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Kommen Sie denn endlich, Monsieur!« sagte Jacquotte. »Die Herren erwarten Sie schon hübsch lange. 's ist immer das gleiche. Immer, wenn's gut werden soll, sorgen Sie dafür, daß mein Essen mißrät. Jetzt ist alles zu Mus verkocht ...«
»Nun, wir sind ja da,« antwortete Benassis lächelnd.
Die beiden Reiter stiegen vom Pferde und wandten sich nach dem Salon, wo sich die vom Doktor eingeladenen Personen aufhielten.
»Meine Herren,« sagte er, Genestas bei der Hand nehmend, »ich habe die Ehre, Ihnen Monsieur Bluteau, Rittmeister des in Grenoble garnisonierenden Kavallerieregimentes, vorzustellen, einen alten Soldaten, der mir versprochen hat, einige Zeit unter uns zu verweilen.«
Sich dann an Genestas wendend, zeigte er ihm einen großen, hageren, grauhaarigen Mann in schwarzem Anzug.
»Dieser Herr«, sagte er zu ihm, »ist Monsieur Dufau, der Friedensrichter, von dem ich Ihnen bereits erzählt habe, und der so wacker am Gedeihen der Gemeinde mitgeholfen hat. Und dies,« fuhr er fort, ihm einen mageren, blassen, gleichfalls schwarzgekleideten jungen Mann von mittlerer Figur vorstellend, der eine Brille trug, »ist Monsieur Tonnelet, Monsieur Graviers Schwiegersohn, der erste Notar, der sich im Flecken niedergelassen hat.«
Sich dann zu einem großen, halb bäurisch, halb bürgerlichen Manne mit plumpem, finnigem aber recht gutmütigem Gesichte wendend, sagte er fortfahrend:
»Der Herr ist mein würdiger Beigeordneter, Monsieur Cambon, der Holzhändler, dem ich das wohlwollende Vertrauen verdanke, das mir die Einwohner entgegenbringen. Er ist einer der Schöpfer der von Ihnen bewunderten Fahrstraße. – Ich hab' nicht nötig,« fuhr Benassis, auf den Pfarrer zeigend, fort, »Ihnen zu sagen, welchen Beruf der Herr ausübt, Sie sehen in ihm einen Mann, den zu lieben niemand umhin kann.«
Des Priesters Gesicht nahm die Aufmerksamkeit des Offiziers durch den Ausdruck einer moralischen Schönheit in Anspruch, deren Zauber unwiderstehlich war. Auf den ersten Blick konnte Monsieur Janviers Antlitz unangenehm erscheinen, so viele strenge und schroffe Linie waren daraufgeschrieben. Seine kleine Figur, seine Magerkeit, seine Haltung kündigten eine große physische Schwäche an; seine immer ruhige Physiognomie aber bezeugte den tiefen inneren Frieden des Christen und die Kraft, welche Seelenkeuschheit erzeugt. Seine Augen, die den Himmel zurückzustrahlen schienen, verrieten die unerschöpfliche Glut der Nächstenliebe, die sein Herz verzehrte. Seine wenigen und natürlichen Gebärden waren die eines bescheidenen Mannes; seine Bewegungen hatten die schamhafte Einfachheit der Bewegungen junger Mädchen. Sein Blick flößte Achtung und den unbestimmten Wunsch ein, vertraut mit ihm zu werden. »Ach! Herr Bürgermeister,« sagte er, sich verneigend, wie wenn er dem Lobe, das Benassis ihm spendete, entgehen wollte.
Der Ton seiner Stimme ging dem Major zu Herzen, und er wurde durch die beiden nichtssagenden Worte, die der unbekannte Priester äußerte, in eine beinahe religiöse Träumerei versenkt.
»Meine Herren,« rief Jacquotte, die bis in die Salonmitte trat und dort, die Faust auf der Hüfte, stehenblieb, »Ihre Suppe steht auf dem Tische.«
Auf Benassis' Aufforderung hin, der einen nach dem andern aufforderte, um die Vortrittshöflichkeiten zu vermeiden, gingen die fünf Gäste des Arztes in das Speisezimmer hinüber und setzten sich dort, nachdem sie das Benedicite, das der Pfarrer ohne Emphase mit heller Stimme betete, angehört hatten, zu Tisch. Der Tisch war mit einem Tuche aus jenem Damastleinen bedeckt, das unter Heinrich IV. von den Brüdern Graindorge erfunden worden war, geschickten Fabrikanten, die den in Haushaltungen so bekannten dichten Geweben ihren Namen gegeben haben. Das Tischtuch strahlte von Weiße und roch nach dem Thymian, den Jacquotte in die Lauge zu tun pflegte. Das Tafelgeschirr bestand aus völlig unversehrtem blaurandigen weißen Steingut. Die Karaffen hatten jene alte achteckige Form, welche nur die Provinz bis auf unsere Tage beibehalten hat. Die aus Horn gearbeiteten Messerstiele zeigten seltsame Figuren. Wenn man diese Gegenstände eines verjährten Luxus, die nichtsdestoweniger fast neu waren, betrachtete, fand sie jeder im Einklang mit der Gutmütigkeit und dem Freimut des Hausherrn. Genestas' Aufmerksamkeit verweilte einen Augenblick beim Deckel der Suppenschüssel, den sehr schön kolorierte Gemüse in erhabener Arbeit in der Art des Bernard Palissy, eines berühmten Künstlers des XVI. Jahrhunderts, krönten. Die Versammlung entbehrte nicht der Originalität. Benassis' und Genestas' kraftvolle Köpfe bildeten einen wunderbaren Kontrast zu Monsieur Janviers Apostelkopfe; desgleichen hoben die welken Physiognomien des Friedensrichters und des Beigeordneten des Notars junges Gesicht hervor. Durch diese verschiedenen Gesichter, auf denen sich gleicherweise Zufriedenheit mit sich, mit der Gegenwart und der Glaube an die Zukunft abmalten, schien die Gesellschaft repräsentiert zu werden. Nur Monsieur Tonnelet und Monsieur Janvier, die auf der Lebensbahn noch wenig vorgerückt waren, liebten es, über die Ereignisse der Zukunft, von denen sie fühlten, daß sie ihnen gehörte, Erwägungen anzustellen, während die anderen Gäste der Unterhaltung über die Vergangenheit den Vorzug geben mußten; alle aber faßten die menschlichen Dinge ernst ins Auge, und ihre Meinungen reflektierten eine Melancholie von doppelter Färbung: die eine besaß die Blässe der Abenddämmerung, die beinahe erloschene Erinnerung an Freuden, die nicht wiederkehren sollten, die andere erweckte Hoffnung wie die Morgenröte auf einen schönen Tag.
»Sie müssen heute tüchtig zu tun gehabt haben, Herr Pfarrer,« sagte Monsieur Cambon.
»Freilich,« antwortete Monsieur Janvier; »die Beerdigung des armen Kretinen und die des Vaters Pelletier haben zu verschiedenen Stunden stattgefunden.«
»Wir können jetzt die Hütten des alten Dorfs niederreißen,« sagte Benassis zu seinem Beigeordneten. Durch das Abtragen der Häuser bekommen wir wenigstens einen Arpent Wiesen; und die Gemeinde wird überdies die hundert Franken gewinnen, die uns der Unterhalt des Kretinen Chautard kostete.«
»Diese hundert Franken sollten wir drei Jahre lang für den Bau einer einbogigen Brücke auf der unteren Fahrstraße bei dem großen Bache bewilligen,« sagte Monsieur Cambon. »Die Leute des Fleckens und des Tales haben sich angewöhnt, über Jean-François Pastoureaus Grundstück zu gehen und werden es schließlich so zertreten, daß der arme Biedermann großen Schaden erleidet.«
»Dieses Geld könnte wahrlich nicht besser angewendet werden,« sagte der Friedensrichter. »Meiner Meinung nach ist der Mißbrauch von Abkürzern eine der großen Wunden des platten Landes. Jeder zehnte Prozeß, der vor die Friedensgerichte kommt, dreht sich um ungerechte Servitute. In einer Menge von Gemeinden frevelt man so, fast ohne nachteilige Folgen, am Eigentumsrecht. Der Respekt vor dem Eigentumsrecht des Grundbesitzers und die Achtung vor dem Gesetze sind in Frankreich zwei nur allzuoft verleugnete Gefühle, und es tut recht not, sie zu vertiefen. Vielen Leuten scheint es entehrend, den Gesetzen Beistand zu leihen und das: ›Laß dich anderswo aufhängen‹ – eine sprichwörtliche Wendung, die von einem Gefühle löblichen Edelmutes diktiert zu sein scheint – ist im Grunde nur eine scheinheilige Formel, die dazu dient, unseren Egoismus zu verschleiern. Gestehen wir uns nur, es fehlt uns an Patriotismus! Der wirkliche Patriot ist der Bürger, der von der Wichtigkeit der Gesetze hinlänglich durchdrungen ist, um sie, selbst auf seine Rechnung und Gefahr, zur Ausführung zu bringen. Heißt einen Missetäter laufen lassen, nicht, sich seiner künftigen Verbrechen schuldig machen?«
»Alles hat seinen Grund,« sagte Benassis. »Wenn die Bürgermeister ihre Wege ordentlich unterhielten, würde es nicht so viele Abkürzer geben. Ferner würden die Gemeinderäte, wenn sie unterrichteter wären, den Grundbesitzer und den Bürgermeister unterstützen, wenn diese sich der Einbürgerung eines ungerechten Servituts widersetzen; alle würden den unwissenden Leuten begreiflich machen, daß Schloß, Feld, Hütte und Baum in gleicher Weise unverletzlich sind, und daß das Recht sich durch den verschiedenen Wert der Besitztümer weder vermehrt noch vermindert. Solche Verbesserungen aber würden sich nicht schnell durchkreuzen lassen; sie hängen hauptsächlich von der Moral der Bevölkerungen ab, die wir, ohne die wirksame Vermittlung der Pfarrer, nicht vollständig reformieren können. Das geht durchaus nicht an Ihre Adresse, Monsieur Janvier.«
»Dennoch beziehe ich es auf mich,« antwortete lachend der Pfarrer. »Lasse ich es mir nicht angelegen sein, die Dogmen der katholischen Religion mit Ihren administrativen Einsichten in Einklang zu bringen? So habe ich bei meinen pastoralen Belehrungen über den Diebstahl oft versucht, den Bewohnern des Sprengels die nämlichen Ideen, die Sie eben über das Recht aussprechen, einzuschärfen. Tatsächlich wägt Gott den Diebstahl nicht nach dem Werte des gestohlenen Gegenstandes, er richtet den Dieb. Das ist der Sinn der Gleichnisse gewesen, die ich der Intelligenz meiner Pfarrkinder anzupassen versucht habe.«
»Sie haben Erfolg gehabt, Herr Pfarrer,« sagte Cambon. »Ich kann die Veränderungen beurteilen, die Sie in den Gemütern hervorgerufen haben, wenn ich den gegenwärtigen Zustand der Gemeinde mit dem früheren vergleiche. Sicherlich gibt's wenige Bezirke, wo die Arbeiter so gewissenhaft sind wie die unsrigen in bezug auf die verlangte Arbeitszeit. Die Tiere sind gut bewacht und verursachen nur Zufallsschäden. Die Wälder werden respektiert. Kurz, Sie haben unseren Bauern sehr gut begreiflich gemacht, daß die Muße der Reichen der Lohn eines haushälterischen und arbeitsreichen Lebens ist.«
»Dann werden Sie mit Ihren Soldaten ziemlich zufrieden sein, Herr Pfarrer?« fragte Genestas.
»Herr Rittmeister,« antwortete der Pfarrer, »man muß nicht erwarten, überall hienieden Engel zu finden. Ueberall, wo's Unglück gibt, gibt's Leiden. Leiden und Unglück sind starke Mächte, die mißbraucht werden, wie die Gewalt es wird. Wenn Bauern zwei Meilen zurückgelegt haben, um an ihre Arbeit zu gehen, und abends recht müde zurückkommen und Jäger quer durch Felder und Wiesen gehen sehen, um früher zum Abendtisch zu kommen, glauben Sie, daß sie sich da Gewissensbisse machen, sie nachzuahmen? Wer von denen, die sich so den Pfad treten, über den die Herren sich eben beklagten, wird der Schuldige sein? Der, der arbeitet, oder der sich Amüsierende? Heute fügen uns die Armen und die Reichen gleichviel Schaden zu. Der Glaube muß wie die Macht immer von den himmlischen oder den sozialen Höhen herabsteigen; und sicherlich sind die höheren Stände in unseren Tagen weniger gläubig als es das Volk ist, dem Gott eines Tages den Himmel als Lohn für seine geduldig ertragenen Leiden verspricht. Obgleich ich mich ganz der geistlichen Disziplin und der höheren Einsicht meiner Vorgesetzten unterwerfe, glaube ich, daß wir noch lange Zeit in den Kultfragen weniger anspruchsvoll sein und versuchen müssen, das religiöse Gefühl im Herzen des Mittelstandes, wo man über das Christentum streitet, anstatt seine Maximen anzuwenden, neu zu beleben. Des Reichen Sucht zu philosophieren ist ein recht verhängnisvolles Beispiel für den Armen gewesen und hat zu lange Interregnen in Gottes Königreich verursacht. Der Vorteil, den wir heute über unsere geistlichen Schäflein gewinnen, hängt vollkommen von unserem persönlichen Einflusse ab. Ist es nicht ein Unglück, daß der Glaube einer Gemeinde sich nach dem Ansehen richtet, zu dem ein Mensch dort gelangt? Wenn erst das Christentum die soziale Ordnung von neuem befruchtet hat, indem es alle Klassen mit seinen konservativen Doktrinen sättigt, dann wird sein Kult nicht mehr in Frage gestellt sein. Der Kult einer Religion ist ihre Form, die Gesellschaften bestehen nur durch die Form. Ihnen die Standarten, uns das Kreuz...«
»Ich möchte gern wissen, Herr Pfarrer,« sagte Genestas, Monsieur Janvier unterbrechend, »warum Sie die armen Leute am sonntäglichen Tanzvergnügen hindern?«
»Herr Rittmeister,« antwortete der Pfarrer, »gegen den Tanz an sich haben wir nichts einzuwenden, wir verdammen ihn nur als eine Ursache der Immoralität, die den Frieden stört und die Sitten des flachen Landes verdirbt. Heißt, den Geist der Familien läutern, die Heiligkeit ihrer Bande erhalten, nicht das Uebel an seiner Wurzel abschneiden?«
»Ich weiß,« sagte Monsieur Tonnelet, »daß in jedem Bezirke immer einige Störungen vorkommen, in unserem aber werden sie selten. Wenn viele unserer Bauern sich nicht viel Gewissen daraus machen, dem Nachbarn beim Pflügen eine Furche Acker wegzunehmen oder Weidenruten, wenn sie solche nötig haben, beim anderen abzuschneiden, so sind das Kleinigkeiten im Vergleich mit den Vergehen der Stadtleute. Auch finde ich die Bauern unseres Tales sehr religiös.«
»O religiös!« sagte lächelnd der Pfarrer; »Fanatismus ist hier nicht zu befürchten.«
»Aber, Herr Pfarrer,« warf Cambon ein, »wenn die Leute aus dem Flecken allmorgendlich in die Messe gingen, wenn sie jede Woche bei Ihnen beichteten, würden die Felder schwerlich bestellt werden und drei Pfarrer würden die Arbeit nicht bewältigen ...«
»Mein Herr,« fuhr der Pfarrer fort, »arbeiten heißt beten. Die Ausübung hat die Kenntnis der religiösen Prinzipien zur Folge, welche die Gesellschaft leben lassen.«
»Und was machen Sie denn mit dem Patriotismus?« fragte Genestas.
»Der Patriotismus,« antwortete der Pfarrer ernst, »flößt nur flüchtige Gefühle ein, die Religion macht sie dauerhaft. Der Patriotismus ist ein momentanes Vergessen des persönlichen Interesses, während das Christentum ein vollkommenes Oppositionssystem gegen die verderbten Neigungen des Menschen ist!«
»Während der Revolutionskriege ist der Patriotismus indessen ...«
»Ja, während der Revolution haben wir Wunder verrichtet,« sagte Benassis, Genestas ins Wort fallend, »zwanzig Jahre nachher, 1814, aber war unser Patriotismus bereits tot; während Frankreich und Europa, von einem religiösen Gedanken getrieben, sich zwölfmal in hundert Jahren auf Asien geworfen haben.«
»Vielleicht«, sagte der Friedensrichter, »ist es leicht, den materiellen Interessen, welche Kämpfe von Volk zu Volk erzeugen, Schranken zu setzen; während die zur Stützung der Dogmen unternommenen Kriege, deren Gegenstand sich niemals klar bestimmen läßt, notwendigerweise unendbar sind.«
»Nun, Herr, Sie reichen den Fisch nicht herum?« sagte Jacquotte, die mit Nicolles Hilfe die Suppenteller weggenommen hatte.
Ihren Gewohnheiten getreu trug die Köchin jede Platte einzeln auf; ein Brauch, der die Unannehmlichkeit hat, die Gourmands zum Vielessen zu nötigen, und die besten Sachen von den mäßigen Leuten, die ihren Hunger an den ersten Gerichten gestillt haben, verschmähen zu lassen.
»Oh, meine Herren,« sagte der Pfarrer zum Friedensrichter, »wie können Sie behaupten, daß die Religionskriege kein bestimmtes Ziel gehabt hätten? Ehemals war die Religion ein so mächtiges Band in der Gesellschaft, daß die materiellen Interessen von den religiösen Fragen nicht zu trennen waren. Folglich wußte jeder Soldat sehr wohl, weshalb er sich schlug ...«
»Wenn man so sehr für die Religion gekämpft hat,« wandte Genestas ein, »muß Gott ihr Gebäude doch recht unvollkommen gebaut haben. Muß eine göttliche Institution nicht durch ihren Wahrheitscharakter Eindruck auf die Menschen machen?«
Alle Gäste sahen den Pfarrer an.
»Meine Herren,« sagte Monsieur Janvier, »die Religion fühlt man, sie läßt sich nicht definieren. Wir sind weder die Mittel noch das Ziel des Allmächtigen zu beurteilen fähig.«
»Nach Ihnen muß man also an alle Ihre Verbeugungen glauben?« sagte Genestas mit der Biederkeit eines Soldaten, der nie an Gott gedacht hatte.
»Mein Herr,« erwiderte der Priester ernst, »die katholische Religion macht besser als jede andere den menschlichen Aengsten ein Ende; aber, auch wenn dem nicht so wäre, welche Gefahr, frage ich, würden Sie laufen, wenn Sie an ihre Wahrheiten glaubten?«
»Keine große,« sagte Genestas.
»Nun, was setzen Sie aber aufs Spiel, wenn Sie nicht daran glauben! Aber, reden wir von den irdischen Interessen, die Sie am meisten berühren. Sehen Sie, wie stark sich der Finger Gottes den menschlichen Dingen aufgedrückt hat, indem er sie durch seines Stellvertreters Hand berührte. Die Menschen haben viel verloren, als sie von den vom Christentum vorgezeichneten Wegen abgingen. Die Kirche, deren Geschichte zu lesen wenige Leute sich einfallen lassen, die Kirche, die man nach gewissen absichtlich im Volke verbreiteten irrigen Meinungen beurteilt, hat das vollkommene Muster der Regierung, welche die Menschen heute zu errichten suchen, geboten. Ihr Wahlprinzip hat lange eine große politische Macht aus ihr gemacht. Ehedem hat es nicht eine einzige religiöse Institution gegeben, die nicht auf der Freiheit, auf der Gleichheit basiert gewesen wäre. Alle Wege halfen zum Werke mit. Der Rektor, der Abbé, der Bischof, der Ordensgeneral, der Papst wurden damals gewissenhaft nach den Bedürfnissen der Kirche gewählt, sie drückten ihren Gedanken aus: folglich war man ihnen den blindesten Gehorsam schuldig. Schweigen will ich von den sozialen Wohltaten dieses Gedankens, der die modernen Nationen geschaffen, so viele Dichtungen, Kathedralen, Statuen, Gemälde und Musikwerke inspiriert hat, um Sie nur darauf aufmerksam zu machen, daß Ihre bürgerlichen Wahlen, das Geschworenenkollegium und die beiden Kammern ihre Wurzeln in den provinzialen und ökumenischen Konzilien, im Episkopat und im Kardinalskollegium haben, nur mit dem Unterschied, daß die philosophischen Ideen der Gegenwart über die Zivilisation mir vor der erhabenen und göttlichen Idee der katholischen Gemeinschaft, dem Bilde einer universellen sozialen Gemeinschaft, vollendet durch das Wort und die Tat, die in dem religiösen Dogma vereinigt sind, zu verblassen scheinen. Es wird für die neuen politischen Systeme, wie vollkommen man sie auch annehmen mag, schwer werden, die Wunder zu wiederholen, die man dem Zeitalter verdankte, da die Kirche die menschliche Intelligenz trug.«
»Warum?« fragte Genestas.
»Zuerst, weil die Wahl, um ein Prinzip zu sein, bei den Wählern eine absolute Gleichheit verlangt: sie müssen – um mich eines geometrischen Ausdrucks zu bedienen – gleiche Größen sein, was die moderne Politik niemals zuwege bringen wird. Dann kommen die großen sozialen Dinge nur durch die Macht der Gefühle zustande, die allein die Menschen vereinigen kann, und die moderne Scheinphilosophie hat die Gesetze auf dem persönlichen Interesse basiert, das sie zu isolieren bestrebt ist. Ehedem traf man mehr als heute bei den Nationen auf Menschen, die in edler Weise von einem mütterlichen Geiste, den mißverstandenen Gesetzen und den Leiden der Menge gegenüber, beseelt waren. So widersetzte sich auch der Priester, ein Kind des Mittelstandes, der materiellen Gewalt und verteidigte die Völker gegen ihre Feinde. Die Kirche hat territoriale Besitzungen gehabt und ihre zeitlichen Interessen, die sie scheinbar konsolidieren mußten, haben ihre Tätigkeit schließlich geschwächt. Tatsächlich besitzt der Priester privilegierte Eigenschaften, er ist scheinbar ein Bedrücker; der Staat bezahlt ihn, er ist ein Beamter, er schuldet seine Zeit, sein Herz, sein Leben. Die Bürger machen ihm seine Tugenden zur Pflicht und seine Wohltätigkeit, die durch das Prinzip des freien Willens lahmgelegt wird, verdorrt in seinem Herzen. Sei der Priester aber arm, sei er freiwillig Priester, ohne eine andere Stütze wie Gott, ohne ein anderes Vermögen wie die Herzen der Gläubigen zu besitzen, so wird er wieder der Missionar Amerikas, setzt er sich als Apostel ein und ist der Fürst des Guten. Kurz, er herrscht nur durch den Mangel und unterliegt durch den Reichtum.«
Monsieur Janvier hatte sich der Aufmerksamkeit bemächtigt. Die Gäste schwiegen und dachten über die so ungewohnten Worte im Munde eines einfachen Pfarrers nach.
»Monsieur Janvier, inmitten der Wahrheiten, die Sie zum Ausdruck gebracht haben, findet sich ein schwerer Irrtum. Wie Sie wissen, liebe ich es nicht, über die durch die modernen Schriftsteller und die gesetzliche Gewalt von heute angezweifelten allgemeinen Interessen zu diskutieren. Meines Ermessens muß ein Mann, der ein politisches System ersinnt, wenn er die Kraft in sich fühlt, es in Anwendung bringen, schweigen, die Macht an sich reißen und handeln. Ist es aber, wenn er in der glücklichen Dunkelheit eines einfachen Bürgers verharrt, nicht eine Narrheit, die Massen durch individuelle Diskussionen bekehren zu wollen? Nichtsdestoweniger muß ich Sie hier bekämpfen, mein lieber Seelenhirt, weil ich mich hier an wackere Leute wende, die gewöhnt sind, ihre Ansichten zu vereinigen, um in allen Dingen die Wahrheit zu suchen. Meine Gedanken können Ihnen seltsam erscheinen, sind aber die Frucht der Ueberlegungen, welche mir die Katastrophen unserer letzten vierzig Jahre eingegeben haben. Das allgemeine Wahlrecht, welches die der sogenannten konstitutionellen Opposition angehörenden Leute fordern, war in der Kirche ein ausgezeichnetes Prinzip, weil, wie Sie es soeben ausgesprochen haben, lieber Pfarrer, die Individuen in ihr alle unterrichtet, durch das religiöse Gefühl diszipliniert, von dem nämlichen Prinzip durchdrungen waren, und wohl wußten, was sie wollten und wohin sie strebten. Der Triumph der Ideen aber, mit deren Hilfe der moderne Liberalismus unklugerweise die gedeihliche Regierung der Bourbons bekämpft, wird das Verderben Frankreichs und der Liberalen selber sein. Die Häupter der Linken wissen das sehr gut. Für sie ist dieser Kampf eine einfache Machtfrage. Wenn, was Gott verhüten möge, die Bourgeoisie unter dem Banner der Opposition die sozial hervorragenden Persönlichkeiten, gegen welche ihre Eitelkeit sich sträubt, niederwürfe, müßte diesem Triumph unverzüglich ein Kampf folgen, der von der Bourgeoisie gegen das Volk geführt würde, das später in ihr eine Art freilich armseligen Adels sehen würde, dessen Glücksgüter und Privilegien ihm um so verhaßter sein dürften, als es sie aus größerer Nähe fühlen würde. In diesem Kampfe würde die Gesellschaft, ich sage nicht die Nation, von neuem untergehen, weil der stets nur momentane Triumph der leidenden Masse die größten Unordnungen mit sich bringt. Dieser Kampf würde erbittert und rastlos sein; denn er würde auf instinktiven oder künstlich herbeigeführten Spaltungen zwischen den Wählern beruhen, deren minder aufgeklärter aber numerisch größerer Teil in einem System, wo die Wahlstimmen gezählt und nicht gewogen werden, den Sieg über die Spitzen der Gesellschaft davontragen wird. Daraus folgt, daß eine Regierung niemals stärker organisiert, folglich vollkommener ist, als wenn sie für die Verteidigung eines beschränkteren Privilegs bestellt ist. Was ich in diesem Augenblick Privileg nenne, ist keines jener Rechte, die früher bestimmten Personen zum Nachteile aller mißbräuchlicherweise gewährt worden sind, nein; es drückt viel genauer den sozialen Kreis aus, in welchem die Entwicklung – die Macht beschlossen liegt. Die Macht ist gewissermaßen das Herz des Staates. Nun, in allen ihren Schöpfungen hat die Natur das vitale Prinzip enger begrenzt, um ihm größere Spannkraft zu verleihen; so auch bei den politischen Körperschaften. Ich will meinen Gedanken durch Beispiele erläutern. Lassen wir in Frankreich hundert Pairs zu, so werden sie nur hundert Friktionen verursachen. Schaffen wir die Pairswürde ab, so werden alle reichen Leute Privilegierte; statt hundert, werden wir ihrer zehntausend haben, und sie werden die Wunde der sozialen Ungleichheiten vergrößert haben. In der Tat bildet für das Volk nur das Recht zu leben, ohne zu arbeiten, ein Privileg. In seinen Augen beraubt der es, welcher konsumiert, ohne zu produzieren. Es verlangt sichtbare Arbeiten und rechnet die intellekten Produktionen, die es am meisten bereichern, nicht. So dehnen Sie also, wenn Sie die Reibungsflächen vermehren, den Kampf auf alle Teile des sozialen Körpers aus, anstatt ihn auf einen engen Kreis zu begrenzen. Wenn Angriff und Widerstand allgemein sind, steht der Ruin eines Landes nahe bevor. Stets wird es weniger Reiche als Arme geben, also gewinnen letztere den Sieg, sobald der Streit ein materieller wird. Die Geschichte stützt mein Prinzip. Die römische Republik verdankte die Eroberung der Welt der Einrichtung des senatorischen Privilegs. Der Senat hielt den Machtgedanken starr aufrecht. Als jedoch die Ritter und die Emporkömmlinge die Regierungstätigkeit dadurch, daß sie das Patriziat erweiterten, ausgedehnt hatten, war die res publica verloren. Trotz Sulla, und nach Cäsar hat Tiberius das römische Kaiserreich daraus geschaffen, ein System, wo die Macht, dadurch, daß sie in eines einzigen Mannes Händen vereinigt war, das Leben dieser großen Herrschaft um einige weitere Jahrhunderte verlängert hat. Der Kaiser war nicht mehr in Rom, als die ewige Stadt an die Barbaren fiel. Als unser Boden erobert wurde, erfanden die Franken, die sich in ihn teilten, das Feudalsystem, um sich ihre Privatbesitzungen zu sichern. Die hundert oder tausend Anführer, die das Land besaßen, führten ihre Einrichtungen zu dem Zwecke durch, die durch die Eroberung erworbenen Rechte zu verteidigen. Die Lehensherrschaft dauerte demnach so lange, bis das Privileg eingeschränkt wurde. Als aber die Männer dieser Nation (hommes de cette nation, wie die wahre Uebersetzung des Wortes gentilshommes lautet), anstatt fünfhundert zu sein, fünfzigtausend wurden, gab es eine Revolution. Zu weit ausgedehnt besaß die Wirkung ihrer Macht weder Spannkraft noch Stärke, und konnte sich außerdem gegen die Freigabe des Geldes und des Gedankens, die sie nicht vorhergesehen hatten, nicht verteidigen. Da der Triumph der Bourgeoisie über das monarchische System also bezweckt, die Zahl der Bevorrechteten in den Augen des Volkes zu vermehren, würde der Triumph des Volkes über die Bourgeoisie die unvermeidliche Wirkung dieser Veränderung sein. Wenn diese Umwälzung eintritt, wird sie das ohne Einschränkung auf die Masse ausgedehnte Wahlrecht als Hilfsmittel haben. Wer abstimmt, streitet. Bestrittene Gewalten existieren nicht. Können Sie sich eine Gesellschaft ohne Macht vorstellen? Nein. Nun gut, wer Macht sagt, sagt Kraft. Die Kraft muß auf ›entschiedenen Sachen‹ beruhen. Das sind die Gründe, die mich auf den Gedanken gebracht haben, daß das Wahlprinzip eines der unheilvollsten für den Bestand der modernen Regierungen ist. Ich glaube meine Liebe zur armen und leidenden Klasse gewiß genugsam bewiesen zu haben, und man dürfte mir nicht vorwerfen können, ihr Unglück zu wollen. Doch obwohl ich sie auf dem arbeitsamen Wege bewundere, den sie, in ihrer Geduld und Resignation erhaben, geht, erkläre ich sie für unfähig, an der Regierung teilzunehmen. Die Proletarier erscheinen mir als die Minderjährigen einer Nation und müssen stets unter Vormundschaft bleiben. So ist meiner Meinung nach das Wort:›Wahl‹ nahe daran, ebensoviel Schaden anzurichten, wie es die Worte: ›Gewissen‹ und ›Freiheit‹ angerichtet haben, die schlecht verstanden, schlecht gedeutet und den Völkern als Empörungssymbole und Zerstörungsbefehle hingeworfen worden sind. Die Bevormundung der Massen scheint mir daher für die Erhaltung der Gesellschaft eine ebenso gerechte wie notwendige Maßregel zu sein.«
»Dieses System bietet allen unsern heutigen Ideen so sehr Trotz, daß wir wohl ein wenig das Recht haben, Sie um nähere Begründung zu bitten,« sagte Genestas, den Arzt unterbrechend.
»Gerne, Rittmeister.«
»Was hat unser Herr da gesagt?« rief Jacquotte, als sie wieder in die Küche kam. »Rät der arme liebe Mann ihnen da nicht, das Volk zu bedrücken, und sie hören ihn an ...«
»Nie hätte ich das von Monsieur Benassis gedacht!« antwortete Nicolle.
»Wenn ich starke Gesetze fordere, um die unwissende Menge im Zaume zu halten,« fuhr der Arzt nach einer kleinen Pause fort, »so wünsche ich, daß das soziale System schwache und nachgiebige Netze habe, um jeden aus der Menge, der den Willen hat und sich fähig fühlt, sich in die höheren Schichten emporzuarbeiten, ans Ziel seiner Wünsche gelangen zu lassen. Jede Macht strebt ihre Erhaltung an. Um leben zu können, müssen heute wie früher die Regierungen bedeutende Männer an sich ziehen, indem sie sie überall nehmen, wo sie sie finden, um sich Verteidiger aus ihnen zu machen, und den Massen die energischen Leute, die sie aufwühlen, zu nehmen. Indem er dem öffentlichen Ehrgeiz steile und zugleich bequeme Wege – steil für den schwankenden, tatenlosen und bequem für den echten tatkräftigen Willen – eröffnet, kommt ein Staat den Revolutionen zuvor, welche die Hemmung des Aufwärtsstrebens wirklich überlegener Persönlichkeiten verursachte. Unsere vierzig Marterjahre haben einem vernünftigen Menschen beweisen müssen, daß die Ueberlegenheiten eine notwendige Folge der sozialen Ordnung sind. Es gibt ihrer drei, die unbezweifelbar sind: Ueberlegenheit des Gedankens, politische Ueberlegenheit, Vermögensüberlegenheit. Sind das nicht die Kunst, die Macht und das Geld, oder anders ausgedrückt: das Prinzip, das Mittel und das Resultat? Angenommen nun, man habe tabula rasa – die sozialen Einheiten seien vollkommen gleich, die Geburten im selben Verhältnis und man gäbe jeder Familie den nämlichen Grundbesitz, so würden Sie binnen kurzem dach die heute bestehende Vermögensunregelmäßigkeit wiederfinden. Aus dieser in die Augen springenden Wahrheit ergibt sich also, daß die Ueberlegenheit durch Vermögen, Gedanken und Macht eine Tatsache ist, die man hinnehmen muß, eine Tatsache, welche die Menge stets als bedrückend ansehen wird, indem sie in den auf die beste Weise erworbenen Rechten Privilegien sieht. Der von dieser Grundlage ausgehende Gesellschaftsvertrag wird also ein ewiger Pakt zwischen den Besitzenden gegen die Besitzlosen sein. Nach diesem Prinzip werden die Gesetze von denen gemacht werden, denen sie nützen; denn sie müssen den Instinkt ihrer Erhaltung besitzen und ihre Gefahren voraussehen. Sie sind mehr interessiert an der Ruhe der Masse als die Masse selber es ist. Die Völker haben ein vollkommenes Glück nötig. Wenn Sie von diesem Gesichtspunkte aus die Gesellschaft betrachten, wenn Sie sie in ihrer Gesamtheit umfassen, so werden Sie bald mit mir anerkennen, daß das Wahlrecht nur von den Leuten, die Vermögen, Macht oder Intelligenz besitzen, ausgeübt werden darf; und ebenso werden Sie anerkennen, daß ihre Bevollmächtigten nur äußerst beschränkte Funktionen haben können. Der Gesetzgeber, meine Herrn, muß seinem Jahrhundert überlegen sein. Er stellt die Tendenz der allgemeinen Irrtümer fest und präzisiert die Punkte, nach denen die Ideen einer Nation hinneigen; er arbeitet daher noch mehr für die Zukunft als für die Gegenwart, mehr für die heranwachsende Generation als für die absterbende. Wenn Sie nun die Masse berufen, Gesetze zu machen, kann die Masse dann sich selber überlegen sein? Nein. Je getreulicher die gesetzgebende Versammlung die Meinungen der Menge repräsentieren wird, desto weniger Verständnis wird sie für die Aufgabe des Regierens haben; desto weniger bedeutend werden ihre Pläne, desto weniger präzise, desto schwankender wird ihre Gesetzgebung sein; denn die Masse ist, in Frankreich vor allem, und wird nie etwas anderes sein als eine Masse. Das Gesetz bringt eine Unterwerfung unter Regeln mit sich; jede Regel steht in Opposition zu den natürlichen Sitten, zu den Interessen des Individuums; wird die Masse Gesetze wider sich selber unterstützen? Nein. Oft muß die Tendenz der Gesetze im umgekehrten Verhältnis zu der Tendenz der Sitten stehen. Wenn man Gesetze nach den allgemeinen Sitten formen wollte, hieße das in Spanien nicht, der religiösen Unduldsamkeit und dem Müßiggang, in England dem Handelsgeiste, in Italien der Liebe zu den Künsten, die dazu bestimmt sind, Ausdruck der Gesellschaft zu sein, die aber nicht die ganze Gesellschaft sein können, in Deutschland den adligen Klasseneinteilungen, in Frankreich dem Geist der Leichtfertigkeit, der Zugkraft der Ideen und der Leichtigkeit, uns in Parteien, die uns stets verzehrt haben, zu zersplittern, Ermunterungsprämien verleihen? Was ist in den mehr als vierzig Jahren geschehen, während deren die Wahlkollegien Hand an die Gesetze legen? Wir haben vierzigtausend Gesetze! Ein Volk, das vierzigtausend Gesetze hat, hat kein Gesetz! Können fünfhundert mittelmäßige Intelligenzen – denn einem Jahrhundert stehen nicht mehr als hundert starke Intelligenzen zu Diensten – die Kraft besitzen, sich zu solchen Betrachtungen aufzuschwingen? Nein. Die stets aus fünfhundert verschiedenen Oertlichkeiten hervorgegangenen Männer werden niemals den Geist des Gesetzes in der nämlichen Weise verstehen – und das Gesetz muß eins sein. Doch ich gehe noch weiter. Früher oder später gerät eine gesetzgebende Versammlung unter das Zepter eines Mannes, und anstatt Dynastien von Königen zu haben, haben Sie die wechselnden und kostspieligen Dynastien von Premierministern. Am Ende jeder Beratung finden sich Mirabeau, Danton, Robespierre oder Napoleon: Prokonsuln oder ein Kaiser. In der Tat bedarf man einer bestimmten Kraftmenge, um ein bestimmtes Gewicht aufzuheben; diese Kraft kann auf eine mehr oder minder große Zahl von Hebeln verteilt werden, schließlich aber muß die Kraft dem Gewicht proportioniert sein: hier ist die unwissende und leidende Menge, welche die erste Schicht jeder Gesellschaft bildet, das Gewicht. Die ihrer Natur nach einschränkende Macht bedarf einer großen Konzentration, um der Volksbewegung einen gleichen Widerstand entgegenzusetzen. Es ist die Anordnung des Prinzips, das ich eben entwickelte, indem ich Ihnen von der Beschränkung des Regierungsprivilegs sprach. Wenn Sie Leute von Talent zulassen, unterwerfen Sie sich diesem Naturgesetz und unterwerfen ihm das Land; wenn Sie mittelmäßige Menschen versammeln, werden sie früher oder später durch das überlegene Genie besiegt: der Deputierte von Talent fühlt die Staatsraison, der mittelmäßige Deputierte findet sich mit der Kraft ab. In Summa: eine gesetzgebende Versammlung weicht einer Idee, wie der Konvent während der Schreckensherrschaft; einer Macht, wie der gesetzgebende Körper unter Napoleon; einem System oder dem Gelde wie heute. Die republikanische Versammlung, von der einige gute Köpfe träumen, ist unmöglich; die sie wollen, sind vollkommen irregeführt oder zukünftige Tyrannen. Scheint Ihnen eine beratschlagende Versammlung, welche die Gefahren einer Nation erörtert, wenn man sie zum Handeln bringen muß, nicht lächerlich? Mag das Volk Bevollmächtigte haben, die beauftragt sind, Steuern zu gewähren oder zu verweigern, das ist billig und das hat es zu allen Zeiten unter dem grausamsten Tyrannen wie unter dem nachsichtigsten Fürsten gegeben. Geld kann man nicht fassen; die Steuer hat überdies natürliche Grenzen, jenseits deren eine Nation sich auflehnt, um sie zu verweigern, oder sich niederlegt, um zu sterben. Wenn dieser Wahlkörper, der wie die Bedürfnisse, wie die Ideen, die er repräsentiert, wechselt, sich widersetzt, den Gehorsam aller einem schlechten Gesetze gegenüber zuzugestehen, dann ist alles gut. Anzunehmen aber, daß fünfhundert Männer, die aus allen Winkeln eines Reiches zusammengekommen sind, ein gutes Gesetz machen werden, ist das nicht ein schlechter Scherz, den die Völker früher oder später büßen müssen? Sie wechseln dann die Tyrannen, das ist alles. Die Macht, das Gesetz müssen daher das Werk eines einzelnen sein, der durch die Gewalt der Verhältnisse gezwungen ist, seine Handlungen beständig einer allgemeinen Billigung zu unterwerfen. Die Einschränkungen aber, die bei der Ausübung einer Gewalt, sei es eines einzelnen, sei es mehrerer, sei es der Menge, herbeigeführt werden, können nur in den religiösen Institutionen eines Volkes gefunden werden. Die Religion ist das einzige wirklich wirksame Gegengewicht gegen den Mißbrauch der höchsten Gewalt. Wenn das religiöse Gefühl bei einer Nation untergeht, wird sie aus Prinzip aufrührerisch und der Fürst wird aus Notwendigkeit Tyrann. Die Kammern, die man zwischen die Herrscher und die Untertanen stellt, sind nur Palliative für beide Strebungen. Nach dem, was ich Ihnen eben sagte, werden die gesetzgebenden Versammlungen Mitschuldige entweder des Aufstandes oder der Tyrannei. Nichtsdestoweniger ist die Herrschaft eines einzigen, zu der ich hinneige, nicht absolut gut; denn die Resultate der Politik werden ewig von den Sitten und dem Glauben abhängen. Wenn eine Nation alt geworden ist, wenn die Scheinphilosophie und der Diskussionsgeist sie bis ins Mark der Knochen hinein verdorben haben, geht diese Nation trotz der freiheitlichen Formen dem Despotismus entgegen; ebenso wie kluge Völker fast immer die Freiheit unter den Formen des Despotismus zu finden wissen. Aus alledem ergeben sich die Notwendigkeit einer großen Einschränkung in den Wahlrechten, die Notwendigkeit einer starken Gewalt und die Notwendigkeit einer mächtigen Religion, die den Reichen zum Freunde des Armen macht und dem Armen eine völlige Ergebung befiehlt. Kurz, es ist wirklich dringend nötig, die gesetzgebenden Versammlungen auf die Steuerfrage und die Eintragung der Gesetze zu beschränken, indem man ihnen deren direkte Schaffung nimmt. In vielen Köpfen bestehen andere Ideen, das weiß ich. Heute wie früher begegnet man Geistern, die darauf brennen, »das Beste« zu suchen, und die wollen, daß die Gesellschaften weiser eingerichtet werden als sie es sind. Die Neuerungen aber, die auf die Herbeiführung vollkommener sozialer Aenderungen abzielen, bedürfen einer allgemeinen Bestätigung. Die Neuerer müssen Geduld haben. Wenn ich die Zeit abmesse, welche die Einführung des Christentums nötig hatte – eine moralische Revolution, die rein friedlich sein sollte –, so bebe ich beim Gedanken an das Unheil, das eine Revolution in den materiellen Interessen mit sich bringen müßte, und entscheide mich für die Beibehaltung der bestehenden Institutionen. ›Jedem seine Gedanken,‹ hat das Christentum gesagt; ›jedem sein Feld,‹ sagt das moderne Gesetz. Das moderne Gesetz hat sich in Uebereinstimmung mit dem Christentume gesetzt. Jedem seine Gedanken, ist die Bestätigung der Rechte der Intelligenz; jedem sein Feld, ist die Bestätigung des den Mühen der Arbeit verdankten Besitzes. Darauf beruht unsere Gesellschaft. Die Natur hat das menschliche Leben auf das Gefühl der individuellen Erhaltung basiert; das soziale Leben hat sich auf dem persönlichen Interesse aufgebaut. Für mich sind das die wahren politischen Grundsätze. Indem sie diese beiden egoistischen Gefühle unter dem Gedanken an ein zukünftiges Leben erstickt, mildert die Religion die Härte der sozialen Kontakte. Also lindert Gott die Leiden, welche die Reibung der Interessen hervorruft, durch das religiöse Gefühl, das aus dem Sichselbstvergessen eine Tugend macht, wie er durch unbekannte Gesetze die Reibungen im Mechanismus seiner Welten gemildert hat. Das Christentum hieß den Armen den Reichen dulden, den Reichen das Elend des Armen erleichtern; für mich bedeuten diese wenigen Worte die Essenz aller göttlichen und menschlichen Gesetze.«
»Ich, der ich kein Staatsmann bin,« sagte der Notar, »sehe in einem Staatsoberhaupte den Liquidator einer Gesellschaft, die in einem ständigen Liquidationszustande verharren muß; er überliefert seinem Nachfolger ein Aktivum, das dem gleich ist, das er empfangen hat.«
»Ich bin kein Staatsmann!« unterbrach Benassis den Notar lebhaft. »Es bedarf nur gesunden Menschenverstandes, um das Schicksal einer Gemeinde, eines Kreises oder eines Bezirks zu verbessern; wer eine Provinz leitet, muß schon Talent besitzen. Diese vier Verwaltungspflichten aber haben begrenzte Horizonte, die gewöhnliche Augen leicht überschauen können; ihre Interessen stehen durch sichtbare Bande im Zusammenhange mit der großen Bewegung des Staates. In der höheren Region vergrößert sich alles; der Blick des Staatsmannes muß von dem Standpunkt aus, auf dem er steht, alles überschauen. Da wo er, um viel Gutes in einer Provinz, in einem Bezirke, in einem Kreise oder einer Gemeinde zu wirken, nur nötig hätte, das Resultat einer zehnjährigen Frist vorauszusehen, muß er, sobald es sich um eine Nation handelt, ihre Geschichte vorausahnen, sie am Laufe eines Jahrhunderts abmessen. Das Genie der Colbert, der Sully bedeutet nichts, wenn es sich nicht auf den Willen stützt, der die Napoleon und die Cromwell macht. Ein großer Minister, meine Herren, ist ein großer Gedanke, der auf allen Jahren des Jahrhunderts, dessen Glanz und Gedeihen von ihm vorbereitet worden sind, geschrieben steht. Beständigkeit ist die Tugend, deren er am meisten bedarf. Ist aber Beständigkeit nicht auch in allen menschlichen Dingen der höchste Ausdruck der Kraft? Seit einiger Zeit sehen wir allzu viele Männer nur ministerielle Ideen statt nationaler Ideen haben, um nicht den wirklichen Staatsmann als denjenigen zu bewundern, der uns die unermeßlichste menschliche Poesie darbietet. Immer über den Augenblick hinaussehen und dem Geschick zuvorkommen, über der Macht stehen und nur durch das Gefühl der Nützlichkeit dabei beharren, ohne sich über seine Kräfte zu täuschen; sich seiner Leidenschaften und selbst allen gewöhnlichen Ehrgeizes entäußern, um Herr seiner Fähigkeiten zu bleiben, um unaufhörlich vorherzusehen, zu wollen und zu handeln; gerecht und absolut werden, die Ordnung im großen aufrechterhalten, seinem Herzen Schweigen auferlegen und nur auf seine Intelligenz hören, weder mißtrauisch noch vertrauensselig, weder zweiflerisch noch leichtgläubig, weder erkenntlich noch undankbar sein, weder hinter einem Ereignisse zurückbleiben, noch von einem Gedanken überrascht sein; endlich durch das Gefühl der Massen leben und sie immer beherrschen, indem man die Flügel seines Geistes, das Volumen seiner Stimme und das Durchdringende seines Blicks entfaltet, indem man nicht die Einzelheiten, sondern die Konsequenzen aller Dinge sieht, – heißt das nicht ein bißchen mehr sein als ein Mensch? Deshalb müßten die Namen dieser großen und edlen Väter der Nationen für immer populär sein.«
Einen Augenblick über herrschte Schweigen, währenddessen die Gäste sich untereinander anblickten.
»Meine Herren, Sie haben nichts von der Armee gesagt,« rief Genestas. »Militärische Organisation scheint mir der wahre Typ jeder guten bürgerlichen Gesellschaft; der Degen ist der Vormund eines Volkes.«
»Rittmeister,« erwiderte lächelnd der Friedensrichter, »ein alter Advokat hat gesagt, daß die Reiche mit dem Degen begönnen und mit dem Tintenfaß aufhörten; wir sind beim Tintenfaß angelangt.«
»Nachdem wir jetzt das Los der Welt geregelt haben, wollen wir von etwas anderem reden, meine Herren. Auf, Rittmeister, ein Glas Eremitagewein,« rief lachend der Arzt.
»Lieber zwei als eins,« erwiderte Genestas, sein Glas hinhaltend, »ich will sie beide auf Ihre Gesundheit trinken; Sie sind ein Mann, der unserer Spezies Ehre macht.«
»Und den wir alle innig lieben!« sagte der Pfarrer in herzlichem Tone.
»Wollen Sie mich denn eine Sünde des Hochmuts begehen lassen, Monsieur Janvier?«
»Der Herr Pfarrer hat nur recht leise geäußert, was der ganze Bezirk ganz laut sagt,« erwiderte Cambon.
»Meine Herrn, ich schlage Ihnen vor, Monsieur Janvier nach dem Pfarrhause zu bringen und so einen Mondscheinspaziergang zu machen.«
»Gehen wir,« sagten die Gäste, die sich anschickten, den Pfarrer zu begleiten.
»Auf in meine Scheune,« sagte der Arzt, Genestas beim Arme nehmend, nachdem er dem Pfarrer und seinen Gästen Lebewohl gesagt hatte. »Dort, Rittmeister Bluteau, sollen Sie von Napoleon reden hören. Ich hab' einige Helfer, die Goguelat, unseren Landbriefträger, zum Plaudern über diesen Gott des Volkes bringen sollen. Nicolle, mein Pferdeknecht, hat uns eine Leiter hineingestellt, damit wir durch eine Dachluke auf den Scheunenboden und auf einen Platz klettern können, von wo aus wir die ganze Szene überblicken werden. Glauben Sie mir und kommen sie: eine Spinnstube hat ihre Reize. Nicht zum ersten Male krabble ich auf den Boden, um eine Soldatengeschichte oder irgendeinen Bauernschwank zu hören. Verbergen wir uns aber gut; wenn die armen Leute einen Fremden sehen, werden sie steif, machen Umstände und sind nicht mehr sie selber.«
»Ei, mein lieber Wirt,« sagte Genestas, »habe ich mich nicht oft schlafend gestellt beim Biwak, um meine Reiter zu hören? Sehen Sie, ich habe in den Pariser Theatern nie so aus vollem Herzen gelacht, wie bei der Schilderung des Rückzuges von Moskau, den ein alter Kavallerieunteroffizier auf possenhafte Weise Konskribierten erzählte, die Bange vorm Kriege hatten. Er erzählte, die französische Armee habe in die Betten gemacht, man habe alles eisgekühlt getrunken, die Toten seien unterwegs stehengeblieben, man hätte Weißrußland gesehen, man habe die Pferde mit Bissen gestriegelt, die, welche gern Schlittschuh liefen, seien sehr auf ihre Rechnung gekommen, Liebhaber von Fleischgelee hätten sich satt daran essen können, die Weiber wären gewöhnlich kalt und das einzige wäre der Mangel an heißem Rasierwasser gewesen, was empfindlich unangenehm gewesen sei. Kurz, er lieferte so komische Schnurren, daß ein alter Quartiermacher, der sich die Nase erfroren hatte und den man ›Nasenab‹ nannte, selber darüber lachte.«
»Pst!« sagte Benassis, »wir sind da; ich gehe voran, folgen Sie mir.«
Beide stiegen die Leiter hinauf und warfen sich in das Heu, ohne von den Spinnstubenleuten gehört worden zu sein, über denen sie so saßen, daß sie sie gut sehen konnten. In Scharen um drei oder vier Kerzen gruppiert, nähten einige Frauen, andere spannen, mehrere blieben müßig, den Hals ausgestreckt, den Kopf und die Augen auf einen alten Bauern gerichtet, der eine Geschichte erzählte. Die meisten Männer standen aufrecht oder lagen auf Heuhaufen. Diese völlig schweigenden Gruppen wurden kaum erhellt durch den flackernden Widerschein der Kerzen, die von wassergefüllten Glaskugeln umgeben waren, welche das Licht in Strahlen konzentrierten, in deren Helligkeit sich die Arbeiterinnen hielten. Die Ausdehnung der Scheune, deren obere Hälfte finster und schwarz blieb, beschränkte diese Lichtschimmer noch, welche die Köpfe ungleichmäßig beleuchteten, indem sie malerische Hell- Dunkeleffekte hervorriefen. Hier glänzten die braune Stirn und die hellen Augen einer neugierigen kleinen Bäuerin, dort hoben Lichtstreifen die strengen Stirnen einiger alter Männer hervor und zeichneten phantastische Muster auf ihre abgenutzten und verblichenen Kleider. Alle diese aufmerksamen Leute in ihren verschiedenen Stellungen drückten auf ihren unbeweglichen Gesichtern die völlige Hingabe ihrer Gedanken an den Erzähler aus. Es war ein seltsames Gemälde, auf dem der wunderbare Einfluß deutlich wurde, der von der Dichtung auf alle Gemüter ausgeübt wird. Wenn der Bauer von seinem Erzähler ein stets einfaches oder fast unmöglich zu glaubendes Wunderbares verlangt, zeigt er sich da nicht als Freund reinster Poesie?
»... Obwohl das Haus sehr übel aussah,« sagte der Bauer im Augenblicke, da die beiden neuen Zuhörer Platz genommen hatten, um ihm zu lauschen, »ging die arme bucklige Frau doch hinein; denn es hatte sie sehr müde gemacht, daß sie ihren Hanf auf den Markt getragen hatte; sie wurde ja auch von der Nacht, die hereingebrochen war, dazu gezwungen. Sie bat nur, dort schlafen zu dürfen; denn sie zog eine Brotrinde aus ihrem Quersack und verzehrte sie – das war ihre ganze Nahrung. Die Wirtin, die also das Weib der Räuber war, nahm, da sie nichts von dem wußte, was sie in der Nacht zu tun beschlossen hatten, die Bucklige auf und schickte sie ohne Licht nach oben. Meine Bucklige streckte sich auf einer schlechten Matratze aus, sagt ihr Gebet, denkt an ihren Hanf und schickt sich an zu schlafen. Ehe sie aber eingeschlummert war, hört sie Geräusch und sieht zwei Männer eintreten, die eine Laterne tragen; jeder von ihnen hielt ein Messer: Angst packt sie, weil in jener Zeit, wißt ihr, die Edelleute so auf Menschenfleischpasteten versessen waren, daß man sie für sie herstellte. Doch da die Alte ganz hartes und zähes Fleisch hatte, beruhigte sie sich bei dem Gedanken, daß man sie für eine schlechte Nahrung halten würde. Die beiden Männer kommen an der Buckligen vorbei, gehen an ein Bett, das in diesem großen Zimmer stand, und wohinein man den Herrn mit dem großen Felleisen sich hatte legen lassen, den man für einen Negromanten hielt. Der größere hebt die Lampe, indem er des Herrn Füße packt, der Kleine, derselbe, der den Betrunkenen gespielt hatte, packt seinen Kopf und schneidet ihm mit einem Ruck, krach, den Kopf ab! Dann lassen sie den Körper und den Kopf, ganz mit Blut bedeckt, da, stehlen das Felleisen und gehen hinunter. Da war unsere Frau recht in Aufregung! Anfangs denkt sie daran, sich dünn zu machen, ohne daß man es merkt, da sie noch nicht weiß, daß die Vorsehung sie zu Gottes Ruhm dorthin geführt hatte und um das Verbrechen seine Strafe finden zu lassen. Sie hatte Bange, und wenn man Bange hat, regt man sich über gar nichts auf. Die Wirtin aber, welche die Räuber nach Neuigkeiten von der Buckligen gefragt hatte, erschreckt sie, und sie gehen sacht die kleine Holzstiege wieder hinauf. Die arme Bucklige kauert sich vor Angst zusammen und hört sie sich mit leiser Stimme streiten:
›Ich sage dir, du sollst sie totmachen.‹
›Braucht nicht totgemacht zu werden.‹
›Mach' sie tot!‹
›Nein!‹
Sie treten ein. Meine Bucklige, die nicht dumm war, macht die Augen zu und tut, als ob sie schliefe. Und schläft wie ein Kind, die Hand auf dem Herzen, und atmet wie ein Engelchen. Der die Laterne hatte, macht sie auf, läßt das Licht gerade in die Augen der alten Schläferin fallen, und meine gute Frau zuckt nicht im geringsten mit den Wimpern, solche Angst hatte sie für ihren Hals.
›Du siehst doch, daß sie wie ein Sack schläft,‹ sagt der Große.
›Die alten Weiber sind boshaft,‹ antwortete der Kleine. ›Ich will sie totmachen, dann werden wir ruhiger sein. Uebrigens wollen wir sie einsalzen und unseren Schweinen zu fressen geben.«
Als die Alte diesen Vorschlag hört, muckst sie nicht.
›O ja, sie schläft!‹ sagte der verwegene Kleine, als er sah, daß sie nicht gemuckst hatte.
So rettete sich die Alte. Und man kann wohl sagen, daß sie mutig war. Wahrlich gibt's hier genug junge Mädchen, die nicht wie Engelskinder geatmet hätten, wenn sie von den Schweinen hätten reden hören ... Die beiden Räuber machen sich dran, den toten Mann aufzuheben, rollen ihn in seine Laken und werfen ihn in den kleinen Hof, wo die Alte die Schweine grunzend herbeilaufen hört, um ihn zu fressen ...
Dann, am folgenden Morgen,« fuhr der Erzähler, nachdem er eine Pause gemacht hatte, fort, »geht die Frau weiter, nachdem sie zwei Sous fürs Schlafen bezahlt hat. Sie nimmt ihren Quersack, tut, als wisse sie von nichts, fragt nach Neuigkeiten aus der Gegend, geht in Frieden fort und will laufen. Es geht nicht. Die Angst hemmt ihre Beine, sehr zu ihrem Glück. Und zwar deshalb: kaum hatte sie eine halbe Viertelmeile hinter sich gebracht, als sie einen der Räuber kommen sieht, der ihr aus Klugheit folgte, um sich zu vergewissern, ob sie auch wirklich nichts gesehen hat. Sie errät das und setzt sich auf einen Stein.
›Was habt Ihr, meine liebe Frau,‹ redete der Kleine sie an, denn es war der Kleine, der böswilligste der beiden, der sie belauerte.
›Ach, mein lieber Mann,‹ antwortete sie ihm, ›mein Quersack ist so schwer, und ich bin so müde, daß ich wohl den Arm eines ehrenwerten jungen Mannes – hört die Schlaubergerin! – nötig hätte, um meine arme Wohnung zu erreichen.‹
Da nun bietet der Räuber sich an, sie zu begleiten. Sie ist's zufrieden. Der Mann nimmt ihren Arm, um sich zu vergewissern, ob sie Angst hat. Jawohl! Die Frau zittert nicht und geht ruhig. Und so gehen sie denn alle beide, von Landwirtschaft und von der Art, wie man Hanf zum Keimen bringt, plaudernd, bis zur Vorstadt des Ortes, wo die Bucklige wohnte, und wo der Räuber sie aus Angst, einem von der Polizei zu begegnen, verließ. Die Frau kam um die Mittagszeit zu Hause an und wartete auf ihren Mann, indem sie über die Ereignisse der Reise und der verflossenen Nacht nachdachte. Der Hanfbrecher kam gegen Abend heim. Er hatte Hunger, sie muß ihm was zu essen bereiten. Wie sie denn ihre Pfanne einfettet, um ihm was zu braten, erzählt sie ihm, wie sie ihren Hanf verkauft hat, indem sie nach Frauenart ins Blaue hinein redet; sagt aber weder etwas von den Schweinen, noch von dem getöteten, bestohlenen und gefressenen Herrn. Sie hält ihre Pfanne übers Feuer, um sie rein zu machen; nimmt sie her, will sie auswischen, findet sie voll Blut.
›Was hast du da hineingetan?‹ sagt sie zu ihrem Manne.
›Nichts!‹ antwortet der.
Sie glaubt nicht recht gesehen zu haben und setzt ihre Pfanne wieder aufs Feuer ... Puff! ein Kopf fällt durch den Kamin.
›Siehst du! Das ist genau des Toten Kopf,‹ sagt die Alte. ›Wie er mich ansieht! Was will er denn von mir?‹
›Daß du ihn rächst!‹ sagt eine Stimme zu ihr.
›Wie dumm du bist!‹ sagt der Hanfbrecher. ›Was du nicht für verrücktes Zeug siehst, das keinen Sinn und keine Vernunft hat!‹ Er nimmt den Kopf, der ihn in den Finger beißt, und wirft ihn in seinen Hof.
›Mach' mir einen Pfannkuchen,‹ sagt er, ›und rege dich nicht darüber auf. Es ist ein Kater!‹
›Ein Kater!‹ sagt sie, ›er war rund wie eine Kugel.‹
Wieder stellt sie die Pfanne aufs Feuer ... Puff! fällt ein Bein herunter. Dieselbe Geschiche. Der Mann, der nicht erstaunter ist, den Fuß zu sehen, als er den Kopf gesehen hat, packt das Bein und wirft's vor die Tür. Schließlich kamen nacheinander das andere Bein, die beiden Arme, der Körper, der ganze ermordete Reisende herunter. Kein Pfannkuchen kommt zustande. Der alte Hanfhändler hatte tüchtigen Hunger.
›Beim ewigen Heil meiner Seele,‹ sagt er, ›wenn mein Pfannkuchen fertig wird, wollen wir dem Manne da seinen Willen tun.‹
›Jetzt gibst du also zu, daß er ein Mensch ist?‹ sagt die Bucklige. ›Warum hast du denn eben behauptet, es wäre kein Kopf, alter Nörgelfritz?‹
Die Frau zerschlägt die Eier, bäckt den Pfannkuchen und trägt ihn, ohne weiter zu brummen, auf, weil sie angesichts dieses Spuks unruhig zu werden begann. Ihr Mann setzt sich hin und fängt an zu essen. Die Bucklige, die Angst hat, erklärt keinen Hunger zu haben.
›Poch, poch,‹ macht ein Fremdling, der an die Tür klopft.
›Wer ist denn da?‹
›Der Erschlagene von gestern!‹
›Kommt herein,‹ antwortete der Hanfbrecher.
Der Reisende tritt also ein, setzt sich auf den Schemel und sagt:
›Denkt an Gott, der den Leuten, die sich zu seinem Namen bekennen, Frieden für die Ewigkeit verleiht. Weib, du hast mich sterben sehen und bewahrst Stillschweigen! Die Schweine haben mich gefressen! Schweine gehen nicht ins Paradies ein. Also muß ich, der ich ein Christ bin, in die Hölle kommen, weil's ein Weib gibt, das nicht schwatzt. Sowas ist noch nicht dagewesen. Du mußt mich erlösen!‹
Und noch anderes redet er.
Die Frau, die immer größere Angst hatte, macht ihre Pfanne sauber, zieht ihren Sonntagsstaat an und erzählt vor Gericht das Verbrechen, das entdeckt wird; die Diebe wurden auf dem Marktplatze hübsch gerädert. Nachdem dies gute Werk geschehen war, kriegen die Frau und der Mann immer den schönsten Hanf, den man je gesehen hat. Dann bekamen sie, was ihnen am angenehmsten war und was sie sich seit langem gewünscht hatten, nämlich einen strammen Buben, der im Laufe der Zeit Baron des Königs wurde. Das ist die wahrhaftige Geschichte von der mutigen Buckligen.«
»Ich höre solche Geschichten nicht gern, denn ich träume davon,« sagte die Fosseuse. »Napoleons Abenteuer sind mir lieber.«
»Das stimmt,« sagte der Flurschütze. »Heda, Monsieur Goguelat, erzählt uns vom Kaiser!«
»Es ist schon zu spät am Abend,« sagte der Landbriefträger, »und die Siege kürze ich nicht gerne ab.«
»Das ist gleich; erzählt uns trotzdem! Wir kennen sie, da wir Euch schon oftmals davon haben erzählen hören; da hört man ja stets mit Vergnügen zu.«
»Erzählt uns vom Kaiser!« riefen mehrere Leute zugleich.
»Ihr wollt es?« antwortete Goguelat. »Schön, ihr werdet sehen, daß es wirklich nichts ist, wenn man es im Sturmschritt abmacht. Ich will euch lieber 'ne ganze Schlacht erzählen. Wollt ihr von Champ-Aubert hören, wo es keine Patronen mehr gab und wo man sich trotzdem mit Bajonetten gekitzelt hat?«
»Nein! ... Vom Kaiser! Vom Kaiser!«
Der Infanterist stand von seinem Heubündel auf, ließ über die Gesellschaft jenen dunklen Blick gleiten, wie ihn die alten Soldaten haben, jenen Blick, der von Unglück, Erlebnissen und Leiden geschwängert ist. Er faßte seinen Rock bei den beiden Vorderzipfeln, hob sie auf, wie wenn es sich darum handelte, den Sack, der einst seine Sachen, seine Schuhe, seine ganze Habe enthielt, wieder aufzuladen; dann verlegte er das Gewicht seines Körpers auf das linke Bein, stellte das rechte vor und gab den Wünschen der Versammlung gutmütig nach. Nachdem er seine grauen Haare aus der Stirne gestrichen hatte, richtete er den Kopf gen Himmel, um sich auf die Höhe der riesenhaften Geschichte zu stellen, die er erzählen wollte.
»Wißt, liebe Freunde, Napoleon ist auf Korsika geboren, das ist eine französische Insel, die von der italienischen Sonne durchglüht wird, wo alles wie in einem Ofen kocht und wo man sich untereinander vom Vater auf den Sohn für nichts und wieder nichts totschlägt: das ist so eine Idee, die sie haben. Um mit dem Ungewöhnlichen der Sache zu beginnen: seine Mutter, welche die schönste Frau ihrer Zeit und eine Schlaubergerin war, kam auf den Gedanken, ihn Gott zu weihen, um ihn allen Gefahren seiner Kindheit und seines Lebens zu entziehen, weil sie geträumt hatte, die Welt stände am Tage ihrer Entbindung in Brand. Das war eine Prophezeiung! Sie betet also, Gott möge ihn unter der Bedingung beschützen, daß Napoleon seine heilige Religion, die damals im argen lag, wiederaufrichten werde ... Das ist abgemacht worden, und so ist es gekommen!
Jetzt hört mir gut zu und sagt mir, ob das, was ihr hören sollt, natürlich ist!
Es ist sicher und gewiß, daß nur ein Mensch, der den Einfall gehabt hatte, einen geheimen Pakt zu schließen, es wagen konnte, mitten durch die Linien der anderen, die Kugeln und Kartätschenfeuer hindurchzugehen, das uns wie die Fliegen hinwegraffte und vor seinem Haupte Respekt hatte. Den Beweis davon habe ich, ich besonders, bei Eylau erlebt. Ich sehe ihn noch auf eine Anhöhe steigen, er nimmt sein kleines Fernrohr, beobachtet die Schlacht und sagt:
›Es geht gut!‹
Einer von meinen Ränkeschmieden im Federbusch, die ihn schrecklich langweilten und ihm überallhin folgten, selbst während er aß, wie man uns gesagt hat, will den Schlaukopf markieren und nimmt des Kaisers Platz ein, als er weggeht. Oh, futsch ist er! Kein Federbusch mehr da! Ihr könnt euch wohl denken, daß Napoleon sich verpflichtet hatte, sein Geheimnis für sich zu behalten. Darum fielen alle, die ihn begleiteten, selbst seine besonderen Freunde, wie die Nüsse: Duroc, Bessières, Lannes, alles Männer, die stark waren wie Stahlstangen, und die er zu seinem Gebrauche goß. Der Beweis endlich, daß er das Kind Gottes war, dazu geschaffen, der Vater der Soldaten zu sein, ist, daß man ihn niemals als Leutnant oder Hauptmann gesehen hat! Ja gewiß, sondern gleich als Anführer. Er sah aus, als ob er ein Vierundzwanzigjähriger wäre, als er ein alter General war seit der Einnahme von Toulon, wo er damit anfing, den anderen zu zeigen, daß sie mit Kanonen nicht umzugehen wüßten.
Damals wird er als ganz mageres Männchen unser kommandierender General bei der italienischen Armee, der es an Brot, Munition, Stiefeln und Uniformen fehlte, einer armen Armee, die nackt war wie ein Wurm.
›Meine Freunde,‹ sagte er, ›da wären wir beisammen! Nun prägt eurem Kürbis ein, daß ihr heute in vierzehn Tagen Sieger und neugekleidet seid, daß ihr alle Mäntel, gute Gamaschen, tadellose Stiefel habt; doch, liebe Kinder, es heißt marschieren und sie in Mailand holen, wo's welche gibt.‹
Und wir marschierten los. Der platt wie eine Wanze gequetschte Franzose richtet sich wieder auf. Wir waren dreißigtausend Habenichtse gegen achtzigtausend österreichische Eisenfresser, alles schöne, wohlausgerüstete Männer, die ich noch vor mir sehe. Napoleon nun, der nur erst Bonaparte war, bläst uns, ich weiß nicht was, in den Bauch: und man marschiert nachts, man marschiert tagsüber, man haut sie bei Montenotte, man läuft und verwamst sie bei Rivoli, Lodi, Arcole, Millesimo und läßt sie nicht los. Der Soldat findet Geschmack daran, Sieger zu sein. Napoleon schließt euch denn diese österreichischen Generäle ein, die nicht wußten, wo sie sich hinverkriechen sollten, um's bequem zu haben, verprügelt sie tüchtig, stibitzt ihnen manchmal zehntausend Mann auf einen Hieb, indem er sie mit fünfzehnhundert Franzosen umzingelt, die er auf seine Weise aus dem Boden schießen ließ. Endlich nimmt er ihnen ihre Kanonen, Lebensmittel, ihr Geld, ihre Munition, alles Gute, was sie zum Abnehmen hatten, wirft sie zu Wasser, schlägt sie in den Bergen, beißt sie in der Luft, verschlingt sie auf der Erde und verwichst sie überall. Da kriegten die Truppen wieder Federn, weil der Kaiser, müßt ihr wissen, der auch ein kluger Mann war, sich die Einwohner kommen ließ und ihnen erklärte, daß er da wäre, um sie zu befreien. Da nun herbergten die Zivilisten uns und verhätschelten uns, und die Frauen auch, die sehr gescheite Weiber waren. Am Ende, im Ventôse 96, was zu der Zeit der heutige Märzmonat war, hatten wir uns in eine Ecke des Murmeltierlandes zurückgezogen, aber nach dem Feldzuge, da waren wir Herren von Italien, wie Napoleon es vorausgesagt hatte. Und im folgenden Märzmonde, in einem einzigen Jahre und in zwei Feldzügen bringt er uns vor Wien: alles war verprügelt. Drei verschiedene Armeen hatten wir hintereinander aufgefressen, und vier österreichische Generäle getötet, darunter einen, der weiße Haare, und der zu Mantua wie eine Ratte in den Strohsäcken geschwitzt hatte. Die Könige baten kniend um Gnade! Der Frieden war erstritten. Hätte ein Mensch das tun können? Nein. Gott half ihm, das ist mal sicher. Er teilte und teilte sich wie die fünf Brote des Evangeliums, befehligte tagsüber die Schlacht, bereitete sie nachts vor, daß die Schildwachen ihn immer kommen und gehen sahen, und schlief nicht und aß nicht. Damals, als der Soldat solche Wunder sah, nahm er ihn dir zum Vater an. Und vorwärts!
Die anderen in Paris sahen das und sagten:
›Das ist ein Pilger, der seine Parole im Himmel zu empfangen scheint, er ist bedenklich kapabel, die Hand auf Frankreich zu legen, man muß ihn auf Asien oder Amerika loslassen, vielleicht wird er sich damit zufrieden geben!‹
Das stand für ihn wie für Jesus Christus geschrieben! Tatsache ist, daß man ihm Befehl gibt, in Aegypten Schildwache zu stehen. Da ist seine Aehnlichkeit mit Gottes Sohne. Das ist nicht alles. Er versammelt seine besten Kerle, die er besonders wütig gemacht hat, und sagt etwa folgendes zu ihnen:
›Meine Freunde, für den Augenblick gibt man uns Aegypten zu kauen. Wir wollen es aber im Handumdrehen hinterschlucken, wie wir es mit Italien gemacht haben. Die einfachen Soldaten werden Fürsten sein, die ihre eigenen Ländereien besitzen sollen. Vorwärts!‹
›Vorwärts, Kinder!‹ sagen die Sergeanten.
Und man kommt in Toulon an, dem Abfahrtshafen nach Aegypten. Damals hatten die Engländer alle ihre Schiffe auf See. Als wir uns aber einschifften, sagte Napoleon zu uns:
›Sie werden uns nicht sehen; und es ist gut, daß ihr von jetzt ab wißt, daß euer General einen Stern am Himmel besitzt, der uns leitet und schirmt!‹
Wie gesagt, so getan. Auf der Ueberfahrt nahmen wir Malta, wie eine Orange, um seinen Siegesdurst zu stillen; denn er war ein Mensch, der nicht sein konnte, ohne etwas zu tun. Wir sind also in Aegypten. Schön. Dort eine andere Weisung. Die Aegypter, wißt ihr, sind Menschen, die, seit die Welt Welt ist, gewöhnt sind, Riesen zu Herrschern und Heere, zahlreich wie Ameisen zu haben, weil es ein Land der bösen Geister und Krokodile ist, wo man Pyramiden, groß wie unsere Berge, gebaut hat, unter die sie den Einfall gehabt haben, ihre Könige zu begraben, um sie frisch zu bewahren: etwas, das ihnen überhaupt gefällt. Beim Ausschiffen sagte dann der kleine Korporal zu uns:
›Liebe Kinder, die Länder, die ihr erobern sollt, hängen einem Haufen Götter an, die man respektieren muß, weil der Franzose aller Welt Freund sein und die Leute schlagen soll, ohne sie zu placken. Rammt euch vor allem in den Dötz ein, nichts anzurühren: weil ihr nachher alles haben werdet! Und nun marsch!‹
Alles geht gut. Alle die Leute aber, denen Napoleon unter dem Namen Kebir Bonabardis, ein Wort ihrer Sprache, das soviel wie Sultan Feuerbrand heißt, geweissagt worden war, haben eine Teufelsangst vor ihm. Der Großtürke, Asien und Afrika nehmen nun ihre Zuflucht zur Zauberei und schicken uns einen Geist, namens Mody, von dem vermutet wurde, daß er vom Himmel herabgestiegen sei auf einem Schimmel, der wie sein Herr kugelsicher war, und die alle beide von der Luft der Zeit lebten. Es gibt welche, die ihn gesehen haben, ich aber habe keine Gründe, die euch das beweisen könnten. Die Mächte Arabiens und die Mamelucken wollten ihre Komißsoldaten glauben machen, daß der Mody imstande sei, sie vor dem Schlachtentode zu bewahren, unter dem Vorwande, er sei ein Engel, ausgesandt, Napoleon zu bekämpfen und ihm Salomos Siegel abzunehmen, eines ihrer Zaubermittel, das ihnen nach ihrer Behauptung von unserem General gestohlen worden war. Ihr begreift, daß man ihnen trotzdem die Zunge herausgestreckt hat.
Ja, nun sagt mir, wo hatten sie etwas von Napoleons Pakt erfahren können? Ging das mit rechten Dingen zu? In ihrem Gemüte galt es für sicher, daß er den Geistern gehörte und sich mit einem Wimperzucken von einem Ort zum anderen begebe, wie ein Vogel. Tatsache ist, daß er überall war. Endlich, daß er ihnen eine Königin entführt hatte, schön wie der Tag, für die er alle seine Schätze und taubeneiergroße Diamanten geboten hatte; einen Handel, den der Mameluck, dem sie gehörte, obwohl er ihrer andere besaß, glatt abgeschlagen hatte. Unter solchen Umständen konnten die Angelegenheiten nur durch viele Kämpfe erledigt werden. Und daran fehlte es denn auch nicht; denn es hat Hiebe für jedermann gegeben. Wir haben uns damals in Schlachtordnung gestellt bei Alexandrien, bei Gizeh und unter den Pyramiden. Man mußte in der Sonne und im Sande marschieren, wo die Leute, die an Halluzinationen litten, Wasser sahen, das man nicht trinken konnte, und Schatten, bei dem man schwitzt. Doch nach unserer Gewohnheit verspeisten wir den Mamelucken, und alles beugte sich vor Napoleons Stimme, der sich des oberen und unteren Aegyptens und schließlich Arabiens bis zu den Hauptstädten der Königreiche bemächtigte, die nicht mehr vorhanden sind, und wo es Tausende von Statuen, die fünfhundert Teufel der Natur, und dann – eine Besonderheit – eine unendliche Menge Eidechsen gab, ein donnermäßiges Land, wo jeder seine Arpents Land, sofern er nur irgend mochte, haben konnte. Während er sich mit seinen Angelegenheiten im Innern beschäftigt, wo er die Idee hatte, großartige Sachen zu machen, verbrannten ihm die Engländer seine Flotte in der Schlacht bei Aboukir; denn sie wußten nicht, was sie aushecken sollten, um uns in die Suppe zu spucken. Napoleon aber, der die Schätzung des Orients und Okzidents besaß, den der Papst seinen Sohn und der Vetter Mohammeds seinen lieben Vater nannte, will sich an England rächen und ihm Indien nehmen, um sich für seine Flotte zu entschädigen. Er wollte uns über das Rote Meer nach Asien führen, in Länder, wo es nur Diamanten und Gold gibt, um den Soldaten die Löhnung zu zahlen, und Paläste als Etappen, als der Mody sich mit der Pest zusammentut und sie uns schickt, um unsere Siege zu unterbrechen. Halt! Da nun zieht alle Welt auf jene Parade, von der man nicht wieder zurückkommt... Der sterbende Soldat kann dir Akkon nicht nehmen, in welches man dreimal mit einem hochherzigen und kriegerischen Starrsinn eingedrungen ist. Doch die Pest war stärker: mit der konnte man nicht gut Freund sein. Alles war sehr krank. Napoleon allein war frisch wie eine Rose, und die ganze Armee hat ihn die Pest trinken sehen, ohne daß es ihm irgend etwas angehabt hat. Ja, liebe Freunde, glaubt ihr, daß das mit rechten Dingen zuging?
Da die Mamelucken wußten, daß wir alle in den Ambulanzen waren, wollten sie uns den Weg versperren; doch bei Napoleon war mit solchen Späßchen nichts zu machen. Er sagt also zu seinen Teufelskerlen, zu denen, die dickeres Leder hatten als die anderen:
›Geht und macht mir den Weg sauber!‹ Junot, der ein Haudegen erster Güte und sein wirklicher Freund war, nimmt nur tausend Leute und hat sofort die Armee eines Paschas geschlagen, der so anmaßend war, sich ihm in den Weg zu stellen. Dann kehren wir nach Kairo in unser Hauptquartier zurück ... Eine andere Geschichte. Als Napoleon nicht da war, hatte Frankreich sich das Temperament durch die Pariser Leute zerstören lassen, die den Sold der Truppen, ihr Leinenzeug, ihre Kleider behielten und sie vor Hunger verrecken ließen, und wollten, daß sie dem Erdkreise geböten, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Das waren Dummköpfe, die sich damit vergnügten, zu schwätzen anstatt mit Hand ans Werk zu legen. Unsere Heere waren also geschlagen, Frankreichs Grenzen standen offen: der Mann war nicht mehr da. Seht ihr, ich sage ,der Mann', weil man ihn so genannt hat, aber das war eine Dummheit; denn er hatte einen Stern und alle seine Besonderheiten: wir andern, wir waren Männer! Er hört die Geschichte aus Frankreich nach seiner berühmten Schlacht bei Aboukir, wo er, ohne mehr als dreihundert Mann zu verlieren, und mit einer einzigen Division die große fünfundzwanzigtausend Mann starke Armee der Türken besiegt und mehr als die größere Hälfte ins Meer getrieben hat; jawohl! Das war sein letzter Donnerschlag in Aegypten. Als er alles da unten verloren sah, sagte er sich:
›Ich bin Frankreichs Retter, ich weiß es, ich muß hin.‹
Doch begreift ihr wohl, daß die Armee nichts von seiner Abreise gewußt hat; sonst würde man ihn mit Gewalt dabehalten haben, um ihn zum Kaiser des Orients zu machen. So sind wir denn alle traurig, als wir ohne ihn sind, weil er unsere Freude war. Er überläßt seinen Oberbefehl Kleber, einem großen Frechdachs, der aus der Garde hochgekommen ist und der von einem Aegypter ermordet wurde; den hat man sterben lassen, indem man ihm ein Bajonett in den Hintern stieß, auf welche Weise man dortzulande die Leute guillotiniert. Doch dabei hat man so viel auszuhalten, daß ein Soldat Mitleid mit dem Verurteilten gehabt und ihm seine Kürbisflasche hingehalten hat; und sobald der Aegypter das Wasser getrunken, hat er die Augen mit unsäglichem Vergnügen verdreht. Doch wir wollen uns nicht mit dieser Bagatelle unterhalten. Napoleon setzt den Fuß in eine Nußschale, ein kleines Schiff, absolut ein Nichts, das Fortuna hieß, und im Handumdrehen schifft er trotz England, das ihn mit Linienschiffen, Fregatten und allem, was segelt, blockierte, nach Frankreich; denn er hat immer die Gabe besessen, mit einem Schritt über die Meere zu kommen. War das natürlich? Bah. Sobald er in Fréjus ist, hat er die Beine auch schon in Paris. Dort betet ihn alles an, er aber ruft die Regierung zusammen.
›Was habt ihr mit meinen Kindern, den Soldaten, gemacht?‹ sagt er zu den Advokaten, ›ihr seid ein Haufen Tröpfe, pfeift auf die Welt und macht euren Kohl mit Frankreich fett. Das ist nicht recht, und ich spreche für alle Welt, die nicht zufrieden ist.‹
Da nun wollen sie schwatzen und ihn töten; aber warte nur! Er sperrt sie in ihre Schwatzkaserne ein, läßt sie durch die Fenster springen und regimentiert sie in sein Gefolge ein, wo sie stumm wie die Fische und geschmeidig wie Tabaksbeutel werden. Nach diesem Streiche wird er Konsul; und da er doch wirklich an dem höchsten Wesen nicht zweifeln konnte, erfüllt er dann sein Versprechen dem lieben Gott gegenüber, der ihm so genau Wort hielt; gibt ihm seine Kirchen wieder und richtet seine Religion wieder auf; die Glocken läuten für Gott und für ihn. Nun ist alle Welt zufrieden: primo, die Priester, die dank ihm nicht mehr gequält werden, segondo, der Bürger, der seinen Handel treibt, ohne das rapiamus des Gesetzes, das ungerecht geworden war, fürchten zu müssen; tertio, die Adligen, die er zu töten verhütete, woraus man sich unglücklicherweise eine Gewohnheit gemacht hatte. Aber es gab Feinde hinauszufegen, und er schlief nicht ein über dem Futternapfe, weil sein Auge, müßt ihr wissen, durch die Welt wie durch einen einfachen Menschenkopf hindurchblickte. Dann erschien er in Italien, wie wenn er den Kopf durchs Fenster steckte, und sein Blick genügte. Die Oesterreicher werden bei Marengo wie Gründlinge von einem Walfisch verschluckt. Drauf! Hier hat die französische Viktoria ihre Tonleiter laut genug gesungen, um von der ganzen Welt gehört zu werden; und das hat genügt.
›Wir spielen nicht mehr mit!‹ sagen die Deutschen.
›Genug davon!‹ sagen die andern.
Alles in allem: Europa duckt sich, England gibt nach. Allgemeiner Friede, wobei die Könige und die Völker so tun, wie wenn sie sich umarmten. Damals hat der Kaiser die Ehrenlegion erfunden, eine sehr feine Sache, seht ihr!
›In Frankreich‹, hat er in Boulogne vor der ganzen Armee gesagt, ›besitzt alle Welt Mut! Also soll die zivile Partei, die glänzende Taten vollbringen wird, Schwester des Soldaten sein, der Soldat soll ihr Bruder sein, und sie werden unter dem Banner der Ehre vereint sein!‹
Wir, die wir da unten waren, kamen aus Aegypten zurück. Alles war verändert. Wir haben ihn als General verlassen und in einem Nichts von Zeit treffen wir ihn als Kaiser wieder. Meiner Treu, Frankreich hatte sich ihm hingegeben wie ein schönes Mädchen einem Ulan. Als das nun zur allgemeinen Befriedigung, kann man sagen, gemacht war, fand eine heilige Zeremonie statt, wie man sie niemals unter der Himmelskappe gesehen hat. Der Papst und die Kardinäle kamen in ihren goldenen und roten Gewändern eigens über die Alpen, um ihn vor der Armee und dem Volke, die in die Hände klatschten, zu salben. Es ist da übrigens etwas, und ich würde unbillig sein, wenn ich's euch nicht sagte: In Ägypten, in der Wüste bei Syrien, erschien ihm auf dem Mosesberge der ›Rote‹, um zu ihm zu sagen:
›Das geht gut!‹
Dann, bei Marengo, am Abend des Siegs, stellte sich der ›Rote‹ zum zweiten Male vor ihn hin und sagte:
›Du wirst die Welt zu deinen Knien sehen und wirst Kaiser der Franzosen, König von Italien, Herr von Holland, Gebieter von Spanien, von Portugal, der Illyrischen Provinzen, Schützer von Deutschland, Retter Polens, erster Adler der Ehrenlegion und alles sein!‹
Dieser Rote, müßt ihr wissen, war seine eigene Idee; eine Art Bote, der ihm, nach dem, was mehrere sagten, dazu diente, die Verbindung mit seinem Sterne aufrechtzuhalten. Ich, ich habe das nie geglaubt, der Rote ist vielmehr eine wirkliche Tatsache, und Napoleon hat selber von ihm gesprochen und gesagt, daß er in schweren Augenblicken zu ihm komme und im Tuilerienpalaste im Dachstockwerk bleibe. Bei der Krönung hat ihn Napoleon abends zum dritten Male gesehen, und sie berieten sich über vielerlei Dinge. Dann geht der Kaiser geradewegs nach Mailand und läßt sich als König von Italien krönen. Da nun beginnt der wirkliche Triumph des Soldaten. Damals wurde alles, was schreiben konnte, Offizier. Nun gab's Pensionen, und es regneten die Schenkungen von Herzogtümern, Schätze für den Regimentsstab, die Frankreich nichts kosteten, und für die einfachen Soldaten die Ehrenlegion, mit Renten ausgestattet, wovon ich noch meine Pension beziehe. Kurz, da gab es Heere, die gehalten waren, wie man's noch nie gesehen hatte. Der Kaiser aber, der wußte, daß er der Kaiser der ganzen Welt werden sollte, denkt an die Bürger und läßt ihnen nach ihren Ideen Feenmonumente bauen, da, wo nicht mehr Platz war als auf meiner Hand ... Nehmt an, ihr kämet aus Spanien zurück, um nach Berlin zu ziehen; gut, ihr würdet Triumphbögen finden mit simplen Soldaten darauf, die schön in Stein gehauen sind, nicht mehr und nicht weniger als Generäle. In zwei oder drei Jahren füllt Napoleon, ohne euch mit Steuern zu belegen, seine Keller mit Gold an, baut Brücken, Paläste, Straßen, Promenaden, veranstaltet Feste, macht Gesetze, Schiffe und Häfen und gibt Haufen von Millionen aus, solche Mengen, daß man mir erzählt hat, er würde Frankreich mit Hundertsousstücken haben pflastern können, wenn ihm die Laune danach gestanden hätte. Dann als er nach seinem Wohlgefallen auf seinem Throne sitzt und so gut Herr des Ganzen ist, daß Europa seine Erlaubnis abwartet, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, sagt er zu uns, da er vier Brüder und drei Schwestern hatte, im Gesprächston im Tagesbefehl:
›Meine Kinder, ist es billig, daß eures Kaisers Verwandte die Hand hinhalten? Nein. Ich will, sie sollen leuchten wie ich. Dann ist es dringend notwendig, für jeden von ihnen ein Königreich zu erobern, damit der Franzose Herr des Ganzen, daß die Soldaten der Garde die Welt zittern machen und daß Frankreich spuckt, wohin es will, und daß man zu ihnen sagt, wie auf meinem Gelde steht: Gott schirme euch!‹
›Abgemacht!‹ antwortete die Armee, ›man wird dir Königreiche mit dem Bajonett fischen.‹
Ah! es gab eben nichts, wovor man zurückgewichen wäre! Und wenn er sich in den Kopf gesetzt hätte, den Mond zu erobern, so hätte man sich dazu anschicken, seine Sachen packen und hinaufflattern müssen. Glücklicherweise ist ihm das nie in den Sinn gekommen. Die Könige, die an ihre Thronherrlichkeiten gewöhnt waren, haben sich natürlich am Ohr zupfen lassen; wir aber marschieren los. Wir marschieren, wir gehen und der ganze Schwindel beginnt wieder von neuem, gründlich wie immer. In jener Zeit hat man Menschen und Schuhe abgenutzt! Dann schlug man sich bei unseren Kämpfen so grausam, daß andere wie die Franzosen dessen müde geworden wären. Aber, ihr wißt, der Franzose ist ein geborener Philosoph und weiß, daß er ein bißchen früher oder ein bißchen später sterben muß. Darum starben wir alle ohne ein Wort zu sagen, weil man das Vergnügen hatte, den Kaiser so auf den Erdkarten machen zu sehen. (Da beschreibt der Infanterist flink einen Kreis mit seinem Fuß auf dem Scheunenboden.) Und er sagte: ›Das wird ein Königreich!‹ und es ward ein Königreich. Welch schöne Zeit! Die Obersten wurden Generäle, im Nu war das geschehen, die Generäle Marschälle, die Marschälle Könige. Es gibt noch einen, der obenauf ist, um es Europa zu sagen, obwohl er ein Gaskogner ist und ein Verräter an Frankreich wurde, um seine Krone zu behalten, die nicht vor Scham rot geworden ist, weil die Kronen, seht ihr, aus Gold gemacht sind! Die Pioniere endlich, die lesen konnten, wurden sogar Edelleute. Ich, der ich zu euch spreche, habe in Paris elf Könige und ein Volk von Fürsten gesehen, die Napoleon wie die Strahlen der Sonne umgeben! Ihr versteht wohl, daß jeder Soldat, da er die Aussicht hatte, einen Thron anzuziehen, vorausgesetzt, daß er ihn verdiente, ein Korporal der Garde sozusagen eine Kuriosität war, die man bewunderte, wenn sie vorbeiging, weil jeder an dem Siege seinen Anteil hatte, der aus dem Bulletin genau bekannt war. Und was gab es für Schlachten! Austerlitz, wo die Armee wie bei der Parade manöveriert, Eylau, wo man die Russen in einem See ertränkt hat, wie wenn Napoleon darübergeblasen hätte, Wagram, wo man sich drei Tage geschlagen hat, ohne zu maulen ... Kurz, es gab ihrer ebenso viele wie Heilige im Kalender. Auch wurde damals bewiesen, daß Napoleon in seiner Scheide den wahren Degen Gottes hatte. Dann besaß der Soldat seine Achtung, und er sorgte für ihn wie für sein Kind, kümmerte sich, ob er seine Stiefel, Leinenwäsche, Regenmäntel, Brot und Patronen hätte, obwohl er was auf seine Majestät hielt, da es ja sein Beruf war, zu regieren. Doch das ist gleich! Ein Sergeant und selbst ein Soldat konnten zu ihm ›mein Kaiser‹ sagen, wie ihr manchmal ›mein Freund‹ zu mir sagt. Und er antwortete auf alles, was man ihm sagte, und schlief im Schnee wie wir anderen; kurz, er hatte beinahe das Aussehen eines natürlichen Menschen. Ich, der ich mit euch spreche, habe ihn mit den Füßen in der Kartätschenladung nicht genierter gesehen, als ihr es dort seid, und mobil, mit seinem Fernrohr um sich schauend, immer bei seiner Sache; dann blieben wir so ruhig da, als wenn gar nichts los wäre. Ich weiß nicht, wie er es anstellte, doch wenn er mit uns sprach, drang uns sein Wort wie Feuer in den Leib, und um ihm zu zeigen, daß man zu seinen Kindern gehörte, die nicht fähig waren, aufzubegehren, ging man im gewöhnlichen Schritt vor die Schäker von Kanonen, die das Maul aufsperrten und Regimenter von Kugeln ausspien, ohne Aufgepaßt! zu sagen. Und die Sterbenden hatten sogar die Kraft, sich aufzurichten, um ihn zu grüßen und ihm zuzurufen:
›Es lebe der Kaiser!‹
War das natürlich? Würdet ihr das für einen einfachen Menschen getan haben?«
Als dann alle seine Leute versorgt waren, wurde er gezwungen, die Kaiserin Joséphine, die trotzdem eine gute Frau war, da sich die Sache so gedreht hatte, daß sie ihm keine Kinder schenken konnte, zu verlassen, obwohl er sie beträchtlich liebte. Aber er mußte, in Rücksicht auf die Regierung, kleine Kinder haben. Als man von dieser Schwierigkeit hörte, haben sich alle Herrscher Europas darum gerissen, ihm eine Frau zu geben. Und er hat, wie man uns sagte, eine Oesterreicherin geheiratet, welche die Tochter der Cäsaren war, Menschen aus den alten Zeiten, von denen man überall redet, und nicht nur in unserem Lande, wo ihr sagen hört, daß er alles getan hat, sondern auch in Europa. Und das stimmt so genau, daß ich, der ich im Augenblick mit euch rede, an die Donau gegangen bin, wo ich die Ueberreste einer von einem solchen Manne erbauten Brücke gesehen habe, der anscheinend in Rom ein Verwandter Napoleons gewesen ist, worauf sich der Kaiser berufen hat, um es als Erbe für seinen Sohn zu nehmen. Nach seiner Heirat also, die ein Fest für die ganze Welt war, und wobei er dem Volke für zehn Jahre die Steuern erlassen hat, die aber trotzdem bezahlt worden sind, weil die Steuerbeamten sich nicht darum gekümmert haben, hat seine Frau einen Kleinen gekriegt, welcher König von Rom war; etwas, was auf Erden noch nicht vorgekommen ist; denn niemals war ein Kind zu Lebzeiten seines Vaters als König auf die Welt gekommen. An jenem Tage ist ein Ballon aus Paris losgeflogen, um es in Rom zu melden, und dieser Ballon hat den Weg in einem Tage gemacht. Jawohl, gibt's jetzt einen unter euch, der behaupten will, das alles wäre mit natürlichen Dingen zugegangen? Nein, es stand da oben geschrieben! Und die Krätze kriege, wer nicht zugeben will, daß er von Gott selber gesandt wurde, um Frankreich triumphieren zu lassen! Aber da war der Kaiser von Rußland, der sein Freund war, der ärgerte sich darüber, daß er keine Russin geheiratet hat, und hielt zu den Engländern, unseren Feinden, mit denen ein Wörtchen in ihrer Bude zu reden man Napoleon immer gehindert hatte. Mit dem Volk mußte man also Schluß machen. Napoleon wird böse und sagt zu uns:
›Soldaten! Ihr seid Herren in allen Hauptstädten Europas gewesen; bleibt Moskau übrig, das sich mit England verbündet hat. Um nun London und Indien, das ihnen gehört, erobern zu können, halte ich es für unumgänglich, nach Moskau zu gehen!‹
Da versammelt sich nun die größte der Armeen, die jemals ihre Gamaschen über den Erdball geschleppt haben, und die stand so erstaunlich gut in Reihe und Glied, daß er in einem Tage Revue über eine Million Menschen abgenommen hat.
›Hurra!‹ sagen die Russen.
Und nun fliegt ganz Rußland, fliegen die Tiere von Kosaken davon. Es stand Land gegen Land, ein allgemeines Durcheinander, vor dem man sich hüten mußte. Und wie der Rote zu Napoleon gesagt hatte:
›Asien steht gegen Europa!‹
›Das genügt,‹ antwortete er, ›ich will mich in acht nehmen.‹
Und nun kommen wirklich alle Könige, um Napoleon die Hand zu lecken! Oesterreich, Preußen, Bayern, Sachsen, Polen, Italien, alles ist mit uns, schmeichelt uns, und das war fein! Niemals haben die Adler mehr gegurrt als auf jenen Paraden dort, wo sie sich über allen Standarten Europas blähten. Die Polen wußten sich vor Freude nicht zu lassen, weil der Kaiser die Idee hatte, sie wiederaufzurichten; von da ab sind Polen und Frankreich immer Brüder gewesen. Endlich schrie die Armee:
›Uns Rußland!‹
Gut ausgestattet betreten wir es, wir marschieren, marschieren ..., keine Russen. Endlich finden wir unsere Kerle an der Moskwa gelagert. Dort habe ich das Kreuz gekriegt, und ich darf wohl sagen, daß es eine verfluchte Schlacht war! Der Kaiser war unruhig, er hatte den Roten gesehen, der zu ihm sagte:
›Mein Kind, du gehst schneller als dein Schritt; die Leute werden dir fehlen, deine Freunde werden dich verraten!‹
Damals schlug er den Frieden vor. Bevor er ihn aber unterzeichnete, sagte er zu uns:
›Prügeln wir die Russen!‹
›Das gilt!‹ schrie die Armee.
›Vorwärts!‹ sagten die Sergeanten.
Meine Schuhe waren verbraucht, meine Kleider zerrissen, weil wir uns auf den Wegen dort müde gelaufen hatten, die, weiß Gott, gar nicht bequem sind! Aber das ist gleich! Weil es das Ende des Schwindels ist, sage ich mir, will ich mich ganz gehörig vollsaufen!
Wir waren vor der großen Schlucht; es waren die ersten festen Plätze! Das Signal wird gegeben, siebenhundert Geschütze beginnen euch eine Unterhaltung, daß einem das Blut aus den Ohren tritt. Da ließen die Russen – man muß seinen Feinden doch Gerechtigkeit widerfahren lassen – sich, ohne zurückzuweichen, wie Franzosen töten, und wir kommen nicht voran.
›Vorwärts,‹ sagt man zu uns, ›da ist der Kaiser!‹
Das stimmte: im Galopp sprengt er vorüber und macht uns ein Zeichen, daß ihm viel an der Eroberung der Redoute gelegen sei. Er belebt uns, wir laufen, ich komme als erster an den Hohlweg. Ach, mein Gott, die Leutnants fielen, die Obersten, die Soldaten! Das ist gleich! Das gab Schuhe für die, welche keine hatten, und Achselstücke für die Ränkeschmiede, die lesen konnten ... ›Sieg!‹ das ist der Schrei auf der ganzen Linie. Zum Beispiel lagen, was noch nie gesehen worden war, fünfundzwanzigtausend Franzosen tot auf dem Boden. Entschuldigt die Kleinigkeit! Es war ein richtiges gemähtes Kornfeld; anstatt der Aehren denkt euch Menschen! Wir, wir waren nüchtern geworden. Der Mann erscheint; man bildet einen Kreis um ihn. Da schmeichelt er uns, denn er war liebenswürdig, wenn er es sein wollte, damit wir uns nach so vielen Entbehrungen mit einem doppelten Wolfshunger zufrieden gäben. Nun verteilt mein Schmeichler selber die Kreuze, grüßt die Toten und sagt drauf zu uns:
›Nach Moskau!‹
›Auf nach Moskau!‹ ruft die Armee.
Wir nehmen Moskau. Geschieht's da nicht, daß die Russen ihre Stadt verbrennen? Das war ein Strohfeuer von zwei Meilen, das zwei Tage lang gebrannt hat. Die Gebäude fielen wie Schieferplatten! Es gab da Regen von geschmolzenem Eisen und Blei, die natürlich schrecklich waren; und man kann es euch sagen, das war das Wetterleuchten unserer Unglücksfälle. Der Kaiser sagte:
›Genug davon; alle meine Soldaten würden hier bleiben!‹
Und wir unterhielten uns damit, uns einen kleinen Augenblick zu erfrischen und den Kadaver wieder zu Kräften kommen zu lassen, weil man wirklich sehr müde war. Wir schleppten ein goldenes Kreuz mit fort, das auf dem Kreml war, und jeder Soldat hatte ein kleines Vermögen. Auf dem Rückmarsch aber setzte der Winter um einen Monat früher ein, eine Sache, welche die Gelehrten, die Dummköpfe sind, nicht genügend erklärt haben, und die Kälte zwickt uns. Keine Armee mehr, versteht ihr? Keine Generäle, selbst keine Sergeanten mehr! Dafür aber das Reich des Elends und des Hungers, ein Reich, wo wir wirklich alle gleich waren. Man dachte nur daran, Frankreich wiederzusehen, man bückte sich weder um sein Gewehr, noch um sein Geld aufzuheben; und jeder trottete, bewaffnet wie es ihm beliebte, vor sich hin, ohne sich um den Ruhm zu kümmern. Endlich war das Wetter so schlecht, daß der Kaiser seinen Stern nicht mehr gesehen hat. Es gab irgend was zwischen dem Himmel und ihm. Armer Mann, wie krank er war, da er seine Adler dem Siege abgewandt sah. Das hat ihm einen harten Schlag versetzt, seht ihr. Man erreicht die Beresina. Hier, meine Freunde – das kann man euch bei dem Heiligsten, was es gibt, auf Ehre versichern –, geschah es, daß man, seit es Menschen gibt, nie und nimmermehr ein ähnliches Durcheinander von Armee, Wagen und Artillerie in einem ähnlichen Schnee, unter einem ähnlich ungünstigen Himmel gesehen hat. Der Gewehrlauf verbrannte euch die Hand, wenn ihr ihn anrührtet, so kalt war es. Dort ist die Armee von den Pontonieren gerettet worden, die wacker auf ihrem Posten aushielten, und wo sich Gondrin so ausgezeichnet benommen hat, der einzige Ueberlebende jener Leute, die verbissen genug waren, sich ins Wasser zu stellen, um die Brücken zu bauen, über welche die Armee gezogen ist, um sich vor den Russen zu retten, die noch genug Respekt vor der großen Armee von wegen der Siege besaßen. Und,‹ fuhr er auf Gondrin zeigend fort, der ihn mit der tauben Menschen eigentümlichen Aufmerksamkeit ansah, ›Gondrin ist ein vollkommener alter Soldat, ein Ehrensoldat sogar, der eure größte Hochachtung verdient. Ich habe den Kaiser aufrecht bei der Brücke stehen sehen,‹ fuhr er fort, ›unbeweglich, da ihm nicht kalt war. War das noch natürlich? Er sah den Verlust seiner Schätze, seiner Freunde, seiner alten Aegypter. Bah! Alles zog da hinüber: die Frauen, die Munitionswagen, die Artillerie, alles war verbraucht, aufgegessen und ruiniert. Die Mutigsten hüteten die Adler; denn die Adler, müßt ihr wissen, bedeuteten Frankreich, das wart ihr alle, war die Ehre des Zivils und der Militärs, das untadelig bleiben mußte und den Kopf der Kälte wegen nicht sinken lassen durfte. Man wurde nur noch in der Nähe des Kaisers wieder warm; denn, wenn er in Gefahr schwebte, liefen wir, die wir erfroren waren und uns nicht einmal aufhielten, um Freunden die Hand hinzustrecken, herbei. Man erzählte auch, daß er nachts über seine arme Soldatenfamilie weine. Nur er und die Franzosen konnten sich da herausziehen; und man hat sich herausgezogen, aber mit Verlusten, mit schweren Verlusten, sage ich! Die Verbündeten hatten unsere Lebensmittel aufgefressen. Alles fing an, ihn zu verraten, wie es ihm der Rote gesagt hatte. Die Pariser Schwätzer, die sich seit der Errichtung der kaiserlichen Garde nicht mucksten, halten ihn für tot und zetteln eine Verschwörung an, in die man den Polizeipräfekten hineinzieht, um den Kaiser zu stürzen. Er hörte das alles, es ärgert ihn, und er sagte zu uns, als er abreiste:
›Lebt wohl, meine Kinder, bleibt auf euren Posten, ich komme wieder.‹
Bah, seine Generäle reden verworrenes Zeug; denn ohne ihn waren sie nichts. Die Marschälle sagen sich Grobheiten und machen Dummheiten, und das war natürlich; Napoleon, der ein guter Mann war, hatte sie mit Gold gefüttert, sie wurden so schneckenfett, daß sie nicht mehr marschieren wollten. Die Unglücksfälle sind daher gekommen, daß mehrere in Garnison geblieben sind, ohne den Rücken der Feinde, hinter denen sie standen, zu verprügeln, während man uns nach Frankreich trieb. Doch der Kaiser kam mit Konskribierten, und famosen Konskribierten, deren Moral er vollkommen änderte und aus denen er Köter machte, die entschlossen waren, jeden zu beißen, und mit Bürgern in Ehrengarden wieder, einer schönen Truppe, die wie Butter auf dem Roste zergangen ist. Trotz unserer straffen Haltung ist alles gegen uns; doch hat die Armee noch Wunder an Kraft verrichtet. Damals gab es Gebirgsschlachten, Völker gegen Völker, bei Dresden, Lützen und Bautzen ... Erinnert euch ja daran, ihr anderen, weil der Franzose dort so besonders heldenhaft gewesen ist, daß zu jener Zeit ein guter Grenadier nicht länger wie sechs Monate hielt. Wir triumphieren immer! Im Rücken aber reizen die Engländer die Völker zur Empörung, indem sie ihnen Dummheiten sagen! Endlich schafft man sich Bahn durch diese Völkermeuten. Ueberall, wo der Kaiser erschien, machten wir uns Luft, weil wir, zu Wasser oder zu Lande, wo immer er sagte: ›Ich will passieren!‹ stets passierten. Schließlich sind wir in Frankreich; und mehr als einem armen Infanteristen hat die Heimatluft die Seele wieder eingerenkt trotz der harten Witterung. Was mich anlangt, so kann ich sagen, daß sie mein Leben wieder aufgefrischt hat! ... Doch zu jener Stunde handelt's sich darum, Frankreich, das Vaterland, kurz das schöne Frankreich, gegen ganz Europa zu verteidigen, das uns zürnte, weil wir über die Russen hatten gebieten wollen, indem wir sie in ihre Grenzen zurücktrieben, damit sie uns nicht auffräßen, wie es die Gewohnheit der Nordens ist, dem's nach dem Süden gelüstet, wie ich mehrere Generäle habe sagen hören. Der Kaiser sieht seinen eigenen Schwiegervater, seine Freunde, die er zu Königen gemacht, und die Canaillen, denen er ihre Throne zurückgegeben hatte, alle gegen sich. Ja sogar Franzosen und Verbündete, die sich auf höheren Befehl in unseren Reihen gegen uns wenden, wie in der Schlacht bei Leipzig. Sind das nicht Schändlichkeiten, deren einfache Soldaten doch kaum fähig sein würden? So etwas brach sein Wort dreimal täglich, und das nannte sich Fürsten! Darin ging der Einfall vor sich. Ueberall wich der Feind zurück, wo immer unser Kaiser sein Löwenantlitz zeigte; und er tat in jener Zeit bei der Verteidigung Frankreichs mehr Wunder als er ihrer verrichtet hatte, um Italien, den Orient, Spanien, Europa und Rußland zu erobern. Da will er alle Fremden unter den Boden bringen, um sie Frankreich achten zu lehren, und läßt sie bis vor Paris kommen, um sie auf einmal zu verschlingen und sich auf die letzte Stufe des Genies zu stellen durch eine noch größere Schlacht als alle anderen, kurz durch eine Riesenschlacht! Doch die Pariser haben Angst um ihr Zweihellerfell und um ihre Zweisechserbuden und machen ihre Tore auf. Da fangen die ›Ragusaden‹ an und hören die Glücksfälle auf. Die Kaiserin ärgert man, und die weiße Fahne steckt man aus den Fenstern. Die Generäle endlich, die er zu seinen besten Freunden gemacht hatte, geben ihn um der Bourbons willen auf, von denen man nie hatte sprechen hören.
Dann sagt er uns in Fontainebleau Lebewohl:
›Soldaten! ...‹
Ich höre ihn noch, wir weinten alle wie richtige Kinder; die Adler, die Fahnen waren wie für eine Beerdigung gesenkt; denn, man kann es euch sagen, es war die Leichenfeier des Kaiserreichs, und seine fein herausgeputzten Armeen waren nur noch Skelette.
Dann sagte er unter der Freitreppe seines Schlosses zu uns:
›Meine Kinder, wir sind durch Verrat besiegt worden, doch werden wir uns im Himmel, dem Vaterlande der Tapferen, wiedersehen. Verteidigt meinen Kleinen, den ich euch anvertraue: Es lebe Napoleon II.!‹
Er hatte die Absicht zu sterben; und, um den besiegten Napoleon nicht sehen zu lassen, nimmt er Gift, das ein Regiment hätte töten müssen, weil er, wie Jesus Christus vor seiner Passion, sich von Gott und seinem Talisman aufgegeben wähnt. Das Gift aber kann ihm nichts anhaben. Etwas anderes! er erkennt sich als unsterblich. Sicher seiner Seele und sicher, stets Kaiser zu sein, geht er einige Zeit über auf eine Insel, um das Temperament derer zu studieren, die unaufhörlich Dummheiten machen. Während er auf Wache steht, halten die Chinesen und die wilden Tiere der afrikanischen Küste, Barbaresken und andere, die sehr ungemütliche Gesellen sind, ihn so sehr für etwas anderes als für einen Menschen, daß sie seine Fahne respektieren, indem sie sagen, daß sie anrühren, sich an Gott vergreifen hieße. Er regierte über die ganze Welt, während die andern ihn vor die Türe seines Frankreichs gesetzt hatten. Dann schifft er sich auf der nämlichen ägyptischen Nußschale ein, fährt den englischen Schiffen an der Nase vorbei und setzt den Fuß auf französischen Boden; Frankreich erkennt ihn wieder, der vermaledeite Kuckuck fliegt von Glockenturm zu Glockenturm, ganz Frankreich schreit: ›Es lebe der Kaiser!‹ Und hier bei uns ist die Begeisterung über dies Wunder des Jahrhunderts echt gewesen, der Dauphiné hat sich sehr gut aufgeführt, und ich bin besonders froh gewesen, als ich hörte, daß man hier Tränen der Freude geweint habe, als man seinen grauen Ueberrock wiedergesehen. Am ersten März schiffte sich Napoleon mit zweihundert Mann ein, um das Königreich Frankreich und Navarra zu erobern, das am zwanzigsten März wieder das französische Kaiserreich geworden war. Der Mann befand sich an diesem Tage in Paris; nachdem er alles ausgekehrt, hatte er sein liebes Frankreich wiedergewonnen und seine Soldaten zusammengerafft, indem er zu ihnen nur die drei Worte sagte: ›Ich bin da!‹ Das ist das größte Wunder, das Gott getan hat! Hat vor ihm jemals ein Mann nur dadurch die Macht gewonnen, daß er seinen Hut zeigte? Man glaubte Frankreich niedergeworfen? Durchaus nicht. Beim Anblick des Adlers bildet sich wieder eine nationale Armee, und wir marschieren alle nach Waterloo. Dort nun stirbt die Garde auf einen Schlag. In seiner Verzweiflung wirft sich Napoleon dreimal an der Spitze der Reiter vor die feindlichen Kanonen, ohne den Tod zu finden! Wir haben das gesehen, wir andern! Die Schlacht ist verloren. Abends ruft der Kaiser seine alten Soldaten, verbrennt auf einem Felde, das mit unserem Blute überströmt ist, seine Standarten und seine Adler; diese armen, immer siegreichen Adler, die in den Schlachten ›Vorwärts!‹ riefen, und die über ganz Europa hingeflogen waren, wurden vor dem Schimpfe bewahrt, den Feinden in die Hände zu fallen. Alle seine Schätze würden England nicht einmal den Schwanz eines Adlers geben können! Keine Adler mehr da! Der Rest ist hinreichend bekannt. Der Rote ging zu den Bourbonen über als ein Schuft, der er ist. Frankreich ist niedergetreten; der Soldat ist nichts mehr, man beraubt ihn des ihm Zustehenden, schickt ihn nach Hause zurück, um seinen Platz von Adligen einnehmen zu lassen, die so wenig marschieren konnten, daß es einen dauerte. Man bemächtigt sich Napoleons durch Verrat, die Engländer fesseln ihn auf einer einsamen Insel des großen Meeres an einen Felsen, der sich zehntausend Fuß über die Welt erhebt. Endergebnis: er ist gezwungen, dortzubleiben, bis der Rote ihm zu Frankreichs Glück seine Macht wiedergibt. Die Pariser sagen, er sei tot! Ach ja tot! Man sieht, daß sie ihn nicht kennen. Sie wiederholen solche Aufschneiderei, um das Volk anzuführen und zu veranlassen, sich in ihrer Regierungsbaracke ruhig zu verhalten. Hört: die Wahrheit von allem ist, daß seine Freunde ihn in der Wüste allein gelassen haben, um einer auf ihn gemachten Prophezeiung genugzutun; denn ich hab' vergessen, euch zu sagen, daß sein Name Napoleon soviel heißt wie ›Wüstenlöwe‹. Und das ist wahr wie das Evangelium. Alles andre, was ihr über den Kaiser hören werdet, sind Dummheiten, die keine menschliche Form haben. Weil Gott, seht ihr, eines Volkes Kinde nicht das Recht verliehen haben würde, seinen Namen rot hinzuschreiben, wie er den seinigen auf die Erde geschrieben hat, die sich seiner stets erinnern wird! ...
Es lebe Napoleon, des Volkes und der Soldaten Vater!«
»Es lebe der General Éblé,« schrie der Pontonier.
»Wie habt ihr's denn angestellt, daß ihr in der Moskwaschlucht nicht den Tod gefunden habt?« fragte eine Bäuerin.
»Wenn ich das wüßte! Wir sind dort eingedrungen, ein ganzes Infanterieregiment, weil nur Infanteristen imstande waren, sie zu nehmen, und nur hundert davon blieben auf den Beinen. Die Infanteristen, seht ihr, bedeuten alles in einer Armee ...«
»Nun, und die Kavallerie?« rief Genestas, der sich oben vom Boden hinunterrollen ließ und mit einer Schnelligkeit unten erschien, die den Mutigsten einen Schreckensruf entlockte. »He, mein Alter, du vergißt Poniatowskis roten Lanzenreiter, die Kürassiere, die Dragoner, die ganze Gesellschaft! Als Napoleon, der ungeduldig war, seine Schlacht nicht zum entscheidenden Siege vorwärtsrücken zu sehen, zu Murat sagte: ›Sire, schneide mir das in zwei Stücke!‹, da reiten wir los, anfangs im Trab, dann im Galopp und eins, zwei, drei war die feindliche Armee zerschnitten wie ein Apfel mit einem Messer. Ein Kavallerieangriff, mein Alter, verstehst du, ist eine Kolonne Kanonenkugeln!«
»Und die Pontoniere?« rief der Taube.
»Ach ja, liebe Kinder,« fuhr Genestas ganz beschämt über seinen Ausfall fort, als er sich inmitten eines verdutzten und schweigenden Kreises sah, »hier gibt's keine bezahlten Unruhestifter. Da nehmt, trinkt auf den kleinen Korporal!«
»Es lebe der Kaiser!« schrien die Leute der Spinnstube wie aus einem Munde.
»Pst! Kinder,« sagte der Offizier und bemühte sich, seinen tiefen Schmerz zu verbergen. »Pst! Er ist mit den Worten: ›Ruhm, Frankreich und Schlacht!‹ gestorben ... Liebe Kinder, er hat sterben müssen; sein Gedächtnis aber ... niemals!«
Goguelat machte ein Zeichen der Ungläubigkeit, dann sagte er leise zu seinen Nachbarn:
»Der Offizier steht noch im Dienste; und es ist ihre Instruktion, dem Volke zu sagen, der Kaiser sei tot. Man muß ihm deshalb nicht böse sein, weil ein Soldat schließlich nur seine Instruktion kennt.«
Als er die Scheune verließ, hörte Genestas die Fosseuse sagen:
»Der Offizier dort, wißt ihr, ist ein Freund des Kaisers und ein Freund Monsieur Benassis'!«
Alle Leute der Spinnstube stürzten nach der Türe, um den Major noch einmal zu sehen, und im Mondenscheine sahen sie ihn des Arztes Arm nehmen.
»Ich hab' Dummheiten gemacht,« sagte Genestas. »Gehn wir schnell nach Hause. Diese Adler, diese Kanonen, diese Feldzüge! ... Ich wußte nicht mehr, wo ich war.«
»Nun, was sagen Sie zu meinem Goguelat?« fragte ihn Benassis.
»Mit solchen Erzählungen, mein Herr, wird Frankreich immer die vierzehn Armeen der Republik im Leibe haben, und die Unterhaltung mit Europa wacker mit Kanonenschlägen weiterführen können. Das ist meine Ansicht.«
In kurzer Zeit erreichten sie Benassis' Wohnung und bald saßen beide nachdenklich rechts und links vom Kamin im Salon, wo das ausgehende Feuer noch einige Funken sprühte. Trotz der Vertrauensbeweise, die er vom Arzte erhalten hatte, zögerte Genestas noch, eine letzte Frage an ihn zu richten, die indiskret erscheinen konnte. Nachdem er ihm aber einige forschende Blicke zugeworfen hatte, wurde er durch ein Lächeln voller Bitterkeit, wie es zuweilen die Lippen wirklich starker Männer umspielt, ein Lächeln, durch das Benassis auf seine stumme Frage schon zustimmend zu antworten schien, ermutigt. Er sagte also zu ihm:
»Ihr Leben, mein Herr, unterscheidet sich so sehr von dem gewöhnlicher Menschen, daß Sie nicht erstaunt sein werden, mich Sie nach den Gründen Ihrer Zurückgezogenheit fragen zu hören. Wenn Ihnen meine Neugier unschicklich erscheint, werden Sie doch zugeben, daß sie ganz natürlich ist. Hören Sie: ich habe Kameraden gehabt, die ich selbst, nachdem ich mehrere Feldzüge zusammen mit ihnen mitgemacht, niemals geduzt habe; dagegen habe ich andere gehabt, zu denen sagte ich: ›Hol' unser Geld beim Zahlmeister!‹ drei Tage, nachdem wir uns zusammen betrunken hatten, wie das den anständigsten Leuten bei den Liebesmahlen zuweilen passieren kann. Nun, Sie sind einer jener Männer, zu deren Freund ich mich mache, ohne Ihre Erlaubnis abzuwarten, ja ohne recht zu wissen, weshalb!«
»Hauptmann Bluteau ...«
Jedesmal, wenn der Arzt den falschen Namen aussprach, den sein Gast sich zugelegt hatte, konnte dieser seit einiger Zeit eine leichte Grimasse nicht unterdrücken. Benassis überraschte in jenem Augenblick diesen Ausdruck des Widerwillens und blickte den Offizier fest an, um die Ursache davon zu entdecken. Da es ihm aber recht schwer geworden wäre, die wirkliche herauszubekommen, schrieb er die Bewegung körperlichen Schmerzen zu, und sagte fortfahrend:
»Hauptmann, ich will von mir erzählen. Seit gestern hab' ich mir bereits mehrere Male einen gewissen Zwang antun müssen, wenn ich Ihnen die Verbesserungen auseinandersetzte, die ich hier habe durchführen können; aber es handelte sich um die Gemeinde und ihre Bewohner, mit deren Interessen die meinen notwendigerweise Hand in Hand gehen. Ihnen jetzt meine Geschichte erzählen, würde heißen, Sie nur von mir unterhalten, und mein Leben ist wenig interessant.«
»Und wäre es einfacher als das Ihrer Fosseuse,« antwortete Genestas, »so möchte ich's doch kennenlernen, um die Mißgeschicke zu erfahren, die einen Mann Ihres Schlages in diesen Bezirk verschlagen konnten.«
»Seit zwölf Jahren habe ich geschwiegen, Hauptmann. Jetzt, wo ich, am Rande meines Grabes, den Stoß erwarte, der mich hineinstürzen soll, will ich so ehrlich sein, Ihnen zu gestehen, daß dieses Schweigen mich zu bedrücken anfing. Seit zwölf Jahren leide ich, ohne des Trostes teilhaftig geworden zu sein, den die Freundschaft an schmerzende Herzen verschwendet. Meine armen Kranken, meine Bauern zeigen mir das Beispiel einer vollkommenen Resignation, aber ich verstehe sie, und sie merken das, während niemand hier meine heimlichen Tränen empfangen, noch mir jenen verständnisinnigen Händedruck eines wackeren Mannes, die beste aller Belohnungen geben kann, die niemandem, selbst Gondrin nicht, fehlt.«
In plötzlicher Bewegung streckte Genestas Benassis die Hand hin, den diese Geste stark ergriff.
»Vielleicht hätte die Fosseuse mich engelhaft verstanden,« fuhr er mit erregter Stimme fort, »aber sie würde mich vielleicht geliebt haben, und das wäre ein Unglück gewesen. Sehen Sie, Hauptmann, nur ein alter nachsichtiger Soldat, wie Sie es sind, oder ein junger Mensch voller Illusionen könnten meine Beichte hören; denn nur von einem Manne, der das Leben gut kennt oder von einem Kinde, dem es vollkommen fremd ist, würde sie recht verstanden werden. Wenn sie keinen Priester hatten, beichteten die alten Heerführer, wenn sie auf dem Schlachtfelde starben, dem Kreuz ihres Schwertgriffs und machten es zu einem treuen Vertrauten zwischen sich und Gott. Werden Sie nun, eine der besten Klingen Napoleons, Sie, die Sie hart und stark wie Stahl sind, mich vielleicht recht verstehen? Um sich für meine Geschichte zu interessieren, muß man sich in gewisse Zartheiten des Gemüts versetzen und Glaubenssätze teilen können, die einfachen Herzen so natürlich sind, vielen Philosophen aber, die sich für ihre Privatinteressen gewöhnlich der den Regierungen der Staaten vorbehaltenen Maximen bedienen, lächerlich erscheinen. Ich will aufrichtig mit Ihnen sprechen wie ein Mann, der weder das Gute noch das Schlechte seines Lebens rechtfertigen will, der Ihnen aber nichts verheimlichen wird, weil er heute der Welt fernsteht, dem Urteil der Menschen gegenüber gleichgültig und voller Hoffnung auf Gott ist.«
Benassis hielt inne, dann stand er auf und sagte:
»Ehe ich mit meiner Erzählung anfange, will ich Tee bestellen. Seit zwölf Jahren hat Jacquotte es nie versäumt, mich zu fragen, ob ich Tee haben will; sie würde uns sicherlich unterbrechen. Halten Sie mit, Hauptmann?«
»Nein, ich danke Ihnen.«
Benassis kam sofort wieder zurück.