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Der Meister saß im Bibliothekzimmer an dem grünbezogenen Tisch. Er las in dem aufgeschlagenen Buch wieder und wieder dieselbe Seite, während seine geballten Fäuste krampfhaft zuckten.
Als Charles Schwitt hereinkam, hob Claude Zoret den Kopf, und in dem Licht, das durch das breite Fenster drang, sah Charles Schwitt zum erstenmal, daß die weißen Streifen im Bart des Meisters sich verdichtet hatten.
»Wer hat dies geschrieben?« fragte der Meister und hob die Hand.
Schwitt betrachtete Claude Zorets zitternde Hand, deren Adern unter der Haut schwollen.
»Ich weiß es nicht,« sagte er, »und ich will es nicht wissen. Oder hast du etwa deine eigenen Zweifel zu Papier gebracht?«
Der Meister antwortete nicht und sah fort, während Charles Schwitt sein Gesicht betrachtete, das mit den niedergeschlagenen Lidern wie eine gelbe Maske aussah, die seine Gedanken oder seine Furcht verbergen sollte.
Charles Schwitt sagte über den Tisch hinüber: »Ich begreife nur nicht, weshalb Herr George Pinero den Artikel in seine Zeitschrift aufgenommen hat.«
Der Meister hob den Kopf.
»Denn Herr George Pinero ist doch der Herausgeber,« sagte Charles Schwitt.
»Ja,« antwortete Claude Zoret und starrte vor sich hin.
»Und,« sagte Charles Schwitt und warf dem Meister einen raschen Blick zu, »er . . .verkauft doch deine Bilder?«
»Ja,« sagte der Meister und rührte sich nicht.
Sie schwiegen eine Zeitlang.
Claude Zoret heftete seine Blicke wieder auf das Buch und las wieder dieselben Zeilen. Es war, als würden die 140 Buchstaben unnatürlich groß und so deutlich, wie Eisenschrift auf Marmor.
»Wer nüchtern durch den Lichtnebel zu sehen vermag, mit dem der Weltruf, oder besser gesagt, die Reklame zweier Weltteile Claude Zorets Bilder umhüllt hat, wird zu der Erkenntnis gelangen, daß auch in der Kunst alles nur eine ewige Wiederholung ist. Denn genau wie die Napoleon-Mythe ihren David hatte, hat jetzt die Mythe des Hellenismus ihren Claude Zoret und beide sind einander verblüffend ähnlich. Beider Malerei ist Theater, und Herr Claude Zoret wird sich mit dem Ruhme eines Alma Tadema begnügen müssen.«
Charles Schwitt beobachtete den Meister, während er las, aber das wachsgleiche Gesicht bewegte sich nicht, und die Augen waren unausgesetzt auf das Buch gerichtet.
»Will man wissen, wie weit Herr Claude Zoret sich vom wirklichen Leben entfernt hat, braucht man nur sein letztes Werk, ein Porträt der Fürstin Z., zu betrachten. Das Porträt ist ein gesunder Maßstab für die Empfänglichkeit eines Meisters dem Leben gegenüber und für seine Treue gegen das Leben. In Herrn Claude Zorets letztem Werk aber ist nicht ein echter Pinselstrich und nicht eine unverfälschte menschliche Farbe. Prinzessin Z. ist nur eine Theaterprinzessin mehr in seiner großen, bestechenden Theatergalerie. Nur die Augen bilden eine Ausnahme, und – so unwahr wirkt das übrige – man möchte fast darauf schwören, daß diese Augen von einem andern gemalt sind. Die lebendigen Augen wirken in diesem gemalten Gesicht wie die lebensprühenden Augen eines Menschen hinter einer Maske.«
Claude Zoret hob den Blick und starrte leer vor sich hin, als seien seine Gedanken stehen geblieben.
Die Kaminuhr holte zum Schlage aus.
Und wieder wurde es still, während sie beide schweigend dasaßen. 141
Dann sagte Charles Schwitt: »Claude, wer kennt die Geschichte von den Augen der Zamikof?«
»Sie.«
Es wurde wieder still, bis Schwitt zu dem schweigenden Meister hinübersah und vor sich hin sagte: »Und er.«
Es ging ein Zittern über des Meisters Lippen, aber er rührte sich nicht.
Charles Schwitt aber sagte, und er richtete plötzlich den noch immer geschmeidigen Körper höher auf: »Er (er hatte »Michael« sagen wollen, aber es wurde zu »er«) redet in der letzten Zeit Nachteiliges über dich, sowohl über dich wie über deine Bilder.«
Der Meister antwortete nicht.
Schwitt fuhr fort: »Wer im Unrecht ist, wird stets noch mehr Unrecht begehen.«
Der Meister antwortete noch immer nicht.
Und beide hörten sie gleich deutlich das Ticken der Uhr, bis Charles Schwitt wieder sagte: »Einer muß dir wohl die Wahrheit sagen, und die Wahrheit ist, daß – –«
Die gelbe Haut des Meisters wurde weiß, während er sagte, und es klang fast wie ein Schrei: »Charles, hör auf.«
Schwitt antwortete, während er sich auf die bebende Lippe biß: »Ich sage nichts mehr.«
Aber der Meister setzte Schwitts angefangenen Satz fort: »Die Wahrheit ist« – und er lachte – »daß du Michael immer gehaßt hast.«
»Hm.«
»Ja,« sagte der Meister und sprach heftig, als wolle er sich gegen die andern oder vielleicht gegen sich selbst verteidigen, »du haßt ihn und hast ihn vom ersten Tage an gehaßt.«
»Und weshalb?« fragte Schwitt, der sich plötzlich erhob.
Auch der Meister war aufgestanden.
»Weshalb du ihn mit deinem Haß beehrst?« sagte er, und sie sprachen beide, als schlügen die Flammen eines Feuers, 142 das jahrelang geschwelt hatte, durch ihre Worte: »Weshalb? Wenn du mich fragst, will ich es dir sagen. Denn ich weiß es ebensogut wie du. Du hast ihn all diese Jahre gehaßt, weil er hineingeschlüpft ist, wo er nicht hineinschlüpfen sollte und durfte – weil er in mein Leben eingedrungen ist, wo niemand anders eine Rolle spielen sollte als ihr oder als du.«
Der Meister stand mitten vor dem Tisch, und Charles Schwitt bewegte die Lippen zu einer Antwort. Aber Claude Zoret schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Laß mich ausreden,« sagte er. »Ich spreche nicht oft, und was ich sage, ist wahr. Also höre.«
Und plötzlich begann er zu reden, wie einer, der eine große Abrechnung hält und Summe um Summe und Kolonne nach Kolonne ins Treffen führt, während Charles Schwitt seine Hände gegen die äußerste Kante des Tisches stützte wie gegen eine Schranke. »Als ich jung war, nahmt ihr von mir Besitz – vier, fünf Stück, die ihr damals wart. Ihr fandet mich und ihr legtet Beschlag auf mich. Ihr hattet mich entdeckt. Ihr rühmtet mich. Ihr schufet mich und disponiertet über mich. Und als ich ›berühmt‹ geworden war, hieltet ihr Wache um mich und sperrtet mich ein und bildetet einen Kreis um mich, bis der Kreis zu einer Mauer geworden war. Und hinter dieser Mauer durfte ich sitzen und Farben mischen und malen – als der Bauer, der ich war. Ja,« – der Meister sprach lauter – »als der Bauer, der ich war. Denn für euch wurde ich nie etwas anderes als ein Bauer, der malen konnte . . .«
Charles Schwitts Augen schossen Blitze.
»Der das, was er malte, gut verkaufte.«
»Ja, du hast recht, der das, was er malte, gut verkaufte,« – und der Meister preßte die Knöchel gegen die Brust – »denn ein Bauer bin ich. Aber« – und Claude Zoret sprach wieder langsam, wie jemand, der zusammenzählt – »ihr hieltet mich gefangen, ihr, Pariser, die ihr wart, ihr, 143 die ihr das Leben kanntet, euch Liebhaberinnen hieltet, in der Gesellschaft mitzähltet, das Leben genosset, während ich, der Bauernbursch, der Lebensdumme, nur malte – hinter Schloß und Riegel und Mauer und Berg saß und nur Genie hatte und euren Weg bahnte und euch doch stets ein Fremder blieb und einsam war.«
»Mit deiner Frau,« sagte Schwitt.
Der Meister schwieg einen Augenblick: »Ja,« sagte er, »mit meiner Frau – – – die mir eine Fremde geworden war durch euren Spott.
Das eine Mal, das einzige Mal, wo ich eine Statue gemeißelt habe, meißelte ich etwas, das zertrümmert war . . . Und ihr hattet sie zertrümmert.«
Charles Schwitt hob den Kopf.
»Wirklich?« sagte er. »Glaubst du das?«
Es war einige Augenblicke still, während Claude Zoret hin und her schritt, bis Charles Schwitt halblaut sagte: »Und weshalb sollten wir eigentlich all das getan haben?«
Der Meister wandte sich jäh.
»Weil ihr ein Haufe von Strebern wart. Ihr wußtet es vielleicht nicht, aber es war so. Ihr mußtet Platz haben. Und eine Schar, die Platz haben will, braucht einen Wimpel oder ein Stück Fahne. Mein Name wurde euer Fahnentuch. Und niemand anders durfte es tragen und kein anderer durfte teil daran haben. Und es durfte über niemand anders wehen als über euch, den Besitzern.«
Charles Schwitt machte einige Schritte und sagte nur: »Du redest heute so viel.«
»Ja.«
Der Meister nickte zweimal.
Charles Schwitt aber betrachtete seine Hände und sagte: »Und alles das hättest du dir dreißig Jahre lang von uns bieten lassen? Glaubst du das wirklich selbst?«
Claude Zoret sah ihn an. 144
»Ja, das habe ich mir bieten lassen.«
Charles Schwitt hob den Blick.
»Du, ein so energischer Mensch?«
Claude Zoret machte eine Bewegung mit der Hand.
»Ja, das habe ich erwartet. Jetzt mußtest du mit der Bauernzähigkeit und dem Eisenwillen und dem Rückgrat kommen, das sich nicht beugen läßt. Du, der doch wie kein anderer weiß, woraus meine Energie besteht und daß sie nur das Stahlnetz über meinem todmüden Gesicht ist. Todmüde – denn das bin ich seit fünfzehn Jahren gewesen. Todmüde von dem Wettlauf mit mir selbst. Nicht mit den anderen, denn die wandeln andere Bahnen. Aber todmüde von dem Wettlauf mit mir selbst, um das Große zu schaffen, und nach dem Großen das Größere, und nach dem Größeren das Größte – das ich nie erreichen werde.«
Claude Zoret starrte vor sich hin.
»Einst habe ich einen großen Traum geträumt. Was redet man immer vom Adel und von den alten Geschlechtern? Die Bauern von den Quellen haben dreihundert Jahre lang denselben Boden in demselben Kirchspiel gepflügt. Ich träumte einmal davon, daß nach der Niederlage aus Frankreichs Boden und aus Frankreichs Mark ein Mann erwachsen werde, der Frankreichs Namen ewig macht. Mein Traum war zu hochfliegend.«
Der Meister schwieg. Charles Schwitt aber flüsterte: »Ich kannte deinen Traum.«
Claude Zoret richtete seine Augen auf ihn. »Ja, du kanntest ihn. Und du warst froh, daß du ihn kanntest. Denn nun hattet ihr mich da, wo ihr mich haben wolltet: gebunden, festgenagelt – wie der von Golgatha festgenagelt war – an das Unerreichbare.« Claude Zoret hielt inne und strich sich mit der linken Hand über die Augen. »Und so wurde ich der Mann, der nur malen konnte und doch das Höchste nicht zu malen vermag.«
Es war einen Augenblick still, bis Charles Schwitt sagte: 145
»Und weshalb sollte es dir nicht gelingen, ›das Höchste‹ zu malen?«
Der Meister nickte mit dem Kopf.
»Weil ich es nie erlebt habe, und weil ich nicht einmal so leben durfte, daß ich es auch nur gesehen hätte.«
Charles Schwitt antwortete nicht. Ein Zucken ging über sein Gesicht.
»So,« sagte Claude Zoret und holte tief Luft, »jetzt habe ich gesprochen . . .« Er schwieg einen Augenblick.
»Und als ich dann alt geworden war, kam Michael in mein Leben.«
Charles Schwitt hob den Kopf.
»Das heißt, du zogst ihn in dein Leben hinein.«
»Zog?«
Charles Schwitt sah dem Meister ins Gesicht.
»Was ich gesagt habe, habe ich gesagt.«
Der Meister erwiderte seinen Blick.
»Und du haßtest ihn, weil er kam.«
Über des Meisters Gesicht glitt plötzlich eine Müdigkeit. Dann aber sah er wieder Schwitt an und sagte kurz: »Was hat Michael gesagt?«
Ein eigenartiges Lächeln huschte über Schwitts Gesicht.
»Er hat allerlei gesagt und an verschiedenen Orten.«
»Was hat er gesagt?« fragte der Meister wieder.
»Wenn du es durchaus wissen willst,« sagte Schwitt, auf den grünen Teppich blickend, »so sagte er neulich auf dem Fest in Poissy, daß es wohl keinen Zweck hätte, dich in dieser Zeit aufzusuchen, denn du seist seit zehn Tagen total betrunken.«
Es war, als liefe Blut über des Meisters Gesicht, und sein ganzer Körper wurde wie von einem mächtigen Ruck erschüttert. Aber dann sagte er ruhig und nur etwas heiser: »Vielleicht war es wahr.«
Auch Schwitt war rot und wieder blaß geworden. 146
»Verzeih mir,« sagte er und vermochte nicht die Augen aufzuschlagen.
Der Meister antwortete, abgewandt, ebenso leise wie er: »Ich habe nichts zu verzeihen.«
Und indem er plötzlich auf Schwitt zuging, seine Hände ergriff und so fest drückte, daß es fast schmerzte, sagte er und konnte kaum sprechen: »Du hast zu verzeihen. Du bist dennoch treu – wie dein Volk.«
»Claude.«
Sie standen beide wieder schweigend, abgewandt, jeder an seinem Platz.
Da sagte Charles Schwitt und konnte fast nicht sprechen: »Claude, Claude, ich bitte dich, laß den Jungen gehen.«
Der Meister antwortete nicht gleich.
Sein Gesicht konnte Schwitt nicht sehen.
»Nein, Charles,« sagte er dann, und der Freund erkannte seine Stimme kaum wieder. »Ein Bauer will nicht kinderlos sterben.«
Sie saßen sich lange gegenüber. Keiner sprach ein Wort. Zwei Tränen waren Charles Schwitt über die Backen gelaufen.
Sie richteten sich beide auf, als der Majordomus die Tür öffnete und den Kunsthändler, Herrn Leblanc, meldete.
»Ich lasse bitten,« sagte der Meister und stand auf.
Als Jacques fort war, fragte Herr Schwitt: »Willst du ihn jetzt empfangen?«
»Ja, weshalb nicht?« fragte der Meister, und er faßte wieder Schwitts Hand mit einem heftigen Druck.
»Adieu, Charles.«
Als Herr Schwitt gegangen war, zog Claude Zoret die schweren Vorhänge halb vor das große Fenster und ging durch die Seitentür in sein Ankleidezimmer. Vor dem Spiegel wusch er sein Gesicht mit zwei Essenzen, die er in einer Schüssel gemischt hatte, und während er sich selbst 147 betrachtete, bürstete er langsam seinen Bart, so daß die weißen Streifen schmäler erschienen. Dann kehrte er in die Bibliothek zurück, wo Herr Leblanc vor dem einzigen Gemälde des Raumes stand, vor einem Corot, auf dem der Herbststurm einem Riesenbaum die letzten Blätter raubt.
»Das ist ein herrliches Bild, Meister,« sagte er und schlug die Hacken zum Gruß zusammen, während er auf das Corotsche Gemälde zeigte.
»Die Corots sind nicht mehr für Geld aufzutreiben.«
»Herr Pinero« (Herr Leblanc sah den Meister einen Moment mit seinen Augen an, die wasserblau waren, aber jeden Augenblick die Farbe zu wechseln schienen), »Herr Pinero hat, wie man sagt, momentan auch einen Corot an der Hand. Aber, nicht wahr, man erfährt, was ein Mann an der Hand hat, und weiß darum noch nicht, wie er es erworben hat.«
Herr Leblanc hatte seine Augen abgewandt und sagte, scheinbar ohne jeden Zusammenhang: »Nur die Nachwelt urteilt gerecht.«
Der Meister hatte sich bereits gesetzt, bevor er auf einen Stuhl zeigte.
»Ich wollte mit Ihnen wegen des ›Germanen‹ sprechen,« sagte er, »ich möchte ihn verkaufen, Herr Leblanc.«
Eine Sekunde sah Herr Leblanc, der noch stand, auf den Meister herab.
»Sie wollen den ›Germanen‹ verkaufen, lieber Meister,« sagte er, »was Sie sagen. Das ist ausgezeichnet. Das habe ich gar nicht geahnt« (Herr Leblanc glitt wie ein Aal durch alle Tonarten der Sprache). »Das hätte ich nicht geglaubt . . . Ich hätte es in diesem Augenblick nicht erwartet.«
Der Meister antwortete nicht, aber Herr Leblanc ließ die Augen über Herrn Pineros Zeitschrift gleiten und sagte: »Lieber Meister, das ist ausgezeichnet. Sie wissen, 148 daß ein Claude Zoret die Wünschelrute für meine Firma ist, das Hufeisen über der Tür. Und Sie wollen verkaufen – endlich einmal wieder und durch mich.«
Herr Leblanc strömte über von Dankbarkeit, bis er plötzlich mit einem neuen Übergang fragte: »Und zu welchem Preis wollen wir ›Cäsar‹ ansetzen?«
Der Meister öffnete kaum die Lippen.
»Ich habe nur einen Preis,« sagte er.
»Gewiß, ich weiß, natürlich, Sie haben nur einen Preis, wie es sich gehört,« sagte Herr Leblanc.
Aber plötzlich hob er den Blick, der voll Bewunderung schien, zum Meister und sagte: »Aber, nein, für den ›Cäsar‹ setzen wir einen höheren Preis an. Wissen Sie, man muß immer der Klügere sein. In diesem Augenblick setzen wir einen höheren Preis an. ›Cäsar‹ hat außerdem . . .«
»Der ›Germane‹,« verbesserte der Meister.
»Richtig, der ›Germane‹ . . . der ›Germane‹, der Cäsar verwundet, hat außerdem ein ganz besonderes Interesse, lieber Meister. Ich meine, man könnte fast sagen, das Bild bedeutet einen Wendepunkt, ich meine . . . eine Phase in der Produktion des Meisters.«
Herr Leblanc bewegte seinen kleinen Finger mit einer eigenartigen Bewegung über das grüne Tuch des Tisches, als stecke er Nadeln auf ein Kissen. »Und außerdem,« sagte er, »muß das Genie vor allen Dingen seinen Preis behaupten.«
Der Meister sagte, ohne sich zu rühren: »Sie verstehen mehr vom Handel als ich.«
Herr Leblanc hob seine treuherzig bewundernden Augen. »Lieber Meister, man handelt nicht mit einem ›Claude Zoret‹. Man teilt der Kunstwelt die Chancen mit, nicht wahr, und die Käufer melden sich.«
»Aber,« fuhr er fort, »wir setzen einen höheren Preis an.«
Und, indem er förmlich einen Satz auf Claude Zoret 149 zu machte, fügte er hinzu: »Dann können wir auch mit uns handeln lassen.«
Der Meister sah ihn an, während seine Brauen plötzlich zitterten. »Sie irren,« sagte er, »ich lasse nicht mit mir handeln.«
»Lieber Meister,« sagte Herr Leblanc, der unausgesetzt von Tonfall zu Tonfall glitt. »Sie müssen doch Scherz verstehen. Selbstverständlich wird dieser Fall nie eintreten. Die Kenner werden herbeiströmen. Der Trocadero würde all die Menschen nicht fassen können, wenn wir den ›Germanen‹ dort zum Verkauf ausstellen würden – obgleich die Zeiten schlecht sind . . .«
Claude Zoret hatte die Hand auf dem Tisch geballt. »Der ›Germane‹ kann nach England gehen,« sagte er.
»Natürlich,« antwortete Herr Leblanc und betrachtete den grünen Tisch, »er könnte nach England gehen . . . er könnte vielleicht nach England gehen . . .«
»Aber?« sagte Claude Zoret, und das eine Wort schlug dem Kunsthändler wie eine Zornesflamme ins Gesicht.
»Ja, lieber Meister,« sagte Herr Leblanc und legte die Hände mit den ausgespreizten Fingern vor sich auf den Tisch. »Ich bin ehrlich, nicht wahr, ich bin immer ehrlich . . . Ich meine nur, die Luft kann heiß sein, nicht wahr, und die Luft kann lau sein. Ich meine nur, daß jeder Augenblick, wenn ich so sagen darf, den Künstler und seinen Namen mit einer bestimmten Atmosphäre umgibt. Ein Augenblick ist günstig, nicht wahr . . . und ein anderer . . .«
Der Meister hob den Kopf. »Erscheint dem Krämer ungünstig, ja. Aber ich glaube nicht, daß gewisse Schreibereien eines Herrn Pinero an Claude Zoret rütteln können . . .«
Herr Leblanc fiel ein: »Ich habe keine Sekunde daran gedacht . . . Ich habe gar nichts gelesen . . .«
»Möglich. Das weiß ich nicht. Aber eben dieser Schreibereien wegen, Herr Leblanc, wünsche ich den 150 ›Germanen‹ zu verkaufen – und zwar sofort. Der Preis bleibt der gewöhnliche.«
»Wie Sie wünschen, Meister,« antwortete Herr Leblanc.
»Wir pflegen sonst mit weniger Worten zu verhandeln,« sagte Claude Zoret.
Und er machte eine Bewegung mit der Hand, als beendige er eine Audienz. Aber Herr Leblanc schien diese Bewegung nicht gesehen zu haben. Denn Herr Leblanc blieb sitzen und sagte nach einer ganz kleinen Pause: »Dann benachrichtigen wir also unsere Agenten – überall. Es gibt doch fünf Weltteile, nicht wahr? Nach dem Erfolg in Melbourne kommt auch Australien noch hinzu. Lieber Meister, der ›Germane‹ wird innerhalb acht Tagen verkauft sein – obgleich wir jetzt den ›Sieger‹ als Konkurrenten haben . . .«
Der Meister schien nicht gleich zu begreifen. Dann trat jäh ein Ausdruck in seine Augen wie in die eines Radfahrers, der sich plötzlich rettungslos einem ungeahnten Abgrund gegenübersieht, während seine Gedanken stocken.
Der »Sieger«, der »Sieger« verkauft – – –
Mit einer gewaltigen Willensanstrengung streckte er seinen Arm, der schwer wie Blei war und gar nicht zu seinem Körper zu gehören schien, nach seiner Pfeife auf dem kleinen Tisch aus. Aber er konnte die Pfeife nicht halten, weil er sie doppelt sah, und sie fiel zur Erde.
Herr Leblanc, dessen treuherzige Augen plötzlich wie Stahl so blank geworden waren, wollte sich bücken, um sie aufzunehmen.
Aber der Meister hatte sie schon ergriffen.
»Danke,« sagte er und machte einige Schritte, bis er stehen blieb, das Gesicht der vorgezogenen Gardine zugewandt.
Herr Leblanc ließ, während er sprach, seine Stahlaugen unablässig auf seinem Rücken ruhen.
»Der ›Sieger‹,« sagte er, und er schien geschäftsmäßig 151 zu sprechen, während er trotzdem jedes Wort wie eine Kugel formte, »ist ja von dem Besitzer auf Sicht verkauft worden, um fünf Jahre in London magaziniert zu werden. Aber nicht wahr, lieber Meister, seien wir aufrichtig – was ist heutzutage eine Verpflichtung, nicht wahr . . . und was bedeuten fünf Jahre in einem Kontrakt für einen Mann, der Geld machen will und sich die augenblickliche Verlegenheit eines jungen Mannes zunutze macht? Herr Pinero hat den ›Sieger‹ gleich auf den Markt geworfen.«
Der Meister rührte sich nicht.
Der »Sieger«, der »Sieger«, sein Geschenk, verkauft.
Atemlos vor Schmerz hatte er die Lippen geöffnet. Dann preßte er die Zahnreihen wieder aufeinander, daß die Spitze der leeren Pfeife von seinen Bauernzähnen durchbissen wurde.
Der »Sieger« verkauft, der »Sieger«, sein Geschenk, von Michael verkauft.
Herr Leblanc fuhr fort: »Und die Herren wissen, daß sie nichts dabei riskieren. Gar nichts, nicht wahr? Jedenfalls nichts im Verhältnis zu ihrem Gewinn, das ist das Unglück. Die Herren brechen einen Kontrakt, und alles, was man ihnen dem Gesetz nach anhaben kann, ist, einen Prozeß gegen sie anzustrengen, einen gewöhnlichen Prozeß.«
Der Meister antwortete nicht, vielleicht hörte er nicht.
Herr Leblanc aber fuhr fort zu sprechen, während er sah, daß Claude Zorets Schultern unter seiner Kleidung seltsam zitterten, wie wohl ein Tier, das gepeitscht wird, unter der Haut zittert.
»Und nicht wahr, was wird durch einen Prozeß gewonnen? Das wissen die Herren. Er würde vielleicht – in einer Angelegenheit wie dieser –für uns selbst am unangenehmsten werden, nicht wahr? Und das wissen die Herren.«
Herr Leblanc hielt inne.
Die Stille, die eintrat, als er schwieg, weckte plötzlich 152 den Meister, und er machte eine Bewegung mit der Hand, als wolle er seinen eigenen Schmerz knebeln.
Nein, diesem Schuft gegenüber wollte er sich nicht verraten. Er wenigstens sollte nie sein wahres Gesicht sehen.
Aber trotzdem drehte er sich noch nicht um. Er fürchtete seine Blässe und war seiner Stimme nicht sicher. Und er wußte nicht, ob der Mann weitersprechen würde. Aber er sprach nicht. Nein, weiter war es wohl nichts.
Claude Zoret ballte die Hände, als wolle er sich selbst in seinen Fäusten tragen, und plötzlich wandte er sich um, und sein Gesicht war ruhig.
»Wer hat den ›Sieger‹ zuletzt an der Hand gehabt?« fragte er, und seine Stimme klang, als spräche er mit seinem Stallknecht.
»Lieber Meister, Herr George Pinero hat ihn gehabt – die ganze Zeit über.«
Herr Leblanc verwandte seine funkelnden Metallaugen keine Sekunde vom Meister.
»Darum, nicht wahr,« sagte er, »ist der ›Sieger‹ auch wohl dem Tadel in Pineros Zeitschrift entgangen.«
Und als wolle er Herrn Pinero höhnen, zitierte Herr Leblanc, was er nicht gelesen hatte.
»Darum ist wohl der ›Sieger‹ das einzige geniale Werk eines bedeutenden Talents? Lieber Meister, so handelt – ein Engländer.«
Einen Augenblick starrte Claude Zoret in die leere Luft.
Dann begriff er.
Endlich, endlich verstand er. (Und er hob die Hand wie zum Schlage und wußte nicht, ob er ihn gegen den richten wollte, der ihn verraten hatte, oder gegen den, der den Verrat hinterbrachte.) Also Michael, Michael hatte seine geheimsten Selbstzweifel über das Meer getragen und sie in einer fremden Sprache verraten – als Zugabe zu seinem Handel.
»Ja,« sagte Herr Leblanc, als der Meister nicht sprach, 153 treuherzig, als setze er seinen Gedankengang von vorhin fort, »es gibt Verbrechen, die nicht bestraft werden können.«
Die Lippen des Meisters waren weiß, als hätte sein Herz plötzlich mit einem Zuge alles Blut seines Riesenkörpers aufgesogen.
Plötzlich aber sagte er und sprach auf einmal kurz und klar wie ein Feldherr, der in der Gefahr einen Adjutanten ausfragt und seine Befehle erteilt: »Wo ist der ›Sieger‹ jetzt?«
»Herr Pinero hat ihn nach Paris gebracht.«
»Wo ist er?«
»Bei Herrn Petit.«
»In der Rue Blanche?«
»Ja.«
»Gut.«
Claude Zoret machte zwei Schritte.
»Dann kaufen Sie ihn zurück.«
»Zurück?«
Herrn Leblancs Augen hatten ihre stahlartige Farbe verloren, und sein Blick glitt zur Seite, während er plötzlich von seinem Stuhl aufstand. Der Meister setzte sich an seinen Schreibtisch.
»Sie haben recht,« sagte er, »ich hatte nicht bedacht, daß der ›Sieger‹ am Markt ist. Und der ›Sieger‹ und der ›Germane‹ dürfen nicht gleichzeitig ausgeboten werden.«
Er legte die flache Hand so fest auf den grünen Tisch, als wäre sein krampfhaft gestreckter Arm ein Pfeiler, zur Stütze seines eigenen Körpers errichtet.
»Ich will,« sagte er, »daß der ›Germane‹ zuerst verkauft wird, und der Preis soll nicht gedrückt werden.«
Herr Leblanc murmelte eine Antwort.
»Darum kaufen wir den ›Sieger‹ zurück. Sie kaufen ihn für einen fremden Namen, und zwar sofort.«
Mit seiner schweren Hand stellte Claude Zoret eine Anweisung aus.
»Der Preis ist gleichgültig.« 154
»Bitte,« sagte er und schob die Anweisung über den Tisch.
Herr Leblanc nahm sie mit seltsamem, nervösem oder unsicherem Zucken seiner Finger. »Natürlich,« sagte er ganz ohne Sinn.
Der Meister fragte: »Wann kann der Handel abgeschlossen sein?«
Herr Leblanc, der vor dem Tisch stand, mit auf die Seite gelegtem Kopf wie ein Kontorist, der wartet, sagte: »In zwei Stunden.«
»Gut. Dann lassen Sie das Bild hierher bringen.«
»Ja, Meister.«
»Adieu.«
»Adieu,« sagte Herr Leblanc, der sich gleichsam zweimal vor der Tür umdrehte. »Adieu.«
Herr Leblanc ging hinaus, und die Tür wurde geschlossen.
Als er allein war, stand der Meister auf. Aber plötzlich fiel er vornüber wie ein entwurzelter Baum, zweimal schwankend, bevor er über den Tisch fiel. Aber, sich an der Tischkante festhaltend, bezwang er sich und richtete sich von neuem auf.
Er schleppte sich durch das Zimmer, und hinten in einer Ecke setzte er sich nieder, direkt auf den Fußboden, mit ausgestreckten Beinen, so wie seine Bauernväter auf der nackten Erde gesessen hatten.
Sein Kopf fiel auf seine Brust, und seine Schultern hingen schlaff herab. Die Hände lagen so matt im Schoß, als würden sie nie mehr ein Werkzeug umfassen. Nur sein Herz fühlte er, das wie ein blutrotes Eisen in seiner Brust brannte.
»Meister, Meister.«
Der Majordomus klopfte an die verschlossene Tür.
Der Meister erhob sich und öffnete Jacques die Tür, der mit verstörtem Gesicht auf der Schwelle stand.
»Was gibt's?« fragte der Meister. 155
Der Majordomus stammelte.
»Herr Leblanc ist wieder da . . . Herr Leblanc – – – mit einem Bild.«
»Es ist gut.«
Der Meister stand hochaufgerichtet mitten im Zimmer: »François soll es sofort zu Herrn Michael hinüberschaffen. Und in einer halben Stunde soll angespannt werden.«
»Ja, Meister,« murmelte der Majordomus.
»Und mach ein Halbbad zurecht,« sagte der Meister und wandte sich ab.
Jacques' zitternde Hände fanden den Türgriff nicht gleich, als er hinausging.
Der Meister blieb einen Augenblick stehen, und mit seinen Augen und den schlaffen Schultern machte er den Eindruck eines Wanderers, der in einer neuen und unbekannten Gegend nicht mehr weiß, wohin er seine Schritte lenken soll. Dann nahm er die Zeitschrift und legte sie fort, ohne einen Blick darauf zu werfen, mit einer wunderlichen Bewegung, als verbrenne er sich die großen Hände an dem Heft. Er klappte das Tintenfaß zu und legte die Feder darauf, wie ein Mensch, der aufräumt, oder wie einer, der mit etwas abgeschlossen hat, das nie wiederkehrt.
Aber plötzlich sah er Michael wieder vor sich – wie er so manchen Abend in den ersten Jahren lesend mit gesenktem Kopf an diesem Tisch unter der Lampe gesessen hatte, Stunde um Stunde in derselben Stellung.
»Michael,« hatte er gerufen.
Michael hörte kaum: »Ja.«
»Du liest und liest.«
»Ja.«
»Aber wozu?« hatte er wieder gefragt.
»Ja, ich muß doch alles wissen – alles das, wovon ihr sprecht,« hatte er gesagt, und er hatte weitergelesen, die Hände in den Haaren vergraben; wie ein Knabe, der »Die drei Musketiere« liest, hatte er gesessen und gelesen. 156
Des Meisters Ausdruck veränderte sich.
»Er war eigentlich fleißig gewesen während der ersten Jahre und hatte viel gelernt . . . viel auf vielen Gebieten. Arbeitskraft war in ihm, das hatte Monthieu auch immer gesagt.«
Der Meister atmete tief auf. Kraft, Kraft war in ihm. Aber vielleicht arbeitete er jetzt, vielleicht malte er. Er mußte erst sehen, was er malte.
Der Meister stützte sich gegen den Rand des Tisches, als sei er müde von einer langen Wanderung.
Er setzte sich in seinen Stuhl, und während die Arme schlaff herabhingen, dachte er wieder an die fernen Zeiten: als Michael hier gesessen und seine ganze »Berühmtheit« aus allen Zeitungen der Welt ausgeschnitten und mit Schere und Kleister gewirtschaftet und vorgelesen und seine ewigen »Scrap Books« geordnet hatte.
Wo mochten die eigentlich sein? Sie standen sicher noch hier – irgendwo auf den Regalen. Rote Einbände hatten sie, daran erinnerte er sich.
Claude Zoret erhob sich und trat zu den Bücherbrettern: Richtig, da standen sie, eine ganze Reihe. Elf Stück . . . Der Meister nahm einen Band heraus und schlug das Buch auf: Hm, das waren die Kritiken von jenem Sommer, als er in London ausgestellt hatte . . . Ja, wie hatte Michael sich damals gefreut.
Der Meister begann zu lesen. Er hatte selbst nie all diese Lobgesänge gelesen.
Aber es waren doch Leute darunter (Claude Zoret hatte sich gesetzt und fuhr fort zu lesen), Leute, die begriffen, Menschen, die Verständnis hatten für das, worüber sie schrieben, Leute, die erkannten, wer er eigentlich sei . . . Männer, die verstanden, auf was es ankam . . .
Claude Zoret fuhr fort, die Blätter des Buches umzuschlagen, Seite um Seite, während Tränen in die seltsam erloschenen Greisenaugen traten, die auf dem Buche 157 ruhten: »Claude Zoret steht in der heutigen Kunst stolz und isoliert da. Im Kampf um die große Schönheit hat er nur einen einzigen Waffengefährten: sein Genie.«
Die Tränen rannen über die gelben Backen des Meisters wie Tau über ein welkes Blatt, während er weiterlas. Plötzlich aber stand er auf und schob das Buch beiseite. Jacques kam und meldete, das Bad sei fertig.
»Danke,« sagte der Meister mit abgewandtem Gesicht, und als Jacques gegangen war, stellte er das Buch wieder an seinen Platz. Er ging ins Schlafzimmer, entkleidete sich und öffnete die Tür zum Baderaum. Er stieg die drei Stufen hinab und legte sich ausgestreckt in das laue Wasser der marmornen Wanne. Es war, als besänftige das Bad einen Schmerz in seinem Körper, oder als löse es nur eine Müdigkeit, die ihm in allen Gliedern saß.
Man müßte immer malen – malen und nichts als malen, bis der Tag käme, an dem der Pinsel der toten Hand entfiele.
Der Meister hob die Augen, und sie fielen auf die Marmorfriese des Badezimmers. Wie lange war es her, seit er sie beachtet hatte: die badenden Römerkörper waren gut. Dubois hätte sich immer an den Lehm halten sollen. Die Farbe erstarb ihm stets gewissermaßen unter dem Pinsel.
Claude Zoret starrte weiter zu Paul Dubois' Friesen hinauf.
Diese Römer hatten also nur die Adern durchschnitten, mit einem Messer durchschnitten, und das Blut war in das laue Wasser geflossen. Herausgeronnen. Ganz langsam herausgeronnen.
Der Meister schloß die Augen.
Sein Riesenkörper glich dem eines schlummernden Flußgottes unter dem Wasserspiegel.
Und das Blut hatte das Wasser hellrot gefärbt und dunkelrot und blutrot – ganz langsam, nach und nach. 158
Claude Zoret schlug die Augen auf. Es war, als freue sein Malerauge sich an der zunehmenden Farbe, der seltsamen und herrlichen Farbe des Blutes.
Aber Michaels Arbeit mußte er sehen. Jetzt konnte er wohl die ganze Frau malen.
Der Meister erhob sich aus dem Wasser, und vor dem Spiegel trocknete er seinen Körper. Er rieb die starken Glieder tüchtig mit den rauhen, warmen Decken, und das Blut zirkulierte rascher durch seine Adern. Nein, er wollte ihnen zeigen, daß er nicht tot war, sondern daß er lebte. Es war noch eine Wand im Luxembourg zu vergeben, mochte Herr David allein in seinem Louvre hängen bleiben.
Er kleidete sich an und ging ins Wohnzimmer. Auf der goldenen Treppe zum Atelier blieb er stehen und betrachtete den riesigen Saal, als wolle er sein Eigentum messen und abschätzen, wie der Bauer sein Feld mit den zahlreichen Saatfurchen überschaut und den Acker, den er bebaut und gepflügt hat.
Er wollte weitergehen, als Jules den Wagen meldete.
»Gut,« sagte er und ging durch das Vestibül an dem Majordomus vorbei, in dessen Gesicht alle Falten zitterten, und er nickte seinem Kutscher zu, bevor er in den Wagen stieg.
Er fuhr durch den Hof der Tuilerien und über die Brücke. Er grüßte ruhig wieder, wenn er gegrüßt wurde. Er rief am Kai sein lautes »Guten Tag« einem Buchhöker zu, dem er gelegentlich alte Stiche abkaufte, und rollte hochaufgerichtet in seinem Wagen weiter.
Als er aber das Gitter vor Michaels Haus sah, erbebte er am ganzen Leibe, so daß er sich mit einem Griff auf den Rand des Wagens stützen mußte, als er ausstieg.
Er ging durch den Garten und klingelte an dem verschlossenen Haus.
Der junge Diener stürzte herbei, ganz weiß in seinem 159 Lakaiengesicht und so verwirrt, daß er kaum die Tür zu öffnen vermochte.
»Ja, ich bin es,« sagte der Meister.
Er ging ins Vestibül, wo er den ›Sieger‹ an die Wand gelehnt stehen sah, in ein grünes Tuch gehüllt, und eine Blutwelle schoß ihm ins Gesicht.
Der Diener, der seine Knie zittern fühlte, wollte die Treppe hinauflaufen.
»Du bleibst hier,« sagte der Meister und wandte ihm das Gesicht zu. Die Adern an seiner Stirn waren wie Schriftzeichen geschwollen.
Und der Diener blieb stehen und lehnte sich an die Wand, während der Meister an ihm vorbei zu den Zimmern hinaufstieg.
Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer und trat ein. Er schaute von Wand zu Wand, als suche er doch auf den leeren Flächen das Bild, von dem er doch wußte, daß es nicht da sei. Er betrachtete das Zimmer des Schahs und er hob die schweren Goldstickereien in die Höhe, als wolle er sie in seiner Faust wägen. Eine Sekunde zögerte er vor der Wendeltreppe. Seine starren Augen fielen auf die tanzenden Amoretten, die ihr Spiel mit den zierlichen Fackeln trieben. Dann stieg er hinauf.
Er riß die Tür zum Atelier mit einem Ruck auf und blieb eine Sekunde auf der Schwelle des blitzblanken, schmucken Raumes stehen.
Dann ging er hinein, und ruhig wie ein Taxator vor der Auktion prüfte er die Skizzen an den Wänden, Stück für Stück, während seine Schulter hin und wieder gegen die Mauer sank, prüfte alle die Skizzen, die er kannte.
Es waren keine andern da.
Keine.
Aber er suchte weiter.
An den Wänden, hinter den Decken, längs der normannischen Kisten suchte er nach einer Studie, nach einer 160 Skizze von Poissy, von St. Germain, von Versailles. Nach einer einzigen Studie nur von all den Orten, wo Michael seiner Aussage nach gemalt hatte.
Aber es fand sich keine.
Also hatte Michael gelogen.
Wie ein gestürzter Ritter sich in seiner Rüstung vorwärts schleppt, ging Claude Zoret langsam zu den drei Staffeleien und blieb vor der halbleeren Leinwand stehen, auf der nichts gearbeitet war.
Plötzlich aber riß er die trockene Palette von ihrem Nagel herab und wühlte mit seinem Daumen in dem Farbenstaub, als wühle er mit den Fingern in einer offenen Wunde, die seinem eigenen Körper weh tat.
Plötzlich griff er mit der Hand nach der Armlehne des Kardinalstuhles und setzte sich nieder. Seine rechte Hand lag offen auf seinem Knie, als wäre ihr ein Stab entglitten.
Er hob den gesenkten Kopf und überschaute den Raum wie eine Brandstätte, während abgebrochene Klagen sich aus seiner Brust losrangen, wie das Winseln eines Hundes.
Dann erhob er sich, und seine stieren Augen betrachteten den Stuhl, auf dem er gesessen.
Plötzlich aber sah er, dort, in dem goldenen Schnitzwerk der Rückenlehne, ein paar lange, blonde Haare, und in einer Wut, die ihn wie eine Woge überwältigte, während bäuerliche Wirtshausflüche sich aus seiner zusammengeschnürten Kehle hervorpreßten, riß er die Haare heraus, eines nach dem anderen, und bedeckte sie, eines nach dem anderen mit den Wirtshauslästerungen seiner Bauernheimat.
Und von einer ziellosen Raserei übermannt, stürzte er sich plötzlich auf den Florentiner, den ewigen Sänger, und packte ihn an der Kehle, als wolle er seinen singenden Bronzehals würgen.
Plötzlich aber durch die Berührung seiner Hand mit der 161 kalten Bronze zur Besinnung gebracht, richtete er sich auf und ging weiter.
Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer, und er sah das seidengedeckte Bett und im Ankleidezimmer Prinzessin Zamikofs Unterröcke, die an einem Ständer hingen, und er klingelte.
Der Diener kam herein, mit seltsam geducktem Kopf, als erwarte er einen Schlag ins Gesicht.
»Bring den ›Sieger‹ herauf,« sagte der Meister, der am Fußende von Michaels Bett stand.
»Ja, Meister.«
»Der Kutscher soll helfen.«
»Ja, Meister.«
»Und bring eine Leiter.«
»Ja, Meister,« antwortete der Lakai, vor dessen Augen es flimmerte.
Der Meister blieb wartend auf derselben Stelle stehen.
Sie kamen herein, das gewaltige Bild schleppend.
»Jetzt die Leiter,« sagte der Meister, der noch an derselben Stelle stand.
Sie brachten die Leiter mit zitternden Armen.
»Dort soll es hängen,« sagte der Meister und deutete mit erhobener Hand auf die Wand über dem Bett.
»Habt ihr Nägel?«
»Ja, Meister.«
»Und einen Hammer?«
»Ja, Meister.«
»Gut.«
Der Meister stand noch immer auf derselben Stelle.
Der Diener stieg die Leiter hinauf. Aber der Hammer in seiner zitternden Hand traf den Nagel nicht.
Der Meister stand auf derselben Stelle.
»Was machst du mit dem Hammer?« sagte er, »schlag doch zu.«
Der Diener schlug zu. 162
Er war in der Mauer auf Holz gestoßen, das hohl klang, als schlüge er auf einen Deckel.
»Schlag zu,« sagte der Meister.
»Ja, Meister,« antwortete der Diener, und der Hammer fiel wieder nebenbei.
»Laß mich selbst,« sagte der Meister, »gib mir den Hammer.«
Er stieg die Leiter hinauf und schlug den Nagel ein, als schlüge er ihn in einen Balken.
»So,« sagte er und stieg hinunter. »Hängt das Bild auf.«
Die beiden hängten es auf und stiegen wieder hinunter, während der Meister unbeweglich am Fußende des Bettes wartete.
»Gut,« sagte er, »jetzt hängt es an seinem Platz.«
Und zum Kutscher gewandt, sagte er: »Wir wollen nach Hause, Denis.«
Der Meister drehte sich um und ging durch das Haus zu seinem Wagen.
Wieder fuhr er über den Kai, hochaufgerichtet auf seinem Sitz, die Arme gegen den Rand des Wagens gestemmt. Die Schüler, die aus den staatlichen Kunstschulen kamen, grüßten ihn und entblößten ihre Köpfe.
So erreichte er die Brücke, und Claude Zoret wandte den Kopf: in einem vorüberfahrenden Wagen sah er, hinter dem Fenster, wenige Meter von sich entfernt, Herrn de Monthieu über Frau Adelsskjold gebeugt, ihre Hand in der seinen.
Im ersten Moment begriff er nicht, er, der menschliches Gerede hörte und doch nicht hörte.
Dann hatte er sich erhoben: aufrecht in seinem Wagen stehend, die Hände geballt, starrte er Herrn de Monthieus Wagen nach, mit geöffneten Lippen, als wolle er einen Fluch ausstoßen.
Und während er sich wieder setzte, sprach er ins Blaue hinein, als müsse sein dumpfer, unerträglicher Schmerz 163 sich Luft machen und einen Gegenstand haben, an dem er sich auslassen konnte, sprach so laut, daß der Lärm des Wagens seine Stimme kaum übertönte – eine Flut von Schmähworten gegen Monthieu und seine Geliebte, seine Buhlerin, ausstoßend.
Er fuhr durch den Hof der Tuilerien, und plötzlich wurde er wieder ruhig, als ob die Steinmassen der Paläste ihn bezwungen und zur Ruhe gebracht hätten.
Er kam nach Hause, und im Vestibül grüßte er den Majordomus mit einem Nicken.
»Laß anrichten,« sagte er und ging hinauf.
Der Majordomus meldete, das Mittagessen warte, und der Meister setzte sich zu Tisch. Der Majordomus servierte selbst, trug die Gerichte auf und wieder hinaus. Der Meister aß wie einer, der vierundzwanzig Stunden lang gehungert hat.
»Bring mehr Wein,« sagte er.
»Ja, Meister.«
Der Majordomus brachte noch eine Flasche, und der Meister schenkte sich ein und leerte das Glas wie jemand, der den Wein nicht schmecken, sondern sich nur mit Wein füllen will – während der Majordomus aus einer Ecke scheu sein Gesicht beobachtete.
Der Meister stand auf.
Er stieg langsam die Treppe zum Atelier hinauf und noch höher, bis er die Tür zum Balkon öffnete.
Mit erhobenem Kopf schaute er auf den Tuilerienpark hinunter. Statuen, Bäume und Laternen wurden von den schweren Dünsten verschleiert, die nach dem glühenden Tage der brennenden Erde entstiegen und sich mit des Himmels Brand vermischten, der grauschwer herniedersank und auf dem Dach des Louvres lagerte.
Der Meister hatte die Arme gekreuzt.
Er betrachtete die Konturen der Steinkolosse, die in dem Dämmer der Hitze zitterten, so daß sie fast verwischt 164 wurden, während die Linien des Louvres in der Glutluft zu wanken schienen.
Der Meister stand noch immer unbeweglich. Sein ergrauender Bart schimmerte durch das Halbdunkel.
Dann ging er hinein.
Auf der Treppe aber griff er vor sich durch die Luft, als wolle er plötzlich vornüber fallen. Es war, als ob alle Sehnen und alle Gelenke seiner Glieder schmerzten und weh taten. Er schleppte sich seine eigenen Treppen hinunter, als trüge er an einer Bürde. Und sein Gehirn war leer, als ob alle Gedanken es verlassen hätten, alle – außer dem einen, daß er dies vergessen wollte. Für sich selbst wollte er gestorben sein und es vergessen!
Er ging in sein Schlafzimmer und entkleidete sich. Er goß den weißen Schlafsaft in ein Glas und trank es aus. Aber der Schmerz, der sein Herz verbrannte, schlug in Blasen nach außen und bedeckte seinen Riesenkörper wie mit Aussatz und quälte ihn, als würde er mit Nadeln gestochen.
Halb im Schlaf stand er wieder auf und füllte das Glas von neuem und leerte es mit einem Zuge wie ein Durstender.
Dann sank er zurück.
Der Majordomus kam über den Teppich herangeschlichen, und dicht neben dem Bett stehend, betrachtete er den Meister.
Das Gesicht war ruhig.
Ein leichter Schaum stand vor den halboffenen Lippen.
Der Majordomus ging zurück. Er wachte auf der Schlafbank, bis der Morgen kam.
Der Meister lag seit acht Tagen im Bett.
Er wachte auf und verlangte zu trinken, er schlummerte und er trank wieder.
Schleim trat ihm aus der stöhnenden Brust auf den geöffneten Mund, und der rinnende Schweiß lag unter ihm wie ein See. 165
Der Majordomus saß an seinem Bett.
Wenn der Meister aufwachte, brachte er ihm Speise, die der Meister verschlang, gierig und rasch, als hätte er den Gebrauch von Messer und Gabel verlernt.
Dann legte er sich wieder nieder. Der ergrauende Bart lag ungekämmt auf den befleckten Kissen, und die weit aufgerissenen Augen in dem geschwollenen Gesicht schienen von Glas, hinter dem das Licht erloschen war.
Wenn der Majordomus sprach, antwortete der Meister nicht, und in seine Augen kam kein Leben – bis er wieder einschlief.
Kein Mensch kam und ging auf den öden Treppen. Jules erhob sich im Vestibül von seinem Stuhl, und mit einem »Der Meister ist verreist« nahm er die Karten der Besucher entgegen.
Und es wurde wieder still im Hause, in dem der Majordomus alle Türen geschlossen hielt.
Nur Charles Schwitt ging unbehindert durch das Vestibül.
Der Majordomus kam ins Wohnzimmer, nachdem er alle Türen von Zimmer zu Zimmer geschlossen hatte.
»Wie geht es?« fragte Charles Schwitt.
Der Majordomus antwortete: »Ebenso.«
Charles Schwitt fragte, während seine Lippen sich kräuselten vor Ekel über ein Laster, das seine Rasse nicht kennt: »Wie lange kann es noch dauern?«
»Man weiß es nicht,« antwortete der Majordomus.
Charles Schwitt hob plötzlich den Blick zu Jacques' unbeweglichem Gesicht: »Aber wodurch kam es?« fragte er.
Der Majordomus verzog keine Miene: »Der Meister war wohl müde,« sagte er.
Aber indem er sich zum Gehen wandte, fragte Charles Schwitt, als wolle er den Befragten überrumpeln: »Wo ist Michael?«
Der Majordomus antwortete wie vorhin: »Herr Michael ist auf dem Lande.« 166
»Ach so,« sagte Schwitt und ging.
Der Majordomus kehrte vorsichtig durch alle Türen zurück.
Der Meister stöhnte im Schlaf, während ihm der Schweiß über die Backen und von der Stirn rann.
In der Nacht erwachte Jacques.
Der Meister wälzte sich in seinem Bett: »Jacques.«
»Ja, Meister.«
»Jacques, ich kann nicht schlafen.«
»Meister, Sie haben so viel geschlafen,« sagte Jacques.
Claude Zoret antwortete nicht.
Kurz darauf aber sagte er: »Leg dich jetzt nieder« – er nahm des Majordomus Hand –, »du hast wohl viel gewacht.«
Ein Augenblick verging.
Dann sagte er: »Welcher Tag ist heut?«
»Sonnabend, Meister.«
Ein Beben ging über das verschwollene, maskenartige Gesicht des Meisters, aber er sagte nur: »Schlafe jetzt nur.«
In seinem Bett ausgestreckt, hörte er bis zum hellen Morgen die tiefen Atemzüge des Majordomus.
Um neun klingelte er mit einer Glocke, die neben seinem Bett stand, um Jacques zu wecken. Der Diener fuhr aus dem Schlaf auf und sagte erschreckt, während sein Blick die Gläser auf des Meisters Tisch streifte: »Sie wecken mich so spät, Meister.«
»Du solltest doch schlafen,« sagte der Meister und rührte sich nicht.
Jacques ging und brachte ihm Zeitungen, und Claude Zoret faltete sie auseinander. Er versuchte zu lesen. Aber es war, als ob seine Gedanken die Buchstaben nicht zusammenhalten konnten oder als ob seine Augen ihre Sehkraft verloren hätten.
»Hilf mir beim Aufstehen,« sagte er.
Jacques half ihm einige Kleidungsstücke anziehen, und 167 mit zitternden Knien, die ihn kaum zu tragen vermochten, ging der Meister ins Ankleidezimmer. Er betrachtete sein geschwollenes Gesicht im Spiegel, die Säcke unter den erloschenen Augen, und er wusch sich, doch nur die Hände. Noch scheute er Reinigung und Wasser.
Er ging hinaus und wanderte ruhelos durch das ganze Haus. Die Kleider, die viel zu weit schienen, schlotterten um den zusammengefallenen Körper. Der Durst plagte ihn, und es war keine Stelle am Körper, die ihm nicht weh tat.
»Ich will zu Bett,« sagte er, und der Majordomus entkleidete ihn, ehe er frostschauernd unter die Decke kroch.
Den ganzen langen Tag hindurch ging er zu Bett, stand auf, legte sich von neuem nieder und stand wieder auf.
Vier Tage und vier Nächte hindurch schlief er nicht. Er starrte die langen Nächte, auf dem Rücken liegend, schlaflos zum Baldachin des Bettes hinauf, während seine Gedanken langsam zurückkehrten und das Gehirn seine Denkkraft zurückerlangte.
Als Jacques ihm am fünften Abend den Schlafsaft reichte, griffen die Hände des Meisters zitternd um das Glas: »Jetzt, Jacques,« sagte er, »bete zu deinen Heiligen, denn wenn ich jetzt nicht schlafe, verliert Claude Zoret seinen Verstand.«
Aber diese Nacht schlief er, einen qualvollen Schlaf, zwölf Stunden lang. Sein Körper war wie zerschlagen, als er aufwachte, aber sein Kopf war klar.
»Mach das Bad zurecht,« sagte er, und während der Majordomus das Bad bereitete, las er die Zeitungen, aufrecht im Bett sitzend.
Er ging ins Badezimmer und legte sich ins Bassin. Als er wieder aufgestanden war, setzte er sich vor den Spiegel, und mit müden Händen, von einem brennenden Schmerz erfüllt, begann er noch einmal wieder Claude Zorets Maske herzustellen. 168
Er kam fertig angezogen heraus und ging in sein Atelier. Er blätterte in alten Kupferstichen, während die Stunden verstrichen.
Beim Mittagessen fragte er: »Ist Charles Schwitt heut nicht hier gewesen?«
»Doch,« antwortete der Majordomus.
»Aber,« sagte der Meister, »du hast ihn nicht hereingelassen.«
Der Majordomus antwortete nicht.
»Hm,« sagte der Meister, »es ist vielleicht besser so. Was er nicht gesehen hat, kann er nicht niederschreiben.«
Nachts schlief er nur wenig. Er lag bis zum Morgen wach, mit strahlenden Augen. Wie Kampfwagen rückten die Gedanken wieder in sein mächtiges Gehirn ein. Er klingelte frühzeitig.
»Ich will malen,« sagte er und ging zum Bade.
Jacques war ihm behilflich. Plötzlich schlug der Meister ihm leuchtenden Auges auf die Schulter.
»Jacques,« sagte er, »vielleicht werde ich doch noch ein Maler.«
»Das sind Sie doch, Meister,« sagte Jacques.
»Nein, alter Jacques, noch nicht.«
Claude Zoret wollte gehen. Aber plötzlich wandte er sich um und ergriff die Hände des Majordomus.
»Danke, mein Freund,« sagte er und ging.
Und hochaufgerichtet, so elastisch wie nur je einer seiner Bauernvorfahren an einem Märztage zur ersten Feldarbeit geschritten war, ging er durch sein Haus in seine Werkstatt hinauf.
Auf der untersten Stufe der Treppe stehend, hörte der lauschende Majordomus, daß der Meister bereits seine Leinwand spannte.
Mittags kam er herunter. Er sprach nicht, während Jules die Speisen auftrug. 169
»Mach in der Bibliothek Licht,« sagte er, als er den Stuhl zurückschob.
Der Majordomus sah ihn durch die Tür in der großen Bibel lesen. So saß er bis tief in die Nacht hinein. Sein mächtiger Bart fiel über die Blätter des Buches Jesaias.
Am Morgen fragte Jacques: »Soll jemand vorgelassen werden, Meister?«
»Nein, niemand. Ich will Ruhe haben,« antwortete der Meister.
Der Majordomus öffnete den Mund zu einer Frage. Aber er schwieg.
Der Meister wandte den Kopf und fragte unvermittelt: »Ist Michael auf dem Lande?«
Es war das erstemal, daß er seinen Namen nannte.
Der Majordomus antwortete leise: »Ich weiß es nicht.«
Der Meister ging zur Tür.
»Für Herrn Michael soll gedeckt werden,« sagte er und ging in seine Werkstatt.
Die Tage vergingen und wurden zu Wochen. Der Meister kam und ging zu seinen einsamen Mahlzeiten. Sein Gesicht war zerfurcht wie ein Acker, aber seine Schultern waren straff. Die Schiebetüren des Ateliers waren geschlossen, und niemand durfte sie öffnen.
Der Majordomus schlich sich bis zur höchsten Stufe der Treppe hinauf. Des Meisters Schritte ertönten drinnen. Und jetzt sprach er – sprach laut.
Der Majordomus ging leise die letzte Stufe hinauf.
Ja, er sprach, schrie laut.
Angstvoll beugte Jacques sein Ohr zur Spalte der Schiebetür nieder, so daß er hören konnte: Jetzt schwieg er. Jetzt ging er drinnen auf und ab. Jetzt sprach er wieder.
Der Kopf des Majordomus fiel gegen die Tür, ohne daß er es merkte, während die Stimme des Meisters drinnen von neuem einsetzte. So hatte der Meister nie gesprochen, so nie. 170
»Der Tag müsse verloren sein, darinnen ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: ›Es ist ein Männlein empfangen.‹ Derselbe Tag müsse finster sein, und Gott von oben herab müsse nicht nach ihm fragen, kein Glanz müsse über ihm scheinen. Finsternis und Dunkel müssen ihn überwältigen, und dicke Wolken müssen über ihm bleiben.«
Der Meister sprach lauter, immer lauter, als wolle er seine Hand, sein Auge und sein Hirn unter die mächtigen Klagen der Bibel zwingen und seine Seele und das Gewebe seiner Nerven und sein Wesen mit dem Jammer des Testamentes füllen, so daß er sie sah, die letzte Verzweiflung mit seinen eigenen Augen sah: »Warum bin ich nicht gestorben vom Mutterleibe an? Warum bin ich nicht umgekommen, da ich aus dem Leibe kam? Warum bin ich mit Brüsten gesäuget? So läge ich doch nun und wäre still, schliefe und hätte Ruhe.«
Der Majordomus hielt sich am Geländer der Treppe fest. Und während er die Treppe hinunterstieg und zweimal förmlich in die Knie sank, hörte er noch immer des Meisters Stimme laut durch die verschlossene Tür dringen: »Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen? Denn wenn ich essen soll, muß ich seufzen, und mein Heulen fähret heraus wie Wasser.«
Der Majordomus lauschte noch, gegen das Geländer gestützt, auf der untersten Stufe. Plötzlich aber lief er, lief durch das Wohnzimmer und zur Tür hinaus, ins Vestibül hinunter, wo Jules saß.
»Was ist los, Alter?« fragte Jules, der sich erhob.
Der Majordomus antwortete nicht. Er biß die falschen Zahnreihen aufeinander, während er zitternd in einen Stuhl sank.
Es klingelte an der Haustür.
Es war Charles Schwitt, und der Majordomus erhob sich, als er ins Vestibül trat.
»Wie geht es?« fragte er. 171
»Der Meister arbeitet,« antwortete Jacques, aber seine Stimme zitterte.
»Woran?« fragte Schwitt.
»Ich weiß es nicht.«
Schwitt bedachte sich einen Augenblick.
»Weshalb sehen Sie morgens nicht nach?«
»Die Tür ist verschlossen,« antwortete Jacques, und während er wieder zu zittern anfing – aus Angst vor dem, was er immer fürchtete und nie zu sagen wagte – fügte er hinzu: »Aber er spricht – immerfort.«
»Spricht?« sagte Schwitt. »Was spricht er?«
»Ich weiß nicht,« antwortete Jacques. »Aber . . . aber« (und er sagte es ganz leise) »ich glaube, es ist aus der Bibel.«
Über Charles Schwitts Gesicht glitt ein Aufleuchten.
»Das kann sein,« sagte er; und plötzlich fügte er hinzu: »Wir wollen hinaufgehen.«
Sie gingen beide die Treppe hinauf, unwillkürlich so leise, als schliefe jemand, der nicht geweckt werden dürfe. Und der Majordomus öffnete die Wohnstubentür: »Hören Sie,« sagte er.
»Ja.«
»Er spricht wieder,« flüsterte Jacques, der auf der Schwelle stehen blieb, während sein runzeliges Gesicht aussah, als sei es mit Kalk übergossen.
Die Schiebetüren waren zurückgeschoben, und nur die Portiere verschloß das Atelier, wo die Stimme des Meisters beständig dieselben Worte wiederholte: »Der Tag müsse verloren sein, darinnen ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: ›Es ist ein Männlein empfangen!‹ Ihre Sterne müssen finster sein in ihrer Dämmerung; sie hoffe auf das Licht und komme nicht, und müsse nicht sehen die Augenbrauen der Morgenröte.«
»Was liest er?« flüsterte Jacques, der sich an den Türrahmen lehnte.
Charles Schwitt antwortete nicht. 172
Der Schweiß rann ihm über die Stirn, als wäre er selbst es, der sich der Anstrengung des Meisters unterwerfe.
»Was liest er?« flüsterte Jacques wieder und reckte die Hände Charles Schwitt entgegen.
Der Meister sprach von neuem, aber es war, als preßten sich die Worte nur mit Mühe aus seiner angestrengten Brust hervor: »So läge ich doch nun und wäre stille, schliefe und hätte Ruhe.«
Charles Schwitt hatte sich nicht gerührt.
Der Meister schwieg, und sie hörten nur seine Schritte im Zimmer und das Wasser, das langsam in den goldenen Bassins plätscherte.
Plötzlich schlug Claude Zoret die Portiere zur Seite und stand auf der Schwelle.
Die Furchen auf seinen Wangen waren wie mit dem Messer hineingeschnitten.
»Bist du hier?« sagte er zu Charles Schwitt, und als ob er ihn schon wieder vergessen hätte, sagte er, zum Majordomus gewandt, und zeigte auf die Bassins: »Stell das Wasser ab.«
Der Majordomus ging durch das Zimmer und stellte mit seinen zitternden Händen die Springbrunnen ab.
»Und laß anspannen,« sagte der Meister, »ich will ausfahren.«
Claude Zoret kehrte in seine Werkstatt zurück.
Herr Schwitt folgte dem Majordomus.
»Jetzt wird er Ruhe haben,« sagte Charles Schwitt, und Jacques erkannte seine Stimme fast nicht wieder.
Als Herr Schwitt die Treppe im Vestibül hinunterstieg, kam Herr Adelsskjold ihm entgegen. Er sah ganz sonderbar aus, als säße sein blonder Bart ihm lose im Gesicht.
Charles Schwitt sah ihn an. »Sind Sie es?« sagte er. »Wo sind Sie denn so lange gewesen?«
»In Finnland,« antwortete Adelsskjold, der unausgesetzt mit demselben flackernden Blick vor sich hinstarrte. 173
»So weit?« sagte Schwitt. »Und Frau Adelsskjold geht es gut?«
Adelsskjold sah hastig auf: »Meine Frau ist doch in der Normandie.«
Und wie ein Mann, der den einzigen Gedanken aussprechen muß, um den sein Gehirn kreist, fügte er hinzu: »Sie ist bei der Herzogin-Witwe von Monthieu zu Besuch.«
Charles Schwitt ließ vielleicht eine halbe Minute vergehen, bevor er antwortete: »Ach richtig, das habe ich ja gehört.«
Er wippte einen Augenblick mit seinem Stock: »Zoret empfängt nicht,« sagte er dann, »er arbeitet.«
Adelsskjold, der, wenn er angeredet wurde, zusammenfuhr wie ein Mann, der eine Fliege von seiner Stirn verjagt, sagte: »Ich will nur meine Karte abgeben.«
Und sie trennten sich.
Herr Adelsskjold ging ins Vestibül und gab Jules seine Visitenkarte.
»Vielleicht kann ich hier einen Augenblick sitzen,« sagte er, »ich bin etwas müde.«
Und er setzte sich mechanisch in einen der großen Stühle, ins Leere starrend, unbeweglich, wie ein Mensch, für den die Welt stillsteht.
Der Meister hatte sein Gesicht gebadet und sich umgezogen. Er kam rasch durch die Vorhalle.
»Was? Sie sind da?« sagte er, als er Adelsskjold sah, der sich erhob. Und sehr sanft fügte er hinzu: »Wollen Sie nicht mitfahren? Frische Luft tut gut.«
Adelsskjold faßte des Meisters Hand: »Danke,« sagte er.
»Aber sprechen kann ich nicht,« sagte Claude Zoret, als sie in den Wagen stiegen, »ich arbeite.«
Die Lider bebten über Adelsskjolds trockenen Augen: »Wirklich?« sagte er.
»Ja,« antwortete der Meister, »und meine Gedanken wollen nicht zur Ruhe kommen.« 174
Adelsskjold starrte mit demselben Blick geradeaus wie vorhin im Vestibül.
»Nein,« sagte er, »die Gedanken wollen nicht zur Ruhe kommen.«
Die beiden Männer fuhren zusammen über den Boulevard.
Ab und zu bewegten sich die Lippen des Meisters, als flüstere er unhörbare Worte. Adelsskjold sank auf dem Sitz zusammen und richtete sich wieder auf. Keiner von ihnen sprach – nicht ein Wort.
»Leben Sie wohl, mein Freund,« sagte der Meister, als sie wieder schieden.
Der Tonfall der Worte drang Adelsskjold ins Bewußtsein, und es ging ein Zittern über sein vergrämtes Gesicht. »Danke, Claude Zoret,« sagte er.
Und er ging.
Claude Zoret blieb einen Augenblick in der Halle stehen.
Seine Mundwinkel sanken herunter wie vor Müdigkeit oder vielleicht vor Schmerz . . .
Als der Meister zur Mittagszeit ins Eßzimmer trat, kam Michael durch die gegenüberliegende Tür herein – vielleicht hatte er draußen gewartet – und er ging, mit einem »Guten Tag«, das lustig klingen sollte, aber ihm kaum über die Lippen wollte, an seinen Platz. Seine Augen glänzten, als hätte er eben einen rasch wirkenden Likör genossen.
Der Meister hatte mit der linken Hand nach dem Rücken gegriffen, als fühle er einen Stich unter dem Schulterblatt. Aber er begann sofort munter von Wind und Wetter zu reden und zu fragen, wer in Trouville gewesen sei, wo Michael, wie er sagte, herkam.
»Wir trinken eine Flasche Burgunder,« sagte er zum Majordomus gewandt, und wie um die Bestellung des seltenen Weines zu erklären, fügte er für Michael hinzu: »Ich arbeite so viel in dieser Zeit.« 175
»Woran?« fragte Michael, der die Lippen sehr wenig öffnete.
»Man glaubt wohl stets, daß man sein größtes Werk schafft,« sagte der Meister, der Michaels Tonfall überhört zu haben schien.
Michael antwortete im selben Ton, aber der Schweiß stand ihm auf der Stirn: »Es muß herrlich sein, wenn man das glauben kann.«
Ein Funke blitzte in des Meisters Auge. »Ja,« sagte er und stemmte die Hand gegen den Tisch.
Der Majordomus kam mit dem Wein.
»Bringen Sie die englischen Gläser,« sagte der Meister.
Der Majordomus blieb stehen, wartend, und eine Sekunde verging, bevor Michael stotternd sagte: »Ich habe sie mir ausgeliehen.«
Es lauerte fast wie Freude in des Meisters Augen – als empfände er zum erstenmal eine gewisse Freude darüber, zu sehen und zu messen, wieweit Michael zu gehen wagte. »Das ist vernünftig,« sagte er und lachte, »dann nehmen wir andere.«
Der Majordomus schenkte in die herbeigebrachten Gläser ein und ging.
Michael fragte, während seine Stimme plötzlich ganz leise zitterte: »Malst du ohne Modell?«
»Ja,« sagte der Meister und fügte merkwürdig langsam hinzu, »diesmal male ich nach der Erinnerung.«
Er trank sein Glas aus: »Aber für die Luft habe ich die Studien aus Algier verwendet.«
Michael hob den Kopf. »Ja,« sagte er hastig, »die sind gut.«
Er blieb ein paar Augenblicke sitzen, als sei er plötzlich von einem Gedanken ergriffen, den er weiterverfolgte.
»Die sind gut,« wiederholte er unwillkürlich, wie ein Auktionator, der einen Preis festsetzt.
Der Meister rührte sich nicht. Er sprach wieder munter von Jacques' Gicht und von all den Lügenbüchern, die er 176 des Abends läse, um sich zu betäuben, so munter, als hätte Michael erst gestern auf seinem gewohnten Platz gesessen oder als hätte er – ihn nie gesehen.
»Aber,« sagte er plötzlich, »ich habe doch das Verlangen, fertig zu werden und etwas herauszukommen.«
Michael hob den Kopf. »Ja,« sagte er und sprach in dem Ton, der noch aus dem Prager Gäßchen stammte und den Claude Zoret nur ein einziges Mal gehört hatte, damals, als sie im Atelier von dem »Germanen« sprachen, »hier ist es nicht amüsant.«
Der Meister schwieg einen Augenblick. Dann sagte er mit einem Lächeln: »Darum suchst du deine Freuden ja auch außerhalb des Hauses.«
Michael warf den Kopf zurück, so daß das schwarze Haar sich wie ein Eisenkamm über seiner leichenweißen Stirn erhob: »Ja, glaubst du vielleicht,« und die Worte flogen über seine zitternden Lippen, »daß es angenehm für mich ist, hierher zu kommen, wo du mit mir sprichst, wie du mit Herrn Leblanc sprichst, wenn du ihm deinen Hohn wie Peitschenhiebe in sein Krämergesicht schlägst . . .?« –
»Michael . . .« –
»Jawohl, ich kenne dich« – fuhr Michael fort, während seine Augen ganz grün waren und seine Worte wie Schläge dem Meister ins Gesicht fuhren –, »ich kenne dich, dich und deine Munterkeit, in die du dich wie in einen Schlafrock einhüllst, weil es dir nicht einmal der Mühe lohnt, dem andern deine Verachtung zu zeigen. Und doch wären Peitschenhiebe – das weißt du – nicht so grausam wie deine eisige Munterkeit. Weißt du, wem du ähnelst, wenn du lachst? Einem Granitgott, der uns andere, uns Erbärmliche, verhöhnt, – so bist du. Und ich muß es mir gefallen lassen, denn du hast ja ein Recht, mich zu verachten. Ohne zu fragen, ohne zu sprechen, ohne zu verstehen, ohne den Versuch zu machen, zu verstehen, verachtest du von der Höhe deines Genies herab.« 177
Der Meister sagte und bewegte die Lippen kaum: »Wen verachte ich?«
Michael lachte: »Steig auf deine Höhe hinauf und sieh zu, wen du nicht verachtest. Ich kenne dich, dich und deine Freundschaft. Du nimmst dir das Recht, mit jedem Wort, das du zu sagen geruhst, zu beleidigen. Und beleidigt ein Freund dich nur mit einem Blick, so treibst du ihn aus deinem Leben heraus ohne ein Wort, ohne eine Miene zu verziehen, treibst ihn wie einen Lumpen auf die Straße hinaus. Er hat die Ehre gehabt, eine Figur in deinem Leben gewesen zu sein. Er ist es nicht mehr. Er kann gehen. Für dich reißt kein Band, denn es hat nie eines bestanden.
Aber was sind es auch für Freunde, die dir geblieben sind? Adelsskjold, den du verachtest wie einen Ochsen auf dem Felde, und Schwitt, Herr Charles Schwitt, mit dem du sprichst, als wenn du in den Phonographen der Ewigkeit hineinsprächest, der deine unsterblichen Worte auf seinen Walzen aufbewahren soll. Ja, wenn du einmal stirbst, wirst du ihm deinen letzten Willen diktieren, und du wirst ihm die Hand drücken und ihm keinen Gedanken schenken, sondern nur den einen Gedanken haben, wie Claude Zoret stirbt. Das ist deine Freundschaft – und das sind deine Freunde.«
Der Meister hatte die Augen geschlossen. »Hast du das alles schon lange gewußt?« sagte er, und seine Worte waren kaum zu verstehen.
»Ja,« rief Michael, »ob ich das lange gewußt habe. Ich kenne dich, Claude Zoret, dich und dein Herz. Herrn Claude Zorets Herz (es war, als ob ein unhörbares Schluchzen Michaels ganzen Körper durchbebte). Du könntest mich totschlagen . . . und du kannst totschlagen, Körper und Seele bloß mit einem Wort – du könntest mich totschlagen und du würdest mir keinen Gedanken schenken, sondern nur den Deckel über einer neuen Leiche 178 zuschlagen. Und du würdest weiterschreiten und liebenswürdig sein, weil es das bequemste ist, und würdest aus Gleichgültigkeit mitleidig sein und das große Herz der Kunst genannt werden, weil du alle fünf Jahre eines deiner berühmten Gemälde zugunsten der Armen verlosen läßt. Ich bin nie etwas anderes für dich gewesen als ein Gegenstand, der sich zum Malen eignete.«
Claude Zoret öffnete die Augen. Seine Hände, die weiß geworden waren, als wären sie kalt, umfaßten die Kante des Tisches: »Glaubst du?« fragte er, und Michael wandte die Augen ab. Gleich darauf aber fügte er hinzu: »Ich werde dir hierauf nie etwas erwidern, Michael.«
Der Majordomus brachte den Nachtisch herein, und die beiden aßen vor Jacques Augen, der doch alles wußte, so ruhig, als säßen sie in einem Restaurant neben der Oper, das voll von Bekannten war. Sie sprachen nicht, während sie in der großen Wohnstube den Kaffee tranken.
Michael erhob sich.
»Adieu,« sagte er.
»Adieu einstweilen,« antwortete der Meister und blieb in dem großen Stuhl sitzen.
Als der Majordomus hereinkam, um die Tassen zu holen, sah er den Meister umhergehen und alle Uhren zum Stehen bringen: »Jetzt muß es hier still sein,« sagte er, »denn jetzt soll hier gearbeitet werden.«
Er nahm am Tisch vor der aufgeschlagenen Bibel Platz, und plötzlich sah er zu Jacques auf und sagte, während der Majordomus ihn verständnislos ansah: »Vielleicht war auch dieses noch nötig.«
Er senkte den Kopf von neuem und las im Buche Hiob: »Da fuhr der Satan aus vom Angesicht des Herrn und schlug Hiob mit bösen Schwären von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel. Und er nahm einen Scherben und schabte sich und saß in der Asche.« 179
Um elf klingelte der Meister und ging in sein Schlafzimmer. Der Majordomus kam und half ihm.
»Jetzt habe ich ihn gesehen,« sagte der Meister.
»Wen, Meister?« fragte Jacques.
»Hiob,« antwortete der Meister, und der Majordomus verstand ihn nicht.
Es vergingen drei Monate. Der Meister arbeitete rastlos.
Nachmittags kam Adelsskjold und wartete in der Halle wie ein Hund, der vor einer Tür wartet. Der Meister kam hinunter, und sie fuhren Seite an Seite über die winterlichen Boulevarde, beide schweigend, aber doch zusammen.
»Adieu, Zoret,« sagte Adelsskjold, wenn er ausstieg und vornübergebeugt, wie er jetzt immer ging, davonschritt.
Der Meister nahm die Mahlzeiten in seinem Atelier ein.
Er fragte: »Ist Herr Michael da?«
»Ja, Meister,« antwortete der Majordomus.
»Grüß ihn,« sagte der Meister.
»Meister, Sie essen nicht genug,« sagte der Majordomus.
Claude Zoret antwortete: »Ich kann nicht, ich muß arbeiten.«
Und der Majordomus trug die Speisen hinaus.
Charles Schwitt kam hin und wieder.
Er ging in die stille Wohnstube hinauf und wanderte dort auf und ab, bis er wieder fortging.
Eines Tages, als er wieder da war, öffnete der Meister die Tür zum Atelier: »Bist du es?« sagte er und blieb auf der Schwelle stehen. »Jetzt ist es fertig, du kannst es sehen.«
Wie eine weiße Flamme schlug eine Blässe über Charles Schwitts Gesicht: »Danke,« sagte er.
Und er ging die Stufen hinauf, ins Atelier hinein, und blieb vor drei Gemälden stehen. 180
»Das ist Hiob,« sagte der Meister.
Und Charles Schwitt sah auf einem graugelben Felde unter einem graugelben Himmel ein zerschmettertes Etwas, etwas wie ein zertrümmertes Tongefäß, von einem Tuch bedeckt, ein totes Etwas, das dennoch lebte.
»Das ist Jesaias,« sagte der Meister und deutete auf das nächste Bild.
Charles Schwitt blieb bleich wie vorhin vor dem Propheten stehen, der, allein, mit gekreuzten Armen, auf einer Klippe stehend, dem Volk den Fluch des Herrn verkündete, während die Ausdünstungen der Horden zu ihm heraufzusteigen schienen und seinen Mantel mit einer dunklen Wolke umhüllten.
Der Meister aber zeigte auf das letzte Bild. »Und dies ist die Wahrheit,« sagte er.
Charles Schwitt hob die Augen zu dem riesigen Bilde. Hoch und sieghaft führte ein Jüngling, dessen dunkles Haar den Kopf wie eine Krone schmückte und dem eine lichte Frau unzertrennbar zur Seite stand, die Zügel eines goldenen Triumphwagens, der über Wolken dahinzog – Wolken, die Schleiern glichen, um die mächtigen Leiber gefesselter Giganten gehüllt, dunkle Wolken, blutgerändert.
Charles Schwitt sprach nicht. Er ließ nur lange den Blick von Bild zu Bild wandern, bleich aus Ehrfurcht vor dem Größten, oder vielleicht bleich vor Schmerz.
Dann sagte er mit trockenem Gaumen: »Claude, nun hast du es erreicht.«
Der Meister antwortete nicht gleich. Dann sagte er: »Wer kann das wissen.«
Kurz darauf aber sagte er mit einer Stimme, die wie eine Saite sprang: »Aber, Charles, jetzt hab ich wenigstens gelebt.«
Und er kehrte sich ab. 181
Kurz darauf aber wandte er wieder den Kopf: »Diese Bilder will ich ausstellen,« sagte er.
»Ausstellen? Wo?«
»Hier,« antwortete der Meister, »hier in Paris.«
Und sie gingen zusammen die Treppe hinunter und trennten sich ohne ein Wort.