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Agathe war nunmehr drei Wochen in Issoudun, sie und Frau Hochon sahen ein, wie richtig die Gedanken des alten Geizhalses waren: es bedurfte wirklich mehrerer Jahre, um den Einfluß der Käscherin und Maxences auf ihren Bruder zunichte zu machen. Es kam zu keiner größeren Vertraulichkeit zwischen Agathe und Jean-Jacques, nie ließ man sie mit ihm allein. Vielmehr triumphierte Fräulein Brazier über die Erben, indem sie Agathe in der Kalesche spazierenfuhr: sie nahm mit ihr den Rücksitz ein und hatte Herrn Rouget mit seinem Neffen sich gegenüber. Mit Ungeduld erwarteten Mutter und Sohn eine Antwort auf ihren vertraulichen Brief an Desroches. Einen Tag, bevor die große Hundevergiftung stattfand, erhielt Joseph, der sich in Issoudun zu Tode langweilte, zwei Briefe, den einen von dem großen Maler Schinner, dessen Altersnähe eine engere vertrautere Verbindung mit Joseph erlaubte, als sie mit ihrem Meister Gros möglich war; den zweiten von Desroches. Der erste trug den Poststempel Beaumont-sur-Oise und lautete:
»Mein lieber Joseph, ich habe für den Grafen von Serizy im Schlosse zu Presles die hauptsächlichen Bilder fertiggemacht. Einfassungen und alles Dekorative habe ich noch gelassen und habe dafür Dich sowohl dem Grafen wie Grindot, dem Architekten, wärmstens empfohlen: Du brauchst nur Deine Pinsel einzupacken und herzukommen. Mit den Preisen kannst Du ganz zufrieden sein. Ich will mit meiner Frau nach Italien reisen, Du kannst Dir Mistigris als Helfer nehmen. Ich habe dafür gesorgt, daß er Dir zur Verfügung steht. Der Junge hat Talent. Er zappelt schon wie ein Hampelmann bei dem Gedanken an die Kurzweil im Schlosse Presles. Leb wohl, mein lieber Joseph; wenn ich fern bin, wenn ich auf die nächste Ausstellung nichts schicke, wirst Du mich ersetzen! Ja, lieber Jojo, Dein Bild, ich weiß es bestimmt, ist ein Meisterwerk, aber dies Meisterwerk wird einen Sturm der Entrüstung erregen, und man wird Dir Romantik vorwerfen, mach Dich nur auf das Leben des Teufels im Weihwasser gefaßt. Das Leben ist nun einmal ein Kampf, un qu'on bat (combat), wie dieser Witzbold und Sprichwörterverdreher Mistigris sagt. Was treibst Du eigentlich in Issoudun? Leb wohl.
Dein Freund
Schinner.«
Desroches schrieb:
»Mein lieber Joseph, dieser Herr Hochon scheint mir ein sehr verständiger alter Herr zu sein, ich bekomme eine hohe Meinung von seinem Scharfblick: er hat vollständig recht. Wenn ich Dir also raten soll, so bin ich dafür, daß Deine Mutter in Issoudun bei Frau Hochon bleibe und ihr eine bescheidene Jahrespension, etwa vierhundert Franken, zahle, um ihre Gastgeber für die Unkosten ihres Unterhalts zu entschädigen. Möge sich Frau Bridau doch ganz den Ratschlägen des Herrn Hochon überlassen. Allerdings wird Deine vortreffliche Mutter bei diesem Kampfe mit skrupellosen und meisterhaft diplomatischen Gegnern viel zu viel Skrupel haben. Der Maxence ist gefährlich, Du hast ganz recht: auch ich sehe in ihm einen Menschen von noch ganz anderm Kaliber als Philipp. Dieser Kerl schlägt Kapital aus seinen Lastern, er amüsiert sich nicht gratis wie Dein Bruder mit seinen nutzlosen Tollheiten. Alles, was Du schreibst, macht mir Angst: ich würde nichts Rechtes ausrichten, wenn ich nach Issoudun käme. Da kann Euch Herr Hochon, wenn er sich hinter Deine Mutter steckt, nützlicher sein als ich. Du selbst aber kannst heimkommen. Du taugst nicht in einer Angelegenheit, die beständige Geistesgegenwart, genauestes Auffallen, Diensteifer, Vorsicht in allen Äußerungen, Verstellung in allen Gebärden erfordert, wie sie den Künstlern durchaus zuwider ist. Laßt Euch nicht einreden, daß noch kein Testament gemacht sei! Glaubt mir, sie haben schon längst eins in Händen. Aber Testamente sind widerruflich, und solange Dein närrischer Onkel lebt, wird er auch empfänglich sein für die Einwirkung von Gewissensbissen und die Macht der Religion. Über Euer Glück entscheidet der Kampf zwischen der Kirche und der Käscherin. Und einmal wird der Augenblick kommen, da dies Weib keine Gewalt mehr über den Alten hat; dann wird die Religion allmächtig. Solange Dein Onkel keine Schenkung zu Lebzeiten macht, solange er die Anlage seines Vermögens nicht ändert, bleibt alles möglich für die Stunde, in der die Religion die Oberhand bekommt. Du solltest Herrn Hochon bitten, soweit es ihm möglich ist, das Vermögen Deines Onkels zu überwachen. Man müßte in Erfahrung bringen, ob Hypotheken auf dem Grundbesitz ruhen und wie und auf wessen Namen die Gelder angelegt sind. Es ist ja leicht, einem alten Mann Angst um sein Leben einzureden für den Fall, daß er sich zugunsten von Fremden seines Besitzes entblößt: da kann ein einigermaßen gewitzter Erbe von Anfang an einer Beraubung vorbeugen. Aber wie soll Deine Mutter bei ihrer Weltfremdheit, ihrer Selbstlosigkeit, ihren frommen Ideen, so etwas ins Werk setzen? . . . Mit einem Wort: ich kann Euch nur aufklären. Was Ihr bisher unternommen habt, konnte den Gegnern nur Warnungssignale geben und vielleicht sind sie auf alles gefaßt! . . .«
»Das nenn ich mir ein förmliches Gutachten«, rief Herr Hochon; es schmeichelte ihm, von einem Pariser Anwalt anerkannt zu werden.
»Oh, Desroches kennt sich aus«, erwiderte Joseph.
»Es wäre wohl angebracht, diesen Brief den beiden Frauen zu lesen zu geben«, meinte der alte Geizhals.
Der Künstler gab ihm den Brief. »Ich will gleich morgen abreisen«, erklärte er, »und mich jetzt von meinem Onkel verabschieden.«
»Da ist noch ein Postskriptum,« sagte Herr Hochon, »in dem Herr Desroches Sie bittet, den Brief zu verbrennen.«
»Tun Sie das, wenn Sie ihn meiner Mutter gezeigt haben«, sagte der Maler.
Joseph Bridau zog sich um, ging über den kleinen Platz und sprach bei seinem Onkel vor, der eben gefrühstückt hatte. Max und Flora saßen am Tisch.
»Lassen Sie sich nicht stören, lieber Onkel, ich will mich nur von Ihnen verabschieden.«
»Sie reisen ab?« fragte Max und wechselte mit Flora einen Blick.
»Ja, ich habe auf dem Schlosse des Herrn von Sérizy zu tun, ich habe es damit um so eiliger, als der Arm dieses Herrn weit genug reicht, um meinem unglücklichen Bruder vor der Pairskammer behilflich zu sein.«
»Ei, so geh arbeiten«, sagte der biedere Rouget mit dümmlicher Miene (er kam seinem Neffen sehr verändert vor). »Arbeit muß sein . . . Es tut mir leid, daß du uns verläßt . . .«
»Oh, dafür wird meine Mutter noch einige Zeit bleiben«, erwiderte Joseph.
Um Maxences Lippen zuckte es, und Flora begriff, was dies Zucken bedeutete: – sie befolgen den Plan, von dem Baruch uns gesprochen hat –. »Es war mir eine Freude, herzukommen,« fuhr Joseph fort, »so hatte ich das Vergnügen, Sie kennenzulernen, lieber Onkel, und dann haben Sie auch mein Atelier bereichert . . .«
»Ja,« sagte die Käscherin, »statt Ihren Onkel über den Wert seiner Bilder aufzuklären, die man über hunderttausend Franken schätzt, haben Sie sie flink nach Paris geschickt. Der Arme, der Gute, er ist ja wie ein Kind! In Bourges hat man uns gesagt, daß unter den Bildern ein kleiner Put . . . Put . . ., wie heißt er doch – ein Poussin war, der vor der Revolution im Chor der Kathedrale gehangen habe und allein dreißigtausend Franken wert sei . . .«
»Das ist nicht recht von dir, lieber Neffe«, sagte der Alte auf einen Wink Gilets, den Joseph nicht bemerken konnte.
»Also gerade heraus,« rief der Soldat lachend, »wie hoch schätzen Sie auf Ehrenwort die Bilder? Da haben Sie Ihren Onkel kräftig reingelegt, was? Na, es war nur Ihr gutes Recht, Onkels sind dazu da, daß man sie rupft! Mir hat das Schicksal die Onkels versagt, sonst, wenn ich welche hätte, weiß der Teufel, ich hätte sie nicht geschont.«
»Wußten Sie denn, Herr Rouget, was Ihre Bilder wert waren?« fragte jetzt Flora den Alten. »Wieviel sagten Sie, Herr Joseph?«
»Aber freilich sind die Bilder wertvoll«, antwortete der Maler und wurde puterrot.
»Sie sollen sie Herrn Hochon gegenüber auf hundertfünfzigtausend Franken geschätzt haben«, fuhr Flora fort. »Ist das wahr?«
»Jawohl«, sagte der Maler in kindlicher Aufrichtigkeit.
»Und hatten Sie etwa die Absicht, Ihrem Neffen hundertfünfzigtausend Franken zu schenken?« fragte Flora den biederen Alten.
»Niemals, niemals!« antwortete er, von ihrem Blick gebannt.
»Es gibt ein einfaches Mittel, das alles in Ordnung zubringen«, sagte der Maler. »Ich brauche sie Ihnen nur zurückzugeben, lieber Onkel! . . .«
»Nein, nein, behalte sie«, sagte der Alte.
»Ich werde sie Ihnen zurückschicken.« – Das beleidigende Schweigen Gilets und Floras reizte ihn. – »Ich kann mir mein Brot mit meinem Pinsel verdienen. Niemanden brauche ich, nicht einmal meinen Onkel . . . Ich habe die Ehre, mein Fräulein, ich empfehle mich, mein Herr . . .«
Künstler können sich die Erregung ausmalen, in der Joseph den Platz überschritt. Die ganze Familie Hochon war im Salon versammelt. Im Selbstgespräch gestikulierend kam Joseph herein. Man fragte ihn aus. Frank und frei erzählte er vor Baruch und François die Szene, die er erlebt hatte und die in zwei Stunden zum Stadtgespräch wurde, von jedem Weitererzähler mit neuen, mehr oder weniger kuriosen Zusätzen ausgeschmückt. Einige behaupteten, Max habe den Maler gröblich behandelt, andere, Joseph habe sich gegen Fräulein Brazier schlecht benommen und Max habe ihn dann vor die Tür gesetzt.
»Was für ein Kind Ihr Kind ist!« sagte Hochon zu Frau Bridau. »Diese Szene hat man ihm für den Abschiedstag aufgespart, und der Tropf ist darauf hereingefallen. Seit zwei Wochen kennen Max und die Käscherin den Wert der Bilder, nämlich seit Herr Joseph so schlau war, ihn hier vor meinen Enkeln zu nennen; die hatten ja nichts Eiligeres zu tun, als aller Welt die Geschichte zu erzählen. Der Herr Künstler hätte ohne Umstände abreisen sollen.«
»Mein Sohn tut recht daran, die Bilder zurückzugeben, wenn sie so wertvoll sind«, erklärte Agathe.
»Und wenn er sie auf zweihunderttausend Franken schätzte,« sagte der Alte, »ist es nur um so törichter von ihm, daß er eine Rückgabe nicht zu vermeiden versteht. Dies Stück Erbschaft hättet ihr doch wenigstens gesichert, aber, wie jetzt die Dinge stehn, bekommt ihr nichts! . . . Jetzt ergibt sich ja für Ihren Bruder beinah ein Grund, Sie nicht mehr zu empfangen . . .«
Zwischen zwölf und ein Uhr nachts begannen die Ritter vom Müßiggang ihre Gratis-Futterverteilung an die Hunde der Stadt. Diese denkwürdige Expedition ging erst gegen drei Uhr morgens zu Ende; sodann begaben sich die Spießgesellen zum Nachtmahl bei der Cognette und kamen erst um fünf Uhr in der Morgendämmerung heim. Aber gerade als Max aus der Rue de l'Avenier in die Grand' Rue einbog, stach ihm Fario, der sich unter einem Mauervorsprung verborgen hielt, das Messer mitten ins Herz, riß die Klinge heraus und flüchtete sich durch die Gräben von Vilatte. Das Messer wischte er am Taschentuch ab und das Tuch wusch er im Wasser des Kanals. Dann begab er sich gemächlich nach Saint-Paterne, stieg in ein Fenster, das er halb offen gelassen hatte und legte sich schlafen. Sein neuer Bursche weckte ihn später aus tiefem Schlafe.
Max war mit einem schrecklichen Schrei zu Boden gestürzt, der deutlich ein Unglück verkündete. Lousteau-Prangin, der Sohn eines Richters, ein entfernter Verwandter des ehemaligen Subdelegierten Lousteau, und Goddet junior, die beide am unteren Teil der Grand' Rue zuhause waren, kamen im Laufschritt zurück und riefen: »Man mordet Max! Zu Hilfe!« Aber kein Hund schlug an und kein Mensch stand auf. Alle kannten ja die Gewohnheiten der Nachtbande. Als die beiden Ritter Max fanden, war dieser ohnmächtig. Man mußte den alten Herrn Goddet wecken. Wohl hatte Max Fario erkannt; als er aber um fünf Uhr früh zur Besinnung kam, sich von mehreren Personen umgeben sah und das Gefühl hatte, daß seine Wunde nicht tödlich wäre, kam ihm plötzlich der Gedanke, aus diesem Mordanfall Nutzen zu ziehen, und er rief mit kläglicher Stimme: »Ich glaube, ich habe Augen und Gesicht des verfluchten Malers gesehen! . . .«
Daraufhin lief Lousteau-Prangin zu seinem Vater, dem Untersuchungsrichter. Max wurde inzwischen vom alten Cognet, von Goddet junior und zwei Leuten, die man aufgeweckt hatte, nach Hause transportiert. Die Cognette und Goddet senior gingen nebenher. Max ruhte auf einer an zwei Stangen getragenen Matratze. Herr Goddet wollte nichts unternehmen, bis Max zu Bett lag. Während Kouski aufstand, um zu öffnen, fielen die Blicke der Träger des Verwundeten auf die Tür des Hauses Hochon und sahen dort die Magd des Herrn Hochon fegen. Dort wie überall in der Provinz wurde die Haustür sehr zeitig aufgemacht. Die wenigen Worte, die Max gesprochen hatte, erweckten Verdacht. Der alte Herr Goddet rief hinüber: »Gritte, ist Herr Joseph Bridau zu Bett?«
»Oh je!« sagte die Magd. »Der ist schon um halb fünf ausgegangen; die ganze Nacht ist er in seinem Zimmer auf und ab gelaufen; ich weiß nicht, was mit ihm los ist.«
Dieser naive Bescheid rief ein wildes Gemurmel hervor, Worte des Abscheus klangen der Magd ins Ohr und lockten die Neugierige herüber, zu sehen, was man da zum alten Rouget getragen brachte.
»Ein feiner Gesell, euer Maler!« bekam sie zu hören. Die mit der Bahre traten in das Haus und überließen Gritte ihrem Schreck: sie hatte Max im blutbefleckten Hemd sterbend liegen sehen.
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