie nahm den von Lucien, und die Tänzerin hatte auf der einen Seite Blondet, auf der andern den deutschen Minister.

»Ich begreife nicht, warum Sie Frau von Bargeton und den Baron du Châtelet angreifen, der zum Präfekt der Charente und zum Vortragenden Rat ernannt worden sein soll.«

»Frau von Bargeton hat Lucien wie einen Schlingel vor die Tür gesetzt«, erwiderte Lousteau.

»Einen so schönen jungen Mann«, sagte der Minister.

Das Souper wurde auf neuem Silbergeschirr, auf Porzellan von Sèvres und Damastgedecken serviert, und alles machte einen großartigen Eindruck. Chevet hatte das Souper bereitet, die Weine waren vom berühmtesten Händler des Quai Saint-Bernard, einem Freunde Camusots, Matifats und Cardots, ausgesucht worden. Lucien, der zum erstenmal den Pariser Luxus in Funktion sah, geriet also von einer Überraschung in die andere und verbarg als Mann, der nach dem Wort Blondets Geist, Gemüt und Stil besaß, sein Erstaunen.

Coralie hatte, als sie durch den Salon ging, Florinen ins Ohr gesagt: »Mach mir Camusot so betrunken, daß er die Nacht hier zubringen muß.«

»Du hast also deinen Journalisten geknetet«, erwiderte Florine und wandte damit ein Wort aus der besondern Sprache dieser Mädchen an.

»Nein, ich liebe ihn«, antwortete Coralie und machte eine entzückende kleine Bewegung mit den Schultern.

Diese Worte waren Lucien ins Ohr geklungen, die fünfte Todsünde hatte sie dahin getragen. Coralie war wundervoll angezogen, und ihre Toilette hob sehr geschickt ihre besondern Reize, denn jede Frau hat Vollkommenheiten, die ihr eigentümlich sind. Ihr Kleid hatte wie das Florinens den Vorzug, aus einem entzückenden Stoff, der noch nicht bekannt war, gemacht zu sein, den man Seidenmusselin nannte. Camusot in seiner Eigenschaft als Großseidenhändler war es gelungen, diesen Stoff als erster aus Lyon zu erhalten. So hoben die Liebe und die Toilette, diese Schminke und dieser Duft der Frau die Reize der glücklichen Coralie. Ein Vergnügen, das uns erwartet, das uns nicht entgehen kann, übt auf junge Leute außerordentlichen Reiz aus. Es könnte sein, daß die Gewißheit der ganze Reiz ist, den die schlechten Häuser auf sie ausüben; die Gewißheit ist vielleicht das Geheimnis der langen Treue. Die reine, aufrichtige Liebe, kurz, die erste Liebe, verbunden mit einem der plötzlichen, leidenschaftlichen Anfälle, die diese armen Geschöpfe anstacheln, und auch ihre Bewunderung für die große Schönheit Luciens gaben Coralie den Geist des Herzens.

»Ich würde dich lieben, auch wenn du krank und häßlich wärst!« sagte sie Lucien ins Ohr, als man sich zu Tisch setzte.

Was für ein Wort für einen Dichter! Camusot verschwand für Lucien, er sah ihn nicht mehr, wenn er Coralie sah. Konnte sich ein junger Mensch, der ganz Genußfreude und Sinnenlust war, der das eintönige Provinzleben satt hatte, der von den Abgründen von Paris angezogen wurde, der vom Elend ermüdet, von seiner erzwungenen Keuschheit gequält, von seinem Mönchsleben in der Rue de Cluny, von seinen Arbeiten, die zu nichts führten, matt geworden, konnte er sich diesem glänzenden Gelage entziehen? Lucien war mit einem Fuß bei Coralie im Bett, mit dem andern von dem Fangeisen der Zeitung eingefangen, zu der er so viel gelaufen war, ohne hingelangen zu können. Wie oft war er vergebens nach der Rue du Sentier gegangen, und nun fand er die Zeitung bei Tisch zwischen den Weinflaschen, aufgeräumt und guter Dinge. Er sollte für all seine Schmerzen durch einen Artikel gerächt werden, der schon am nächsten Morgen zwei Herzen durchbohren würde, denen er bis jetzt die Wut und den Schmerz noch nicht hatte entgelten lassen, mit denen sie ihn überschüttet hatten. Er sah Lousteau an und dachte sich: »Das ist ein Freund«, ohne zu ahnen, daß Lousteau ihn jetzt schon als gefährlichen Rivalen zu fürchten anfing. Lucien hatte den Fehler begangen, seinen ganzen Geist zu zeigen: ein matter Artikel wäre besser gewesen. Blondet besänftigte den Neid, der an Lousteau fressen wollte, indem er zu Finot sagte, man müßte sich dem Talent beugen, wenn es von dieser Stärke wäre. Dieses Urteil war für Lousteaus Verhalten maßgebend; er beschloß, Luciens Freund zu bleiben und sich mit Finot darüber zu verständigen, den gefährlichen Neuling auszubeuten und in Abhängigkeit zuhalten. Dieser Entschluß wurde in aller Schnelligkeit zwischen den beiden Männern mit zwei Sätzen, die sie einander ins Ohr sagten, gefaßt und in seiner ganzen Tragweite verstanden.

»Er hat Talent.«

»Er wird anspruchsvoll sein.«

»Oh!«

»Gut.«

»Ich soupiere niemals ohne Angst mit französischen Journalisten«, sagte der deutsche Diplomat mit ruhiger und würdiger Gutmütigkeit zu Blondet, den er bei der Gräfin von Montcomet gesehen hatte. »Es gibt ein Wort von Blücher, das zu verwirklichen Ihre Aufgabe ist.«

»Was für ein Wort?« fragte Nathan.

»Als Blücher mit Sacken im Jahre 1814 – verzeihen Sie, meine Herren, daß ich Sie an diesen für Sie verhängnisvollen Tag erinnere – auf den Höhen von Montmartre ankam, sagte Sacken, der ein brutaler Kerl war: ›Wir werden also Paris verbrennen!‹ – ›Tun Sie das nicht, Frankreich wird nur daran sterben!‹ antwortete Blücher und wies mit der Hand auf dieses große Krebsgeschwür, das sie glühend und dunstig im Tal der Seine zu ihren Füßen liegen sahen. – Ich danke Gott, daß es in meinem Lande keine Zeitungen mehr gibt«, fuhr der Minister nach einer Pause fort. »Ich habe mich noch nicht von dem Schrecken erholt, den mir der kleine Kerl mit der Papiermütze auf dem Kopf eingeflößt hat, der mit zehn Jahren die Überlegung eines alten Diplomaten besitzt. Ich muß sagen, ich habe heute abend den Eindruck, daß ich mit Löwen und Panthern zu Nacht speise, die mir die Ehre erweisen, ihre Tatzen mit Samt zu bekleiden.«

»Es ist sicher,« sagte Blondet, »daß wir imstande sind, ganz Europa zu sagen und zu beweisen, daß Eure Exzellenz heute abend eine Schlange ausgespien haben, daß Sie beinahe Fräulein Tullia, die hübscheste unserer Tänzerinnen, von ihr beißen ließen, und wir könnten, daran anschließend, Kommentare über Eva, die Bibel, die Erbsünde und die Todsünde folgen lassen. Aber beruhigen Sie sich. Sie sind unser Gast.«

»Das wäre drollig«, sagte Finot.

»Wir könnten wissenschaftliche Abhandlungen über alle Schlangen drucken lassen, die man im menschlichen Herzen und im menschlichen Körper bis auf das diplomatische Korps findet«, sagte Lousteau.

»Wir könnten irgendeine Schlange in dieser Flasche Kirschwasser finden«, sagte Vernou.

»Sie würden es schließlich selbst glauben«, sagte Vignon zu dem Diplomaten.

»Meine Herren, erwecken Sie nicht Ihre schlummernden Klauen!« rief der Herzog von Rhétoré.

»Der Einfluß, die Macht der Zeitungen stehen erst in ihrem Beginn,« sagte Finot; »der Journalismus ist in seiner Kindheit, er wird wachsen. Binnen zehn Jahren wird alles der öffentlichen Meinung unterworfen sein. Der Gedanke wird alles beleuchten, er wird ...«

»Alles beflecken«, unterbrach Blondet.

»Das ist ein Wort!« sagte Claude Vignon.

»Er wird Könige machen«, sagte Lousteau.

»Er wird die Monarchien auflösen«, sagte der Diplomat. »Zugegeben,« sagte Blondet, »wenn es keine Presse gäbe, brauchte man sie nicht zu erfinden, aber sie ist da, und wir leben davon.«

»Sie werden daran sterben«, sagte der Diplomat. »Sehen Sie nicht, daß die Massen, vorausgesetzt, daß Sie ihnen wirklich Aufklärung bringen, eine höhere Bildung erlangen und die Machtstellung des Individuums beeinträchtigen werden, daß Sie dadurch, daß Sie in die untern Klassen das Denken aussäen, die Revolution ernten werden und daß Sie ihre ersten Opfer sein werden? Was zerbricht man in Paris, wenn es einen Aufstand gibt?«

»Die Laternen,« sagte Nathan; »aber wir sind zu bescheiden, um Angst zu haben, wir werden nur Sprünge bekommen.«

»Sie sind ein geistig zu hochstehendes Volk, als daß Sie irgendeiner Regierung erlaubten, am Ruder zu bleiben«, sagte der Minister. »Wenn das nicht wäre, würden Sie mit Ihren Federn die Eroberung Europas wiederbeginnen, das Ihr Degen nicht behaupten konnte.«

»Die Zeitungen sind ein Übel«, sagte Claude Vignon. »Man konnte sich dieses Übels bedienen, aber die Regierung will es bekämpfen. Es kommt also sicher zum Kampf. Wer wird unterliegen? Das ist die Frage.«

»Die Regierung!« sagte Blondet, »ich höre nicht auf, es zu sagen. In Frankreich ist der Geist stärker als alles, und die Zeitungen haben außer dem Geist aller talentvollen Menschen noch dazu die Heuchelei Tartüffes.«

»Blondet, Blondet,« sagte Finot, »du gehst zu weit! Es sind Abonnenten hier.«

»Du bist Besitzer einer dieser Giftbuden, du mußt Angst haben; aber ich pfeife auf all eure Anstalten, obwohl ich davon lebe!«

»Blondet hat recht«, sagte Claude Vignon. »Die Zeitung, die ein Heiligtum hätte sein sollen, ist ein Mittel für die Parteien geworden, aus einem Mittel ist sie ein Geschäft geworden; und wie alle Geschäftsunternehmungen ist sie ohne Treu und ohne Ehrlichkeit. Jede Zeitung ist, wie es Blondet sagt, eine Bude, in der man dem Publikum Worte von der Farbe verkauft, die es haben will. Gäbe es eine Zeitung für Bucklige, dann bewiese sie morgens und abends die Schönheit, Güte und Notwendigkeit der Buckligen. Eine Zeitung ist nicht mehr dazu da, die Meinungen zu klären, sondern ihnen zu schmeicheln. Daher werden alle Zeitungen nach einiger Zeit erbärmlich, heuchlerisch, infam, lügnerisch, mörderisch sein; sie werden die Ideen, die Systeme, die Menschen töten und werden gerade dadurch blühen und gedeihen. Sie werden die Wohltat genießen, die allen imaginären Wesen zugute kommt: das Übel wird geschehen, ohne daß jemand daran schuldig ist. Wir alle, ich Vignon, du Lousteau, du Blondet, du Finot werden Aristidesse, Platone, Catone, Männer von Plutarch sein; wir werden alle unschuldig sein, wir werden uns alle die Hände von jeder Ruchlosigkeit weißwaschen. Napoleon hat für diese moralische oder, wenn Sie lieber wollen, unmoralische Erscheinung den Grund angegeben; er hat darüber ein prachtvolles Wort gesagt, auf das ihn seine Studien über den Konvent gebracht haben: »Für die Kollektivverbrechen ist niemand haftbar.« Die Zeitung kann sich das abscheulichste Benehmen gestatten, niemand glaubt, sich damit persönlich schmutzig zu machen.«

»Aber die Regierung wird Repressivgesetze einsetzen,« sagte du Bruel, »sie bereitet welche vor.«

»Bah!« sagte Nathan, »was kann das Gesetz gegen den französischen Geist, gegen dieses schärfste Scheidewasser, das es gibt?«

»Die Ideen können nur durch Ideen unwirksam gemacht werden«, fuhr Vignon fort. »Der Schrecken, der Despotismus können den französischen Geist, dessen Sprache sich so vorzüglich zur Anspielung, zum Doppelsinn eignet, nur vorübergehend ersticken. Je mehr das Gesetz unterdrücken will, um so mehr wird der Geist hervorbrechen, wie der Dampf aus einer Maschine ohne Ventil. Der König tut nur Gutes: wenn die Zeitung gegen ihn ist, so war es der Minister, der alles getan hat, und ebenso umgekehrt. Wenn die Zeitung eine niederträchtige Verleumdung erfindet, hat man sie ihr berichtet. Kommt jemand und beklagt sich, so entschuldigt sie sich mit der großen Freiheit. Wird sie vors Gericht gezogen, dann beklagt sie sich, daß man ihr keine Berichtigung geschickt hat; aber wenn man ihr eine schickt, dann lehnt sie sie lachend ab und spricht von ihrem Verbrechen wie von einer Kleinigkeit, die nicht der Rede wert wäre. Schließlich verhöhnt sie ihr Opfer, wenn es Recht bekommt. Wird sie bestraft, hat sie zuviel Geldstrafen zu zahlen, dann denunziert sie den Klagenden als einen Feind der Freiheit, des Landes und der Aufklärung. Sie wird sagen, Herr Soundso sei ein Dieb, und wird dafür die Worte wählen, er sei der ehrlichste Mann des Königreichs. So sind ihre Verbrechen Kleinigkeiten! ihre Angreifer Scheusale! und nach einiger Zeit glauben die Leute, die sie alle Tage lesen, alles, was sie will. Von nun an ist nichts, was ihr mißfällt, mehr patriotisch, und sie wird nie unrecht haben. Sie bedient sich der Religion gegen die Religion, der Verfassung gegen den König; sie verhöhnt die Behörden, wenn die Behörden sie ärgern; sie lobt sie, wenn sie den Volksleidenschaften schmeicheln. Um Abonnenten zu ergattern, erfindet sie die rührendsten Märchen, führt sie Possenspiele auf wie Hanswurst. Die Zeitung würde eher dem Publikum ihren eigenen Vater zum Frühstück servieren, als darauf verzichten, es unausgesetzt zu interessieren und zu amüsieren. Sie ist wie ein Schauspieler, der die Asche seines Sohnes in die Urne tut, um wirklich weinen zu können; sie ist die Mätresse, die ihrem Geliebten alles opfert.«

»Kurz, sie ist die Folioausgabe des Volkes«, rief Blondet dazwischen.

»Des heuchlerischen, unedelmütigen Volkes«, erwiderte Vignon. »Es kommt dahin, daß die Zeitung das Talent aus ihrer Mitte verbannen wird, wie Athen Aristides verbannt hat. Wir werden es erleben, wie die Zeitungen, die anfangs von Ehrenmännern geleitet werden, später unter das Regiment der Mittelmäßigsten kommen, die die Geduld und die Nachgiebigkeit des Gummielastikums haben, die den wahren Talenten fehlt; oder sie kommen an die Krämer, die das Geld haben, sich die Federn zu kaufen. Wir erleben davon schon jetzt allerlei. Aber in zehn Jahren wird der erste beste Bursche, der vom Gymnasium kommt, sich für einen großen Mann halten, wird auf die Spalten eines Journals steigen, um seine Vordermänner zu prügeln, wird sie an den Füßen herunterziehen, um ihren Platz zu bekommen. Napoleon hatte sehr recht, die Presse zu knebeln. Ich möchte wetten, daß die Oppositionsblätter, wenn sie ihre Richtung zur Regierung brächten, diese selbe Regierung in dem Augenblick, wo sie ihnen irgend etwas verweigerte, mit den nämlichen Gründen und den nämlichen Artikeln, die sie jetzt gegen die Regierung des Königs schreiben, wütend bekämpfen würden. Je mehr man den Journalisten Konzessionen macht, um so anspruchsvoller werden die Zeitungen. Heute sind die Journalisten Parvenüs; aber ihnen werden ausgehungerte und arme Journalisten folgen. Die Wunde ist unheilbar, sie wird immer bösartiger, immer fressender; und das Übel wird immer größer, je mehr es geduldet wird, bis zu dem Tag, wo über die Zeitungen durch ihre Üppigkeit und Massenhaftigkeit die Verwirrung kommt, wie in Babylon. Wir wissen alle, wie wir hier sind, daß die Zeitungen in der Undankbarkeit weiter gehen werden als die Könige, daß sie in Spekulationen und Berechnungen weiter gehen als der schmutzigste Kaufmann, daß sie unsere Intelligenzen zugrunde richten werden, damit sie jeden Morgen ihren Hirnfusel verkaufen; aber wir schreiben alle für sie, wie die Leute, die eine Quecksilbermine ausbeuten, obwohl sie wissen, daß sie daran sterben. Da unten sitzt nun, neben Coralie, ein junger Mann ... Wie heißt er? Lucien! Er ist schön, er ist ein Dichter und, was für ihn mehr wert ist, er hat Witz, Einfälle, Geist; was wird nun aus ihm? Er tritt in eines der Gedankenbordelle ein, die man Zeitung nennt, dort vergeudet er seine schönsten Ideen, dort dörrt er sein Hirn aus, dort befleckt er seine Seele, dort begeht er die anonymen Niederträchtigkeiten, die im Gedankenkrieg an die Stelle der Feldzugspläne, Plünderungen, Brandstiftungen, Hinterhalte im Krieg der Kondottieri getreten sind. Wenn er, wie tausend andere, ein schönes Talent zum Nutzen der Aktionäre vergeudet hat, dann lassen ihn diese Gifthändler Hungers sterben, wenn er Durst hat, und vor Durst sterben, wenn er Hunger hat.«

»Danke«, sagte Finot.

»Aber mein Gott,« sagte Claude Vignon, »ich wußte das, ich bin im Bagno, und die Ankunft eines neuen Sträflings macht mir Vergnügen. Wir, Blondet und ich, haben mehr Geist als die und die Herren, die mit unserm Talent spekulieren, und wir werden trotzdem immer von ihnen ausgebeutet werden. Wir haben unter unserm Verstand ein Herz, die brutalen Eigenschaften des Ausbeuters fehlen uns. Wir sind faul, ergeben uns der Betrachtung, dem Sinnen, der Kritik, man wird unser Hirn austrinken und uns schlechtes Benehmen vorwerfen!«

»Ich dachte, Ihr würdet lustiger sein«, rief Florine.

»Florine hat recht,« sagte Blondet; »überlassen wir die Heilung der öffentlichen Krankheiten den Kurpfuschern, die dazu da sind: den Staatsmännern. Wie Charlet sagt: ›Ich soll auf dem Weinberg ausspucken? Niemals!‹«

»Wißt Ihr, wie Vignon mir vorkommt?« sagte Lousteau, indem er auf Lucien wies. »Wie eine der Huren aus der Rue du Pélican, die zu einem Gymnasiasten sagt: ›Geh, Kleiner, so ein junges Bürschchen sollte noch nicht hierher kommen.‹«

Dieser Einfall brachte alle zum Lachen, aber Coralie gefiel er besonders. Die Kaufleute hörten zu und vergaßen das Essen und Trinken nicht.

»Was ist das für eine Nation, in der man so viel Gutes und so viel Schlimmes findet!« sagte der Minister zum Herzog von Rhétoré. »Meine Herren, Sie sind Verschwender, die sich nicht ruinieren können.«

So fehlte es, dank dem Zufall, Lucien an keiner Warnung vor dem Abgrund, über dem er schwebte. D'Arthez hatte dem Dichter den edlen Weg der Arbeit gewiesen und hatte zugleich das Gefühl in ihm wachgerufen, vor dem alle Hindernisse verschwinden. Lousteau selbst hatte aus egoistischen Gedanken heraus versucht, ihn vom Journalismus fernzuhalten, indem er ihm diesen und die Literatur überhaupt in ihrem wahren Lichte zeigte. Lucien hatte nicht an so viel verstecktes Verderben glauben wollen; aber er hörte jetzt schließlich, wie die Journalisten von ihrem Elend redeten, er sah sie am Werk, sah, wie sie ihrer Nährmutter die Eingeweide bloßlegten, um die Zukunft vorauszusagen. Er hatte an diesem Abend die Dinge gesehen, wie sie sind. Aber er wurde beim Anblick dieses Herzens der Pariser Korruption, die Blücher so gut charakterisiert hatte, nicht von Entsetzen ergriffen, er gab sich wie berauscht dem Genuß dieser geistvollen Gesellschaft hin. Diese ungewöhnlichen Menschen unter der Damaszenerrüstung ihrer Laster, in dem glänzenden Heim ihrer Analyse fand er den schweren und ernsten Menschen seines Freundeskreises überlegen. Und dann schlürfte er zum erstenmal die Wonnen des Reichtums; der Zauber des Luxus umschmeichelte ihn, die gute Tafel übte ihre Macht auf ihn aus; seine wählerischen Instinkte erwachten, er trank zum erstenmal erlesene Weine, er lernte die köstlichen Gerichte der feinen Küche kennen, er sah mitten unter den Journalisten einen Minister, einen Herzog, eine Tänzerin, die ihre despotische Macht bewunderten; er verspürte ein heftiges Gelüste, diese Welt von Königen zu beherrschen, er fühlte die Kraft in sich, sie zu besiegen. Und schließlich hatte er diese Coralie, die er mit ein paar Sätzchen schon glücklich gemacht hatte, im Glanz der Kerzen, durch den Rauch der Gerichte und den Nebel der Trunkenheit hindurch näher angesehen, und sie schien ihm himmlisch, die Liebe machte sie so überaus schön! Dieses Mädchen war überdies die schönste Schauspielerin von Paris. Sein Zirkel, jene hohe Versammlung der edelsten Intelligenz, mußte unter einer so starken, so völligen Versuchung erliegen. Die spezifische Schriftstellereitelkeit war bei Lucien von Kennern gekitzelt, er war von seinen künftigen Rivalen gelobt worden. Der Erfolg seines Artikels und die Eroberung Coralies waren zwei Triumphe, die auch einem weniger jungen Menschen den Kopf verdreht hätten. Während dieser Debatte hatten alle überaus gut gegessen und hervorragend viel getrunken. Lousteau, Camusots Nachbar, goß ihm zwei- oder dreimal Kirschwasser in seinen Wein, ohne daß jemand darauf achtete, und reizte seine Eigenliebe, um ihn zum Trinken zu bringen. Dieses Manöver gelang so gut, daß der Kaufmann es nicht bemerkte; er hielt sich in seiner Art für ebenso witzig wie die Journalisten. Die bittern Späße begannen in dem Augenblick, wo die Leckereien des Nachtisches und die Weine auf den Tisch kamen. Der Diplomat machte als Mann von viel Geist in dem Augenblick, wo er merkte, daß jetzt die Torheiten laut zu werden anfingen, die bei diesen geistvollen Männern die grotesken Szenen ankündigten, wie sie gewöhnlich den Abschluß solcher Orgien bilden, dem Herzog und der Tänzerin ein Zeichen, und alle drei verschwanden. Sowie Camusot sinnlos betrunken war, flohen Coralie und Lucien, die sich während des ganzen Soupers wie ein Liebespaar von fünfzehn Jahren benommen hatten, die Treppe hinunter und fuhren mit einer Droschke davon. Da Camusot unter dem Tisch lag, glaubte Matifat, er wäre mit der Schauspielerin verschwunden; er ließ seine Gäste rauchen, lachen, trinken, streiten und folgte Florine, als sie schlafen ging. Der Tag überraschte die Kämpfer oder vielmehr Blondet, der ein unüberwindlicher Trinker und der einzige war, der noch sprechen konnte; er schlug den Verschlafenen einen Toast auf die rosenfingrige Aurora vor.

Lucien war an die Pariser Orgien nicht gewöhnt; er hatte seinen Verstand noch beisammen, als er die Treppe hinabstieg, aber die frische Luft brachte seine greuliche Betrunkenheit erst zum Ausbruch. Coralie und ihre Zofe mußten den Dichter in den ersten Stock des schönen Hauses in der Rue de Vendôme, in dem die Schauspielerin wohnte, hinauftragen. Auf der Treppe wurde es Lucien sehr übel, und er mußte sich übergeben.

»Schnell! Berenice,« rief Coralie, »Tee! mach Tee!«

»Es ist nichts, es ist die Luft,« sagte Lucien, »und ich habe noch nie so viel getrunken.«

»Armes Kind! Er ist unschuldig wie ein Lamm,« sagte Berenice, eine plumpe Normännin, die ebenso häßlich war, wie Coralie schön.

Endlich war Lucien, ohne daß er etwas davon wußte, in Coralies Bett untergebracht. Die Schauspielerin hatte, mit Unterstützung Berenices, ihren Dichter mit der Sorgfalt und Liebe einer Mutter für ihr kleines Kind ausgezogen. Dabei sagte er fortwährend:

»Es ist nichts, es ist die Luft. Danke, Mama.«

»Wie er so schön Mama sagt«, rief Coralie und küßte ihn auf die Haare.

»Wie schön muß es sein, einen solchen Engel zu lieben, Fräulein! Wo haben Sie ihn aufgefischt? Ich hätte nicht gedacht, daß es einen Mann geben könnte, der so schön ist wie Sie«, sagte Berenice.

Lucien wollte schlafen, er wußte nicht, wo er war, und sah nichts; Coralie ließ ihn mehrere Tassen Tee trinken, dann überließ sie ihn dem Schlaf.

»Die Portiersfrau hat uns nicht gesehen, und auch sonst niemand?« fragte Coralie.

»Nein, ich habe Sie erwartet.«

»Victoire weiß nichts?«

»Kein Gedanke«, sagte Berenice.

Zehn Stunden später, gegen Mittag, erwachte Lucien. Coralie saß neben ihm, sie hatte ihn im Schlaf betrachtet. Der Dichter begriff. Die Schauspielerin war noch in ihrem schönen, aber abscheulich verschmutzten Kleide, aus dem sie eine Reliquie machen wollte. Lucien erkannte die Aufopferung, die Zartheit der wahren Liebe, die ihre Belohnung haben sollte: er sah Coralie an. Coralie war in einem Augenblick ausgezogen und schlang sich um Lucien. Um fünf Uhr schlief der Dichter, von himmlischer Wollust gewiegt; er hatte das Zimmer der Schauspielerin, ein entzückendes Werk des Luxus, ganz in Weiß und Rosa, eine Welt von Wundern und koketten Zierlichkeiten, gesehen, die weit überstiegen, was Lucien schon bei Florine bewundert hatte. Coralie war auf. Um ihre Rolle als Andalusierin zu spielen, mußte sie um sieben Uhr im Theater sein. Sie hatte noch ihren Dichter betrachtet, der im Genuß eingeschlafen war, sie war wie trunken und konnte sich nicht trennen von dieser edlen Liebe, die die Sinne mit dem Herzen und das Herz mit den Sinnen verband, um sie beide zu entzücken. Dieses himmlische Gefühl, wo man im Irdischen zu zweit ist, um mit allen Sinnen, ein einziges Wesen im Himmel, zu leben, zu lieben, war ihre Absolution. Was hätte übrigens die übermenschliche Schönheit Luciens nicht entschuldigt? Die Schauspielerin kniete vorm Bett, war glücklich über ihre eigene Liebe und fühlte sich geweiht. Diese Wonnen wurden von Berenice gestört.

»Der Camusot ist da! Er weiß, daß Sie hier sind!« rief sie.

Lucien richtete sich auf, mit angeborener Vornehmheit dachte er sofort daran, daß er Coralie nicht schaden dürfte. Berenice hob einen Vorhang. Lucien trat in ein entzückendes Ankleidekabinett, in das Berenice und ihre Herrin mit unerhörter Schnelligkeit Luciens Kleider brachten. Als der Kaufmann eintrat, fielen Coralies Augen auf Luciens Stiefel: Berenice hatte sie vor das Feuer gestellt, um sie zu wärmen, nachdem sie sie heimlich gewichst hatte. Die Dienerin und ihre Herrin hatten diese verräterischen Stiefel vergessen. Berenice ging, nachdem sie mit ihrer Herrin unruhige Blicke gewechselt hatte. Coralie setzte sich auf das Sofa und bat Camusot, sichs auf einem Schaukelstuhl ihr gegenüber bequem zu machen. Der Wackere, der Coralie anbetete, sah die Stiefel an und wagte nicht, die Augen zu seiner Geliebten zu erheben.

›Soll ich nun wegen dieses Paars Stiefel böse werden und Coralie verlassen? Das wäre schlimm, wegen so einer Kleinigkeit. Stiefel gibt es überall. Die hier stünden besser auf dem Regal eines Schuhmachers oder gingen an den Füßen eines Mannes auf den Boulevards spazieren. Hier aber sagen sie auch ohne Füße mancherlei, was nichts mit Treue zu tun hat. Allerdings bin ich fünfzig Jahre alt: ich muß blind sein wie Amor.‹

Für diesen feigen Monolog gab es keine Entschuldigung. Die Stiefel waren nicht solche Halbschuhe, wie sie heutzutage getragen werden und die schließlich ein zerstreuter Mensch nicht zu sehen brauchte; es waren, wie es damals die Mode mit sich brachte, ein Paar hohe, sehr elegante Stiefel mit Quasten, denen man es ansah, daß sie gewohnt waren, aus weiten, meistens hellen Hosen hervorzuleuchten, und alles spiegelte sich in ihnen wie in einem Spiegel. So mußten die Stiefel dem wackeren Seidenwarenhändler in die Augen springen, und, dürfen wir hinzufügen, auch das Herz mußte ihm bei diesem Anblick zerspringen.

»Was haben Sie?« fragte ihn Coralie.

»Nichts«, gab er zur Antwort.

»Klingeln Sie!« sagte Coralie, die über Camusots Feigheit lächeln mußte. – »Berenice,« sagte sie zu der Normannin, sowie sie eintrat, »holen Sie mir doch einen Anzieher, damit ich diese verdammten Stiefel noch einmal probiere. Vergessen Sie nicht, sie heute abend in mein Ankleidezimmer zu bringen.«

»Was! ... Ihre Stiefel? ...« sagte Camusot, der schon leichter atmete.

»Ja, was denken Sie denn?« fragte sie hochmütig. »Altes Schaf, glauben Sie's nicht? ... – O gewiß, er meint was«, sagte sie zu Berenice. – »Ich habe in dem Stück von Dingsda eine Männerrolle, und ich habe mich noch nie als Mann angezogen. Der Theaterschuhmacher hat mir die Stiefel da gebracht, ich soll mich darin im Gehen üben, bis ich das Paar bekomme, zu dem er mir Maß genommen hat; er hat sie mir angezogen, aber ich habe solche Schmerzen gehabt, daß ich sie auszog, und doch muß ich sie wieder anziehen.«

»Ziehen Sie sie nicht an, wenn sie Sie drücken«, sagte Camusot, den die Stiefel so gedrückt hatten.

»Das ist auch wahr,« sagte Berenice; »wozu soll sich das Fräulein so quälen wie vorhin; sie hat geweint, Herr Camusot! und wenn ich ein Mann wäre, dürfte eine Frau, die ich liebe, nie weinen! Es wäre besser, wenn sie welche aus feinem Saffianleder trüge. Aber die Direktion ist so filzig! Sie sollten ihr welche bestellen ...«

»Ja, gewiß«, sagte der Kaufmann. – »Sie gehen?« fragte er Coralie.

»Im Augenblick, ich bin erst um sechs Uhr zurückgekommen, nachdem ich Sie überall gesucht habe; ich habe um Ihretwillen sieben Stunden lang meine Droschke behalten. So kümmern Sie sich um mich! Sie vergessen mich über den Weinflaschen. Ich habe mich in acht nehmen müssen, wo ich jetzt jeden Abend, solange der Alkalde Geld einbringt, spielen muß. Nach dem Artikel des jungen Mannes darf ich nicht schlecht spielen.«

»Ein hübscher Bursche ist er«, sagte Camusot.

»Finden Sie? Ich liebe diese Art Männer nicht, sie sehen einem Weib zu ähnlich; und die Sorte kann nicht so lieben, wie so 'n alter dummer Kaufmann. Ihr macht uns so schmachtend!«

»Bleibt der Herr zum Essen hier?« fragte Berenice.

»Nein, ich habe gar keinen Appetit heute.«

»Sie waren nett bezecht gestern. Hören Sie, Papa Camusot, vor allem: Männer, die trinken, kann ich nicht leiden ...«

»Du mußt dem jungen Mann ein Geschenk machen«, sagte der Kaufmann.

»Ach ja, ich zahle sie lieber auf die Weise, als daß ich es wie Florine mache. Gehen wir, gehen Sie nur, schlechter Mensch, oder schenken Sie mir einen Wagen, damit ich nicht so viel Zeit verliere.«

»Sie sollen ihn morgen haben, wenn Sie mit Ihrem Direktor im Rocher de Cancale dinieren. Man gibt am Sonntag das neue Stück nicht.«

»Kommen Sie, ich gehe essen«, sagte Coralie und führte Camusot fort.

Eine Stunde später wurde Lucien von Berenice befreit. Berenice war eine Jugendgefährtin Coralies und ein Geschöpf, das so schlau und verschmitzt war, wie ihr Körper umfangreich.

»Bleiben Sie hier. Coralie wird allein zurückkommen. Sie will sogar Camusot den Laufpaß geben, wenn er Sie stört,« sagte Berenice zu Lucien; »aber, liebes Kind ihres Herzens, Sie sind zu gut, um sie zu ruinieren. Sie hat es mir gesagt, sie sei entschlossen, alles aufzugeben, aus diesem Paradies fortzugehen und mit Ihnen in Ihrer Mansarde zu leben. Oh, die Eifersüchtigen, die Neidischen haben ihr schon gesagt, daß Sie keinen Heller haben, daß Sie im Quartier latin wohnen! Ich würde euch folgen, wissen Sie, ich würde euch den Haushalt führen. Aber ich habe das arme Kind getröstet. Nicht wahr, lieber Herr, Sie sind zu gescheit, um solchen Unsinn zu machen? Ach, Sie werden schon sehen, daß der andere, der plumpe Kerl, nur den Leib hat, und daß Sie der Geliebte, der Gott sind, dem man die Seele gibt. Wenn Sie wüßten, wie meine Coralie reizend ist, wenn ich ihr die Rollen überhöre! Ein Herzenskind, was! Sie hat wohl verdient, daß Gott ihr einen seiner Engel schickte, sie war des Lebens überdrüssig. Sie ist bei ihrer Mutter so unglücklich gewesen, die sie geschlagen und verkauft hat! Ja, lieber Herr, eine Mutter, und ihr eigenes Kind! Wenn ich eine Tochter hätte, ich würde sie pflegen wie meine kleine Coralie, zu der ich wie eine Mutter bin. Jetzt hat sie zum erstenmal gute Zeit, zum erstenmal hat sie ordentlichen Beifall gehabt. Es scheint, man hat auf das hin, was Sie geschrieben haben, eine famose Claque auf die Beine gebracht. Während Sie schliefen, war Braulard hier und hat mit ihr gearbeitet.«

»Wer, Braulard?« fragte Lucien, der diesen Namen schon gehört zu haben glaubte.

»Der Chef der Claque, der mit ihr die Stellen der Rolle besprochen hat, wo sie bedient werden soll. Florine nennt sich zwar ihre Freundin, aber sie könnte ihr einen Streich spielen wollen und alles für sich nehmen. Der ganze Boulevard redet nur von Ihrem Artikel. Ist das nicht ein Bett für die Liebesstunden eines Prinzen?« sagte sie und legte über das Bett eine Spitzendecke.

Sie zündete die Kerzen an. Bei ihrem Licht glaubte der geblendete Lucien sich in der Tat in einem Feenschloß. Die reichsten Seidenstoffe waren von Camusot als Wandverkleidung und für die Drapierung der Fenster ausgewählt worden. Der Dichter ging auf einem Königsteppich, das reichgeschnitzte Palisanderholz der Möbel flimmerte in Lichtreflexen. Der Kamin aus weißem Marmor wies die kostbarsten Nippsachen auf. Der Bettvorleger war aus Schwanenfedern, die mit Marderfell eingefaßt waren; Pantoffel aus schwarzem Samt, mit roter Seide gefüttert, standen darauf und sprachen von den Genüssen, die den Dichter der ›Margueriten‹ erwarteten. Eine entzückende Lampe hing von der mit Seide bespannten Decke. Überall standen in wunderbaren Vasen und Schalen erlesene Blumen, reizendes weißes Heidekraut und Kamelien, die nicht dufteten. Überall sah man die Sinnbilder der Unschuld. Niemand hätte geglaubt, daß da eine Schauspielerin und Theatergewohnheiten herrschten. Berenice bemerkte Luciens Erstaunen.

»Hübsch, nicht wahr?« sagte sie mit einschmeichelnder Stimme. »Kann man sich hier nicht besser lieben als auf einem Dachboden? Sie müssen ihren dummen Streich verhindern«, fuhr sie fort und stellte vor Lucien einen prächtigen kleinen Tisch hin, auf dem Gerichte standen, die sie heimlich vom Essen ihrer Herrin weggenommen hatte, damit die Köchin von der Anwesenheit des Geliebten nichts merken konnte.

Lucien speiste sehr gut; Berenice trug ihm die Speisen auf reichgeziertem Silbergeschirr auf, und er aß auf gemalten Tellern, von denen jeder einen Louisdor kostete. Dieser Luxus wirkte auf seine Seele, wie eine Straßendirne mit ihrem nackten Fleisch und ihren strammanliegenden weißen Strümpfen auf einen Gymnasiasten wirkt.

»Ist dieser Camusot glücklich!«

»Glücklich?« erwiderte Berenice. »Ach, der gäbe gern sein Vermögen, um an Ihrer Stelle zu sein und seine alten, grauen Haare gegen Ihre blonden einzutauschen.«

Sie forderte Lucien, dem sie den köstlichsten Wein gab, wie er in Bordeaux für die reichsten Engländer gekeltert wird, auf, sich hinzulegen und, bis Coralie käme, ein kleines Schläfchen zu machen, und Lucien hatte in der Tat Lust, sich in dieses prächtige Bett zu legen. Berenice, die diesen Wunsch in den Augen des Dichters gelesen hatte, war für ihre Herrin glücklich darüber. Um halb elf Uhr erwachte Lucien unter einem liebestrunkenen Blick. Coralie stand vor ihm im verführerischsten Nachtgewand. Lucien hatte geschlafen, er war noch vor Liebe trunken. Berenice zog sich zurück und fragte:

»Um wieviel Uhr morgen?«

»Um elf Uhr; du bringst uns das Frühstück ans Bett. Ich bin vor zwei Uhr für niemanden zu sprechen.«

Um zwei Uhr am nächsten Tag waren die Schauspielerin und ihr Geliebter angekleidet und präsentierten sich derart, wie wenn der Dichter seiner Schutzbefohlenen einen Besuch machte. Coralie hatte Lucien gebadet, gekämmt und frisiert und angekleidet; sie hatte ihm ein Dutzend schöne Hemden, ein Dutzend Halsbinden, ein Dutzend Taschentücher bei Colliau holen lassen und ein Dutzend Paar Handschuhe in einem Kästchen aus Zedernholz. Als sie das Rasseln eines Wagens vor ihrem Hause hörte, stürzte sie mit Lucien ans Fenster. Sie sahen, wie Camusot einem prächtigen Coupé entstieg.

»Ich hätte nicht gedacht,« sagte sie, »daß man einen Mann und den Luxus so hassen könnte ...«

»Ich bin zu arm, um zugeben zu können, daß du dich zugrunde richtest,« sagte Lucien und beugte sich damit unter das kaudinische Joch.

»Mein armer Liebling,« sagte sie und drückte Lucien ans Herz, »du liebst mich also? – Ich habe den Herrn gebeten,« sagte sie zu Camusot, »heute vormittag zu mir zu kommen. Ich dachte, wir könnten in die Champs Elysées fahren, um den Wagen zu probieren.«

»Fahrt allein hin,« sagte Camusot traurig, »ich kann nicht mit euch zum Diner fahren, es ist der Namenstag meiner Frau, ich hatte es vergessen.«

»Armer Musot, wie wirst du dich langweilen!« sagte sie und fiel dem Kaufmann um den Hals.

Sie war trunken vor Glück bei dem Gedanken, daß sie den schönen Wagen allein mit Lucien einweihen, daß sie allein mit ihm ins Bois fahren würde; und in ihrer Freude machte sie den Eindruck, als liebte sie Camusot, dem sie tausend Zärtlichkeiten erwies.

»Ich wollte, ich könnte Ihnen jeden Tag einen Wagen schenken!« sagte der arme Mann.

»Kommen Sie, Herr von Rubempré, es ist zwei Uhr«, sagte die Schauspielerin zu Lucien, dessen peinliche Gefühle sie erriet und den sie mit einer entzückenden Geste tröstete.

Coralie hüpfte die Treppe hinab und zog Lucien mit sich. Der Kaufmann folgte ihnen mit dem schleppenden Gang einer Robbe, ohne sie einholen zu können. Der Dichter erlebte die berauschendste Freude: Coralie, die das Glück strahlend schön machte, hatte eine überaus geschmackvolle und elegante Toilette und wurde von entzückten Blicken betrachtet. Das Paris der Champs Elysées bewunderte die beiden Liebenden. In einer Allee des Bois de Boulogne begegnete ihr Coupé der Kalesche der Marquise d'Espard und der Frau von Bargeton, die Lucien mit erstaunten Mienen ansahen und denen er den verächtlichen Blick des Dichters zuwarf, der seinen Ruhm vorausfühlt und seiner Macht gewiß ist. Der Augenblick, in dem er mit einem Blick diesen beiden Frauen die Rachegedanken zuschleudern konnte, die um ihretwillen so lange an seinem Herzen genagt hatten, war einer der süßesten seines Lebens und vielleicht für sein Schicksal entscheidend. Lucien war wieder von den Furien des Stolzes besessen: er wollte wieder in der großen Welt erscheinen und dort eine glänzende Rache nehmen; alle die gesellschaftlichen Nichtigkeiten, die kaum erst unter den Füßen des Studierenden, des Angehörigen jenes Freundeszirkels zertreten waren, nahmen wieder von seiner Seele Besitz. Er verstand jetzt die ganze Tragweite des Angriffs, den Lousteau für ihn ins Werk gesetzt hatte. Lousteau hatte seinen Leidenschaften gedient, während der Zirkel, dieser Kollektivmentor, die Absicht zu haben schien, sie zugunsten von langweiligen Tugenden und von Arbeiten, die Lucien unnütz zu finden anfing, matt zu setzen. Arbeiten! Ist das nicht der Tod für die Seelen, die nach Genuß hungern? Wie leicht fallen darum auch die Schriftsteller in das far niente, das Wohlleben und die Genüsse des schwelgerischen Lebens, das die Schauspielerinnen und die leichten Frauen führen! Lucien spürte eine unwiderstehliche Lust, das Leben dieser beiden tollen Tage fortzusetzen.

Das Diner im Rocher de Cancale war ausgezeichnet. Die Gäste Florinens waren da, außer dem Minister, dem Herzog und der Tänzerin und Camusot; an ihrer Stelle waren zwei berühmte Schauspieler und Hector Merlin mit seiner Mätresse zugegen. Diese war ein entzückendes Weib und ließ sich Madame du Val-Noble nennen; sie war die Schönste und Eleganteste unter den Frauen, die damals in Paris eine Welt jenseits der vornehmen Welt bildeten, unter den Frauen, denen man heutzutage den schonenden Namen Loretten gegeben hat. Lucien, der seit achtundvierzig Stunden in einem Paradies lebte, lernte jetzt den Erfolg seines Artikels kennen. Der Dichter, der sich gefeiert und beneidet sah, fand jetzt die Sicherheit des Auftretens: sein Geist sprühte, er war der Lucien von Rubempré, der mehrere Monate lang in der Literatur und der Welt der Künstler glänzte. Finot, der eine unbestreitbare Fähigkeit besaß, das Talent zu ahnen, und der es aufspürte, wie ein Menschenfresser den Geruch frischen Fleisches in der Nase hat, umschmeichelte Lucien und versuchte ihn für die Journalistentruppe anzuwerben, deren Befehlshaber er war. Lucien biß auf diese Schmeicheleien an. Coralie bemerkte die List dieses geistigen Ausbeuters und wollte Lucien vor ihm warnen.

»Verpflichte dich nicht, Lieber,« sagte sie zu ihrem Dichter, »warte; sie wollen dich ausnutzen; wir sprechen heute abend darüber.«

»Bah!« antwortete ihr Lucien, »ich fühle mich stark genug, ich kann ebenso böse und ebenso schlau sein wie sie.«

Finot, der sich ohne Zweifel der Zwischenräume wegen mit Hector Merlin nicht überworfen hatte, stellte Merlin und Lucien einander vor. Coralie und Madame du Val-Noble begrüßten sich zärtlich und wetteiferten an Freundlichkeit und Zuvorkommenheit miteinander. Madame du Val-Noble lud Lucien und Coralie zum Diner ein. Hector Merlin, der gefährlichste unter allen Journalisten, die bei diesem Diner anwesend waren, war ein kleiner, dürrer Mann mit zusammengekniffenen Lippen, der einen maßlosen Ehrgeiz und eine grenzenlose Eifersucht in sich trug, der über alles Schlimme, was um ihn her vorging, glücklich war, und der die Spaltungen, die er schürte, sich zunutze machte. Er hatte viel Geist, aber wenig Willenskraft, ersetzte jedoch den Willen durch den Instinkt, der die Parvenüs an die Orte führt, wo das Gold und die Macht wirkt. Lucien und er mißfielen sich gegenseitig. Die Erklärung hierfür ist nicht schwer. Merlin hatte das Unglück, mit lauter Stimme zu sprechen, wenn Lucien im stillen dachte. Beim Nachtisch schienen die Bande rührendster Freundschaft diese Männer zu vereinigen, von denen sich jeder dem andern überlegen glaubte. Lucien, der Neuling, war der Gegenstand, dem sie alle imponieren wollten. Man redete ohne Rückhalt miteinander; nur Hector Merlin lachte nicht. Lucien fragte ihn nach dem Grund seiner Zurückhaltung.

»Aber ich sehe, Sie treten in die Welt der Literatur und des Journalismus mit Illusionen ein. Sie glauben an Freunde. Wir sind alle Freunde oder Feinde, je nach den Umständen. Wir treffen uns selbst zuerst mit der Waffe, die uns nur dazu dienen sollte, die andern zu treffen. Sie werden binnen kurzem merken, daß Sie es mit schönen Gefühlen zu nichts bringen. Wenn Sie gut sind, sorgen Sie dafür, daß Sie schlecht werden. Werden Sie bissig aus Berechnung. Wenn Ihnen noch keiner dieses oberste Gesetz gesagt hat, so vertraue ich es Ihnen an, und ich habe Ihnen damit kein kleines Geschenk gemacht. Wenn Sie geliebt sein wollen, gehen Sie nie von Ihrer Geliebten, ohne sie ein wenig zum Weinen gebracht zu haben; wollen Sie in der Literatur Ihr Glück machen, so verletzen Sie immer alle Welt, selbst Ihre Freunde, bringen Sie die Eigenliebe zum Weinen: alle Welt wird zärtlich zu Ihnen sein.«

Hector Merlin war glücklich, als er an Luciens Miene sah, daß sein Wort in den Neuling eindrang, wie eine Dolchklinge ins Herz. Man spielte. Lucien verlor sein ganzes Geld. Coralie nahm ihn mit sich nach Hause, und die Wonnen der Liebe ließen ihn die furchtbaren Aufregungen des Spiels vergessen, dem er später zum Opfer fallen sollte. Als er am nächsten Tag von ihr gegangen und im Quartier latin angekommen war, fand er in seiner Börse die Geldsumme, die er verloren hatte. Diese Aufmerksamkeit bedrückte ihn anfangs, er wollte umkehren und der Schauspielerin das Geschenk wiedergeben, das ihn demütigte, aber er war schon in der Rue de la Harpe und setzte seinen Weg nach dem Hotel de Cluny fort. Während des Gehens beschäftigte er sich mit Coralie und ihrer Sorge für ihn und sah darin einen Beweis der mütterlichen Liebe, die mit der Leidenschaft dieser Art Frauen verbunden ist. Bei ihnen umschließt die Leidenschaft alle Empfindungen. Beim weiteren Nachdenken fand Lucien schließlich einen Grund, das Geschenk anzunehmen, indem er sich sagte:

»Ich liebe sie, wir wollen wie Mann und Frau zusammen leben, und ich will sie niemals verlassen!«

  


 << zurück weiter >>