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»Aimee«, sagte Luise in einem Ton, als wollte sie sie aufwecken, »schläfst du?«
Aimee erhob nur den Arm – merkwürdig langsam – und band ihre langen Haare auf.
»Man sollte es fast meinen«, sagte Luise.
Und Aimee saß wieder vor ihrem Spiegel, in dem sie ihr eigenes Bild sah – ohne sich zu rühren –, als wenn zwei Schlafende mit offenen Augen einander anstarrten.
Langsam zog sie ihre Bluse an und stand auf und ging hinaus – mit demselben seltsamen Blick, als folgte sie einer unsichtbaren Erscheinung, und mit dem Gang eines Automaten, als wäre die Seele in ihrem toten Körper in Schlummer gesunken.
Luise folgte ihr, und sie gingen beide hinaus in den dunklen Raum, in dem Fritz bereits auf der Schaukel wartete.
Es war, als hätte Aimee niemals so sicher gearbeitet wie heute: wie in mechanischem Tempo machte sie ihre Griffe, ließ los und flog.
Sie arbeitete wieder mit Fritz, und es war, als wirkte ihre Ruhe auf ihn zurück: wie die toten Räder und Teile einer Maschine trafen sie sich, trennten sie sich und trafen sich wieder. Und wieder ruhten sie in den gegenüberhängenden Schaukeln.
Es war, als sähe Aimee in dem ganzen weiten Raum nur das, beständig nur das: seinen Körper.
Diesen spielenden Körper, die bewegte Brust, den atmenden Mund, die Adern, die heiß klopften – das alles konnte still und kalt werden.
Still und ganz kalt.
Diese springenden Muskeln, die Hände, die sie ergriffen, der Nacken, in dem das Leben saß – alles würde still und kalt werden.
Die Arme unbeweglich und die Muskeln wie Stein und die Stirn kalt und der Hals tot und die Brust hoch und still.
Und die Hand dort, die fiel dann so schwer herab, wenn sie aufgehoben wurde.
Arme und Beine und Hände – tot.
Sie arbeiteten wieder. Sie flogen und trafen sich.
Jede Berührung stachelte sie an: Wie warm er auch anzufühlen war, würde er doch kalt werden, wie sehr auch alles an ihm bebte, würde er doch so still werden.
Sie dachte nicht mehr daran, warum. Sie dachte nicht mehr an sich. Sie sah nur das Todesbild, sie sah das, was sie sah.
Ihn – kalt und still.
Und gleich einem Geistesgestörten, der seiner geheimen Manie folgt, wurde sie schlau und falsch. Wie ein Morphiumsüchtiger, der seine Lust befriedigen will, wurde sie überaus erfindungsreich.
Sie bekam die Zähigkeit des Monomanen, der stets nur an eines denkt.
Sie suchte Fritz, den sie lange scheu vermieden hatte.
Als die Probe zu Ende war, fing sie an, allein zu arbeiten. Sie übertrug all die Übungen der unteren Schaukel auf die Kuppel. Sie rief zu Fritz hinunter, und sie hielt ihn in der Manege zurück, indem sie ihn ausfragte und ihn um seinen Rat bat – einschmeichelnd, wie ein Lehrling seinen Meister.
Sie wagte alles dort oben in der Kuppel. Sie spielte mit dem Tode. Dreist lockte sie ihn.
Sie beobachtete seine Unsicherheit, als wollte sie sie messen. Sie suchte Hilfe in seiner Kraftlosigkeit, die er verbergen wollte. Sie versuchte das Gewagteste, und sie rief:
»Wir werden schon zeigen, was wir können! Wir werden uns nicht überflügeln lassen!«
Sie reizte ihn. Er erteilte ihr Ratschläge. Er kletterte an den schwebenden Seilen zu ihr in die Trapeze hinauf.
Sie floh gleichsam vor ihm zwischen den rasselnden Schaukeln. Sie schwang sich von Trapez zu Trapez über die gähnende Tiefe.
Und wie von unwiderstehlicher Macht getrieben, begann er, es ihr nachzumachen, während sie ihn mit ihren Rufen anfeuerte. Sie hatte gleichsam die Kraft des Fiebers in ihrem heftig angespannten Körper, er wandte seine letzte Kraft an, wie im letzten Lebenskampf.
Sie schrie:
»Ça va – ça va!«
Er schwang sich vor und griff:
»Ça va – ça va!«
Die Artisten, die aus- und eingingen, blieben in der Manege stehen und sahen zu.
Er wurde noch eifriger. Er wagte alles, was sie wagte. Von Schaukel zu Schaukel flog sie – wild, mit fliegendem Haar vor ihm, als zeigte sie ihm den Weg.
Sie trafen sich und griffen sich. Ihr Körper war kalt, als umfingen ein paar Marmorarme seinen heißen und zitternden Leib.
Dann hörte sie auf, aber er setzte die Übung fort. Sie saß zusammengekrochen in ihrer Schaukel und stachelte ihn durch gedämpfte, gleichsam knurrende Zurufe an – sie saß im Dunkeln und betrachtete ihn.
Fritz stöhnte und ergriff im Herniedersausen das schwingende Seil: es sah aus, als stürzte er herab – hinaus in das große Dunkel.
Aimee blieb auf ihrer Schaukel sitzen: Sie hörte, wie er dumpf ins Netz fiel. Dann ertönte sein Schritt in der weichen Erde der Manege – Tritte, die schnell erstarben.
Es war ganz dunkel. Nur von der Kuppel her kam gedämpftes Licht. Der ganze ungeheure Raum lag im Schweigen da.
Noch immer saß Aimee zusammengekrochen auf dem Trapez zwischen Netz und Seil. Dann erhob sie sich. Die Haspen der Schaukeln und Schnüre rasselten leise.
Sie wurden emporgehoben und geprüft.
Wie ein Schatten machte sich Aimee im Dunkeln zu schaffen – eifrig, wie in einer Werkstatt.
Die Messingknöpfe der Schaukeln leuchteten, als wären es Katzenaugen.
Sonst war es ganz dunkel.
Leise schlugen die Seile der Schaukeln aneinander.
Sonst war es ganz still.
Lange machte sich Aimee in der Kuppel zu schaffen.
Dann ertönte eine laute Stimme unten aus dem Dunkel der Manege.
Es war Fritz. Er rief:
»Aimee! Aimee!«
»Ja, ich komme!« lautete die Antwort.
Aimee erfaßte das rechte Seil. Langsam glitt sie herab, als schwebte sie einen Augenblick schweigend über ihm, der unten wartete.
»Ich komme«, sagte sie wieder und war bei ihm.