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Erst lachte ein Lenz dieser Erde, dann glühte ein Sommer.
Der Herbst hat entfaltet bunt leuchtender Farben Gespiel.
Schon thronte der todblasse Winter im eisigen Reiche,
verspottend, was Glaube, was Sehnsucht, Erinnrung und Ziel.
Früh morgens erwacht' da ein zartes jungfräuliches Mädchen,
sie kämmte vorm Spiegel ihr schönes welliges Haar,
dann fiel sie in Sinnen. Sie lächelt' bewegt und sie seufzte,
und plötzlich erstand ihr der Traum: daß es Lenz wieder war.
Sie wußte es nicht, denn der Traum war so zart wie ein Keimchen,
halb war er nur Ahnen, halb Angst, doch so seltsam und süß.
Sie beugt' sich ihm stumm, und sie wagte nicht einmal zu fragen,
weshalb er erstand, dieser Traum, oder was er verhieß.
Allmorgendlich kämmt sie das rauschende Haar vor dem Spiegel,
allmorgendlich blaute ihr Auge in lichterem Schein,
bis blühend der Traum ihr erwuchs und das Herz ihr erfüllte
mit Reichtum, als wäre die Welt neu erstanden zum Sein.
Da sah sie verwundert sich stehen im lächelnden Garten,
wo köstlich die Luft war, voll Süße, und wunderbar rein
Und wieder erschaut' sie den Lenz, hob ihr Antlitz und küßte
am Kirschzweig die schneeigen Blüten, so taufrisch und fein.
Es flötet' ein Vogel im Busch, und sie fragte beklommen:
Wie? War es am Ende mein Herz, das so lockend mich rief?
Die Arme erhob sie zum Himmel und seufzte glückselig,
sie fühlte den Himmel im Herzen, so blau und so tief.
Da beugte der blühende Kirschzweig sich nieder und hauchte:
Hab Dank, weiße Göttin, du gabst mir mein Sein und Erstehn,
die Sonne, die wärmt, wie den Tau, der mich kühlt, und die Biene
im Schoß meiner Blüte, denn was du befiehlst, muß geschehn.
Wie duftender Hauch drang ans Ohr ihr sein sanftes Geflüster
Sie schüttelte lächelnd das Haar, ihre köstliche Zier,
dann sprach sie bewegt und voll Demut, als könnt' sie's nicht fassen;
Nein, danke dem großen, dem heiligen Lenz – und nicht mir.
Der fröhliche Vogel saß wartend im Busche und lauschte,
jetzt hörte sie wieder, erstaunt, seinen flötenden Sang:
Hab Dank, weiße Göttin, du gabst mir die tönende Kehle,
Hab Dank für die Luft! Für das Licht! Für mein Dasein hab Dank!
Im Gras blieb sie stehen und horchte, in Glück und im Zweifel.
Versteh ich dies alles? Was soll mir der seltsame Ruf?
Du dankst mir mein Vöglein?! Ich bin nur ein träumendes Mädchen.
Es war ja nicht ich – war der heilige Lenz, der dich schuf.
Da ertönt' es gedämpft von den Halmen, den Büschen und Bäumen,
aus Luft und dem Lichtstrom der Sonne im ewigen Raum:
So weißt du denn nicht, daß dein Garten, in dem du dort wandelst,
nur blüht und besteht in dir selbst, denn es schuf ihn – dein Traum!
O du, unsere leuchtende Göttin, du stehst alle Morgen
und flichst vor dem Spiegel dein schönes und welliges Haar,
die Eisblumen glitzern am Fenster und draußen ist Winter,
Bei dir nur im Herzen ist Frühling, so innig und klar.
Im Garten ein Moosbänkchen stand unter hängenden Birken,
dort setzt' sich das junge und träumende Mädchen ins Grün,
sie schaute sich um im verzauberten Garten des Herzens
und füllt' ihre Seele mit Frische, mit Frieden – und Blüh'n.
Da seufzte sie selig und lächelte plötzlich dann wieder,
zum Himmel erhob sie ihr strahlendes Antlitz: O sprich!
so flüstert bewegt sie: Mein Gott, den ich liebe und ahne,
Du, dem für mein Leben ich danke – wer bin denn nur ich?
Und Gott gab ihr Antwort vom äußersten Ende des Raumes:
Dein Loblied und auch deine Frage verstehe ich nicht,
doch seh ich dich wohl, und du bist ein jungfräuliches Mädchen,
das täglich vorm Spiegel die welligen Haare sich flicht.
Die Eisblumen glitzern am Fenster und decken die Scheiben,
mein Auge dringt doch in die Winkel des Herzens hinein.
Ich weiß deinen Traum. Denn es ist nur ein Traum. Und ich lächle.
Ich liebe dich, Kind, weil dein Auge so blau und so rein.
Das Mädchen vernahm seine Stimme vom Ende des Raumes,
ergriff sein Gewand, und sie küßte den äußersten Saum.
So weißt du denn nicht, was ein Blitz mir erhellte: Das Mädchen,
sie flicht sich das Haar und ist doch nur: Dein göttlicher Traum!
Die ganze, die strahlende Welt mit den Sternen und Sonnen
ist nichts als dein Traum, der – erwachst du – verging und zerrann.
Vielleicht bist du selbst nur ein Traum, den ein Größerer träumte,
doch ich danke dir, du mein Gott, der so schön träumen kann.
*
Das taufrische Gras einer Wiese. Ein blanker Maienmorgen.
Der Himmel ist verschleiert. Die Atmosphäre unter seiner perlmutterfarbenen Kuppel ist klar und rein, und ein verborgenes Gefunkel hoch droben wartet gleichsam darauf, den Nebel durchbrechen zu können.
So wundersam, so unberührt, erschien die Welt Frode Hjorth, als er aus dem Auto sprang. Fast blendete es ihn, als er so stand, ein paar Minuten, und blinzelte im Licht dieser vielfachen Strahlen, die seine Augen von allen Seiten trafen … Er zahlte. Und stand noch immer da und ließ den Zauber auf sich wirken, während das leise Surren des Motors langsam in der Ferne verklang. Er tastete nach seinem Zigarettenetui, zog die Hand aber sofort wieder zurück. Und sein Entschluß, diesen unausdenkbar reinen Morgen nicht entweihen zu wollen, weckte ihn aus seinen Träumereien.
Wieder schaute er sich um. Er kannte seine Wiese. Dort funkelte die Sonne auf dem langen Wellblechdach des Schuppens. Darin schlummerte noch das schlanke Stahlinsekt, dessen Körper er von neuem beleben sollte, bis es berauschend ihn emportrüge zu Licht und Reinheit.
… Er hatte sich in Bewegung gesetzt. Schon spürte er das leise Singen und Rauschen in seinem Blut, diese bebende Unruhe, die ihn nie verließ, bevor nicht der blaue Blitz des Propellers sich entzündete, bevor nicht das leise und leichte Wiegen ihm kund tat, daß er jetzt schwebe.
Seine Schritte wurden beschwingt und elastisch, voll verhaltenem Rhythmus. Auf seiner Zungenspitze spielten ein paar leise Pfiffe. Er spähte nach dem langgestreckten niedrigen Schuppen, der jedesmal, sobald seine Füße das leichte Gras berührten, größer wurde und näher zu kommen schien. Allmählich erkannte er ein paar kleine dunkle Gestalten, die sich dort hin und her bewegten, und er beschleunigte seine Schritte. Ha, ha! Clausen und Koch waren Frühaufsteher wie immer. Es würde ihm wohl nie im Leben glücken, als erster anzulangen.
Richtig, die Tür stand offen. Er winkte. Er sandte ihnen ein langes fanfarenartiges Rufsignal zu und er sah, wie sie stehenblieben und die Augen mit der Hand beschatteten. Jetzt hörte er ihre Stimmen. Wieder stand er still, um mit ein paar tiefen Zügen die Luft einzuschlürfen. Dann ließ er alle sentimentalen Betrachtungen beiseite und zündete die Zigarette an, die ihm jetzt schon zu fehlen begann. Und schlendernden Schrittes legte er das letzte Stück Weg zurück. Clausen, der große kräftige Mechaniker, näherte sich langsam mit Ölkanne und Wischlappen. Er sprach kein Wort, er nickte nur befriedigt und anerkennend dem Himmel zu, der sich inzwischen dunkelblau gefärbt hatte. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn und ging auf die Suche nach neuen Schmierlöchern. Frode rückte eine Kiste in den Sonnenschein hinaus und setzte sich. Er hörte Koch gehen und wie üblich leise vor sich hinbrummen. Heimisch und vertraut glitt dieser Ton in seine eigene Stimmung hinüber. Das war so die übliche Begleitmusik, wenn Frode saß und wartete. Zu Anbeginn hatte sie ihn nervös gemacht, jetzt wäre er unruhig geworden, wenn sie ausbleiben würde. Er selbst empfand keinerlei Bedürfnis zu reden. Er saß nur und rauchte eine Zigarette nach der andern und mit den Blicken folgte er den Schwalben, die hoch droben wie dunkle Pfeile einherschossen. Ihm war, als empfände er im eigenen Körper ihre geschmeidigen Bewegung gen, ihr Singen und Steigen und Kreisen. Uber eine kleine Weile würde er ihr Bruder sein. Über eine kleine Weile würde er selbst in flügelleichter Hast die Luft durchqueren. Über eine kleine Weile würde der Horizont um ihn versinken und sich runden, und der pochende Sang in seinem Blute würde verklingen …
»Nun?« fragte er und erhob sich.
»Jawohl«, antwortete Clausen, und es war, als klänge seine Stimme aus fernen Tiefen. Er kam zum Vorschein, gerötet und schweißbedeckt. Kochs Brummen hörte sofort auf. Frode trat zur Seite. Seine Augen durchmaßen noch einmal die blaue Himmelskuppel.
Da kam es elastisch, federnd auf ihn zugetrieben, das schlanke große Insekt.
*
Über ihm und um ihn alles durchsichtig, klar und blau. Der ferne Lärm der erwachenden Stadt. Der ruhige Rhythmus der weißen Plane. Das plötzliche Rasen des Propellers. Ein Beben. Ein Ruck …
O, sich tragen lassen, schweben! Dem leichten Flöckchen gleich, das vom Winde dahingeweht wird.
Immer wieder war dies für ihn ein Märchen, dem er sich mit allen Sinnen und mit einem Staunen hingab, das ihn durchschauerte.
Und in dem Augenblick, da er sich eins fühlte mit der Atmosphäre, war es ihm, als verstände er mit jeder Faser seines Seins den Schrei der Vögel. Denn aus irgendeinem verborgenen Winkel seines eigenen Wesens blühte ein ähnlicher Ton hervor. Ein unartikulierter. Ein Ton, der jedem Vogellaut unter dem Himmel verschwistert war. Dieser Ton wollte sich aus seinem Halse pressen, er blieb gefangen in seinem Schlunde, so daß seine Lippen sich auseinander zerrten. Und plötzlich in der saugenden Luft ringsumher bekam er den Klang eines hellen, triumphierenden Gelächters.
Es war ein rein menschlicher Laut, der von seinen Lippen emporgewirbelt wurde. Aber da er so tief in seinem Innern entstanden, war er etwas anderes, Wilderes, Stärkeres.
Ein Vogelschrei war es. Erfüllt von Trotz und Kampfeslust und Freiheitsdurst. Und stärker als je schmerzte die neue Wunde an diesem Maienmorgen. Er hatte ihm ein Willkommen geboten mit einer Reinheit und Klarheit, deren Funkeln ihm fast den Atem raubte. Und als die Erde langsam, gleichsam sich wiegend, unter ihm dahinschwand, war es ihm, als würde er auf einmal eingehüllt in etwas Seltsames, von Flug und Ruhe und kreisenden Segeln.
Er sah, wie die Dächer und Türme der Stadt sich unter ihm drehten. Er sah die Straßenzüge schmäler werden jedesmal, wenn sie in sein Blickfeld einschwenkten. Und plötzlich erwachte in ihm ein spöttisches Mitleid. Jetzt begann das Rufen und Jagen, das Kämpfen und Pfeifen, der ewige Wettlauf des unermüdlichen Kampfes. Dort unten kämpfte nun ein Ameisenhaufen müder Gehirne um das Recht, sich zu behaupten auf dem düsteren Kontorstuhl, den sie sich erobert hatten, um die wurmstichige Sprosse der sozialen Leiter, die zu erklettern ihnen gelungen war, und von wo ihnen als einziger Lohn neue Müdigkeit und neuer Kampf um die nächste Sprosse winkte. Jetzt öffneten sich dort unten die Münder zu einem Wortchaos, jetzt füllten sich Papierbogen mit Tintenmengen. Jetzt schielte Auge zu Auge. Jetzt ballte sich Faust gegen Faust. Jetzt hielt der Tag alle diese Seelen, die während einer kurzen Nacht erlöst gewesen waren, mit einem Panzer von Ehrgeiz, Neid und Mißtrauen umklammert.
Um Frodes Gesicht peitschte der scharfe Luftstrom.
Er riß all sein Denken mit sich fort. Er durchspülte seine Lungen und sein Blut. Ja, er füllte gleichsam seine Knochen. Und in seinem Gehirn stieg der leuchtende Traum auf, daß ihn all das da unten gar nichts mehr angehe. Für ihn war es ausgelöscht, es mußte vergessen werden. Jetzt löste er sich, infolge einer unbegreiflichen Gnade, von der monoton ratternden Erdkugel, flog durch den Weltenraum empor zu den Sternen. Und wenn er seinen Flug wieder beendete und seine Schwingen zurückließ, so würde es nur deshalb geschehen, um an einer grünen Küste in einer fernen, taufrischen Gegend zu landen. – So fern, so grün, so taufrisch, daß der Ort, von dem er kam und an dem er früher gelebt hatte, in seinem Bewußtsein nur als etwas Graues, halb Vergessenes, Nebelhaftes haften würde.
Und dort erst würde er sich selbst begegnen. Sich selbst kennen.
Vor ihm tauchte ein kleines, munteres Dorf auf. Ein glitzerndes Flüßchen schlängelte sich wie ein Silberband dicht an ihm vorüber und hinauf zum Fjord. Er kannte es. Er entsann sich seines Namens. Er hatte seinen Kurs genommen, und je intensiver er sich andere bekannte Punkte zur Orientierung zu merken begann, um so mehr schüttelte er dieses halb selige Unwirklichkeitsgefühl von sich ab. Es verblaßte gemessen an der nüchternen Tatsache, daß dort die Kirche und dort die Mühle war. Allmählich konnte man darüber nur gütig lächeln. Weiß Gott, es lag kein besonderer Grund vor, überspannt zu werden. Nichts war prosaischer, nüchterner, als das, was zu tun er jetzt im Begriffe stand. Eine kleine, behagliche Spritztour wollte er unternehmen. Da lag auf einer kleinen Insel an einem kleinen Fjord eine kleine Stadt, deren Verkehrsverein, von Ehrgeiz getrieben, einen Mann mitsamt seiner Maschine engagiert hatte. Eine Reihe von Flugvorführungen zum Zweck der Sommerreklame. Eine nette kleine Prämie für den etwaigen Rekord, der geeignet wäre, ein bißchen Sensation in das Ereignis hineinzutragen.
Das war, in dürren Worten ausgesprochen, alles, was ihm bevorstand. Nicht die geringste, nicht die allergeringste Nahrung für die Phantasie.
Und doch war die Reise, trotz der Kirche dort, trotz der Mühle dort, trotz der Wälder und Kleinstädte und Dörfer, die auf der Karte verzeichnet waren und trockene Namen führten … doch war die Reise wie in einen Zauber gehüllt, aus dem er sich ein übers andere Mal mit Gewalt herausreißen mußte. Auf eine seltsame, fast übersinnliche Art nahm er abwechselnd Stimmungen und Bilder in sich auf: den Flug dort oben unter den geballten Wolken, die gleitende Erde auf dem Grunde des Luftmeeres. Das alles drängte sich seinen Sinnen auf, gleich, als verlangte es gebieterisch, wie etwas Neues, etwas nie zuvor Gesehenes geschaut zu werden.
Dann leuchtete der blaue Belt vor ihm auf. Er breitete sich zu weiten Sandflächen aus, wo wellenförmige Tanghalme gleich langen, feuchten Fabelschlangen sich sonnten. Und als er hinter ihn zurückglitt, als der letzte Schimmer der grünen Erde verschwand, schien es ihm während eines flüchtigen Augenblickes, als schwebe er gewichtlos über einem breiten, ungeheuerlichen Schlunde. Er verlor das Gefühl des Vorwärtsgleitens. Er konnte während einiger schwindelnd kurzer Sekunden sich ebensogut vorstellen, daß er emporgewirbelt werde. Fort von der Erde. Hinauf zu einem fremden Stern.
Dieses Gefühl hatte er freilich schon einmal gekannt. Aber er glaubte, daß es gerade an diesem Morgen stärker und faszinierender sei. Ebenso die wahnsinnige Sehnsucht, sich hinauszulehnen, um senkrecht hinabstarren zu können, um sein eigenes Spiegelbild in schwindelnder Tiefe unter sich dahinsegeln zu sehen …
Alle nur denkbaren närrischen Gelüste und Vorstellungen überkamen ihn an diesem Morgen, packten ihn wie ein seliger Rausch, verblaßten, kamen in neuen Formen wieder, lösten sich auf. Und lagen doch ständig, wie ein seltsam neckisches und ungreifbares Gespinst, über seinen Sinnen und seinem Willen gebreitet. Er glaubte nicht mehr an die Schwere. Er war bereit, sich über diesen Begriff lustig zu machen. Längst schon war er hoch emporgestiegen über alles Traditionelle und Hergebrachte. Er war ein fliegendes Atom. Ein Staubkorn im Äther. Eine immaterielle freie Seele, die unter dem Himmelsbogen wogte. Auf der Jagd nach einem Stern war er!
Allein inmitten dieser spielenden Phantasien erhaschte sein wachsames Ohr den Sang des sausenden Propellers, und er merkte, wie das Rad leise gegen seine Handflächen zitterte.
Lachend gönnte er sich den Genuß des Windes, der Luft, des Lichtes. Er witterte die Höhe, orientierte sich an einer auftauchenden Küstenlinie und bog ab.
Plötzlich geriet er durch den Anblick einer treibenden Wolke wiederum ins Fabulieren. Das Surren des Motors glitt in sein Ohr, als wäre es der Laut seines eigenen Pulsschlages. Er war nicht mehr ein Mann in einer Maschine. Er war ein großer, weißer Vogel, der stundenlang auf den Flügeln rastete, auf dem Fluge von einer Ewigkeit in die andere. Souverän und einsam segelte er über die Welten, hinter sich die Zeit, vor sich den Traum, den Traum, der sich niemals einfangen läßt.
Als die Insel endlich auftauchte, ängstigte ihn deren Anblick auf seltsame Weise. Sie tauchte so auf, als habe sie vorher gar nicht dagelegen, als sei sie plötzlich vor seinen Blicken erstanden. Ein langer, schmaler, grüner Streif in dunklem Abgrund. Ein Streif, der sich verbreiterte und wuchs und Gestalt annahm im Verlauf weniger Minuten. Und Häuschen und Türme und Bäume schossen wie durch geheime Zauberformel aus der Ebene empor. Breiter und breiter erstreckte sie sich. Sie glitt unter ihm dahin, sie drehte sich. Es sah aus, als suche sie sich, faul, die bequemste Stellung, um sich zurecht zu legen. Sie schwankte ein wenig. Sie nahm gleichsam einen Anlauf, um sich auf Hochkant zu stellen. Zuletzt begann sie langsam zu ihm emporzuklimmen.
Da preßte Frode, getrieben von einem jähen, fast erschreckten Gefühl des Erwachens die Fäuste fest um das Rad. Er spürte, wie sich alle Muskeln strafften, wie das Herz laut zu schlagen begann, während eine Woge gesunden Blutes die letzten Phantasien aus dem Hirn vertrieb. Beinahe hätte er laut aufgelacht.
Hinweg mit den Phantastereien! Jetzt hieß es: Manövrieren. Es sollte eine Gleitfluglandung werden, deren sich auch der vornehmste Storch auf der Insel nicht zu schämen brauchte.
Der Empfang, ja! Was wußte er später, als er endlich zum Bewußtsein kam, noch davon? Er erinnerte sich an eine Menschenmenge, die Hüte schwenkte, an seine Verblüffung darüber, daß auf einer so kleinen Insel so viele Seelen wohnten, an einen feuerroten Haarschopf, der plötzlich aus der Menge hervorleuchtete. Und darunter ein schmales, blasses, sommersprossiges Gesicht, das sich zu einem Pierrotlächeln spaltete. Ein derber, fast schmerzender Händedruck. Ein Schlag auf die Schulter. Willkommen, alter Kamerad! Vorstellung, Verbeugungen, Verwirrung. Und unablässig der rote Haarschopf wie eine Fahne, die allen den Weg zum Zentrum wies, – dem Zentrum, das er selbst bildete.
Simon Rorbaek! Ha, ha, jaaa, na, hier war er also gelandet! Der tollköpfige Student, der Zechkumpan, der Bücherwurm, – eine seltsame Mischung!
»Was in aller Welt machst du hier?«
»Das wirst du schon noch erfahren!«
Neue Vorstellung. Neue Verbeugungen. Endlich auch das überstanden! Gott, was für eine Menge Honoratioren! Man beginnt kleine Gruppen zu bilden, jetzt, da die Formalitäten vorüber sind. Man sieht sich neugierig die Maschine an, und alle ihre aufsehenerregenden Details. Man spricht von dem schönen Anblick, den sie bot, als sie dahergeschwebt kam. Man schaut in den Himmel und versichert einander, das Wetter werde sich schon halten. Man beginnt auf die Uhr zu sehen. Der Gast der Insel muß sich wohl vor dem Empfangsfrühstück noch umkleiden. »Auf Wiedersehen!« sagt der Vorsitzende des Komitees.
Dann legt Simon seinen Arm in den Frodes und zieht mit ihm los.
Abermals Vorstellung. Aber dann auch Schluß. Ein feines, keckes Gesicht, ein schmaler Mund. Ein blaues Barett mit langer, schlanker Feder. Frau Lilli Rorbaek.
Eine geschmeidige Mädchengestalt. Zwei graue, ruhige, fragende Augen. Das war ihre Schwester. Das war Sif.
Sie hatten dieselbe schmale, feste Hand, dieselbe flinke, kurze Bewegung des Kopfes, als sie grüßten. Aber die Stimmen waren verschieden. Die eine sanft, in sich selbst ruhend, die andere, die Stimme Sifs, dunkler, gleichsam vom Suchen verschleiert. Dann gingen sie einen Weg entlang, zwischen zwei grünen Haferfeldern. Sie gingen im Gänseschritt. Simon hin und wieder an Frodes Seite schlüpfend, während er erzählte.
Ei freilich, er war weiß Gott Arzt hier drüben geworden, im Garten des Paradieses, hätte er beinahe gesagt! Ob die Insel ihn ernähren könnte? Mein Lieber, die Sommergäste, denke doch an die! Wem fiele nicht justement ein Gebrechen ein, wenn man am Strande einem Arzt begegnet? Und wenn man auch den ersten Ratschlag kostenlos und freundschaftlich erteilte, so wurde der zweite und dritte unbedingt ins Sprechzimmer verlegt. Und der Winter, der gehört einem selbst. Friedlich bei der Petroleumlampe und dann hin und wieder ein Krankenbesuch, eine Entbindung, und ein altes, lebensmüdes Weib, das die Augen schloß und ein Attest brauchte, daß der letzte Schlag auch wirklich der letzte war. Ja, danke, es machte sich …!
Ob er gewußt, daß es Frode gewesen, den man für diese Flüge hier verpflichtete? … Ha, ha, du Lieber! Freilich, er in eigener Person habe ihnen seinen alten Kameraden als einen wahren Prachtkerl vorgeschlagen und ganz besonders warm empfohlen. Aber die Korrespondenz und all den übrigen Kram, hatte er Peder Willumsen, dem braven Vorsitzenden des Verkehrsvereins, überlassen. Es gab nichts Lächerlicheres auf der Welt, als verblüffte Gesichter!
Nun habe er also bloß das Fremdenzimmer instand gesetzt. Es sollten drei bis vier, so recht behagliche Tage werden und nicht etwa: für sechs Kronen pro Tag Spiegel und Bett und Waschtisch mit dazugehörigem »a la carte« in einem Hotel.
Und als Gegenleistung sagte er, und dabei versetzte er Frode einen kleinen Stoß gegen den Ellenbogen, als Gegenleistung für all diese herzliche Gastfreundschaft von meiner Seite verlange ich nichts weiter, als daß du Sif, eine extra hohe Schwebetour spendierst mit looping the loop und allem Drum und Dran. Dafür habe ich mich bei ihr von vornherein verbürgt. – Wie du dir wohl denken kannst, darf ich natürlich nicht, wegen meiner Frau, und sie selbst getraut sich nicht. Aber Sif gehört nicht zu denen, die sich um die Begriffe Dürfen oder Getrauen auch nur irgendwie kümmern.«
Frode ging und hörte dem unablässig sprudelnden Geplauder des Freundes zu. Er entsann sich noch so gut dieser Seite von dessen kaleidoskopartigem Wesen, wenn der Mund nicht zum Schweigen zu bringen war. Er antwortete. Er stellte Fragen. Er lachte. Aber die ganze Zeit, während sie gingen, lag etwas seltsam Wirkliches über ihm selbst, über der Situation, über diesen üppig grünen Haferfeldern in funkelnder Sonne. Das alles miteinander glitt in sein Bewußtsein hinüber mit einem einzigen, charakteristischen Zug, ohne Details. Wie scharfe Lackzeichnungen wurde es gegen seine Nerven geschleudert. Und blieb dort haften …
Und allmählich, während er über diese seltsame Art des Beschauens nachsann, überkam ihn blitzartig das Gefühl, als handle es sich um ein Wiedersehen, als habe er das Ganze schon einmal geschaut, als könne er geschlossenen Auges den weiteren Weg finden. Als würde er binnen kurzem dort oben vom Hügel her den Belt wie eine schmale Bucht sich vorschieben sehen.
Dann riß er sich zusammen: – Unsinn! Ein paar kräftige Atemzüge, die Lungen mit frischer, salziger Luft gefüllt. Er war nahe daran, laut aufzulachen. Was für Phantastereien hatten sich in dieser Morgenstunde in sein Hirn geschlichen!
Allein mit neugieriger Verwunderung stellte er bald darauf fest, daß der Meerbusen da war. Schmal, leicht geschweift, bohrte er sich wie eine schlanke Klinge in die sanfte Küstenlinie. Also hatte er ihn von der Luft aus gesehen. Wußte man überhaupt was man sah, wenn die Augen über etwas dahinglitten? Irgendeine Einzelheit, die man kaum beachtet hatte, konnte plötzlich auftauchen und einem beweisen, daß man sie im Gedächtnis behalten hatte! Aber, dennoch …!
Hier empfing er Simons Stoß gegen den Ellenbogen. Er erwachte wieder, nüchtern, aber zugleich ein wenig verdrießlich. Denn es lag trotz allem etwas Gedämpftes, etwas neblig Weiches über diesem Zustand der Unwirklichkeit. Er nickte dem Freunde zu. Er antwortete ihm lachend.
Er sah, wie Sif den Kopf zurückwandte, als ihr Name genannt wurde, gleich, als wolle sie etwas sagen. Aber er lächelte nur. Ein flüchtiger Lichtstreif über den grauen Augen, ein weiches, spielendes Zucken der Lippen. Dann beugte er sich herab, riß ein Büschel Haferkörner aus und spielte mit ihnen.
Frode blinzelte mit den Augen und biß die Zähne zusammen. – Nein, jetzt war es aber wirklich genug!
Denn auch dieses Lächeln kam ihm während der Dauer eines jähen Aufflammens bekannt vor.
Durch einen großen alten Garten gelangten sie zu Simons Haus. Das rote Dach, das auf fast groteske Art an das rote Haar seines Besitzers erinnerte, ruhte auf Mauern, die ein üppiges grünes Geflecht aus wildem Wein und Kletterrosen darstellten.
Simon hatte endlich haltgemacht. Alle vier blieben während einiger Augenblicke schweigend oben auf der hohen Veranda stehen und blickten über das nebelblaue, glitzernde Wasser dahin.
*
Es war die Stunde zwischen Nacht und Morgen. – Halb war es der Glanz des sinkenden Mondes, halb der Schimmer des erwachenden Tages. Beide vermählten sich zu einem goldenen Licht, das sich über Meer und Strand und Felder breitete. Noch schliefen die Vögel unter dem lichten Laube, doch jeden Augenblick konnte die Brise sie wecken. Noch lag der Perlmutterschleier des Märchens über Halm und Blüten, doch sobald die erste leuchtende Sonne von Osten her sie träfe, würde es sich in Tau und frische Wirklichkeit auflösen. Frode hatte sein Giebelfenster geöffnet. Eine Stunde fast hatte er hier gesessen und sich geweidet an einer seltsam verhaltenen Freude, die seine Muskeln, seinen Willen, seine Gedanken, seine Tatkraft lähmte. Er existierte nur vermittels eines Trauminstinktes, der schon längst alle nüchternen Reflexionen gebannt hatte. Das zarte Flimmern da draußen hatte sich in seine Seele eingeschlichen, hatte sie mit ahnungsvollem Lächeln erfüllt.
Es war gut so. Besser als schlafen. Der Schlaf war banal.
Er hatte sich vor diesem Fenster hingeworfen, nur um sich ein wenig zu sammeln nach dem Wirrwarr des Festes, nach Wort und Tanz und Wein. Nicht etwa um sich die Ereignisse des Tages noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Das alles war ja nun überstanden – und insofern gleichgültig.
Auch nicht um mit seinem Lächeln allein zu bleiben. Das strahlte irgendwo in seinem Innern. Aber es sollte erlöschen und in Vergessenheit geraten. Brach der Tag an, so würde es sein, als wäre er ihm nie begegnet. Nicht als ein mattes Schemen wollte er es im Lichte der Sonne wiedersehen und vielleicht daran mithelfen, daß ihm ein künstliches Leben geschenkt werde. Wenn ihn auch wirklich zwei graue Augen hineingelockt hatten in die verzauberten Gegenden, wo eine Stunde ist gleich tausend Jahren – was wollte das heißen? Was waren alle grauen Tage, wenn nicht hin und wieder einer von ihnen Sekunden aufzuweisen hatte, die ohne Zusammenhang waren mit einem andern?
Und trotzdem saß er jetzt auf der Schwelle des Morgens und lächelte diesem Lachen zu. Denn plötzlich war es nicht nur ein Etwas, das traumhaft dalag und sich auf dem Grunde seines Bewußtseins barg. In dem gleichen Augenblick, da seine Gedanken es streiften, entfaltete es sich mit jäher Süße rings um ihn her. Dies Lächeln war es, das in ihm die Empfindung weckte, als seien seine Augen geschlossen, trotzdem sie weit geöffnet waren. Dies Lächeln warf seinen Glanz zurück auf die letzten vierundzwanzig Stunden, deren letzte Minuten alsbald verschwinden würden im nüchternen Licht. Dies Lächeln ließ ihn die Minuten aufhalten, auf daß jede einzige von ihnen seine Nerven und sein Blut durchriesele, bevor es zu spät sei. Dies Lächeln, das zuerst nur jung und fragend, tief und spähend gewesen, das sich nicht hatte einfangen, nicht hatte erwidern lassen, weil es eigentlich kein Lächeln war, sondern nur ein spielender Zug um ein Lippenpaar, ein Lichtstreif über zwei grauen Augen.
Sif war schweigsam, das hatte ihn anfangs gewundert. Das war eine Eigenschaft, die unter jungen Menschen nicht allgemein war. Sie hatte nichts gefragt. Sich nicht in das Gespräch gemischt, nur gelauscht. – Und dies Lauschen hatte ihren Zügen einen eigenartig lebendigen Glanz verliehen, einen seltsam nachdenklichen Ernst, der gleichzeitig kindlich war und verwirrend. Halb hatte es ihn geärgert, halb hatte es ihn gereizt, dies verschlossene Gesicht, das er anschaute, während er im Gartenzimmer saß und mit Simon und Frau Lilli bei einem Cocktail und einer Zigarette plauderte. Warf er, teils aus Höflichkeit, teils aus Neugierde, eine Bemerkung zu ihr herüber, so erblühte dies verborgene Lächeln während eines kurzen Augenblicks auf ihren Lippen. Allein sie sprach kein Wort, nickte nur leicht mit dem Kopf.
Wäre es noch Verlegenheit gewesen bei diesem kleinen Mädel! Dann hätte man es verstehen und sich damit abfinden können. Aber sie trug den Kopf keck und anmutig wie eine Blüte ihren Kelch trägt, und ihr Blick begegnete dem seinen ruhig und ohne Scheu.
Nein, sie saß und lauschte. – Lauschte mit ihrem wachen Mädcheninstinkt. Sie spionierte ihn aus. Sie versuchte, sich in seine Züge, in den Tonfall seiner Stimme einzuschleichen.
So hatte er es empfunden. Und in einem Anfall jähen Zornes hatte er den Platz gewechselt, so daß er sie nicht mehr sehen konnte.
Aber dieser Zorn galt nicht ihr. Er galt ihm selber. Er hatte plötzlich aus den eigenen Worten, aus dem eigenen Lachen, eine fade Selbstzufriedenheit herausgehört. Die Stellung, in der er dagesessen, war ihm albern vorgekommen. Seine Mimik gehorchte ihm nicht. Seine Hände wurden nervös … Zwar verging das schnell. Die Empfindung aber vergaß er nicht. Sie blieb in seinem Bewußtsein haften, wie eine Mischung von Groll und Demütigung.
Es hatte ihn auch in anderer Weise geärgert, daß sie sich so benahm. Er fühlte sich betrogen um ein paar Tage sorgenlosen Frühlingsflirts, zu dem ihn sonst die Galanterie allein schon gezwungen haben würde. – Aber mit dieser Priesterin der Stummheit dort? Nein, danke verbindlichst! Es war gar nicht seine Sache, eine Logarithmentafel zu benutzen, um den Weg zu dem höheren Seelenleben achtzehnjähriger Damen zu entdecken!
Aber das Lächeln …?
Weshalb hatte er all die Zeit, unbewußt, diesen Schimmer über den Augen ein Lächeln genannt? Und weshalb hatte er dieses selbe Lächeln, das ja gar kein Lächeln war, aus ihrem Gange, ihrem Nacken, ihren Knöcheln, aus jeder Bewegung ihres schlanken Mädchenkörpers herausleuchten sehen, auch später als er sich mit Simon zum Festfrühstück ins Hotel begab, und sie mit ihrer Schwester voranging?
Was wußte er damals von diesem Lächeln? War er vielleicht nur deshalb wartend umhergegangen, weil er ahnte, wie jung und blütenschön es sich auf ihren Lippen entfalten konnte? Oder hatte es, in den Sekunden, in denen er es bisher gesehen, tief in seinem Innern seltsam unwirkliche Erinnerungen geweckt? Einen Traum, der seiner Erinnerung, seinem Bewußtsein entschwunden war?
Den Traum eines Traumes …?
Plötzlich stieg ein kühler Duft feuchter Blüten zu ihm empor, und während einiger kurzer Augenblicke ward er sich der Wirklichkeit bewußt. Tief sog er den Duft ein. – War das die erste Morgenbrise, die kam, die Insel zu wecken? Die grüne Insel in dem blauen Meer!
Er mußte lächeln, während er sich plötzlich seines segelnden Fluges erinnerte. Kaum vierundzwanzig Stunden war das her. O, wie sehnte er sich danach, sich von den Schwingen zu einem fernen Stern tragen zu lassen! – Hatte sie es nicht getan? Lag nicht ein Weltenraum zwischen dem Heute und dem Gestern? Und würde er jemals wieder zurückkehren und so sein können wie einst?
Wünschte er überhaupt so zu werden?
Er richtete sich mit einem Ruck auf. Plötzlich war sein ganzes Denken klar. Die letzte Frage hatte sich nicht in sein Bewußtsein eingeschlichen wie all die übrigen Träumereien. Laut und vernehmlich war sie gewesen wie eine Stimme, fast dröhnte ihr Klang noch gegen sein Trommelfell mit langsamer und gebieterischer Betonung, als verlange sie eine Antwort. Ein Ja – oder ein Nein.
Frode schüttelte langsam und resigniert den Kopf. Dann begann er zu lachen. Ein helles, knabenhaftes Lachen, das gleich einem frischen Sturm dies ganze, nebelhafte Gespinst zerriß, das über seinem wirren Gehirn lagerte. Er erhob sich und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Dann verschränkte er die Arme hinter dem Nacken und gähnte laut, fast demonstrativ.
»Ja«, sagte er spöttisch, als antworte er auf diese merkwürdige und aufdringliche Frage. – »Ja, weiß Gott, ich wünsche es!« Seine Lippen spitzten sich munter und begannen leise den Aeroplanwalzer zu pfeifen, der während zwei Drittel der Abendstunden in seinen Ohren gebraust hatte. Neue Ideenassoziationen rief er hervor. In seiner Erinnerung blitzten ein paar Episoden auf. Und jählings, wie ein hungriger Raubvogel, der lange schon in dem blauen Äther kreiste, ohne Beute zu sichten, stürzte er sich auf eine von ihnen, hakte sich in ihr fest, zerrte sie ins Licht.
»Hier!« sagte er triumphierend zu sich selbst. »Hier habe ich das Lächeln, greifbar, lebendig, ohne mystischen Traumschleier, zerlegbar in seine sämtlichen Bestandteile.«
Dort an dem offenen Fenster hatte Sif gestanden, als er mit seiner jungen, blonden Tänzerin innegehalten. Er hatte im nämlichen Moment einen Satz ausgesprochen, einen ganz gleichgültigen. Er entsann sich seiner nicht einmal mehr. Er hatte ihn vergessen, weil er sah, daß Sif sich umwandte. Und da hatte sie gelächelt, unverwandt ihm in die Augen gelächelt mit einer Freude, einer Jugendfrische, die ihn fast blendete, wie ein allzu grelles Licht.
»Tanzen Sie mit mir!« hatte sie gesagt. – Oder hatte er es gesagt? Oder hatte keiner von ihnen es gesagt? Hatten ihre Hände nur blindlings sich gefunden? Waren ihre Füße unwillkürlich den rufenden Rhythmen gefolgt?
Was wußte er davon? An was erinnerte er sich? … Er erinnerte sich, daß es ihn völlig gefangen genommen hatte, dies Lächeln, als er sich erst einmal darin zu vertiefen begann. Es war neckisch gewesen und ein wenig sieghaft, wie das Lächeln eines Backfisches. Das hatte er am allerwenigsten erwartet. Deshalb glaubte er auch nicht daran. Er ließ es ruhig in seine Augen hineinspielen, bis es ihn nicht mehr blendete. Und in einem plötzlichen Aufblitzen erblickte er weit, weit dahinter ein anderes Lächeln, das erfüllt war von Süße und Reinheit und Staunen. Ein Lächeln, das, unerschlossen noch und schlummernd, auf dem Grunde ihrer Sinne erblühte … Und da war das Seltsame geschehen, an diesem Morgen, als Sif sich auf dem Wege zwischen den Haferfeldern nach ihm umwandte: Daß ihm war, als habe er es schon einmal gesehen.
Aber diesen fast unwirklichen Eindruck vergaß er bei ihrem ersten Satz, der genau so unerwartet kam, wie das Lächeln.
»Endlich hab' ich Sie also gefangen!« sagte sie freimütig und neckisch. Es klang wie ein Ruf der Erleichterung, über den sie im gleichen Augenblick beide lachen mußten, während Sif bis tief in den Nacken herab errötete, als ihr der etwas zweideutige Sinn ihres Ausrufes klar wurde. Aber sie ließ sich nicht verwirren.
»Ja, stellen Sie sich jetzt nur nicht so, als verständen Sie mich nicht«, fuhr sie fort, und dabei legte sich ein beinahe vorwurfsvoller Zug um ihre Lippen. »Denn, wenn Sie nur einmal aufrichtig sein wollen, dann wissen Sie sehr wohl, daß Sie den ganzen Tag mit einer Maske umhergegangen sind.«
Frode lachte ein wenig hilflos.
»Tja!« sagte er, halb scherzend, halb unsicher. »Das gehört wohl, streng genommen, zur allgemeinen Bildung. Ich bedaure es daher aufrichtig, wenn sie durch einen unglücklichen Zufall herabgeglitten sein sollte.«
»Nein!« bat sie flehentlich. – »Lassen Sie das jetzt. Sie fingen gerade an, ein richtiger Mensch zu werden.«
Frode lächelte ihr in die Augen und schüttelte den Kopf.
»Ich?« wiederholte er. »Keine Ahnung!«
Sif beugte ganz leicht den Kopf. Sie antwortete nicht. Aber es war, als begänne das Lächeln auf ihren Zügen langsam zu erlöschen. Eine jähe Angst, es könne plötzlich völlig verschwinden, packte Frode. Er wußte nicht weshalb, er wußte nichts, als das eine, daß es nicht wieder welken durfte, nun da es unvermutet aufgeblüht war. Ihm war, als gehöre es ihm, auf irgendeine ganz seltsame Art, als trüge er die Verantwortung dafür.
»Sif!« sagte er leise. Und verwundert richtete Sif den Blick auf ihn. »Wenn ich Sie Sif nennen darf, dann werde ich ernsthaft sein. Man kann nicht ernsthaft sein und Fräulein sagen, nicht wahr?«
Sie seufzte. Aber schon begann das Lächeln wieder zu funkeln.
»Es ist hoffnungslos«, sagte sie. »Sie sollen gerade nicht ernsthaft sein, Sie sollen … Sie sollen …!«
»Was denn?«
»… Vorläufig sollen Sie stumm sein wie ein Fisch, während ich Ihnen erkläre, was ich meine. Sie sagten vorhin etwas zu Dora Mörch. Es war weder geistreich, noch klug, noch vernünftig, nichts von alledem. Ich weiß nicht einmal mehr, was es war, denn es war etwas ganz Gleichgültiges. Aber es wirkte trotzdem auf mich, so daß ich plötzlich froh wurde. Denn es war gerade der Ausdruck, die Stimme, der Tonfall, den ich bei Ihnen erwartet hatte und nicht …! – Ich hasse Menschen, die Konversation machen!«
Wieder errötete sie, wieder biß sie sich auf die Lippen. Es entstand eine kleine Pause.
»Ach was!« sagte Frode und er sah ganz schuldbedrückt aus. »Da hätte ich also meine ganze Rednergabe umsonst vergeudet.«
»Ja!« antwortete Sif sehr bestimmt. »Sie wirkten wie ein Operettenleutnant. Können Sie das selbst einsehen?«
»Nur ungern …!«
Sif blickte zu ihm empor, halb prüfend, halb unschlüssig. Als sie bald darauf wieder zu sprechen begann, war der verschleierte Klang ihrer Stimme noch tiefer, noch dunkler geworden, so daß er aufhorchte.
»Nun sollen Sie zuhören! – Nun wird es sich zeigen, wer Sie sind!«
Frode nickte.
»Ich habe früher schon Flugmaschinen in der Luft gesehen, ich habe den Anblick immer schön gefunden. Ich habe immer dagestanden und bin ihnen mit den Augen gefolgt, so weit wie möglich. – Aber gestern morgen, als ich unten am Strand war und zählte, und als ich plötzlich Ihre Maschine aus dem Nebel hervorgleiten sah, weit, weit entfernt, hoch droben wie ein kleines lebendes Insekt, das langsam wuchs und anmutig näher kam … da … da packte mich plötzlich ein ganz seltsames Gefühl. Nicht als ob, was da zu mir herunterkam, ein Flieger sei, also irgendein gleichgültiger Mann, der von einer Stadt zur anderen die Luft durchkreuzte. Eine Sekunde lang dachte ich mir, es sei ein Bote von einem fernen Gestirn …!«
Frode antwortete nicht. Es durchzuckte ihn nur ein leichtes Staunen, als sie – mit einem glücklichen Lächeln, als sei das ihr Einfall – dasselbe phantastische Bild vor ihn hinzauberte, in dem er sich selbst während seiner Lufthalluzinationen gewiegt hatte.
Während sie sprach, blickte er nur auf ihren Mund. Der hatte sich gleichsam zögernd zu den Worten hindurchgetastet, behutsam, als fürchte sie sie auszusprechen, oder als dünkten sie sie schal und unzulänglich.
Jetzt, da sie innehielt, grub sie die Zähne in die Lippen mit einem ganz leichten Seufzer der Erleichterung.
»Begreifen Sie nun«, sagte sie, »daß es mir nicht recht sein konnte, diesen Abgesandten eines Gestirns so ganz irdisch mit tadellosen Bügelfalten herumgehen und Zigaretten rauchen zu sehen?«
Frode schüttelte schweigend den Kopf.
»Wie konnte ich wissen,« sagte er sehr ernst, »daß so außerordentliche Erwartungen auf mich gesetzt wurden?«
Sif schaute ihn unsicher an. Dann plötzlich blitzte das Lächeln wieder auf.
»Wissen Sie,« fragte sie, »was ich den ganzen Tag bei Ihnen gesucht habe?«
»Einen Glorienschein …?« sagte Frode fragend.
»Nein«, sagte Sif leise. – »Etwas Abenteuerlicheres! Eine Vision …! Und nun dürfen Sie meinetwegen lachen, wenn Sie es nicht lassen können – … einen blauen Falter! Denn dem glich Ihre Maschine, als sie sich zu mir heruntersenkte – einem großen … blauen … Falter!
*
Frode trat ans Fenster. Lange stand er da. Und wieder hatte er das Gefühl, als seien seine Augen geschlossen, obwohl sie weit geöffnet waren. Diese vier Worte ließ er durch sein Inneres singen und klingen! Sie waren wie eine Zauberformel. Er fühlte, wie sie gleich einem lebenden Strom an dem Netz seiner Nerven entlangglitten. Und jedesmal, wenn sie ein Nervenzentrum streiften, sprang ein neues Tor auf zu den Räumen des Unterbewußtseins, die erfüllt waren von dämmerndem Ahnen. – Was rief ihn von dort unten her? Was für ein Traum war es, der sich verhüllte, der sein Angesicht nicht zeigen wollte?
Er hatte sicherlich wie blöd mit offenem Munde dagestanden, als Sifs Lippen dieses Bild formten, langsam, gleichsam liebkosend, so daß der Ton der Worte es für ihn fast in der Luft zeichnete. Ein paar Sekunden war er mit ihr stehen geblieben mitten unter den Tanzenden und kam erst wieder zu sich, als sie seine Hand leise drückte.
Diese Worte hatten in ihm Angst und Verwunderung ausgelöst. Und er entsann sich, daß er nur geantwortet hatte – und dabei hatte er selbst bemerkt, wie gedämpft seine Stimme klang:
»Wie war das schön! …«
Und bald darauf, als sie fröhlich lächelte, weil er sich über sie nicht lustig gemacht hatte, fügte er hinzu:
»Sif! Es ist merkwürdig, aber nur weil Sie das sagten, war mir, als hätte ich Sie … ja, sagen wir, schon an tausend Jährchen gekannt!«
»Ja!« sagte sie und lachte. »Das muß man wohl merkwürdig nennen!«
So, halb scherzend, aber doch tastend mit kleinen Fühlhörnern des Ernstes war der Ton zwischen ihnen angeschlagen. Und dieses fast vorsichtige, gegenseitige Tasten hatte sich den Abend hindurch gehalten. Zuweilen, völlig bewußt, als wären sie beide große Kinder, die ein neues Spiel spielten, bei dem sie wetteiferten, alles das, was sie sagen wollten, hinter Symbolen und Andeutungen zu verbergen. Aber plötzlich konnte es geschehen, daß ein solches Symbol sie beide unerwartet durch eine eigentümliche, jäh aufleuchtende Schönheit blendete, die eine Wahrheit widerzuspiegeln schien, die sie vorher nicht gekannt hatten. Oder daß irgendeine Bemerkung, ohne ihre Absicht, einen Klang und einen Doppelsinn erhielt, der sie stutzig machte und sie einander in die Augen blicken ließ. In solchen Augenblicken legte sich ein weiches Schweigen zwischen sie – ein seltsames Gefühl von Mitwisserschaft, trotzdem keiner von ihnen wußte, was für ein Wissen sie eigentlich miteinander teilten.
Selbst in munter lärmender Gesellschaft mit anderen hatten sie diesen mystischen Ton beibehalten. Dann erhielt er vielleicht einen etwas neckischen, einen aggressiven Anstrich. Aber erst dann konnten die unvorhergesehenen Pausen eintreten …
Was war das Ganze gewesen? fragte Frode sich selbst, staunend, während der erste blaßrote Tagesschimmer die Wellen zu färben begann, und das erste zarte Rascheln in Laub und Zweigen sich regte.
Etwas Zauberhaftes, etwas Unwirkliches, das weder mit diesem noch mit jenem Namen benannt werden konnte … Flirt? Verliebtheit? Schwärmerei? Das Spiel eines Ballabends? Nein! Nichts dergleichen. Das alles kannte er im Überfluß.
Nicht einem Wort, nicht einem Lächeln, nicht einem Händedruck haftete auch nur die Spur von Koketterie an. Es war ein leuchtendes Nichts, in dem sie gefangen gewesen waren. Ein spinnwebfeiner Schleier, feiner noch als der Äther. Durch ein Lächeln, hinter den Flügeln eines blauen Falters versteckt, war ihnen die Gnade zuteil geworden, für die kurze Spanne eines Abends und einer Nacht die Erde in eine farbenfrohe Seifenblase zu verzaubern.
Sie hatten es beide gefühlt, dieses Feine und Unspürbare, als sie im Mondenschein allein zwischen den Haferfeldern heimwärts gewandert waren. Und sie hatten beide versucht, ihm Form und Ausdruck zu verleihen.
»Wenn du es nicht wärst, Sif,« hatte er gesagt und er hatte ihr dabei wie geblendet in die Augen gelächelt, »dann würde mich keine Macht der Welt davon zurückhalten können, dich zu küssen und die größten Torheiten mit dir zu treiben! Aber da du es nun einmal bist …!«
Sie hatte den Nacken zurückgebeugt und gelacht. Ein gedämpftes Lachen. Aber hinter dem Lachen ruhte das Lächeln, das – jedesmal, wenn es erstrahlte – ihren Mund wie einen üppigen, betauten Lilienkelch erscheinen ließ, an dessen Quelle noch kein durstiges Insekt sich gelabt. Er öffnete sich ihm entgegen wie eine stille Danksagung, während ihre Zunge ihm neckisch antwortete mit einem munteren:
»Danke, du bist fast zu rücksichtsvoll … um ganz höflich zu wirken!«
Und dieses Lächeln war das letzte, das er mitnahm, als sie sich auf der mondüberfluteten Veranda trennten. Er sah es wieder, als er sich über sie beugte. Seine Lippen waren nur um eines Hauches Breite von den ihren entfernt. Doch ohne Widerstand zu leisten, hatte sie nur sacht den Kopf geschüttelt.
»Nein? – Nicht wahr?«, flüsterte sie. – »Es ist allzu schön gewesen!«
*
Frode schlich vorsichtig die Treppe hinab. Er machte bei jeder Stufe eine kleine Pause. Es war ja nicht notwendig, daß er die ganze Familie weckte und um vier Uhr morgens das größte Aufsehen erregte, weil er in den vier Wänden seines Zimmers nicht mehr atmen konnte.
Plötzlich hatte die Atmosphäre vor seinem Fenster einen neuen Glanz bekommen. Der klare Perlmutterschleier der Nacht wurde mit einem Male von einem Glitzern durchwogt, das wie durch einen winzig schmalen Spalt im Himmelsraum herabsickerte. Gleichzeitig erklangen die ersten zarten Vogeltöne, die ersten diskantfeinen, zwitschernden Laute. Meer und Himmel färbten sich mattviolett und aus der morgenfeuchten Erde schlug ihm ein kühler, herber Hauch entgegen.
Es durchrieselte ihn wie ein Kälteschauer. Er wurde völlig wach. Und da hatte er die Zähne zusammengebissen und sich gesagt: Jetzt müsse Schluß sein! Jetzt wolle er nicht mehr! Was er tat, war irrsinnig. – Es war eine Besessenheit, die zu guter Letzt, wenn er nicht seinen Willen dagegenstemmte, sein nüchternes Gehirn außer Funktion setzen und ihn zu einem achtzehnjährigen Burschen mit großen naiven Augen machen würde.
Es war Zeit, daß er anfing, sich wie ein normaler Mensch zu benehmen. Zum Beispiel, indem er zu Bett ging und schlief, und mit all diesen Nebelgespinsten aufräumte! Damit er sich in wenigen Stunden wieder erheben und sich im glücklichen Besitz seiner alten, etwas skeptischen Unbekümmertheit fühlen konnte. Er wollte den Tag begrüßen wie eine Wirklichkeit, bereit, mitten in sie hineinzuschreiten und sich von ihr bis in seine innersten Nerven und Fibern durchleuchtet zu fühlen!
So, ja …!
Aber das Vogelgezwitscher erklang vor dem geöffneten Fenster. Es rieselte wie ein Springbrunnen. Die Kronen der Bäume, die während der ganzen lichten Nacht lautlos und geisterhaft geschwebt hatten, als hingen sie gewichtlos im Raum, zeigten jetzt feine, schlanke Blätter, die in neuem Glanz erstrahlten. –
Am liebsten wäre er aus dem Fenster gesprungen, in derselben Sekunde, in der eine Melodie gleich einer Welle seine Sinne berührte. Aber er entschied sich für die Tür … und markierte dadurch vor sich selber seine wiedergewonnene Nüchternheit. Gelangte er nun über die Treppe, ohne Aufsehen zu erregen, so brauchte er nur rechts durch das Gartenzimmer zu gehen.
Nur ein halbstündiges Gehirnbad in Licht und Morgenbrise, nur den Blattau eines jungen Baumes gleich mildem Regen auf den Wangen spüren – und dann ein wenig Schlaf. – Ja. Und dann war wieder der Traum da: auf breiten Schwingen durch die Luft getragen zu werden …!
Er schob die Tür zum Gartenzimmer auf. Sie stand angelehnt. Quer durch das Zimmer, das von weichem Morgenlicht erfüllt war, sah er die langen Weinranken, wie grüne Girlanden tief über die Fenster herabhängen. Er machte ein paar tastende Schritte über den Teppich.
Dann blieb er stehen, und ein Schwindel packte ihn. Er hielt den Atem an. Er stand unbeweglich … Sif …
Er sah ihr Gesicht, bleich und ruhig unter dem wirren Haar. Ihre Augen waren geschlossen. Er sah nur die dunklen Striche der Brauen und die Schatten der Wimpern über der Wange. Ihr Mund war ernst, aber weich und kindlich, noch im Bann von Schlaf und Traum.
Die eine Hand ruhte leicht geballt an ihrer Brust, als wäre sie ein selbständiges kleines Wesen, das sich dort schlafen gelegt hatte.
Frode atmete tief auf. Die ersten paar Sekunden glaubte er gar nicht, daß sie es wäre. Es mußten die Phantasien dieser Nacht sein, die ihr Bild da vor seinen Augen wiederschufen.
Aber dann kam wie eine Selbstverständlichkeit die Erklärung. Er selbst war es wohl, der, ohne es zu wissen, sie aus dem Gastzimmer des Hauses vertrieben hatte, so daß sie wohl oder übel auf einem Sofa kampieren mußte! – Das war aber eigentlich zu toll!
Ihn überkam plötzlich eine unwiderstehliche Lust, sie zu wecken. Sie sollte mit hinaus in diesen märchenhaften Morgen, der dem veilchenfarbenen Meere entstieg. Inmitten dieser keuschen Reinheit wollte er ihr noch einmal in die Augen schauen und sie jung und klar finden, wie er sie sich wünschte.
Ja, warum nicht! Konnten die Schwingen nicht sie beide in den Morgenhimmel emportragen, so daß der blaue Falter auch für sie zur Wirklichkeit wurde, von dem aus sich die Welt von oben beschauen ließ!
Ja, das wollte er!
Er machte ein paar lange Schritte zum Sofa hin und beugte sich über sie, um sie zu rufen. Allein er zögerte.
Ein schwacher, fast unspürbarer Blütenduft entströmte ihrem Haar, und er mußte flüchtig den Drang bekämpfen, sein Gesicht darin zu vergraben und blindlings alles zu vergessen. Sein Herz begann zu klopfen, dumpf und hart. Er spürte die Schläge bis in seine Fingerspitzen, und in seinem Blute entfachte sich eine jähe Glut. Er machte nicht einmal mehr den Versuch, gegen das anzukämpfen, was über ihn dahinwogte.
Er ließ sich auf den Rand des Sofas gleiten, seine Hände griffen nach ihr.
Da zitterte es in ihren Brauen und plötzlich schlug sie die Augen auf und blickte ihn unverwandt an. Sie waren dunkel und vom Schlaf verschleiert.
Seine Hände blieben wie gebannt. Er rührte sich nicht. Blickte nur immer und immer wieder in diese weit geöffneten ruhigen Augen.
Dann fielen sie langsam wieder zu, und wieder erblühte das Lächeln auf ihren Lippen.
»Nein!« sagte sie leise und schüttelte den Kopf, als wolle sie sich selbst einreden, die Tatsache, daß er dasäße, sei nur ein Teil des Traumes, aus dem sie halb erwachte.
Aber in Frodes Innerem war es in diesen Sekunden ganz still geworden. Noch hing sein Blick an ihren geschlossenen Augen. Unbeweglich saß er da. Nur hatte er, ohne es zu wissen, behutsam ihr Handgelenk umfaßt. Sie machte eine leichte, unbewußte Bewegung, so daß die Decke von ihrer Brust herabglitt. Aber ihr Atem ging ruhig. Sie schlief wieder.
Da handelte Frode unter dem blinden Zwang eines Gesetzes. Plötzlich fühlte er sich befreit von allen Gedanken und Skrupeln, während ihn das heiße Glücksgefühl erfüllte, an einem Ziel zu stehen, von dem er zuvor nichts geahnt. Behutsam faßten seine Finger den Rand der Decke und schoben sie fort. Er wußte nicht, was in der nächsten Sekunde geschehen würde. Er wußte nichts von Sehnsucht und Begehren. Er wußte nur, daß er tun mußte, was er tat.
Unter dem spinnwebdünnen Nachthemd sah er ihren Mädchenkörper, schmal und fein. Aber er sah ihn seltenfern und unwirklich, wie eine Vision, die seine Hände nicht berühren konnten, wie eine Erinnerung, die nach ihm rief. Denn er kannte seine Umrisse, seine Schatten, seine Grübchen, die fast allzu zarten Hüften, diese ruhige Lage … Und da, unter dem Linnen verborgen, der Schoß … wie ein Strauß dunkler Veilchen …
Da wußte er in einer schwindelerregenden Mischung von Angst und Freude, daß er verloren war, daß ein Schicksal ihm die Hände band. Und tief beugte er sein Haupt herab und küßte die verborgenen Veilchen.
Durch Sifs Körper fuhr ein Zittern, sie streckte sich aus. Dann begegneten sich ihre Augen. Die Augen Sifs waren weit geöffnet, verwundert. Nur Verwunderung und Zweifel las er in ihnen. Weder Zorn, noch Angst, noch Scham.
Waren es Minuten oder Sekunden, in denen einer des anderen Augen festhielt? Frode sah nur diese Augen. Sie wurden größer und dunkler. Zuletzt war es, als starre er in eine Finsternis ohne Ende, ohne Grenzen. Und dieser Finsternis entstieg, fern, ganz fern ein Ton. Ein leises, sanftes Sausen, wie der Flügelschlag von Zugvögeln in der Nacht. Er hatte das Gefühl, als glitte er durch eine Ewigkeit von Zeiten ins Dunkel zurück.
Aber während dieses geschah, hörte er eine leise, fast spröde Stimme sagen:
»Nein, nicht! … Nein, das darfst du nicht!«
*
Ein Raum, dunkel und von Stille gesättigt. Sieben Reihen mächtiger, weißer, viereckiger Säulen trugen ein Dach aus mattem milchfarbigen Glas. Feine Blütendüfte durchwogten die schwere Luft. Sie waren rein und kühl, gleich als seien sie in Tau gebadet, bevor sie hierher gelangten. Sie kamen in Wellen, unspürbar fast, gleich als träufelten sie zusammen mit dem weichen Licht herab.
Ein seltsames, florartiges Dunkel, das er sich nicht zu erklären vermochte, wich langsam von seinen Sinnen. Er stand hinter einer der weißen Säulen, unbeweglich. Lange hatte er so gestanden, das Gesicht dem offenen Raum zugewendet. Er fühlte, wie jede Muskel seines Körpers angespannt war. Die Augen schmerzten ihn vor lauter Starren. Allein er zwang sein Herz ruhig zu schlagen. Er zwang seine Gedanken sich nur auf eines zu richten. Hier drinnen wechselten die Schatten nicht. So konnte er die Zeit und deren Gang nicht erkennen. Und sie kümmerte ihn auch nicht. Jeder ihrer kleinsten Abschnitte bedeutete einen Augenblick, in dem das geschehen konnte, was er erwartete. Und jeder von ihnen sollte ihn wach finden und bereit.
Dieses tiefe, bleiche Schweigen sang beinahe in seinen Ohren, und die ersten Spuren von Klängen, die ihn erreichten, wirkten fast wie eine Entweihung, trotzdem sie kaum wahrnehmbar waren. Es waren weiche Schritte. Sie kamen aus einem der Gänge zwischen den sieben Säulenreihen auf ihn zu. Sie kamen von rechts. Nein, von links. Seine Augen suchten, seine Ohren spitzten sich. Aber noch blieben seine Muskeln gestrafft. Langsam kamen diese Schritte aus allen Ecken des Raumes dahergeglitten. Endlos.
Zwei Gestalten kamen zum Vorschein. Riesenhaft, aufrecht. Sie waren in silberblaue, sackförmige Hemden gekleidet, die beim Gehen in tiefen Falten ihre Knie umwogten. Ihre Gesichter hoben sich dunkelbraun ab von den weißen Säulen. Sie bewegten sich aufeinander zu, zur Mitte des Raumes.
Sie grüßten einander mit erhobenen Armen, jedoch stumm. Als sie sich begegneten, und stehen blieben, kamen noch zwei andere hinter den Säulen hervor, jeder von einer anderen Seite. Sie trafen sich, sie grüßten. Und es kamen noch weitere zwei.
Wie ein flammendes Halbrund sah er diese sechs stummen Männer in dem milchweißen Licht. Ihre Gesichter waren von ihm abgewandt. Wie er standen sie unbeweglich.
Da kam wieder dieser weiche Laut von Schritten – aus weiter Ferne. Und in demselben Augenblick, während er starrte, vergaß er, sein Herz zu zwingen. Es begann zu schlagen, dumpf und stark. Und er merkte, wie ein heftiges Zittern ihm durch den ganzen Körper fuhr.
Aber nur diesen einen Augenblick … Dann straffte er sich wieder von Kopf bis zu den Füßen. Er maß die Entfernung bis zur nächsten Säule. Und mit einem Satz, lautlos, war er dort. Noch nahm er nur Schatten wahr, in weiten Fernen, dort, wo die Säulenreihen zusammenzulaufen schienen. Aber seine Augen, die nicht blinzelten, nahmen die Ahnung zu Hilfe, trennten die Schatten voneinander, sahen nur einen einzigen. Er fühlte, wie es leise um seine Lippen bebte. Und er erschrak.
War er schwach? Jetzt? … Nein!
Er mußte sich nähern. Und ohne die gleitenden Schatten aus den Augen zu verlieren, schlich er sich, in kleinen Pausen, von Säule zu Säule. Jetzt unterschied er zwei von ihnen als Riesen in silberblauen Hemden. Allein der Atem stockte ihm, als er den dritten erkannte. Und doch wußte er, noch bevor er sie sah, daß sie es sein mußte. Um diesen Augenblick des Todes zu erleben, hatte er ja gewartet, während die Stundenewigkeit stumm um ihn versank.
Groß, schlank, geschmeidig schritt sie mitten unter ihnen. Nachtwandlerisch gleitend, den Nacken ein wenig zurückgebogen, so daß die zarte Brust sich straffte. Um ihren Körper hing lose ein weißer, spinnwebdünner Stoff. Die matte, rotbraune Haut strahlte hindurch, durchleuchtete ihn gleichsam von innen mit ihrer Farbe. Das Haar hing gleich einem langen, schwarzen Schleier rückwärts herab.
Jetzt stand er vor ihnen. Er war, mit hurtigen Sprüngen, von Säule zu Säule, vorübergekommen an den sechs, die da warteten. Erst jetzt sah er, daß hinter ihr und hinter den beiden noch ein Mann ging, kleiner als sie und nicht so aufrecht. Seine Haut war heller, seine Augen waren matter, seine Lippen so schmal, daß sie wie aus Stein gehauen schienen.
Als sie stehen blieben, hoben die sechs grüßend die Arme, und die drei antworteten in gleicher Weise. Nur Sif stand unbeweglich. Die Arme hingen schlaff an den schmalen Hüften herab.
Wie Säulen standen sie alle da. Allein er sah, hinter der Säule verborgen, sechs Augenpaare leuchten, wie eine Kette schwarzer Perlen. Es gingen gleichsam sichtbare Strahlen von ihnen aus. Sie spannten Sifs Gesicht in ein seltsames Netz aus stofflosen Fäden ein und lähmten Sifs Willen durch den ihren.
Er sah Sifs Kopf noch weiter nach rückwärts gleiten. Ihr Blick war weit, jedoch erloschen. Ihre Lippen öffneten sich. Zögernd begannen sie ein Wort zu formen, das noch nicht laut geworden war …
Jetzt …! Blieb seinem Herzen Zeit, noch drei Schläge zu schlagen!
Er sprang vor, lautlos und blitzschnell wie eine Katze. Federleicht war ihr Körper in seinen Armen. Er aber war starr wie eine Bildsäule und fast ohne Wärme. Er merkte nicht, daß seine Füße den Boden berührten. Er durchmaß den Raum in langen, federnden Sprüngen.
Hinter ihm kein Laut. Er fühlte aber, wie die Blicke der neun Männer gleich Flammen in seinem Nacken brannten. Ein Nebel legte sich über seine Augen, und ein lähmend kalter Schauer glitt an seinem Rücken entlang. Aber er stemmte seinen heißesten Willen dagegen. Und sprang.
Vor ihm war ein Schlund funkelnden Lichtes, weißer noch als die endlosen, weißen Säulen, die auf seiner Flucht an ihm vorüberwirbelten. Mit einem Aufschrei, der einem dumpfen Heulen glich, sah er, wie die mächtigen, goldenen Tore, von unsichtbaren Händen geschoben, sich einander näherten. Er verwandelte seinen Körper in einen Pfeil, der die Luft durchschwirrte. Allein die Tore glitten dahin. Als seine Füße auf den Staub aufschlugen, als die reine Luft sein Gesicht traf, hörte er, wie sie sich in einem tiefen singenden Dröhnen trafen.
Da schrie er laut auf, erfüllt von Triumph, Angst und Haß. Aber er hielt nicht inne. Vor ihm dehnte sich ein weiter, ein endloser Weg. Stachlige Pflanzen, die gewaltigen behaarten Händen glichen, umgaben ihn zu beiden Seiten. Mehlfeine Wolken wirbelten um ihn empor, während er so dahineilte. Aber seine Schritte verlangsamte er nicht. Er preßte nur das Gesicht des jungen Weibes an sich, um es zu beschützen, und ließ sich vorwärts treiben vom lautlosen Rhythmus seiner eigenen Hast.
Bis jetzt waren ihre Glieder gewesen wie aus Stein. Aber plötzlich, während des Laufens spürte er, wie sie sich gleichsam weich an seine Hände schmiegten. Da jagte eine Welle von Wärme durch die leblose Haut. Der schwache Hauch ihres Atems streifte seinen Nacken. In demselben Augenblick lastete sie schwer in seinen Armen. Und er blieb stehen, mitten auf dem öden Wege. Und beugte sich tief herab über sie und sah ihr in die Augen, die schwarz und stumm waren, weil ihr Geist noch fern war.
Um seinen Mund bebte es. Seine Augen wurden feucht, sein Atem versagte.
»Rhuahiti …!« flüsterte er.
Es wurde seltsam still in seinem Inneren, während ihm dieser Name über die Lippen glitt, wie eine Liebkosung, wie der lockende Triller eines Vogels. Und plötzlich spürte er, daß er müde war.
Aber nur einen Augenblick. Ihr langes weiches Haar fing sich in seinem Arm, und der Anblick ihres Gesichtes, dessen Züge noch seltsam unbeweglich waren, weckte ihn von neuem. Er richtete sich auf und spähte aus. Draußen in der Ferne gewahrte er einen blauen, glitzernden Streifen, ein schmales Band, das den Weg durchschnitt. Wieder umspannten seine Arme ihren zarten Körper. Aber er sog die Luft ein durch die weit geöffneten Nasenlöcher, bis die Brust davon gefüllt war. Und in schweren Wolken wirbelten seine Füße den Staub auf.
Irgendwo, wo der Weg abbog, war eine frischgehauene Öffnung in der Hecke. Da sprang er hindurch. Jetzt breitete sich das Wasser vor ihm silbern und neblig. Er verlangsamte seinen Schritt. Jetzt ging er durch das hohe Gras, das sich an seine Knöchel heftete.
Endlich! Nur ein paar Schritte über den feuchten Sand, in den seine Absätze tief versanken. Dann watete er hinaus in das Wasser zu einem schmalen Boot, das mit zwei langen dünnen Balancierstangen ausgerüstet war. Nicht ein einziges Mal während der Flucht hatte er sich umgeschaut. Erst jetzt, als das Boot leise schaukelnd hinausglitt, suchten seine Augen in weiter Ferne die sieben pyramidenförmigen Türmchen, deren weiße Spitzen glitzerten, als trüge jedes von ihnen einen Stern. Hohn und Triumph sprachen aus seinen Zügen, und seine Zähne blitzten aus dem Dunkel des Mundes hervor, als wolle sich ihnen ein lautloser Fluch entwinden.
Dann wandte er sich ab. Er trieb weiter im Boot und kniete still neben dem jungen, schlafenden Weibe nieder.
Der Strom ergriff das Boot.
Und das Boot glitt dahin. In seltsam lautlosem Rhythmus, der sich stets gleich blieb, schoß es über das opalfarbene Wasser hin. Hätte nicht die Luft in gleichmäßigem Strom seine Stirn getroffen, jedesmal wenn er den Kopf erhob und vorwärts spähte, so hätte er glauben können, es läge still.
Nur ein ganz leises, silberfeines Rieseln war aus dem Wasser vernehmbar, das sich hinter dem Boote schloß. Ab und zu streckte er die Hand aus und beugte ein schlankes, spitzes Rohr herab, das aus dem schmalen Hintersteven emporragte. Dann zitterte es sacht im Boot, und kaum merklich veränderte sich seine gleichmäßig gleitende Richtung.
Unablässig kniete er bei dem jungen Weibe. All sein Leben, all sein Denken sprach aus seinen Augen. Zuerst sahen sie nichts. Sie spiegelten ihr Bild wieder, übermittelten es aber nicht seinem Bewußtsein. Ein schwaches Zucken ihrer Brauen ließ ihn zusammenfahren. – O, diese schmalen, gewölbten Striche, die die Finger der Nacht gezeichnet! Sie machten sie für ihn auf einmal zur Wirklichkeit. Sie war hier! Er hatte sie gefunden, sie ihrem Schicksal entrissen, sich selbst an die Stelle des Schicksals gesetzt. Verzweifelt, sinnlos. Ohne zu wissen, was er tat.
Aber es war geschehen …!
All dies stürmte auf ihn ein wie eine Schar schwarzer Schatten, die sie wiederum vor ihm verbergen wollten. Das machte ihn einen Augenblick ratlos. Aber seine siegreiche Freude fegte sie alle fort. Noch schlief sie. Noch waren ihre holden Züge nicht zurückgekehrt aus den Gefilden des Sternenschimmers. Und es war gut so.
Er beugte sich herab, seine Augen tranken ihre Züge und weideten sich an dem Anblick der schmalen niederen Stirne, auf deren Bronzehaut das schwarze Haar in zwei tiefen Wellen herabquoll. So zart war die Haut der geschlossenen Augenlider, daß er die nadelfeinen hellen Striche der Adern hinter dem Mattbraun zu ahnen glaubte. Dunkle Schatten zogen sich von den Augenwinkeln bis zu der weichen, abgestumpften Nase hin. Dergestalt brannten ihre Züge sich in seine Seele ein, daß er sie nie, in alle Ewigkeit nicht würde vergessen können. Er prägte sie ein in die tiefsten Tiefen seines Wesens, auf daß sie ihm nie, niemals entschlüpfen sollten.
So saß er stundenlang, während die Sonne am Himmel stand, während das Meer blaute und erblaßte. Da traf ein würziger Duft seine Nasenflügel, und er hob langsam den Kopf, als erwache er. Vor ihm leuchtete eine grüne Küstenlinie auf, eine flache, in Nebel gehüllte Insel. – Wiederum drehte er das kleine spitze Rohr hinten, so daß dessen Mündung in die Luft wies.
Als er dann wiederum auf das ruhende Gesicht herabblickte, legte sich ein weicher, zärtlicher Schimmer über seine Augen.
Jetzt war es Zeit!
Er wechselte den Platz, setzte sich ihr zu Häupten und beugte sich vor. Er hielt seine beiden Hände mit ausgespreizten Fingern über die Mitte ihres Körpers, dort, wo die kleine dunkle Blüte des Nabels unter dem Schleier schlummerte. Langsam führte er sie empor über Brust und Hals und hielt inne dort, wo die Bogen der Augenbrauen die Wurzel der Nase berührten. – Ein Zittern durchfuhr ihren Körper. Ein Seufzer hob ihre Brust, spaltete ihre Lippen. Er wiederholte die Bewegung, und dasselbe Zittern folgte, jedesmal stärker und stärker. Es war, als gewännen die Gewebe unter der Haut langsam Leben zurück. Lautlos glitt der Sang des Blutes von neuem durch das Netz ihrer Adern. Die dunklen Blütenknospen der Brüste streckten sich empor. Jetzt sank ihr Kopf langsam zur Seite, und sie atmete tief auf. Das Zittern wurde schwächer und schwächer. Der Schatten eines müden, doch friedlichen Lächelns umspielte ihre Lippen und verweilte dort.
Er erhob sich und spähte hinüber zum Lande. Schon durchleuchtete die Abendröte die Bäume. Langsam wiegte sich das Boot zum Ufer hin. Bald würde es still liegen. Drinnen unter dem Rande der Reeling nahm er ein schlankes Ruder mit einem kurzen, breiten Blatt, und aufrecht, hinten im Boot, trieb er es am Ufer entlang in eine kleine Bucht, die wie eine schmale, geschweifte Klinge sich in die weiche Küstenlinie bohrte.
Vorsichtig, als sei sie ein Kind, das er nicht wecken durfte, hob er das junge, schlafende Weib auf seine Arme und watete an Land. Er folgte einem Pfad, der sich durch niedriges Gebüsch wand. – Fern, in der Dämmerung, die schleierweich sich herabsenkte, leuchtete ein weißes kegelförmiges Gebäude auf. Dort hinein trug er sie, durch ein paar kleine, niedrige Räume zu einer Kammer, wo eine dreiarmige Lampe ihre tiefen Schatten warf.
Er legte sie auf das Lager, das er selbst bei Sonnenaufgang verlassen hatte. Doch als er die Last ihres Körpers nicht mehr auf seinen Armen spürte, war es, als erschlaffe plötzlich jeder Muskel an ihm. Die Schultern sanken vornüber. Die Hände sanken herab. Der Nacken beugte sich. Ein Zittern durchlief seinen ganzen Körper. Seine Augen schauten nicht. Seine Gedanken waren wie dichter Nebel.
So verharrte er eine geraume Weile. Dann begann langsam eine lichte Freude tief in seinem Innern hervorzubrechen. Die wuchs und erfüllte ihn mit einem Jubel – er entsann sich, er wußte, er verstand.
Zart und schlank lag sie da mit ihren jungfräulich schmalen Hüften, die eine kleine, geballte Hand auf der Brust. Das Kinn warf seinen Schatten auf den zarten Hals. Die leicht geschlossenen Lippen umspielte ein Lächeln kindlichen Friedens. Wie jung sie war! Wie zart und unberührt! Einem Blütenstengel gleich war ihr holder Leib! – Und da, unter den Linnen verborgen, der Schoß, wie ein Strauß dunkler Veilchen!
Sein war sie, sein! – Und mochte auch der kommende Tag sie wiederum von seiner Seite reißen. Auf ewig würde er die Süße ihrer Liebkosungen mit sich tragen!
Er sank auf die Knie. Er beugte sich über sie. Er weckte sie, die Lippen gegen ihren Schoß gepreßt. –
»Rhuahiti! Geliebte!«
Da war ihm, als versänke er in ein abgrundtiefes Dunkel. Und aus diesem Dunkel stieg, fern, fern, ein Laut empor, ein leises sanftes Sausen, wie der Flügelschlag von Zugvögeln in der Nacht.
Doch wie ein Rufen aus weiter Ferne folgte ihm Rhuahitis Stimme mit Worten, die entschwanden und sich verloren.
Worte, deren tiefer und leiser Klang noch in seinen Ohren tönte, als er Sifs verwundertem Blick begegnete.
*
Frode schlenderte langsam vom Strande heimwärts. Es war noch früh am Morgen. Doch war die Insel längst erwacht. In der Luft hingen diese vielfältigen Laute, die das Ohr unterscheidet, ohne sie in ihre Bestandteile zu zerlegen, die aber in ihrer Gesamtheit Zeugnis ablegen dafür, daß man nicht allein ist auf der Welt. – Zwei Stunden traumlosen Schlafes hatte er genossen, nachdem er Sif verlassen hatte. Dann war er erwacht. Nicht müde und unausgeschlafen, wie er es erwartet hatte, sondern gleichsam erfüllt von leuchtendem Sonnenschein. Er lachte leise vor sich hin, als er auf seine Uhr sah. Dann kleidete er sich schnell und lautlos an. Vielleicht konnte er noch den Morgenspaziergang erledigen, bevor das Haus erwachte. Zum zweiten Male schlich er die Treppe hinab. Zum zweiten Male stand er im Gartenzimmer, wo Sif schlief. Er wollte auf den Zehenspitzen, ohne den Kopf zu wenden, ohne sich auch nur in Versuchung führen zu lassen, quer durch das Zimmer gehen. Aber er konnte es nicht. Er mußte hin zu ihr und ihr Gesicht anlächeln nur eine einzige Sekunde. Wieder saß er auf dem Rande des Sofas, unbeweglich, fast ohne zu atmen. Wieder hatten sich Sifs Augen geöffnet. Wieder hatte sie ihn verwundert angeblickt.
»Nein, das ist unglaublich!« flüsterte sie. »Du sitzest noch immer hier …?«
Sie hatte ihre Hand in die seine geschoben und sie leicht gedrückt. Dann war sie wieder eingeschlafen. Gerührt hatte er sich über sie gebeugt und ihren schlafweichen Mund mit seinen Lippen gestreift, bevor er ging.
Allein diese wenigen Minuten hatten diese ganze fast unwirkliche Morgenstunde von neuem wirklich und handgreiflich gemacht. Zug für Zug glitt sie durch sein Bewußtsein, während er am Strande entlang ging und sich mit dem Atem des neugeborenen Tages füllte.
Diesen seltsam lebendigen Traum von Rhuahiti hätte er am liebsten von sich geschoben. Es überkam ihn etwas wie schwindelnde Angst, wenn seine Gedanken den Traum streiften. Eine Angst wie vor etwas Bodenlosem, Unbegreiflichem. Aber er ließ sich nicht abschütteln. Jedesmal, sobald er sich klarmachen wollte, was eigentlich heute morgen geschehen war, wob er seine rätselhaften Muster in alle Reflexionen hinein – gleichsam wie der dunkle, fast unhörbare Unterton in dem spielerischen Kampf zwischen ihm und Sif.
Er blieb draußen auf einer schmalen, spitzen Landzunge stehen, seine Augen genossen die gedämpfte Ruhe, indem sie über das ruhige, opalfarbige Wasser schweiften, das noch vom Morgennebel verschleiert dalag. Allein leicht erschauernd entsann er sich plötzlich des Traummeeres, über das er hingesegelt war. Es hatte genau die gleiche Farbe gehabt. – Er schloß unwillkürlich die Augen, um das Bild zu verscheuchen. Aber da geschah das gleiche, wie damals, als er Sifs Augen begegnete: Traum und Wirklichkeit verschmolzen in eines, Rhuahiti und Sif wurden eins für die Dauer einer tausendstel Sekunde.
Und mit einem seltsamen Empfinden, gleich, als ob alle Gedanken in seinem Inneren erfrören, entsann er sich Sifs flehentlicher Worte: »Nein, Liebster – … nicht, nicht …«, die sie ihm zugeflüstert, als ihn der Traum mit sich wirbelte, die noch nicht verklungen waren, als er wieder zurückkehrte zur Wirklichkeit.
Und während der Augenblicke, da sie diese Worte flüsterte, hatte er einen langen Tag des Sehnens, des Trotzes, der glühendsten Anbetung durchlebt. Nicht unwirklich, wie man zu träumen pflegt, sondern durchlebt in Fleisch und Blut wie ein Mensch, der einem Willen folgte, einem Plane … mochten dann auch Anfang und Ende gleichsam wie durch zwei Axthiebe voneinander getrennt sein. Er ging weiter, jetzt nicht mehr zaudernd, sondern nur noch von Neugierde erfüllt.
Er begann diesen Traum, diese Vision, kühl und logisch zu sezieren, wohl hoffend, daß er eine Unklarheit, einen Widerspruch werde feststellen können. Es verblüffte ihn als etwas ganz Seltsames, daß in der letzten Kette der Ereignisse kein Riß war. Nichts war nebelhaft. Es war vielmehr eine Erinnerung von gestern, auf die er zurückblickte, die er gleichsam zum zweitenmal durchlebte. Nicht einmal der junge, bronzefarbene Mädchenkörper unter dem weißen Schleier schien ihm fremd. Noch pochte sein Herz bei dieser Erinnerung. Wiederum empfand er diese unvergleichliche Wonne, als ihre erstarrten Glieder in seinen Armen weich wurden und schwer.
… Und das Lächeln, das heimliche Lächeln, das bis zuletzt ihren ernsthaften Mund umspielte! – Sifs Lächeln!
Wieder zerflossen Traum und Wirklichkeit in eins, fügten sich zusammen wie ein Ring. – Hatte am Ende dies seltsam wundervolle Lächeln das zarte Material gebildet, aus dem sich der ganze Traum geformt?
Unglaublich …! Und nun blieb er wieder stehen und lachte knabenhaft und unbefangen. – War nicht vielmehr das Lächeln des Bronzemädchens Rhuahiti das erste und wahre? War er nicht gestern den ganzen Tag umhergegangen wie im Traum? Hatte ihn nicht Sifs Lächeln an etwas oder an jemand erinnert? Er preßte die Fingerspitzen an die Schläfen, gleich als wolle er diesen phantastischen Einfall krampfhaft festhalten.
Wohl lachte er, jedoch mit einem seltsam schwindelartigen Gefühl in seinem Hirn. Er stand jetzt am Rand der grünen Haferfelder. Er blickte empor zum funkelnden Himmel, wo zarte, leichte Wolken an den fernen Grenzen des Orients hingen und sich wiegten. Das alles umarmte er, erfüllt von einem jähen Drange, sich frei zu machen und zu vergessen, dieses Gespinst des Zaubers und der Unwirklichkeit, das sich jedesmal, wenn er versuchte es zu packen, um so dichter um ihn wand, mit rauher Hand zu zerreißen.
»Nein, nein, nein! Gebt mir meine Maschine …!« sagte er. Und er erschrak, als er seine eigene Stimme hörte. War es schon so weit mit ihm gekommen, daß er anfing, mit sich selber laut zu reden?
Er ging weiter. Er folgte den Haferfeldern, an einem schmalen Pfad entlang und sah in einiger Entfernung den Garten um Simons Haus auftauchen.
Das verursachte ihm einen neuen Schrecken, der wie eine Beklemmung in seinem Inneren haftete. – Wie würden er und Sif sich begegnen im klaren Licht des Tages, an einem Alltagsmorgen, da keine Stimmungswoge ihre Schleier sanft über ihre Augen breitete? Würden sie beide so tun, als sei diese Nacht nicht gewesen? Als hätten sie sich auf der Veranda im Mondschein getrennt, als träfen sie sich erst jetzt wieder? – Würden ihre Augen grau und kalt sein? Würde sie ihr Lächeln verborgen haben hinter der Maske konventioneller Höflichkeit, würde sie, als einzige Entschuldigung für ihn, annehmen, daß es der Wein war, der sein Hirn umdüstert und ihn toll gemacht?
Oder würde sie mit einer heimlichen und scherzhaften Andeutung darauf zurückkommen? … Nein, nein, nein! Das auf keinen Fall! Dann lieber noch zwei kalte, graue Augen!
… Warum?
Hier zerriß die Kette seiner Gedanken. – Ja, warum denn nun? War er etwa in Sif verliebt?
Das Blut schoß ihm in die Wangen. – Wäre er nur das gewesen, dann …! Ja, dann würde er gewiß nicht hier herumgehen und schüchtern, wie ein Achtzehnjähriger, räsonnieren. In dem Falle hätte er eine vollendete Tat hinter sich, wie so oft schon – und weiter nichts.
Aber dies hier? Dies: daß zwei graue Mädchenaugen ihn besiegt, daß sie sein Begehren in Schlummer gewiegt, sein Blut zur Ruhe gelächelt hatten, als es am wildesten stürmte! – Dies: daß er Sifs weißen Körper in seinen Händen gehalten, daß er ihren Schoß geküßt und ihren Busen – und daß trotzdem ihr Mund seine kindliche Weichheit bewahrt hatte, daß in ihren Augen nur das Wundern erstrahlt war, gleich, als glaube sie es nicht! … Wenn seine Lippen auf ihrer Haut brannten, lag sie verhüllt unter einem unsichtbaren Schleier der Keuschheit. Wenn er fragte, wenn er bat, wenn er voll Beben und Sehnsucht ihr unaussprechbare Dinge zuflüsterte, antwortete sie nicht. Sie schüttelte nur schweigend den Kopf und lächelte. Ab und zu schloß sie die Augen und seufzte. Aber wenn er sie fragte, ob er gehen solle, schüttelte sie wiederum den Kopf. – Nein, sie fühlte sich sicher!
War es nur das Bewußtsein, daß sie sich sicher fühlte, so sicher, daß sie sich seiner Glut durch ihr Lächeln allein glaubte erwehren zu können, war es nur das, was ihn gelähmt hatte? War das ganze Wunder am Ende nur eine Frage der Ritterlichkeit? Hatte er verzichtet, weil die Vergewaltigung – und möge sie sich auch noch so sanft vollziehen – der loyalen Kampfmethode eines ehrgeizigen Mannes, der derartige Affären liebt, nicht entspricht?
Er nahm sich nicht einmal die Zeit, diese Fragen zu beantworten. Denn es waren nicht Möglichkeiten, an die er sich wie an eine Art von Erklärungen, befreit anklammern konnte.
Er war nicht davongeschlichen wie ein Hund mit hängenden Ohren und hatte nicht gezischt: Dummes Mädel! oder: Zimperliche Kathrin! oder sonstige Redensarten, mit denen ein Verführer, der keinen Erfolg hatte, seine Niederlage vor sich selbst zu beschönigen pflegt.
Nein, es war etwas anderes geschehen. Aber was?
Das eine wußte er: Hätte sie nachgegeben, hätte sie schweigend und zutrauend genickt, so würde aller Jubel, alle Glut, aller Sang in seinem Blute im nämlichen Augenblick erloschen sein. Dann würde er sie genommen haben, weil alles andere unritterlich gewesen wäre. Dann aber wäre er gegangen, und sein Herz wäre gewesen wie ein Garten voll welker Blumen …
Was war das für eine seltsame, quellenblaue Wonne, die bei ihrem stummen Kopfschütteln in seinem Inneren aufsprang? Was war das für eine gedämpfte Zärtlichkeit, die sein Inneres erfüllte, während er staunend begriff, daß diese Keuschheit, die nicht einmal Scham kannte, unbesiegbar war? Weshalb klopfte sein Herz vor Angst, wenn er fühlte, daß eine Liebkosung ein süßes Feuer in ihrem Blut entfachte? – Und weshalb, weshalb verlockte er sie weiter trotz dieser Wonne, trotz dieser Zärtlichkeit, trotz dieses Bangens? Es war, als zwänge ihn ein blindes Gesetz, das er nicht begriff, um das er nicht wußte.
Er beugte den Kopf. Er wollte flüstern: Sif! Wie eine Frage, wie eine zwecklose Bitte um Hilfe. Allein er flüsterte: Rhuahiti! Und lauschte verwundert, halb zweifelnd, dem Klang des Namens, während er den feingezeichneten Bronzekopf, die goldgetönten Glieder vor sich sah. Dann lächelte er.
Er wußte nicht weshalb, doch plötzlich war es ihm, als bedürfe er keinerlei Erklärung. Es gab keine Frage mehr. Keine Unsicherheit, wie wohl Sif ihm begegnen würde. Im Gegenteil: Ihm war, als müsse er sich beeilen, ihr für etwas zu danken, noch ehe sie ihm zuvorkäme. Fast wurde er ungeduldig.
Er öffnete die Gartentür. Er schritt einher unter dem Schatten der großen Bäume und atmete den Duft ihres frischen Laubes. Er sprang die Verandatreppe hinauf. Die Tür zum Gartenzimmer war geöffnet.
»Sif!« rief er, noch bevor er sie gesehen.
Sif kam, von einem Sonnenstreifen umspielt, zum Vorschein. Sie blinzelte. Beide zögerten, ein wenig scheu, mit einem Lächeln, das nicht hervorzubrechen wagte. Frode beugte den Kopf.
»Sif!« sagte er leise. »Süße, kleine Sif, was soll ich dir sagen …?«
Da erblühte das Lächeln um ihre Lippen. Leicht schlang sie die Arme um seinen Nacken.
»Darüber wollen wir gar nichts reden …, jetzt!« sagte sie rasch und leise. – »Es war ja so schön! …«
Dann schritt sie vor ihm dahin, hinab in den Garten.
*
Die Reklame hatte genützt. Man begann die Insel zu besuchen. Freilich noch nicht, um sich für den Sommer dorten niederzulassen. Aber wenn die Menschen nur erst Geschmack an ihr gewannen und ihren Ruhm verbreiteten, dann …
Die Vormittagsflüge waren vorüber, und sie waren anstrengend genug gewesen. Fremde Gesichter hatten Frode begrüßt, fremde Stimmen waren in seinen Ohren ertönt. Immer wieder hatte er die gleichen Fragen beantworten müssen, stets mit demselben Lächeln, stets mit derselben Geduld. Selbst das blaue Luftmeer wurde für ihn zur Banalität. Ihm war, als hätte man ihn zur Strafe für irgendein, ihm unbekanntes Vergehen an ein großes Projektil festgebunden, das einmal übers andere in die Luft geschleudert wurde und zurückkehrte, ohne ein Ziel erreicht zu haben.
Als es vorüber war, atmete er auf, müde und befreit.
Ach … Und das war Sifs blauer Schmetterling!
*
Simons Garten war wie eine Oase. Unter seinen kühlen Baumkronen konnte man wieder frei atmen. Des Morgens hatte er ihn ganz durchwandert. Er war größer, als er geglaubt, und Frode erkannte Simons Geschmack in manchen Einzelheiten der Anlage wieder.
Dort hinter Schneebeerenbüschen breitete sich ein großer, irisbedeckter Teich. Er war an und für sich idyllisch, aber er hatte Simon gelangweilt. – Als sie während des Morgenrundganges alle vier dorthin kamen, erzählte Frau Lili kopfschüttelnd, er habe schon den ersten Sommer, als sie hier wohnten, angefangen, große Steine vom Strand und von den Feldern mit nach Hause zu schleppen. Stück für Stück habe er sie in die Mitte des Teiches plumpsen lassen. Das sollte ein Fundament zu einer Insel werden. Es habe ihn einen ganzen Sommer gekostet, ihn aufzufüllen, bis der Steinhaufen tragfähig war. Er sollte die getreue Miniaturkopie einer richtigen Insel werden. Nun stand eine kleine, grün gestrichene Bank darauf und kleine saftig-grüne Büsche.
»Das war närrisch!« sagte Frau Lili und schnitt Simon, der während ihrer Erzählung stumm und mit Grabesernst einherging, eine Grimasse. Aber sie mußte zugeben, daß das Kunstwerk auf der ganzen Insel berühmt war.
An anderer Stelle gelangten sie zu einer Laube, die frei auf einem offenen Platze lag. Nur ein einzelner mächtiger Zweig einer fast prähistorischen Riesenlinde wölbte sich noch über ihm. Sie war geformt wie ein Halbrund, und ihr Dach endete in einem niedrigen, offenen Glockenturm, in dem eine kleine grünspanfarbene Glocke hing. Im Inneren war es halbdunkel. Das Licht fiel violett durch ein paar kleine bemalte Scheiben herein, die zu beiden Seiten eines altarähnlichen Aufsatzes prangten. Im übrigen gab es nur noch eine an den Wänden entlanglaufende Bank. Über dem ganzen Raum lag etwas Feierliches und zugleich Düsteres.
Frau Lili lächelte ein wenig verlegen über Frodes Staunen.
»Sie kennen ja Simon …« sagte sie. Und gleich darauf fügte sie, wie um die Stille zu brechen, die sich plötzlich über sie alle gelegt hatte, hinzu, dieser Einfall habe nicht die ungeteilte Anerkennung der Ortsansässigen gefunden. Die meisten seien sogar nahe daran gewesen, ihn als eine Blasphemie zu bezeichnen. Frode nickte. Auch hierin erkannte er Simon wieder –: »Wo liegt dein Observatorium?« fragte er.
Über diese Frage mußten alle lachen. Sie klang fast inquisitorisch, gleich als wolle Frode das rückhaltlose Geständnis erzwingen, daß der Jugendfreund noch all seinen tollen Ideen und Passionen treu geblieben.
Sie gingen weiter durch den Garten. Ein großer Teil war als Jungwald, mit einzelnen hohen Buchen, angelegt, die noch von alters hier standen. Ganz schmale Pfade zogen sich über einen Waldboden, der war wie ein dichter Teppich.
Am merkwürdigsten von allem wirkte eine Gruppe von Palmen, die plötzlich, inmitten einer großen, offenen Rabatte, ihre gespreizten Kronen wie breite Fächer auf hohen, kahlen Stämmen emporreckten. Während des Winters seien sie im Treibhaus, erklärte Frau Lilli, aber im Frühjahr, wenn gute Laune in die Luft käme, würden sie hier eingepflanzt und mit Kisten und allem Zubehör eingegraben.
Zuletzt erreichten sie den mehr menschlichen Teil des Gartens, wie Frau Lilli scherzend meinte. Es war der Teil, der unter ihrer Obhut stand. Er erstreckte sich vor dem Hause und wies geschlossene Nußbaumalleen auf und Rasenflächen mit Rosenbeeten und niedrigen Obstbäumchen, die in Blüte standen. Alles in ihm war eine Ruhe für das Auge. Selbst die Sonne schien hier sanfter, und die Luft trieb ihnen Wogen süßer Düfte entgegen.
Frau Lilli ging voran. Sie wendete ihren kleinen, feinen, kecken Kopf langsam nach allen Seiten und seufzte vor Wohlbehagen.
»Sehen Sie!« sagte sie und deutete über das Ganze hin, »so sollte, meine ich, der Garten des Paradieses aussehen.«
Simon war während der langen Wanderung recht schweigsam gewesen. Kein Glanz verklärte den roten Haarschopf, keine Emsigkeit sprach aus seinen Bewegungen. Selbst sein leicht trippelnder Gang war schleppender als sonst. Jetzt stand er wie geistesabwesend da und folgte Frau Lilli mit den Augen. Müde schüttelte er den Kopf, und seine Lippen verzerrten sich leicht.
»Das meine ich auch«, sagte er. – »Jetzt langweilt mich all das andere! Wollen wir tauschen?«
Frau Lilli breitete die Arme nach ihm aus und lachte.
»Mein Reich ist auch das deine! Ich bin nur die Eva im Paradies, aber Adam hat das Vorrecht.«
Simon ging zu ihr. Behutsam legte er seinen Arm um ihre zarten Schultern.
»Dank!« sagte er leise und feierlich, als habe er ein kostbares Geschenk erhalten. –
So gingen sie weiter.
Sif und Frode folgten ihnen.
In diesem Reich, in Frau Lillis Domäne, saßen Frode und Simon nach dem Frühstück und tranken Sonnenschein. Die Luft war lind und still. Der lenzesüppige Rasen vor ihnen war übersät mit kleinen Häufchen fröhlicher Bellis. Es zwitscherte über ihnen und um sie her. Sie hatten lange schweigend gesessen, versenkt in den Anblick der leichten Rauchspirale.
Simon fuhr sich langsam durch das flammende Haar. Er schnitt seine Grimasse, die wie der sichtbare Abschluß einer langen Gedankenkette wirkte.
»Ich habe heute einen meiner verdrießlichen Tage!« sagte er mit einem entschuldigenden Grunzen, das als ein Lachen gelten sollte. »Na, aber das hast du vielleicht schon bemerkt!«
»Naah,« sagte Frode, »wenn bei dir nicht verdrießlich sein, stumm sein heißt, – aber das kann doch auch einen gewissen Scharm haben … Für beide Teile …«
Simon schaute von der Seite zu ihm hinüber … Weil die Wimpern nicht zu sehen waren, schienen seine Augen im Sonnenschein merkwürdig hell.
»Hast du den Eindruck, daß ich glücklich bin?« fragte er plötzlich ganz obenhin.
Bei dieser Frage wurde Frode etwas unbehaglich zumute. Er liebte es nicht, in eheliche Geständnisse eingeweiht zu werden. Daher begnügte er sich damit, die Achseln zu zucken.
»Jedenfalls müßtest du es sein«, sagte er und, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, fügte er schnell hinzu:
»Kommst du niemals in die Stadt? Das solltest du hin und wieder tun.«
Simon überhörte die Frage. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich über den Nasenrücken. Wie Frode sich noch aus alten Tagen entsann, war das ein Anzeichen dafür, daß er sich in eine Idee verrannt hatte und dann jeder Versuch, ihn davon abzubringen, hoffnungslos war.
»Das ist es ja eben«, sagte Simon plötzlich so heftig, als erwarte er einen Widerspruch, »daß ich bin, was die Menschen glücklich nennen. Aber das langweilt mich. Ich kann es nicht aushalten. Ich vergeude meine Zeit damit.«
»Jawohl«, sagte Frode und nickte ruhig. »Das ist das Beste, wozu man sie verwenden kann!«
Simon wandte sich mit einem Ruck nach ihm um. Der rote Haarschopf reckte sich kerzengerade in die Höhe.
»Hör' auf mit dem weichlichen Geschwätz«, knurrte er. »Ich will mich mit dir zanken, das mußt du doch merken. Ich muß mich entladen.«
Er lächelte ein wenig verlegen über seine eigene Heftigkeit. Bald darauf fuhr er leiser fort:
»Es ist mir durchaus ernst, wenn ich hier sitze und behaupte, daß ein glücklicher Mensch der armseligste Stümper der Welt ist. Ich will mein Glück verkaufen für ein Fünförestück … oder für ein Einörestück, oder für einen Kuhfladen, wenn ich mich so drastisch ausdrücken darf.«
Frode nickte verständnisvoll. Er faßte das als ein Paradoxon auf. Seiner Meinung nach gab es hier keinen Angelpunkt für irgendwelche Widersprüche.
»Denk' an all die neidischen und zähneknirschenden Menschen!« fuhr Simon fort. »Glaubst du etwa, einer von ihnen sei glücklich? Weshalb also soll ich es sein? Ich fühle mich ungerecht behandelt.
»Nimm übrigens, wen du willst; ich will ein Durchschnittsbild von dir entwerfen. Du wirst sehen, daß es mindestens auf zwanzig andere paßt. – Ein Mann steht auf an einem Morgen, der ihm hart und feindlich erscheint, er geht dem neuen Tag entgegen wie einem rachsüchtigen Gegner, der besiegt, gefesselt, ihm unterworfen, vernichtet werden soll. Jede Aufgabe, die ihm gestellt wird, betrachtet er als einen Fauststoß, der pariert werden muß, jeden Fehlschlag als eine heimtückische Falle, so daß er zappelnd versuchen muß, sein Gleichgewicht wieder zu erlangen, bevor er gänzlich danieder liegt. Gleichzeitig muß er sich an seinen eigenen Gedanken erregen, damit er seinem Gegner zuvorkommen kann. Seine Muskeln und seine Nerven sind in voller Tätigkeit, sie kommen nie zur Ruhe. Erlahmt er auch um eine einzige Sekunde während des Kampfes, so hat er eine Chance verloren, hat sich eine Blöße gegeben, und ein schmerzhafter blauer Fleck wird ihn daran gemahnen, daß er so was nicht zum zweitenmal machen darf. Stunde auf Stunde, eine tödliche Schlägerei, eine atemlose Anstrengung ohne Pause. Und zuletzt liegt der Tag da, niedergeschlagen und gebrochen. Aber ein neuer Tag erhebt sich beim nächsten Sonnenaufgang, ebenso stark, ebenso unerbittlich, ebenso feindlich, und steht bereit.
»Glücklich? Glaubst du etwa, ein solcher Mann sei glücklich? Er hat keine Zeit. Er hat nicht einmal Zeit, das Glücklichsein zu entbehren. Er hat keine Verwendung dafür. Aber er hat Freuden! … Und die Freuden, diese tausenderlei kleinen Lichtfunken, die die Seele treffen und sie wärmen und ihr neue Kraft verleihen, ehe sie wieder erlöschen und vergessen werden, sind viel tiefer und wertvoller als die große Terrine voller Glück, die auszulöffeln vom Morgen aller Zeiten an als das Ideal aufgestellt wurde.«
Frode nickte nur hin und wieder. – Er wollte dieser Bildersprache, die an ihm vorüberwirbelte, nicht Einhalt tun, bevor er nicht gesehen, wo sie endigen würde.
»Diese Freude«, fuhr Simon fort, »ist die Freude über den Coup, der gelungen ist, über die Chance, die man ausgenützt hat, über den Plan, der reüssierte, über das Pech, das wieder gutgemacht und zu Lehrgeld umgeformt war. – Es ist die Freude darüber, daß man den Kampf kämpft, daß man seine Gefahren rings um sich her wachsen fühlt, daß man sie durch Klugheit und List umgeht, daß man jede schwache Stelle, die sich zeigt, sofort ausnützt, und jeden Abend am Ziel steht, vor dem geschlagenen Feind, dem unschädlich gemachten Tage. Und dabei gleichzeitig wissen, daß dieser Kampf einen stärker gemacht und besser ausgerüstet hat, um dem nächsten zu begegnen.
»Tag nach Tag auf die Knie gezwungen. Überwunden. Niedergeschlagen, bis man, unbesiegt, gemeinsam mit dem letzten umsinkt! …«
»Und was dann?« fragte Frode, als Simon eine Pause machte. »Was sind nun eigentlich alle diese Freuden wert?«
»Die Freuden? Nichts! …« sagte Simon. »Sie waren nur Lichtschimmer, sie erloschen im nämlichen Augenblick. Sie feuerten nur den Willen an, auszuhalten. Aber es bleibt die Stärke, wenn der Kampf von neuem aufgenommen werden muß!«
Frode faßte sich ein wenig konsterniert an den Kopf.
»Jetzt kann ich nicht mehr folgen«, gestand er ein. »Ich glaubte, du hättest soeben den Kraftmenschen erschlagen.«
Frode pfiff leise vor sich hin.
»Ach so!« sagte er. »Tja, darum streiten sich ja die Gelehrten noch, und ich will mich nicht in den Streit um das Jenseitige einmischen.«
» Na – so!« knurrte Simon. »Ich spreche aber von hier!«
»Ach so!« sagte Frode, um nur irgend etwas zu sagen.
»Glaubst du, daß das Dasein einen tiefen Sinn birgt, oder glaubst du nicht daran?« fragte Simon scharf. – »Glaubst du, der ganze Kampf, der seit Millionen von Jahren auf der Erde tobt, der Individuum gegen Individuum, Nation gegen Nation, Rasse gegen Rasse, gehetzt hat, sei umsonst gewesen? Und glaubst du, der Kampf, den der Mensch mit sich selber, gegen seine Triebe und seine Niedrigkeit, gegen seine Laster und seine Haltlosigkeit, kämpft, sei nur wie Rauch und Nebel, die jäh verschwinden?«
»Davon habe ich keine Ahnung!« sagte Frode. »Aber es sieht allerdings beinahe so aus.«
Simon schleuderte seinen Zigarettenstummel auf den Rasen.
»Schafskopf,« knurrte er, »sieh dir den Apfelbaum dort an, er ist voller Knospen. Morgen oder übermorgen werden sie aufspringen. Er wird Blätter ansetzen, er wird Früchte treiben. Und Blätter und Früchte werden abfallen, und er wird kahl dastehen. Die Lebenssäfte werden seinen Zweigen entsinken, hinab zu verborgenen Quellen. Er wird immer hier stehen bleiben wie eine sichtbare und greifbare Form, aber nur wie eine Form, die darauf wartet, daß der Strom des Lebens sich wiederum in sie ergieße. Dann werden seine Blütenknospen sich von neuem erschließen. Und zählst du sie heute und zählst du sie nach Ablauf eines Jahres, so wirst du sie vervielfacht sehen, und weiter als zuvor wird seine Krone sich ausbreiten. Mehr Platz noch schenkt er dem Strom des Lebens, auf daß er herniederrinne. Er sehnt sich nach einem Ziel, das er selbst nicht kennt. Reicher, üppiger entfaltet er sich mit jedem Jahr, das verstreicht.«
Er senkte die Stimme. Sie klang jetzt gedämpft, beinahe feierlich.
»Und was ist dieser Baum? Woher stammen seine Zweige und Knospen? – Nimm einen dieser kleinen, braunen Apfelkerne in die Hand und vergleiche, bevor du antwortest: Die beiden sind ein und dasselbe! Der Kern ist der Baum. Nicht ein Blatt, nicht eine Knospe, nicht das Atom einer Rinde wirst du finden, das nicht anfänglich im Kern lebte, in ihm schlummerte, wie ein Versprechen, das dereinst gelöst werden würde. Du kannst diesen Kern Jahr für Jahr aufheben, ohne daß das geringste sich ereignet. Schon ist der Baum da mit seiner verzweigten Krone, mit seinen Blättern und mattroten Blüten, allein du siehst ihn noch nicht. Aber wenn du den Kern auf die Erde wirfst, so daß der Strom des Lebens, der darinnen fließt, in ihn hineinrinnen kann … wird sich der erste, zarte Ansatz sogleich entfalten. Und in jedem Sommer wird die Möglichkeit, die in dem Kern verborgen ruhte, sich zur großen Wirklichkeit entwickeln. Und Winter für Winter entweicht der Strom des Lebens, damit die Form ruhen kann. Doch mit jedem neuen Zweige, der hervorschießt, kann im folgenden Jahre ein stärkerer Lebensstrom sich Bahn brechen und das Bild formen, das noch unsichtbar in dem braunen Kern ruhte …«
Simons Stimme hatte, während er sprach, einen ekstatischen Klang gewonnen. Aus ihr sprach etwas wie eine Verkündigung, gleich als sähe er das Wunder der Schöpfung anschaulich vor sich. Frode lauschte verwundert. Dies alles war ja nicht neu. Neu aber war, daß man es auf diese Weise aussprach, daß es einem bildhaft ins Bewußtsein geschleudert wurde. Und er sah es, erlebte es mit, er wurde der persönliche Zuschauer eines Wunders, das alltäglich, aber dennoch unerklärlich war. Es war wie ein Evangelium in schlichten Worten. – Er konnte noch nicht sprechen, nicht fragen, was dies alles, das ja so wunderbar sei, eigentlich mit ihrem Ausgangspunkt zu tun habe. Simon fuhr fort, und seine Augen waren von einer angespannten Unbeweglichkeit, gleich als erlausche er selber das, was er sprach.
»Siehst du, an diesem Meer von Leben erhält jedes Einzige der Allgeschöpfe seinen Anteil, das im Stein schlummert, in der Pflanze träumt, das im Tier ahnt, doch erst im Menschen sich selbst erkennt. Deshalb sind wir verantwortlich dafür, wie wir den Sommer anwenden, der von unserer Geburt bis zu unserem Tode währt. Wir müssen bei der Entfaltung unserer Blätter und Blüten behilflich sein, immer schöner müssen wir werden, jedesmal, wenn wir leben, und wir leben immer weiter: Wir werden stets von neuem geboren und wir sterben stets von neuem, bis das, wozu wir bestimmt sind, sich vollkommen entfaltet hat.«
Frode hörte zu – und hörte doch nicht zu. Jedes dieser Worte traf sein Bewußtsein und versank darin bis auf den Grund … Er dachte nicht darüber nach, er empfing sie nur, wie Steine, die einen Wasserspiegel treffen, die dann wiegende Ringe bilden, die ineinandergreifen und sich ausbreiten gegen einen Gesichtskreis ohne Grenzen. Sein Herz stand fast still. Seine Gedanken umfaßten nur zwei Worte, zwei Namen: Sif … Rhuahiti!
Er erwachte jählings aus seinen Träumereien, als Simon schwieg. Er sah, wie er sich mit den Händen durch die rote Mähne fuhr. Dann hörte er ihn sagen:
»Na, da habe ich dir wohl eine Dosis meiner Lebensphilosophie versetzt. Ich wollte dir durchaus erklären, was ich damit meinte, als ich sagte, ich hätte keine Zeit, um glücklich zu sein. Ob du wohl ein Jota davon verstanden hast?«
»Tja …!« Frode dehnte das kleine Wörtchen.
»Oder soll ich es dir in konzentrierter Form beibringen? Zum Beispiel folgendermaßen: Die Erde ist eine Besserungsanstalt. Die Seele, die sich noch nicht gebessert hat, nachdem sie die ihr zugemessenen Jahre abbüßte, wird wiederum in die dunkle Einzelzelle eines Körpers gesteckt. Und, was die Besserung anbelangt, da sicherlich die wenigsten unter uns Grund zum Prahlen haben, so bleibt das Karussell im Gang.«
Frode zündete eine Zigarette an und reichte Simon Feuer.
»Soll ich dir sagen,« fragte er schelmisch, »zu welcher Strafe du diesmal verurteilt worden bist? Zu der Strafe, glücklich zu sein und zu lernen, diejenigen deiner Mitmenschen, die es nicht sind, nicht zu beneiden.«
Simon lachte aus vollem Halse.
»Weiß Gott,« sagte er, »du bist ein gelehriger Schüler …!«
*
Am Nachmittag, zu der Zeit, da die Bewohner des Ortes in der Regel vollauf mit sich selber beschäftigt waren, sollte die Fahrt stattfinden, die Simon Sif versprochen hatte, noch bevor Frode auf die Insel gekommen war.
Sie hatten verabredet, daß sie aufs Geratewohl am Strand entlang und über die Felder schlendern wollten, so daß man sie stets im Auge behalten und kein Unheil wittern konnte. Gleichsam zufällig wollten sie dann den Weg zu dem primitiven Schuppen einschlagen, den man für die Maschine gebaut hatte. Clausen hatte Order, sie bereit zu halten, so daß sie jeden Augenblick zum Start vorgefahren werden konnte, noch bevor jemand Verdacht schöpfen konnte.
So hatte Sif es gewünscht. Sie wollte keine gaffenden Zuschauer mit banalen Äußerungen und Fragen und Ratschlägen. Sie wollte die Frische des Märchens von Anbeginn der Fahrt an.
Während sie zusammen einherschritten, schwangen sich Lerchen über der Insel. Schweigend gingen sie ganz unten am Wasserrande, wo kleine Wellen einhereilten und den Sand mit klingendem Glockenton erfüllten. Ab und zu begegneten sie ein paar Menschen, die um der Flüge willen die Insel besucht und an ihr Gefallen gefunden hatten. Die grüßten sie, ließen sich aber nicht aufhalten. Sie kamen aus dem Walde hervor, der von der Südspitze hier oben endete. Sie schlüpften zwischen den Stämmen hindurch, dort, wo es weder Weg noch Steg gab. Noch war der Waldteppich weich, allein schon begann er lichter zu werden. Die Kronen lichteten sich bereits. Hier drinnen, wo es so still war, daß einer fast den Atem des anderen hörte, trafen sich ihre Blicke ganz plötzlich, begegneten sich mit einem fragenden Ausdruck. Und beide lächelten, und ihnen war, als sei ein ungesprochenes Wort plötzlich ausgesprochen.
»Was sollen wir denn eigentlich von uns beiden glauben, Sif?« fragte Frode mit einem leisen Seufzer.
Sif schüttelte schweigend den Kopf.
»Ich glaube, gar nichts«, sagte sie. – »Ich gehe umher mit einem Gefühl, als müsse ich jeden Augenblick erwachen. Vorläufig glaube ich nichts von alledem.«
Frode streichelte ihre Hand, die schlank und biegsam war. Fast glaubte er zu spüren, wie das Blut unter ihre Haut schoß, wie dessen leises Pochen in einer stummen und geheimen Sprache zu ihm redete. Es lockte ihn gerade, das zu sagen, was er nicht ausgesprochen haben wollte.
»Ist es nicht, als liebten wir einander?« fragte er. Er sah, wie dieser hurtige Lichtstreif, der einem Lächeln glich, um Sifs Mund zuckte. Sie beugte den Kopf herab.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. Die Stimme zitterte gleichsam in ihrer Kehle, noch bevor sie die Lippen erreichte. – »Es ist eher …«
»Was?« fragte Frode, als sie innehielt und nach Worten suchte.
»… als hätte in diesen Tagen ein blauer Falter zwischen uns geleuchtet. Zwischen dir und mir. Aber wir fürchten uns, beide, ihn zu fangen, ihm ein Leid zuzufügen. Er ist so zart und fein, und zerbrechlich. Ich weiß nicht, was er von uns will. Ich weiß gar nichts. Aber manchmal meine ich, wir sollten ihn flattern und leuchten lassen, bis er wieder im blauen Äther verschwindet.«
»Willst du das am liebsten?« fragte Frode.
Es klang fast wie eine leise Bitte.
»Ob ich es will …?« wiederholte sie verwundert, während sie ihn flüchtig anblickte. »Ich glaube nicht, daß hier von Wollen oder Nichtwollen die Rede ist.«
Sie gingen schweigend weiter. Vor ihnen lichtete sich bereits der Wald, und unwillkürlich bogen sie ein wenig von der geraden Richtung ab, um die Zeit künstlich zu dehnen.
»Sif!« sagte Frode bald darauf, »ich will dir etwas Seltsames erzählen. Ich habe von einem braunen Mädchen geträumt. Sie war auf einer fernen Insel und sie hieß Rhuahiti. Und das warst du.«
Sif machte einen Augenblick halt, gleich als lausche sie diesem Namen. Dann wiederholte sie ihn weich und langsam.
»Rhuahiti …«, sagte sie. »Das klingt wie ein Vogelgezwitscher. So möchte ich heißen.«
»Du wirst es nicht glauben. Aber ich träumte es heute nacht, während ich an deiner Seite saß. Ich griff in dein Schicksal ein, ich weiß nicht – weshalb. Ich rettete dich vor etwas. Ich weiß nicht vor was. Ich weiß nur das eine: daß ich dich liebte. Ich entführte dich über ein weites, perlmutterfarbenes Meer zu einem Ort, ich weiß nicht wohin. Dort legte ich dich nieder. Dort küßte ich dich. Nicht deine Lippen, aber deinen Schoß. Und als ich es tat … warst du wieder Sif!«
Sie drückte ganz leise seine Hand, aber sie hielt den Blick gesenkt.
»Wenn ich es nur wäre!« sagte sie leise.
Aber es war, als blieben diese Worte in der Luft hängen, als schüfen sie zwischen ihnen ein halb vertrautes, halb banges Schweigen. Keiner von ihnen wagte die Frage zu beantworten, ob dies ein Bekenntnis oder ein sanfter Vorwurf gewesen. Die Worte waren unbedacht, fast wie ein Seufzer von ihren Lippen gekommen und konnten nicht mehr zurückgerufen werden. Sie wurden wie ein neuer Faden eingewebt in das Gespinst, das ihre Herzen verband. Es war …
Frode hielt inne. Er umfaßte Sifs Schläfen behutsam mit seinen beiden Händen und schaute ihr während einiger Sekunden in die Augen. Sie blickte ernsthaft und fragend zu ihm auf.
»… Es war der blaue Falter«, flüsterte er. »Er flatterte von deinen Lippen, und er küßte die meinen. Spürst du es?«
Sie schien bewegt. Ihre Augen wurden dunkler. Still, wie in Gedanken verloren, bot sie ihm ihre Lippen dar.
Sie gingen weiter, etwas schneller jetzt. Ohne daß sie es verabredet hatten, strebten sie beide hin zum Waldessaum, wo sie den freien Himmel zwischen den hohen Baumstämmen hindurchschimmern sahen. Beschwingt, wie befreit, schritten sie dahin, gleich als wäre eine Last, von der sie nichts gewußt, von ihnen genommen. Plötzlich lachte Sif ihr helles und zugleich gedämpftes Lachen. Sie wußte nicht weshalb. Sie begann zu laufen. Frode eilte ihr nach. Es gab eine behende und atemlose Flucht, quer über die Felder. Erst hinter dem Fliegerschuppen holte er sie ein. Er hob sie in seinen Armen empor. Ihr Kopf sank zurück, und ihre Augen schauten ihn unverwandt an, flehend.
Da flammte in seinem Erinnern ein Bild auf: ein staubiger, endloser Weg. Ein schlanker Frauenkörper, der schwer in seinen Armen ruhte, während er, atemlos vom Lauf, stehengeblieben war. Er beugte sich tief über sie.
»Rhuahiti …!« flüsterte er.
Sie ließ sich auf die Erde herabgleiten. Sie ordnete das Kleid über den schlanken Hüften und bohrte die Zähne in die Unterlippe. In diesem Augenblick sprach aus ihrer ganzen Haltung, ihrem ganzen Mienenspiel, etwas Hingebungsvolles, etwas halb Anmutiges, halb Scheues, halb Neckisches. Plötzlich dachte er daran, wie jung sie noch war.
»Ach du!« sagte sie, und wieder lachte sie gedämpft und doch hell, wie zuvor. »Wir sind doch ganz närrisch, alle beide! Ganz und gar närrisch, nicht wahr?«
»Und da drinnen«, fuhr sie ermahnend fort und deutete auf den Schuppen, »geht Clausen umher und wartet …«
*
Clausen kam, wie immer, krabbelte aus irgendeinem verborgenen Winkel mit Wischer und Ölkanne heraus. Er und die Maschine waren bereit.
Sif war ein wenig verstimmt, weil ihr Gesicht und ihr ganzer Körper derartig eingehüllt werden sollten, daß man kaum die Nasenspitze sah. Es war doch so sommerlich warm und still. Allein sie fügte sich Clausens schweigend abschätzendem, ein wenig mitleidigem Blick mehr als Frodes Erklärungen. Sie ließ alles über sich ergehen, wie man sie auf dem Sitz neben der Maschine installierte, wie man sie einhüllte. Frode saß schon und wartete. Er drehte sich flüchtig nach ihr um, während Clausen den Motor in Bewegung setzte. Er fing ihren ruhigen, gespannten Blick auf und ihr Lächeln. Das war es, was er hineintragen wollte zu den blauen, hellen Himmeln in die große, singende Stille. Dorthin, wo es weder Zeit gab noch Raum.
»Jetzt segeln wir zu der vergessenen Insel!« rief er ihr zu. Er wußte nicht, ob sie ihn hörte. Die Luft schlug brausend gegen sein Gesicht und riß die Worte mit sich fort. Dann begann es sanft zu schaukeln. Dann stiegen sie empor.
Er wendete die Maschine in tiefen, weichen Spiralen. Der Gesang der Kolben durchtönte ihn. Dieser rhythmische Sang, den er liebte, weil er ihm verkündete, daß die Erde und alles, was irdisch war, von ihm genommen wurde wie eine Last, die zu vergessen ihm während einer begnadeten Stunde vergönnt war. Wieder war es der Raubvogel, der über die Welten dahinsegelte, auf dem Fluge von einer Ewigkeit zur anderen. Allein diesmal nicht ohne Beute. Er hielt ein Herz in seinen Klauen, ein warmes und pochendes Herz, ein lebendiges Versteck für einen unbekannten Traum. Deshalb stieg er so hoch empor und so frei. Deshalb eilte es ihm nicht. Mochten die Stunden unter ihm dahinrollen. Mochten die anderen sie zählen, ihn bekümmerten sie nicht.
Ein kleines, behendes Licht zuckte durch all seine Sinne. Er hatte sich noch nicht gefragt, wer es entzündet hatte, noch von wem es genährt wurde. Er fürchtete sich, den Blick darauf zu richten und es dadurch zu einer nüchternen Wirklichkeit zu machen. Aber sein Bewußtsein umkreiste es heimlich, enger und stets enger, bis es endlich die Flamme erreichte. Würde es dann erlöschen? Oder würde sein ganzes Wesen auflodern bei dieser Begegnung?
So, gefährlich und doppelbewußt, hatten seine Gedanken sich daran gewöhnt zu spielen, wenn er allein war in der Luft und die Zeit belanglos schien. Das lähmte ihm weder Sinne noch Nerven, die gleich scharf über Strom und Richtung wachten. Es war nur eine Spaltung, die ihn gleichsam in zwei Welten versetzte, von denen die eine erträumt, aber deshalb nicht unwirklicher war, als die andere. Es war eine Fata Morgana, die er verlachte, wenn er sich auf festem Boden befand, die er aber hier oben um nichts in der Welt vertauscht hätte.
Er hielt im Steigen inne und legte die Maschine horizontal. Er merkte, wie sie, sich wiegend, seinem Willen gehorchte. Er wählte keinen Kurs. Nur immer geradeaus. Und dann, nachdem eine Ewigkeit verstrichen war, sinken, sinken, sinken. Da lag wohl dann die vergessene Insel. Er lächelte heiter. Wie seltsam zu wissen, daß Sif dort hinter ihm saß, so dicht, daß er sie hätte fassen können, wenn er sich umwendete. Wenn er es täte! Wenn er das Rad los ließe! Wenn er die Brücke zur wirklichen Welt abbräche und, seinen Mund an den ihren gepreßt, in schwindelndem Sturz an der blauen Küste der Fata Morgana an Land spränge!
Würden ihre Augen beben in diesen flüchtigen Sekunden? Oder würden sie nur erblauen in ruhigem Wunder? Und würde sie flüstern: »Ich glaube es nicht …?«
Er lachte vor sich hin. Denn er wußte, daß auch dieser tolle Gedanke nur ein Spiel war, eine Wolke, die Gestalt annahm in seinen Gedanken.
Aber er brachte ihn dem kleinen, leuchtenden Licht näher. Schon streiften es die Flügelspitzen seines Bewußtseins, und ein Zittern durchlief ihn. Wieder fühlte er Sifs weiche Lippen auf seinem Munde in einem kurzen, sanften Kuß, der ihm fast weihevoll erschien.
So hatte er noch nie zuvor einen Kuß empfangen! Ohne Verlangen, ohne Glut, ohne daß er etwas verlangte oder gab. Es war dieser seltsame Zwang, der über ihnen beiden lag. Als schuldeten sie einander noch mehr Güte, noch mehr Schönheit, noch mehr wortloses Glück, als sie beide es besaßen, ohne daß sie es voneinander wußten. – Seitdem sie einander als Fremde gegenüber gestanden, bis zu diesem Augenblick, da sie ihm ihren Mädchenmund in harmloser Freude gereicht hatte, waren sie gleichsam blind, mit geschlossenen Augen, und ohne es zu wissen und zu wollen, aufeinander zugewandert.
Ja, sogar schon vorher! Noch bevor sie das geringste voneinander wußten, hatten sie beide geahnt, daß ein dunkles Schicksal im Begriff war, sich zu entfalten. – Hatte Sif es nicht geahnt, als sie am Strand war und seine Maschine auf sich zugleiten sah, hoch oben und in weiter Ferne, wie einen großen, blauen Falter? War sie nicht den ganzen, ersten Tag schweigend umhergegangen, Ausschau haltend, nach dem, was sie ahnte, bis sie plötzlich glaubte, es in einem zufälligen Tonfall erhaschen zu können? – Und er selbst? Hatte er nicht, als er unter sich die graue Stadt sah, als er unbeschwert durch den funkelnden Morgen vorwärts brauste, geträumt, daß er zu einem fernen Stern segelte, um irgendwo an einer grünen Küste zu landen – so fern, so grün, so taufrisch, daß alles, was er bisher gekannt und erlebt hatte, ihm halb vergessen und nebelhaft erschien? Und war es nicht genau so geschehen? Hatte nicht Sifs Lächeln, dieser jähe Lichtstreifen über den grauen Augen ihn getroffen, wie eine Ahnung, wie eine Erinnerung, die etwas ihm Unbekanntes rief?
Wie tief, wie eindringlich mußten sie sich noch begegnen, bis dieser seltsame Schicksalsfaden zu Ende gesponnen war.
»… wir werden geboren und wir sterben, wir werden wieder geboren und sterben wieder, bis …!« Plötzlich hörte er Simons leise verkündende Stimme in seinem Innern flüstern. Und gleichzeitig erschien ihm wieder das Doppelbild Sif – Rhuahiti. Er sah die schwindelerregende Brücke, die seine Gedanken in einer Sekunde errichtet hatten. Und sein Herz stand still …
Dann riß er sich los. Dazu gehörte eine kräftige Willensanspannung. Er spürte, daß seine Wangen brannten, daß seine Pulse hämmerten. War er denn im Begriff, irrsinnig zu werden? War er nicht allmählich im Begriff, in eine ungesunde Sentimentalität hineinzugleiten, in eine unfruchtbare Phantasterei, deren er sich dereinst – wenn sie verflogen sein würde wie ein Nebel – vor sich selber würde schämen müssen? War es nicht besser, sie mit den eigenen Händen zu zerreißen, sich von ihr frei zu machen, den Tatsachen nüchtern in die Augen zu sehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen?
Ja! Er wollte landen! Sollte er sofort umkehren? Vielleicht auf die Südküste der Insel heruntergehen? Dort, wo es geschehen konnte, ohne daß ein Auflauf verursacht wurde, wo sie verschwinden konnten, bevor Leute herzukamen? Sollte er es Sif unumwunden eingestehen, daß er nun alle Gleichnisse und Symbole satt habe? Daß sie nun hingelangen müßten, zum Kern, falls es überhaupt einen gäbe. Daß, wenn sie nicht in Spiel und Unaufrichtigkeit und Gefallsucht enden wollten …
Ja, was dann …?
Er zerriß mit einem Ruck die Gedankenreihe. Noch tiefer wollte er nicht in sie hineingleiten. Jetzt waren es Worte, klare Worte zwischen ihm und Sif, die erforderlich waren. Dann war es vielleicht vorbei, erloschen. Aber es würde glückselig sein, reinigend wie ein klares, kaltes Sturzbad. Seine Augen hatten begonnen, nach Richtung und Kurs auszuspähen. Wo war er eigentlich? Hatte er sich am Ende jetzt in seiner Tollheit so weit von bekannten Orten entfernt, daß er genötigt sein würde, stundenlang zu kreuzen, um sich wieder zurechtzufinden?
Er fuhr ein wenig hinab, um sich besser zu orientieren. Der blaue Meeresspiegel stieg zu ihm empor, breitete sich leuchtend aus. Eine kleine Strecke von ihm entfernt, tauchten einige verstreute weiße Flecken auf. Waren es Sandbänke oder kahle Inseln? In weiterer Entfernung sichtete er noch einen weiteren Flecken, der sich ganz ansehnlich ausnahm. Recht breit und langgedehnt lag er da. Er wuchs hurtig, als Frode den Kurs auf ihn zu nahm. Ja, freilich war es eine Insel aus purem Sande, mit einer schmalen, grünen Verbrämung an den Rändern, vielleicht frisch aufgespülter Tang, vielleicht Binsen?
Er ging noch tiefer hinab. Er überprüfte alles mit den Blicken.
Die wahnsinnige Idee, dort zu landen, war ihm durch den Kopf gegangen. Wenn die Oberfläche nur fest genug war, so daß die Räder nicht einsanken, dann würde es schon gehen. Und sie war lang genug zu neuem Start.
Seine Hände packten das Rad fester, und er spannte alle Nerven an. Er machte seine Berechnungen, während er den Kurs auf die äußerste Spitze der Insel nahm. Er hielt den Motor an. Er lachte knabenhaft, als der lautlose Gleitflug begann.
War er auf der Suche nach einer vergessenen Insel gewesen, so zeigte sich, weiß Gott, hier eine, deren sich gewiß nicht viele Menschen entsannen! …
Er begegnete Sifs lachenden Augen, als er auf den Sand herabsprang, der festgestampft dalag wie ein Dreschtennenfußboden. Es sei gewiß eine etwas trügerische Insel, meinten sie beide. Sie machte den Eindruck, als verbringe sie genau so viel Zeit unter, wie über dem Wasser.
»Aber nun werfen wir uns für eine Stunde zu ihrem König und zu ihrer Königin auf!« sagte Frode lachend. – »Nachher mag sie meinetwegen wieder verschwinden, wie die Atlantis.«
Die Sonne brannte hoch über ihnen. Sie breiteten Decken aus und ließen sich Seite an Seite nieder. Das Wasser rieselte leise um sie her. Ein Schweigen legte sich über sie, nachdem sie erst ein paar Zigaretten angezündet und es sich bequem gemacht hatten.
»Hier werde ich gern wohnen …«, sagte Sif nur und lächelte mit geschlossenen Augen.
Frode blickte sie an, dieses sanfte Profil, diesen weichen, kindlichen Mund. – Und es durchschauerte ihn, als er daran dachte, daß er während einer flüchtigen Sekunde auf dem seinen geruht. Dann biß er die Zähne zusammen.
»Nein, nicht mehr!« Jetzt, jetzt mußten sie sich aussprechen. Er warf die Zigarette fort und umfaßte ihr Handgelenk.
»Sif!« sagte er. Seine Stimme hatte einen leisen und zärtlichen Klang, fast war es, als fürchtete er, fortzufahren.
»Sif!« wiederholte er gleich darauf, fester, und ruhiger jetzt. »Hast du den Mut ehrlich zu sein? Oder willst du lieber, daß ich ihn habe? …«
Sie schaute verstohlen und scheu zu ihm empor. Dann schüttelte sie flehentlich den Kopf. Sie ließ ihn nicht fortfahren. –
»Erzähle mir von Rhuahiti!« bat sie. – »Währenddessen will ich träumen.«
Er empfand die Worte fast wie einen Schlag. In ihm wallte ein jäher Trotz empor, ein blinder Wille zum Handeln. Seine Arme umfaßten ihre dünnen Schultern. Er bog sie. Sein Mund war dem ihren so nahe, daß er spürte, wie ihr Atem ihm entgegenwogte.
»Wir beide …« flüsterte er, »wir beide haben mehr als genug geträumt. Ich liebe dich, und jetzt …!«
Da geschah es von neuem – – – – – –
– – – Ihre Augen wurden ein Dunkel ohne Grenzen. Und von diesem Dunkel, das ihn umschloß, stieg dieser leise ferne Ton, dieses sanfte Sausen empor, wie der Flügelschlag von Zugvögeln in der Nacht. Weit, weit in der Ferne hörte er Sifs Stimme. Ihre Worte erreichten ihn nicht. Nur der Klang, der sich endlich verlor wie ein spröder Glockenton. – – –
So … – mit den Armen ihre zarten Schultern umschlingend, und sein Gesicht dicht über das ihre gebeugt, hielt er Rhuahiti. Aus ihren großen, traubendunklen Augen, die gerade in die seinen blickten, sprach Angst. Es war, als ob sie ihn in einer Sekunde lähmten und unschlüssig machten. Sie bemerkte sein Zögern im nämlichen Augenblick und in diesem Augenblick hatte sie sich mit einem blitzschnellen, geschmeidigen Ruck frei gemacht.
Er spürte, wie ihre kühle, glatte Haut seinen Händen entglitt. Er griff nach ihr. Aber da stand sie schon weit von ihm entfernt und lachte schalkhaft.
Er erhob sich schnell, fast stöhnte er vor Staunen und Enttäuschung. Er wollte ihr nacheilen. Doch schon merkte er, wie ihm die Hast durch die Glieder jagte. Aber mit einem Ruck nagelte er seine Füße an die Erde. – Es war alles vergebens. Er war rascher, sie war geschmeidiger. Er würde sie doch nicht einfangen.
Allmählich pochte sein Blut ruhiger. Er begann zu lachen wie sie, während er den schmalen Metallring fester um das Haar preßte und seine Schärpe enger anzog. Er streckte die Hand zur Versöhnung aus und ging langsam und friedlich auf sie zu.
Sie zögerte. Noch stand sie auf dem Sprung.
Wie jung sie doch war! Ganz jung und zart. Wie sie so dastand, glich sie einem weichen, goldenen Blütenstengel. Jede Linie an ihr lebte und bebte. Das Licht spielte und sprühte in ihrem glatten, doch eigenartig belebten Haar. Von der rechten Achsel bis zu den kindlich schmalen Knien war sie fest eingehüllt in ein breites weinrotes Band, dessen schräge Windungen sie noch schlanker erscheinen ließen. Die matte Bronzeglut der zarten, dunklen Arme hob sich noch tiefer und dunkler ab von den leuchtend roten Korallenringen, die sie zwischen Schulter und Ellenbogen schmückten. Unter dem linken Knie baumelte lässig ein ähnlicher Ring. Aber am goldensten von allen, war die unbedeckte linke Brust! Jung, fest und straff, mit der schwarzen, schlummernden Blütenknospe der Warze.
So sah er Rhuahiti in leuchtendem Licht, und fürchtend, sie könne trotzdem entfliehen, blieb er stehen.
»Hör' mich an, Rhuahiti«, bat er mit matter Stimme. »Ich schäme mich vor dir. Du sollst keine Furcht mehr haben.«
»Ich habe Furcht!« antwortete sie ebenso matt, doch immer fluchtbereit. »Ich wage nicht, dir zu glauben.«
»Du darfst mir deine Hände reichen …!« sprach er und streckte sie zusammengelegt ihr entgegen. »Binde sie mit deiner langen roten Schärpe.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Würdest du mich jetzt ohne Schärpe sehen«, sagte sie lachend, »so würden nicht einmal Kupferfesseln dich binden können. Laß mich gehen.«
Er trat vorsichtig um einen Schritt näher. Dann blieb er wiederum stehen. Sie war gleichzeitig etwas zurückgewichen.
»Rhuahiti … Liebe!« flehte er. »Was soll ich dir zum Pfande geben? Meine Augen? Mein Herz? Meine Kehle …? Du magst sie mit deinen Händen zerreißen, wenn ich dich berühre!«
Sie schüttelte lachend den Kopf.
»Das ist zu wenig! Das ist alles miteinander schon verspielt. Deine Augen, weil sie mich zwingen wollten. Dein Herz, weil es mich begehrte. Deine Kehle, weil sie treulose Worte flüsterte.«
Er stand einen Augenblick, als mäße er die Entfernung bis zu ihr. Aber, er gab die Absicht, einen blitzschnellen Sprung zu wagen, sogleich wieder auf. Noch bebte die Scheu in allen ihren Gliedern. Sie würde fort sein, noch bevor er dort angelangt wäre.
»So setz' dich doch dort, wo du stehst«, bat er. »Ich werde einen Pisangzweig abbrechen und ihn dir zuwerfen. Dann setze ich mich hierher. – – – Aber geh nicht!«
»Ja!« sagte sie. »Ich werde mich setzen, wenn du dich gesetzt hast. Denn ich traue dir weniger als zuvor!« – –
Zwischen ihnen war ein Abstand von fünfzehn Armlängen. Sie schleuderten die Worte hin und her. Rhuahiti spielte anmutig mit dem breiten, hellgrünen Pisangblatt und drehte es am Stiel, so daß ihr Gesicht bald im Licht, bald im Schatten war. Eine Fontäne, irgendwo, zwischen dem dichten Gebüsch des Meeres verborgen, rieselte fein und hell. Über ihnen spannte sich der Himmel im Dunst der Mittagshitze.
»Wie lange willst du noch so weiter spielen?« fragte er. »Wie lange willst du noch Kind sein?«
Sie beugte den Kopf, so daß das Gesicht für einen Augenblick vollständig beschattet war. Sie lächelte. Ihre Zähne blitzten.
»So lange ich noch träume«, sagte sie. – »Vor dem Erwachen fürchte ich mich. Ich habe noch nie gesehen, daß es einen Menschen glücklich gemacht hat.«
»Was weißt du vom Glück, du kleines dummes Mädchen?« sagte er spöttisch lachend. – »Was weißt du von etwas, was du nicht kennst?«
Sie biß sich auf die blutroten Lippen und wiegte sich sanft in den Hüften.
»Doch«, sagte sie mit ihrer sanften Stimme, »wenn ich hier sitze, und du sitzest da, dann könnte ich sagen: komm her zu mir! Und du würdest kommen. – Aber ich sage es nicht!«
Er schüttelte verwundert den Kopf.
»Das verstehe ich nicht!« sagte er.
»Das wußte ich, daß du es nicht verstehen würdest!« erwiderte sie lächelnd. »Denn du glaubst, das Glück sei etwas, das man ergreifen und sofort ergreifen soll. – Ich aber meine, es sei etwas, auf das man warten muß … bevor man es gibt.«
Ihm verging der Atem.
»Rhuahiti …« flüsterte er. »Spielst du nun wieder, oder …?«
»Spielen?« wiederholte sie verdrießlich. – »Es war eine Blüte, die ich dir zuwarf. Willst du sie nicht aufheben, so laß sie liegen.«
Bald darauf lachte sie wieder.
»Rücke um eine Armlänge näher! Ich gestatte es dir.«
Er begann zu ermüden, gehorchte ihr aber dennoch. Wenn sie gesagt hätte: »Stehe auf und gehe«, so würde er auch das getan haben. Sie hatte während des Wortspiels es einzurichten gewußt, daß sie ihre eigene Sanftheit wie ein Netz über ihn breitete. Er war gefangen. Seine Kraft sank schlaff zu Boden.
Er sah, daß sie selbst es merkte. Ihre Haltung wurde freier und leichter. Dann steckte sie den Stengel des Pisang in die Erde neben sich und in seinem Schatten dehnte und reckte sie ihren zarten Körper in dem seidenfeinen Grase. Sie stützte das Kinn in beide Hände.
»Erzähle mir Freund«, bat sie, »erzähle mir von der Stadt mit den goldenen Toren!«
»Ich bin ihr entflohen«, sagte er müde. – »Was willst du sonst noch wissen?«
»Ist sie groß?«
»Ja!«
»Und schön und reich?«
»Ja, Rhuahiti! Und alle ihre Gärten blühten. Aber ich erstickte in ihnen. Und ihre Springbrunnen sangen Tag und Nacht, bis ich selbst verstummte. Da flüchtete ich zum Tempel des Sonnenspiegels, um zu lernen, die Farben nicht zu schauen, die strömenden Wasser nicht zu hören …«
»Und – lerntest du es?« fragte sie flüsternd.
Plötzlich erhob er sich. Sein Körper spannte sich wie eine geschmeidige Klinge. In seinen Augen blitzte es wie ein fernes Leuchten.
»Nein, Rhuahiti«, sagte er. – »Nein, ich lernte es nicht. Denn als ich still wurde, erwachte in mir etwas, das mich rief. Keine Stimme. Kein Ruf. Nur eine Sehnsucht, dunkel und duftend, aus weiter, weiter Ferne. Und dann …!«
»Und dann …?« wiederholte sie atemlos, als er innehielt.
»Dann folgte ich diesem dunklen Ruf! Folgte ihm über das große, perlgraue Wasser. Ahnte mich vorwärts zu ihm, zu einer grünen Küste. Machte nicht halt, bevor ich das Herz fand, das nach dem meinen rief!«
Sie hatte sich wieder auf den Fersen aufgerichtet. Sie saß da mit gesenkten Augen und im Schoß gefalteten Händen.
»Fandest du es …?« fragte sie leise.
»Ja!« sagte er hart. Er preßte die Zähne zusammen, und in seinen Augen leuchtete es, halb Zorn, halb Trauer. – »Ich kam zu dieser pisangbelaubten Insel, und da rief es nicht mehr. Aber die da gerufen hatte, wollte gar nichts von mir.«
Sie hatte sich aufgerichtet. Halb abgewandt stand sie da – scheu. Sie atmete schnell, ihre Nasenflügel bebten. Aber sie rührte sich nicht. Es war, als bände er sie mit dem unsichtbaren Bande seines Willens. Selbst als er rasch auf sie zuging, blieb sie stehen. Sie senkte nur den Kopf, gleich als erwarte sie, es solle an ihr ein Urteil vollstreckt werden.
Er streckte die Arme nach ihr aus. Doch bevor er sie berührt hatte, erstarrte er plötzlich. Einen Augenblick stand er unbeweglich. Seine Augen verschlangen jeden Umriß ihres blütenzarten Körpers. Dann endlich sprach er, und seine Stimme klang seltsam tief und bewegt.
»Rhuahiti, du magst gehen!« sagte er. »Du magst gehen, wohin du willst und zu wem du willst. Ich werde dir nicht folgen!«
Ein leichter Schauder durchfuhr sie. Es war, als erwache sie. Sie senkte den Kopf noch tiefer. Dann richtete sie sich auf und ging. Er stand wie gebannt und blickte ihr nach. Ihr eng anliegendes, rotes Gewand leuchtete flammend, während sie dahinschritt. Ihre Füße trugen sie fast zögernd, so wollte es ihm scheinen, zu einem üppigen Rosenstrauch, dessen mächtige, schalenförmige Blüten gleichsam von Licht durchstrahlt waren. Dort blieb sie stehen und erhob die schönen Hände. Sie umfaßte Blüte um Blüte, gleich als suchte sie die schönste, die reichste, einen blutroten Becher ohne Fehl.
Er wollte sich abwenden, um zu gehen. Allein er konnte es nicht. Alle Nerven sangen und klangen in ihm, und eine schwere dunkle Süße rieselte seinem Herzen entgegen. Über seine Augen legte sich ein Schleier, seine Zunge wurde trocken.
Jetzt hörten ihre Hände auf zu suchen. Er sah, wie ihre Finger einen Zweig umfaßten und ihn abbrachen. Sie hielt die tiefe, köstliche Blüte zur Sonne empor. Sie drehte und wendete sie vor ihrem Auge. Dann kehrte sie sich um und kam langsam, noch immer zögernden Schrittes auf ihn zu.
Er wollte ihr zurufen, daß sie einhalten, daß sie gehen solle. Aber er konnte es nicht. Nun war es ein plötzlich aufwallender Zorn, der ihm die Zunge lähmte …
Oh! Oh! Es würde gefährlich sein für sie, wenn sie ihm die Blüte reichte!
Es war, als habe sich die Farbe der Rose ihrer bronzegoldenen Haut mitgeteilt. Sie lächelte wie ein Kind. Er sah, daß sie Blut an den Händen hatte.
»Sieh!« sagte sie. »Die leuchtendste Blüte habe ich für dich gepflückt. Die schönste. Die tiefste. Nimm sie, wenn du willst. Und vergiß sie, wenn sie verwelkt ist. Vergiß, daß sie nie mehr gleich ihren Schwestern träumen wird, weil sie dir zur Freude geknickt wurde!«
Sie lächelte unablässig, und ihre Stimme klang sanft und leise. Sie umwogte ihn, gleich als wäre sie verwoben mit dem kühlen Duft der Rose.
Er streckte seine Hände aus, um zu gleicher Zeit ihre Hand und die Blume zu umfassen.
»Rhuahiti!« flüsterte er. »Weshalb riefst du, wenn doch die Stunde noch nicht gekommen ist?«
Sie blickte ruhigen Auges zu ihm empor.
»Habe ich dich denn gerufen?« fragte sie verwundert.
Da stieg wiederum der Zorn in ihm empor. Seine Zähne blitzten unheildrohend. Er beugte sein Gesicht zu dem ihren hinab.
»Und das wolltest du nicht wissen!« zischte er, »du bist eine Tochter Foltecs und solltest nicht wissen, daß deine Seele schon vor deiner Geburt an eine andere gefesselt ist mit einem festen Bande. Und du solltest nicht wissen, daß all ihr Sehnen an diesem Bande entlanggleitet, um wie in süßem Rausch in dieser anderen zu erwachen? Und du solltest nicht wissen, daß er kommt, wenn du rufst, und sei es auch aus den fernsten Gegenden der Welt. Und du solltest nicht wissen, daß du gerufen hast …!«
Sie senkte den Kopf, und die Hände, die die Rose umfaßt hielten, sanken auf ihren Schoß herab.
»Doch, ich weiß es!« sagte sie bebend. – »Aber ich wollte nicht, daß du so kämest. Ich rief nur, daß du kommen und die Rose sehen solltest, die für dich blühte. Sieh sie und teile ihre Träume!«
Wieder nahm ihre Stimme seine Sinne gefangen. Ihm war, als müsse er ihr zu Füßen fallen und sich ausweinen. Aber er stemmte seinen Zorn dagegen. Sie sollte nicht immer Siegerin bleiben. Er wollte … er wollte …
Da hob sie leicht und anmutig die tiefe Blütenschale zu ihm empor. Noch bebte das Lächeln um ihre Lippen.
»So nimm sie doch … und nimm auch mich!« sagte sie.
Er griff nach der Rose und riß sie an sich. Sie stieß einen leisen Schrei aus, denn ihre Dornen rissen ihr die Finger auf.
»Schau!« rief er ihr zu. »Schau! Und wenn du geschaut hast, so geh!«
Er schleuderte die Blume zu Boden und trat mit dem Fuß darauf. Tief versank sein Absatz in den weichen Boden. Allein es war, als verstümmle, als töte er nun aus freiem Willen etwas, das zerbrechlicher war und heiliger als eine Blume.
Plötzlich wurde es seltsam still in ihm. Die Sehnsucht, der Zorn, die Erregung, – alles war plötzlich geschwunden. Er sah nur dies fremde Weib da vor sich, schöner als irgendeine andere. Er sah ihren weinroten Gürtel und ihre golden leuchtende, stolz sich hebende Brust.
Er sah ihr in die Augen, die, groß und traubendunkel, weit geöffnet waren, furchtsam, als hätten sie etwas geschaut, das sie nicht verstehen, nicht glauben konnten.
Er vermochte nicht sich abzuwenden von diesen Augen. Ihr Dunkel zog ihn an, trug ihn zu Abgründen der Ewigkeit. Allein tief in seinem Innern stieg ein ferner Klang auf, ein sanftes Sausen, wie vom Flügelschlag der Zugvögel in der Nacht. Der Laut kam näher. Näher und näher. Und er stieg. Er klang zuletzt wie das sanfte Plätschern kleiner Wogen gegen Sand. Er hörte ihn noch, als das Dunkel wich, als er vor sich Sifs Augen sah und ihren Mund, der dem seinen so nahe war, daß er den Hauch ihres Atems an seinen Wangen spürte.
*
Unfaßlich schien es Frode, wie und weshalb Simon und Frau Lilli einander jemals gefunden hatten. Gleich das erstemal, als er sie gesehen, hatte ihn dies mit Staunen erfüllt. Hin und wieder ertappte er sich bei dem Gedanken, daß sie zwei verschiedenen Rassen angehören müßten, die keinerlei Berührungspunkte miteinander haben konnten. Und seine Verwunderung war nicht geringer geworden in diesen Tagen, da er Gelegenheit gehabt hatte, festzustellen, wie Simons kaleidoskopartiges, ewig wechselndes Wesen sich seit den Tagen seiner frühesten Jugend nicht im geringsten verändert hatte. Vielmehr schien es bei dem gereiften Mann noch greller, oft sogar beinahe grotesk zu wirken.
Allein Frau Lilli ging mit ihrem ruhigen Lächeln umher, in den Stuben, im Garten, überall und jederzeit. Und jede ihrer Bewegungen, ihre Haltung, und ihr ganzes Mienenspiel verriet, daß sie ganz einfach hierher gehöre. Sie ging hier umher mit derselben Selbstverständlichkeit wie Sif, gleich als gäbe es für sie keinen anderen Ort auf der Welt.
Und doch hatte es Frode verblüfft, als er sah, wie diese tropische Palme ihre Federkrone über einem grünen dänischen Rasen wölbte. Wie eine Treibhauspflanze wirkte sie, die man auf fast naturwidrige Weise in den freien Boden verpflanzt hatte. – Leicht und graziös, wie ein feines Porzellanpüppchen, das in Stücke gehen würde, wenn man es mit etwas harten Händen berührte.
Ihr Profil paßte in einen der Teesalons der Hauptstadt, ins erste Parkett bei einer mondänen Theaterpremiere, es erinnerte unwillkürlich an weich gepolsterte Sessel in einem von französischen Modejournalen überschwemmten Kabinett. Von so irgendwoher mußte sie wohl auch gekommen sein, wie er aus verschiedenen zufälligen Bemerkungen hatte schließen können. Und um der Wahrheit die Ehre zu geben, er hatte geglaubt, als Simon am Vormittag mit seiner Frage gekommen war, daß es sie wieder dorthin ziehe.
Im Gegenteil! »So meine ich, sollte der Garten des Paradieses aussehen!« hatte sie selbst gesagt. Und Simon hatte von einem so schlackenreinen Glück geschwärmt, daß in ihm fast etwas wie ein Aufruhr entstand.
Frode selbst war aus Frau Lilli nicht klug geworden. Fünf bis sechs Jahre hatte sie nun hier in einem einsamen entlegenen Winkel gelebt. Und nicht eine der Stunden dieser Jahre schien ihren Zügen auch nur den leisesten Stempel der Müdigkeit aufgeprägt zu haben. Freilich kam Sif recht häufig für längere oder kürzere Zeit zu Besuch. Aber das waren doch immerhin nur Besuche. Und dann waren sie Schwestern. Als eine Abwechslung konnte man das also nicht wohl bezeichnen.
Er traf sie an diesem Abend im Blumengarten. Mit alten braunen Handschuhen an den Händen stand sie da und hantierte eine langschaftige Harke mit einer Virtuosität, daß es mehr wie ein Spiel erschien als wie eine Arbeit. Aber ein zusammengescharrter Haufen Unkraut zeigte, daß das Spiel jedenfalls ein Resultat gezeitigt hatte. Frode trat galant hinzu und erbot sich, sie abzulösen. Sie aber lachte und umfaßte den Schaft noch fester.
»Setzen Sie sich lieber da auf die Bank und unterhalten Sie mich«, sagte sie. – »Oder glauben Sie, ich will hier meine Reseda Ihretwegen verderben lassen?«
Er setzte sich, dem Befehl gehorchend. Aber seine Unsicherheit ihr gegenüber ließ ihn nur banale Sätze finden. Er stellte fest, daß dieses Frühjahr erstaunlich milde sei, und sie pflichtete ihm ohne weiteres bei. Er meinte, es sei merkwürdiger Zufall, daß er an einem gänzlich unbekannten Ort bei einem längst vergessenen Jugendfreund gelandet sei. Sie gab ihm auch hierin recht. Er sprach die Hoffnung aus, daß die Pulver, die er Sif kürzlich verabfolgte, sie von ihren Kopfschmerzen befreien möchten, und sie teilte unbedingt diese Hoffnung.
Es gab tausend verschiedene, unterhaltsame Einfälle, und zu jedem von ihnen lächelte Frau Lilli ein seltsam innerliches Lächeln, das Frode nervös und unbehaglich stimmte. Er wäre geflüchtet, hätte er bloß einen Vorwand finden können. Aber er wollte dennoch bleiben, um zu sehen, ob es ihm denn nicht gelingen würde, in einem blitzartigen Aufleuchten diese Maske zu ergründen, hinter der sie sich verbarg.
Als wiederum eine neue Pause entstand, schaute sie ihn verstohlen an und lächelte. Dann schien sie es nicht mehr notwendig zu finden, ihre Heiterkeit noch länger zurückzuhalten.
»Sind Sie immer so geistreich?« fragte sie neckend. »Dann allerdings kann ich es verstehen, daß Sif von dem langen Alleinsein mit Ihnen Kopfschmerzen bekommen hat!«
Frode errötete. Er hatte eine kurze, scharfe Erwiderung auf der Zunge. Aber er verbiß sie sich. Er zuckte nur die Achseln und lächelte halb verlegen, halb entschuldigend.
»Leider«, sagte er, »mehr habe ich nicht zu vergeben.«
Sie drehte sich rasch nach ihm um.
»Wieder!« sagte sie verdrießlich, und es bildeten sich ein paar Falten auf ihrer kleinen, allerliebsten Nase. »Weshalb wollen Sie mit mir nicht wie mit einem richtigen Menschen sprechen? Soll ich Ihnen sagen, was Sie jetzt geantwortet haben müßten? Sie hätten ohne Umschweife sagen müssen: Weil ich mich daran gewöhnt habe, mit den Wölfen zu heulen, unter denen ich mich befinde! Habe ich nicht recht?«
Frode war überrumpelt.
»Liebe, gnädige Frau …!« begann er lachend. Aber sie ließ ihn nicht ausreden.
»Unsinn!« sagte sie. »Ja oder nein? Haben Sie etwa nicht den Mut, aufrichtig zu sein?«
Frode senkte den Kopf.
»Nun ja …«, sagte er. »Wenn Sie mich gleichsam zwingen, dann …!« Ihm war nicht wohl zumute bei dem Geständnis.
»Wissen Sie«, fuhr sie fort und sie stützte sich auf den Schaft des Rechens, »daß Sie dadurch über Ihre eigene Intelligenz mehr als über mich den Stab brechen? Sie beurteilen den Hund nach seinen Haaren!«
Frode begann die Fassung wiederzufinden.
»Tja!« gestand er lächelnd, »in dem Fall mag es wohl ein Windspiel sein, wofür ich Sie gehalten habe …!«
»Oder ein Seidenpudel!« meinte Frau Lilli. »Aber nehmen Sie sich in acht, denn ich kann gehörig beißen, wenn es mich packt.«
Sie setzte sich neben ihn auf die Bank.
»Verstehen wir uns jetzt etwas besser?« fragte sie.
»Im Gegenteil!« erwiderte Frode. »Ich bin weniger orientiert als je. Sie gleichen wirklich einem … ja, also sagen wir, einem Windspiel.«
Sie blickte lächelnd auf ihre Hände herab.
»Sagen Sie mir«, sagte sie, »wenn ich nun wünsche, für mich und alles, was zu mir gehört, hier auf dieser Insel den Frieden anzustreben: wie müßte ich mich Ihrer Ansicht nach betragen?«
»Dann müßten Sie wie eine Hexe aussehen«, sagte er.
»Meinen Sie?« fragte sie, und es legte sich ein kleiner spöttischer Zug um ihre Mundwinkel. »Ob das nicht gerade eine zu allgemein menschliche Maske wäre, die infolgedessen entgegengesetzt wirken würde? Ich hatte mich gerade dazu entschlossen, mich als Fee auszustaffieren. Und es hat sich gezeigt, daß ich recht hatte. Man meidet mich. Man glaubt, ich sei eingebildet.«
»Das sind Sie vielleicht auch!« lachte er, »da Sie an Menschenverachtung leiden.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das stimmt auch wieder nicht«, sagte sie, »ich habe nicht das geringste gegen die Menschen … wenn sie mir nur nicht zu nahe kommen, sonst lenken sie mich ab.«
»Von was …?« fragte er erstaunt.
»Von …« Sie zuckte ungeduldig und fast resigniert die Achseln. »Von …, von allem, was für mich dem Leben Farbe und Tiefe verleiht: von der Stille, dem Licht, der Freude, dem Traum. Was weiß ich, was es ist, oder wie es genannt wird. Von all dem, was da ist, wenn man die Augen schließt und schweigt. Von all dem, was die meisten Menschen gar nicht kennen, weil sie immer mit weit aufgerissenen Augen umherrennen und schwatzen, schwatzen, schwatzen …!«
»Tja!« gab Frode zu. Nun war er es, der ein schalkhaftes Lächeln verbarg. »Das tun wir wohl … zuweilen! Was halten Sie in der Beziehung von Simon?«
Frau Lilli schüttelte nur den Kopf.
»Nein!« sagte sie, »da kommen Sie wieder mit etwas Dummem. Wenn Sie Simon kennen, so müssen Sie auch wissen, daß er gerade, wenn ihn die Redseligkeit packt, am allermeisten schweigt. Das ist eine seiner Methoden, sich selbst zu isolieren!«
»Wissen Sie,« sagte sie bald darauf, »daß ein Mensch, oder zwei Menschen in dieser Weise eine Atmosphäre schaffen können, die sie beinahe beschützt? Ich meine das buchstäblich: ich meine die Luft um sie her in dem Garten und in den Stuben, wo sie sich bewegen. So stark kann die werden, daß andere, die von draußen her, vom Lärm des Alltags kommen, und deren Nervensystem nicht danach abgestimmt ist, nicht in ihr zu leben vermögen. Es legt sich ein Druck auf sie, der fast unerträglich wird. Sie benehmen sich gezwungen. Alles was sie sagen, klingt ihren eigenen Ohren wie ein Mißton, so daß sie alsbald wieder schweigen. Sie versinken in tiefe Melancholie … und haben nicht einmal den Mut, Lebewohl zu sagen und zu fliehen, weil sie Angst haben, daß man den Grund erraten könnte. Sie bleiben und bleiben und leeren den Kelch der Selbsterniedrigung bis auf den Grund!«
»Sie sind auch Psychologin, wie ich sehe!« sagte Frode komplimentös.
»Das nicht gerade«, erwiderte sie lächelnd. »Aber da ich das alles an mir selbst erfahren habe, kann ich den Zustand wohl beschreiben. Und eigentlich habe ich Respekt vor den Menschen, denen das widerfährt. Es ist nämlich ein Zeichen dafür, daß sie das besitzen, was man Charakter nennt. Ihr Gefühlsleben und ihre Gedanken schwingen in einem ganz bestimmten Rhythmus und leisten dem fremden Rhythmus, der ihnen entgegenschlägt, starken Widerstand. Finden Sie, daß das überspannt klingt?«
»Nein«, sagte Frode. »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen.«
»Ja, verstehen ist nun wieder ein gar starkes Wort«, lachte sie. »Das tue ich kaum selbst. Aber dafür weiß ich um so sicherer. Vielleicht weil ich selbst in der Beziehung ein wenig sentimental bin. Ich glaube, jeder Mensch ist in einen gleichsam unsichtbaren Schleier gehüllt, der aus alledem zusammengewebt ist, was man denkt und träumt, wünscht und fürchtet, liebt und verachtet. Aber da die meisten sich mit irgend etwas von alledem nicht auf eine auch nur einigermaßen selbständige Weise abgeben, so weben sie ihre Schleier aus üblichen Ansichten, Herkömmlichkeiten, Vorurteilen und banalen Betrachtungen. Jede Bagatelle, die sie von anderen aussprechen hören, und die ihnen ein wenig Vernunft zu enthalten scheint, reißen sie an sich, als wäre es ihre eigene, und weben sie wie einen neuen Faden in den Schleier ein. Er ist so zart und luftig, daß ein Hauch aus dem Munde irgendeines geschwätzigen Agitators ihn zu zerreißen vermag. Aber sobald sie bemerken, daß jemand zufaßt in der bestimmten Absicht, ihn ihnen zu entreißen, so klammern sie sich daran, um nicht ganz nackt dastehen zu müssen. Und dann zeigt es sich, daß er zähe genug ist, zähe und elastisch wie Gummi …!«
Frode hatte sie nur immerfort verwundert von der Seite angesehen. Er sah plötzlich, daß ihr Mund, der sonst so sanft zu lächeln oder sich etwas spöttisch zu verziehen pflegte, auch ernsthaft werden konnte. Und daß seine Umrisse dabei gleichsam strenger wurden und dem ganzen Profil ein völlig neues Gepräge gaben. Ihm war, als sähe er erst jetzt ihr Antlitz, wie es wirklich war.
»Aber …«, sagte er, um sie zum Weiterreden zu veranlassen, »alles, was Sie da sagen, bestärkt mich nur in meiner Ansicht, daß Sie eine Menschenfeindin sind!«
Sie atmete tief, gleich als wolle sie den Abendfrieden des ganzen Gartens in sich aufnehmen.
»Nein«, sagte sie leise. »Aber ich will mir nur selbst meinen Traumschleier weben dürfen. Ich will kein fremdes Muster darin haben!«
Sie richtete sich plötzlich auf und blickte ihm forschend in die Augen.
»Sie glauben, ich rede in Gleichnissen«, sagte sie. »Aber das tue ich nicht. Für mich sind Gedanken ebenso wirklich wie Dinge. Und dieser Schleier, von dem ich rede, ist für mich eine Wirklichkeit. Nichts Böses oder Häßliches oder Niedriges kann durch seine Maschen dringen, wenn ich es nicht will. Und ich kann ihn nehmen und ihn ausbreiten über die, die ich liebe. – Und das ist das Schöne daran, daß, wenn zwei Menschen, die sich lieben, zusammen gehen und zusammen schweigen und zusammen träumen, die Rhythmen ihres Sinnes in den gleichen Akkorden stimmen. Dann wird das Muster in ihren Schleiern eins. Mögen sie auch so verschieden sein, wie Sonne und Schatten, wie weiß und schwarz, bauen sie doch eine Atmosphäre um sich, die für sie den Frieden birgt.
»Wie ein klarer Himmel wölbt er sich über ihnen und auch über den Ort, wo sie wohnen, wie ein Himmel, den sie mit all ihren Wünschen, mit all ihren Gefühlen und Gedanken bevölkern. Sie umschweben sie wie unsichtbare Elfen. Sie kommen und flüstern ihnen was ins Ohr, Böses oder Gutes, je nach ihrem Wesen. Und sie erblühen oder welken dabei, je nach der Antwort, die sie erhalten. – Finden Sie, daß das phantastisch klingt?«
»Ja«, gestand Frode ein. »Aber es ist schön, trotz allem!«
»Es macht einen so froh und frei, so ruhig, wenn man daran glaubt!« sagte Frau Lilli. – »Es drängt mich, Ihnen das Geheimnis zu enthüllen, weil Sie anscheinend zu den wenigen gehören, die ungefährdet atmen können, hier, wo Simon und ich meist umhergehen und die Luft so infizieren, daß die meisten fliehen.«
Frode lachte erheitert.
»Na«, sagte er. »Das bedeutet nicht gerade allzuviel. Ich bin wahrhaftig zu sehr im Gleichgewicht, als daß ich von so wenig Atemnot bekommen sollte.«
»Oder«, meinte sie, »Sie waren, bevor Sie kamen, aus irgendeinem Grunde darauf eingestellt, so daß Sie sich gleich davon einfangen ließen.«
»Vielleicht«, gab Frode zu und wurde plötzlich nachdenklich. »Vielleicht war ich wirklich von vornherein … wie Sie es nennen, auf allerhand eingestellt. Und vorläufig bedauere ich das nicht!«
»Bedauern?« wiederholte sie verwundert. »Wieso?«
»Nun ja«, sagte er so obenhin. »Meinen Sie nicht, daß ich den Eindruck mache, als befände ich mich sehr wohl?«
Es entstand eine kleine Pause. Dann sagte Frau Lilli plötzlich:
»Es ist übrigens sehr merkwürdig, daß ich vor gar nicht langer Zeit einen anderen Menschen die gleichen Worte sprechen hörte. Ganz unvermittelt, gleichsam um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.«
»War das … Sif?« fragte Frode. Und ohne es zu wollen, zögerte er ein paar Sekunden, bevor er ihren Namen aussprach. Er wußte selbst nicht weshalb.
Sie blickte ihn forschend an. Auch sie hatte das kurze Zögern bemerkt.
»Nein,« sagte sie, »es war ein junger Maler, mit dem wir befreundet sind. Wir nennen ihn Bob. Er bewohnt ein Zelt unten auf der Südspitze der Insel und kommt häufig hierher.«
»Von ihm habe ich bisher noch nichts gehört«, sagte Frode erstaunt. »Ist er etwa einer von der Sorte, die achteckige Köpfe malen?«
»Ja«, sagte sie. »So pflegt man sich wohl auszudrücken, wenn man seine geistige Überlegenheit behaupten will. Er ist sogar ausgeprägt achteckig.«
»Und wohl auch blasiert«, fügte Frode hinzu. »Da ihn die Flugveranstaltungen nicht herauflocken konnten!«
»Sie werden ihn eher abgeschreckt haben, soweit ich Bob kenne«, meinte Frau Lilli. »Aber wenn alle anderen so lange geflogen sind, bis sie müde und blasiert werden, dann könnte es ihm wohl ähnlich gehen, sich mit extra frischem Appetit einzufinden.«
»Kommen Sie«, sagte sie. »Jetzt fällt der Tau. Und ich muß auch für den Tee sorgen, bevor Simon heimkommt.«
Sie gingen schweigend die Apfelbaumallee entlang. Die Blüten leuchteten matt in der Abenddämmerung. Sie erinnerten Frode plötzlich an Simons Hymnus auf die Wiedergeburt, und unwillkürlich zog er den Vergleich mit Frau Lillis Traumhimmel. Er mußte lächeln. Was waren es doch für zwei Fata-Morgana-Seelen, die einander hier gefunden hatten!
Dann fragte er plötzlich – und er merkte selbst, wie unmotiviert seine Frage klang:
»Und Sif? Wie geht es ihr in bezug auf das Atmen … hier?«
Frau Lilli blieb stehen und blickte seitlings zu ihm empor:
»Jetzt wollen Sie mich zum besten haben«, lächelte sie. »Aber ich werde Ihnen trotzdem antworten.«
Sie umfaßte einen knospenschweren Zweig und beugte ihn herab.
»Kennen Sie etwas Zarteres und Reineres als dies?« fragte sie. »So zart und rein ist der Schleier, in den Sifs Seele gehüllt ist. Er ist gewoben aus unfaßbaren Mädchenträumen. Ihr kann niemand etwas Böses zufügen … wenn sie selbst es nicht will!«
Frode beugte das Haupt. Sein Herz war plötzlich erfüllt von Erregung und Sehnsucht und Glück. Wäre Frau Lilli nicht gewesen, er würde am liebsten jede einzelne dieser zarten Apfelblüten geküßt haben.
*
Wiederum war es eine milde und lichte Maiennacht. Wiederum wiegte sich die Luft flimmernd über Garten und Strand und Feldern. Wiederum stand Frode am offenen Fenster und ließ von diesem florfeinen Licht sich betören. Und als er es wieder erkannte, überkam ihn plötzlich eine große Verwunderung. Er hätte am liebsten laut aufgelacht, so unwahrscheinlich dünkte es ihn, daß dies erst die zweite Nacht sein sollte, die er hier auf der Insel verbrachte. Daß nur anderthalbmal vierundzwanzig Stunden, also zwei Tage und eine Nacht, zwischen jetzt und dem Augenblicke lagen, da sie wie ein grüner Streifen aus dem Meere auftauchte!
Er schüttelte den Kopf. Er konnte es nicht glauben. Es mußten Nächte und Tage und wiederum Nächte und Tage dazwischenliegen. Sie mußten sich gleitend und spurlos ineinander verwoben haben, so daß er es nicht bemerkt hatte, wie sie sich ablösten.
Oder war vielleicht dies die erste Nacht und erwachte er erst jetzt nach ein paar endlosen Sekunden, in denen er all das geträumt hatte, was er gelebt zu haben glaubte? War das nicht wahrscheinlicher?
Er ließ diesen Gedanken in seinem Hirn spielen, als wäre er Wirklichkeit. Er eröffnete noch tiefere und dunklere Perspektiven für den wilden Rausch, der ihn mitgerissen hatte, und der ihn führen würde, – wohin, wußte er nicht.
Aber hatte er das Ganze nur geträumt, geträumt, während eine sanfte Nacht vor seinen bewußtlosen Sinnen gaukelte, würde er dann diesen Traum lebendig machen können, indem er ihm Schritt für Schritt folgte? Würde alles von neuem geschehen, wenn er nun behutsam die Treppe hinunter schlich? Würde er das Gartenzimmer, in dem lange Ranken wilden Weines, wie grüne Girlanden, an den Fenstern herunterhingen, von weißem Morgenlicht erfüllt finden? Würde er Sif schlafend antreffen, das Gesicht von welligem Haar umrahmt? … Und würde er wieder durch Ewigkeiten dahinwirbeln und Rhuahiti auf der vergessenen Insel begegnen?
Oder gehörte dieser Traum im Traum am Ende gar nicht dazu? Lag er noch tiefer?
Würde es vielleicht auch möglich sein, zu ihm hinabzusteigen? Diesen noch unwirklichen Traum eines Traumes zur Wirklichkeit zu machen? Durch den Raum zu segeln, bis eine grüne Insel auftauchte?
Ja, aber hatte er denn nicht gerade das getan? Vor anderthalb Tagen? War denn dies die Insel, auf der Rhuahiti einherwandelte? Oder war es die, auf der Sif ging? Oder befand er sich überhaupt nicht auf einer Insel? War er nie geflogen? Hatte er auch das nur geträumt …?
Ein Kälteschauer, der ihn vom Kopf bis zu den Füßen durchrieselte, brachte ihn jählings zur Besinnung. Er spürte kleine kalte Schweißtropfen auf seiner Stirn. Es wurde ihm ein wenig schwindlig, und sein Herz begann laut zu klopfen. Er umfaßte die Fenstersprossen mit hartem Griff, wie um sich zu überzeugen, daß sie da seien, daß doch etwas Handgreifliches übriggeblieben war. Ihm war, als sei er bei einem sausenden Sturz in einen Abgrund ohne Boden plötzlich aufgehalten worden. Als hätte er geahnt, daß alles das, was man für Wirklichkeit hielt, es nur auf eine relative, ganz vergängliche Art und Weise war, so daß er zerfließen konnte in jeder beliebigen Sekunde, um wieder zu erstehen in einer anderen Form, die ebenso wirklich erschien. Es war das unentbehrliche Daseinsgefühl selbst, das er während der Dauer einer flüchtigen Sekunde verloren hatte. Deshalb pochte sein Herz so angstvoll.
War es Müdigkeit? – Nur zwei Stunden Schlaf hatte er in der letzten Nacht genossen und dabei hatte er seinen Nerven soviel zugemutet. War es ein Warnungssignal, daß sie jetzt die Grenze erreicht hatten, daß sie zu versagen drohten?
Doch war sein Kopf seltsam leicht und klar. Er fühlte nicht den geringsten Drang zu schlafen. Er war nicht einmal sicher, daß er es können würde, wenn er zu Bett ginge.
Während diese Gedanken sein Gehirn durcheilten, packte er sich im Nacken, hielt sie im Lauf an und hielt sie fest, noch bevor sie feste Gestalt angenommen hatten. Jetzt wollte er doch zeigen, daß er selbst noch ein klein wenig Willen hatte. Ganz wollte er sich denn doch nicht von Stimmungen unterwerfen lassen!
Er zündete kein Licht an. Er riß sich nur die Kleider vom Leibe, rasch und entschlossen, ehe er etwa wieder ins Träumen geriet. Er bemerkte nun bereits zum zweiten Male, wie gefährlich das Gespinst war, mit dem diese halbhelle Nacht da draußen seine Seele umfing. Nun wollte er sich selbst beweisen, daß er der Stärkste war, daß er alledem entgehen konnte, indem er sich einhüllte in den gesunden Schleier des Schlafes.
Als das kühle Laken ihn bedeckte und er den Kopf in die Polster legte, merkte er erst recht, wie müde er war. Der Schlaf kam über ihn fast wie eine Betäubung, so daß er sich des Genusses der Ruhe nicht mehr bewußt ward. Das Gefühl wurde gleichsam getötet in der nämlichen Sekunde, da es entstand …
In derselben jähen Art erwachte er. Das Dunkel, das wie ein weicher dicker Teppich über seinen Sinnen gelegen hatte, wurde gewaltsam zerrissen. Er schlug die Augen auf und erblickte die Glut des ersten Tagesschimmers. Ihm schwebte eine unausgesprochene Antwort auf den Lippen und ein seltsames, halb bewußtes, halb träumendes Empfinden, daß er gerufen worden sei. Nicht von einer Stimme, denn er hatte keinen Klang vernommen. Vielmehr war es, als habe eine Hand ihm gewinkt – – eine Hand, die er nicht gesehen.
Er atmete tief und lag einen Augenblick still da, um sich darüber klar zu werden, was dies denn eigentlich sei. Dann richtete er sich plötzlich auf. Ihn überkam das seltsame Gefühl, daß er ja nur da läge und die Zeit vergeude. Daß er, wenn nach ihm gerufen worden sei, eben kommen müsse.
Er trat ans Fenster. Vom Garten her erklangen die ersten Vogeltöne, und der Duftstrom der Blüten, die der Tau geweckt, schlug ihm entgegen. Über dem Wasser spielte die Morgenröte. Dasselbe Bild wie vor vierundzwanzig Stunden. Doch jetzt begegnete er ihm nüchterner. Es war, als hätte dieser kurze, tiefe Schlaf ihm Vernunft und Besonnenheit wieder gegeben. Die kühle reine Luft, mit der er die Lungen füllte, trug das Ihre dazu bei.
Er fühlte sich fast genesen. Selbst an dieses unwirkliche Rufen, das ihn noch vor wenigen Augenblicken geweckt hatte, erinnerte er sich jetzt mit einem leisen Lächeln. Und doch mußte er noch einmal die Augen schließen, um sich wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, wie seltsam das gewesen.
Seine Kleidung war jedoch nicht geeignet für so lange Grübeleien am geöffneten Fenster. Er trällerte leise vor sich hin, während er sich zurechtmachte. Er beeilte sich unbewußt. Plötzlich blieb er stehen und wurde nervös. Er hatte sich dabei ertappt, daß er drei, viermal nacheinander in kurzen Zwischenräumen auf die Uhr geschaut, als fürchte er, die Zeit könne ihm entfliehen. Und im selben Augenblicke tauchte die Gedankenreihe der Nacht in ihm empor: die tolle Idee, daß sich alles in derselben Weise wie früher wiederholen würde, von dem Augenblick an, da er die Treppe hinunterschlich.
Er begegnete seinen Augen in dem Spiegel, vor dem er stand. Sie waren weit aufgerissen wie in fieberhafter Spannung. Da wurde es ihm klar, daß es mit der morgendlichen Nüchternheit, mit der er sich noch vor kurzem getröstet hatte, nicht weit her sei. Die Zwangsvorstellung hatte offenbar in der Tiefe seines Bewußtseins verborgen geruht, um nun gebieterisch zu fordern, daß sie gerade zu dem Zeitpunkt erprobt werde, um den es sich drehte.
Diese Deutung brachte ihm eine beinahe physische Erleichterung. Er mußte darüber lachen. Es war eigentlich herrlich! So also ließ man sich von seinen eigenen überspannten Ideen beherrschen! Es war auch diese selbe Zwangsvorstellung, die ihn geweckt hatte – und dazu so wohlberechnet, daß gerade noch Zeit blieb, sich fertig zu machen und wieder ein zivilisierter Mensch zu werden! – – –
Er pfiff munter, während er seinen Schlips band. Ihn überkam eine kecke Lust, der Zwangsvorstellung einen Streich zu spielen, sich ganz ruhig ans Fenster zu setzen und ein Stündchen verstreichen zu lassen. Verdiente sie es besser?
Aber zu guter Letzt gewann er dies doch nicht über sich. Der Morgen war zu schön, als daß er auf ihn hätte verzichten wollen. Und außerdem: wenn er nun seine gesunde Vernunft wirklich wiedergefunden hätte, so war es doch eigentlich recht spannend, alles an sich herankommen zu lassen und das Fiasko zu konstatieren. Damit würde jedenfalls ein etwaiger Rückfall in derartige Phantastereien für alle Zeit unmöglich gemacht.
Trotz all dieser Räsonnements mußte er sich doch auf seiner vorsichtigen Wanderung die Treppe hinunter mit etwas beängstigendem Herzklopfen herumschlagen. Die Tür zum Gartenzimmer war ein wenig geöffnet, wie in der Nacht zuvor.
Erst mitten im Zimmer blieb er stehen. Keine Zwangsvorstellung sollte ihn dazu bringen können, sie nicht anzusehen, sich, wenn es sein mußte, dort hinzuschleichen und sich über ihr süßes schlafendes Gesicht zu beugen! –
Er mußte wieder lachen. – Also: entschiedenes Fiasko! Aber trotz alledem barg seine Munterkeit so etwas wie eine leise Enttäuschung. Dort stand das Sofa. Aber die Decke war zurückgeschlagen. Es war leer. Er sah, daß Sif dort gelegen haben mußte, aber …
In demselben Augenblick befiel ihn ein Angstgefühl. – Wo war sie? War sie krank? Sie hatte abends Kopfschmerzen gehabt. Was war geschehen? Hatte sie am Ende …?
Er sah sich hastig um. Erst jetzt bemerkte er, daß beide Gartentüren weit geöffnet waren. Er trat auf die Veranda hinaus. Das Licht schlug ihm funkelnd entgegen. Fast blendete es ihn. Aber schon im nächsten Augenblick begann sein Herz zu klopfen, so daß es ihn fast schmerzte. Ihm traten die Tränen in die Augen.
»Sif …«, flüsterte er still und heiter. »Sif!«
Sie kam ganz langsam auf ihn zu durch eine funkelnde Allee blaßroter Apfelblüten.
»Sieh …«, sagte sie, sobald sie ihn erblickte. Sie blieb stehen und breitete die Arme aus. »Sieh, sie haben sich allesamt erschlossen!«
Er konnte nichts sagen, nichts fragen. Er ergriff nur ihre beiden Hände und küßte sie.
Sie wanderten langsam im Garten umher. Bald sprachen sie, bald schwiegen sie. Aber wenn sie sprachen, klangen ihre Stimmen gedämpft, als hätten sie Angst, die Morgenstille zu zerbrechen, die ihre Herzen erfüllte.
»Merkwürdig«, sagte Sif. »Ich glaubte beinahe zu träumen, als ich dich dort in der Tür stehen sah. Gerade war ich umhergegangen und hatte mir so von Herzen gewünscht, daß ein anderes lebendes Wesen als ich selbst erwachen würde. Denn plötzlich wußte ich nicht mehr, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte.«
Frode hatte das Gefühl, als rieselte plötzlich ein warmer Strom zu seinem Herzen. Er blickte verstohlen zu ihr empor, und als er ihren Blick auffing, fragte er gespannt:
»Vor einer halben Stunde …?«
Sie nickte ein wenig verwundert. Und er sah, daß ein feiner rötlicher Schimmer über ihre Wangen glitt.
»Willst du mir ehrlich antworten?« bat er. »Hast du … ganz besonders an mich gedacht, und wünschtest du ganz besonders, ich möchte aufwachen?«
Sie senkte den Kopf und drückte seine Hand sanft, beinahe flehentlich.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten!« sagte er schnell, fast erschreckt.
Sie blickte zu ihm empor und lächelte. Allein der rötliche Schimmer breitete sich tiefer aus.
»Ich fürchte mich auch nicht!« sagte sie. »Ja, du warst es, den ich rief!«
Er umfaßte ihren Arm mit festem Griff, so daß sie erschreckt stehen blieb. Seine Augen blickten unverwandt in die ihren.
»Riefst du mich …?« fragte er leise.
Sie schüttelte den Schrecken ab und lachte.
»Rief?« sagte sie. »Meinst du etwa, ich hätte mich vor deinen Fenstern aufgestellt und aus vollem Halse geschrien? Nein, es geschah auf sehr ruhige Weise. Eigentlich war es nur ein zarter Wunsch, den ich zu dir emporschweben ließ. Ich bat dich, mir die Liebenswürdigkeit zu erweisen und zu erwachen. Ein stummer Wunsch, eine geheime Hoffnung … ein Herzensseufzer, wenn du willst!«
Er wandte den Blick nicht von ihren Augen.
»Ja, dadurch wird es nicht besser!« sagte er. »Im Gegenteil! Warum hast du mich gerufen?«
»Weil ich mich langweilte!« sagte sie lächelnd. Dann bemerkte sie plötzlich, wie seine Augen gleichsam durch sie hindurchschauten, angestrengt und wie abwesend.
»Nein …!« fügte sie eilig hinzu, und das neckische Lächeln um ihren Mund erstarb. »Nein, es war nicht deshalb. Nur diese Apfelblüten waren daran schuld. Ich wollte die erste sein, die sie dir zeigte …!«
Während sie sprach, kam er langsam zu sich. Was war das für ein seltsamer Zauber, der unablässig Traum und Wirklichkeit miteinander verkettete? – Diesmal war es seine eigene Frage, die in einem Nu sein Bewußtsein entzündet hatte. Er sah sich selbst unter den hellgrünen Pisangbäumen stehen, die Hand ausgestreckt, als wolle er gleichzeitig eine andere Hand und eine blutrote Blüte erfassen. Und er hörte sich selbst in einer weichen und schwingenden Sprache dieselbe Frage flüstern … »Weshalb riefst du mich?«
Er atmete tief. Dann lächelte er. –
»Rhuahiti! – Sif!« sagte er und beugte sich über sie. »Wenn du wüßtest, was für seltsame Bande dich mit mir verbinden! Wenn du wüßtest, wie sehr du mein bist …!«
Sie schüttelte schweigend den Kopf. Dann schritt sie langsam weiter.
»Du verstehst nicht, was ich meine!« fuhr er fort. »Am Ende glaubst du gar, ich sei ein wenig verrückt. Aber wenn ich dir nun sage, daß ich dich rufen hörte! Daß allein schon dein Gedanke, dein Wunsch, dein leiser Herzensseufzer genügte, mich zu wecken, daß ich aufstand und zu dir herabkam, als gehorchte ich einem stummen Befehl … Verstehst du mich nun?«
Sif blickte zu ihm empor.
»Nein«, sagte sie. »Und nun phantasierst du wohl auch!«
»Meinst du, ich hätte das nötig? Findest du nicht, das alles sei ohnehin schon merkwürdig genug?«
»O, freilich!« gab sie zögernd zu. Dann lachte sie.
»Aber wenn ich glauben müßte, daß ein so friedlicher Gedanke dich erreichen und dich aus tiefstem Schlaf wecken könnte, dann … ja, dann würde ich es nie mehr wagen, einen einzigen Gedanken zu denken!«
Sie waren an dem irisbekränzten Teich stehen geblieben. Vorsichtig waren sie von Stein zu Stein zu der Miniaturinsel hinausbalanciert. Sie hatten noch einmal über Simons barocke Idee gelächelt, und Frode hatte scherzend versichert, sie hätten sich, wenn sie nur ein hinlänglich starkes Vergrößerungsglas gehabt hätten, unbedingt in Liliputformat zwischen dem Grase entdecken können.
Sif hatte ein wenig scheu zu ihm emporgeblinzelt, als wüßte sie nicht ganz genau, ob es ihm ernst sei oder nicht. Und eine Sekunde lang verblüffte es ihn, daß dieser Gedanke ja gerade genommen, nicht toller, nicht undenkbarer sei, als all das andere, was …
Aber nein! Nein! Jetzt war es bald genug!
Was er jetzt tat, hatte er nicht gewollt.
Ohne zu denken, vielleicht nur getrieben von einem fast verzweifelten Drange, sie inmitten all dieses Traumgespinstes als lebende Wirklichkeit zu spüren, umfaßte er plötzlich ihren Kopf mit beiden Händen und küßte sie. Und hielt ihren Mund gefangen, lange, lange. Und spürte unter seinen Händen, wie heiß das Blut unter ihrer Haut pulsierte, bis es ihn fast verbrannte.
»Geliebte …!« flüsterte er, indem er sie ließ.
Sie stand unbeweglich da mit gesenktem Kopf. Dann erhob sie ihn langsam, gleich als erwache sie. Zum zweiten Male gewahrte er diesen dunkelblauen Schimmer über ihren grauen Augen. Der machte sie seltsam unergründlich. Vor Glück oder vor Schmerz?
»Frode!« sagte sie still. »Weshalb willst du mir Angst machen?«
Er antwortete nicht. Er war plötzlich erfüllt von einer hilflosen Angst, von einem Schamgefühl, gleich als habe er ein Verbrechen begangen. Er mußte sich verteidigen! Er hatte es nicht gewollt. Er mußte erklären, versichern, um Verzeihung flehen! – Da sah er mit einem Male dies Lächeln, dies spielende Lächeln um ihre Lippen erblühen, als könne sie es nicht länger in sich verschließen.
»Ist das der blaue Falter, den du fangen willst?« fragte sie.
Er nickte.
»Dann vergißt du wohl«, fuhr sie leise fort, »daß man einen Falter nur um so mehr erschreckt, je mehr man ihm nachjagt. Und hatten wir uns nicht eigentlich dahin geeinigt, daß er über die grünen Felder flattern und in der Sonne verschwinden solle?«
Er schwieg kurze Zeit. Dann fragte er, und die Frage kam leise, fast atemlos von seinen Lippen:
»Getraust du dich, Sif? … Meinst du nicht, daß wir an dem Tage, an dem er verschwindet, einander anschauen und entdecken werden, daß wir nackt sind?«
Sie blickte an ihm vorüber in die Ferne.
»Nein!« sagte sie still. »Denn er hat unsere Herzen geküßt, und das wird keiner von uns vergessen!«
Frode war ihr beim Rückweg dabei behilflich, über die Steine zu balancieren. Es verging eine geraume Zeit ohne Rede. Er hielt Sifs Arm leicht gegen den seinen gepreßt und spielte gedankenvoll mit ihren langen schlanken Fingern. Es hatte sich eine müde Betäubung über ihn gelegt. Ihm war, als sei sie ihm fast ferner und unerreichbarer, jedesmal, wenn er glaubte, ihr näher zu sein, denn je. Es war, als würde der unsichtbare Schleier, der sie beschützte, immer dichter und dichter. Ihre Hände, ihren Nacken, ihren Mund konnte er nehmen, aber ihre Seele schloß sich wie eine zarte Blume. Die konnte er nicht erreichen, die wagte er nicht zu pflücken.
Und wieder dachte er an Frau Lillis Worte.
»Ihr kann niemand ein Leid zufügen, wenn sie es nicht selbst will!«
In ihm erwachte ein Gedanke. Woher er kam, er wußte es nicht. Aber plötzlich blickte er zu ihr auf und bat:
»Erzähl' mir etwas von Bob! Weshalb bekomme ich ihn nicht zu sehen?«
Sie wandte ihm fragend und verwundert das Gesicht zu.
»Bob …?« sagte sie. »Wieso kommst du so plötzlich auf ihn? Kennst du ihn denn?«
Frode schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nur, daß er existiert. Aber ich bekam plötzlich Lust, etwas mehr über ihn zu erfahren.«
»Ja, aber eigentlich gibt es nicht viel über ihn zu erzählen!« lachte Sif. »Dafür existiert er auch um so sichtbarer, wenn er sich zeigt!«
»Wieso?«
Sie dachte einen Augenblick nach.
»Das würdest du verstehen, wenn du ihn kennen würdest«, sagte sie dann. »Ach ja! Bob! … Ihn hatte ich ja beinahe vergessen.«
Sie waren zu der Laube mit dem Glockenturm gelangt. Sie blieben stehen, gleichsam zögernd. Dann begegneten sich ihre Augen, halb stumm, halb fragend. Und dann senkten sie beide den Kopf und gingen hinein. Es war, als müßten sie das tun.
Drinnen in dem dämmererfüllten Raum wurde dieses Zwangsgefühl beinahe körperlich. Sie standen ganz nahe zusammen, als erwarteten sie, daß etwas geschehen, daß eine Spannung sich lösen müsse. Daß hier das Zaubergespinst, das sie umhüllte, sich entweder rettungslos fangen oder mit einem Ruck zerrissen werden würde.
»Komm …!« sagte Frode leise. Beide fuhren sie bei dem Wort zusammen. Es klang, als käme es nicht von ihm, sondern von der altarähnlichen Erhöhung vor ihnen.
Er legte seinen Arm leicht um ihre Hüften und führte sie hinauf. Sie ging mit gesenktem Kopf, gleich als erriete sie seinen Wunsch. Aber sie leistete keinen Widerstand.
Sie blieben vor der Altane stehen. In dem violetten Licht, das von den beiden gemalten Scheiben ausging, begegneten sich ihre Augen während eines kurzen Augenblicks. Sie sprachen kein Wort, aber sie lächelten beide, ohne zu wissen, warum. Hand in Hand sanken sie auf die Knie.
Frode spürte, wie ein Zittern Sifs Körper durchlief. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie sich erheben.
»Nein!« sagte sie leise. »Komm! Das wage ich nicht!«
Aber seine Hand hielt sie sanft zurück. Sie senkte den Kopf und blieb liegen.
»Sif! …« flüsterte er. »Zu uns spricht eine unhörbare Stimme. Und sie fragt dich: Liebst du Frode, an dessen Seite du kniest? Was antwortest du ihr?« Sie kniete unbeweglich. Aber leiser noch als zuvor flüsterte sie:
»Nein, nein! Das dürfen wir nicht, das ist …!«
Auf einmal fühlte sich auch Frode von einer seltsamen Angst beschlichen. Das violette Licht begann wie Ringe und Sonnen vor seinen Augen zu tanzen. Es sammelte sich zu einem flimmernden Regenbogen, der um einen sich drehenden, dunklen Kreis zusammengebogen war.
Er machte keinen Versuch, sich aus diesem Zustand der Halluzination herauszureißen, sondern ließ ihn willig über sich herabsinken, wie ein Erlöschen …
»Und höre …! Jetzt fragt die Stimme mich: Liebst du Sif, an deren Seite du kniest, und … ich … antworte …!«
Es war, als ersticke das Dunkel seine Stimme. Es kam auf ihn zugeglitten und schlug wie eine weiche Woge über ihm zusammen. Er ließ sich lächelnd von ihm entführen. Er kannte es. Er fürchtete es nicht. Er wußte, indem seine Sinne erloschen, daß es ihn nur zu traumhaften Welten entführen würde. Zu Rhuahiti. – Zu der vergessenen Insel …
*
Eine Quelle sang. Sie zog sich wie ein schmales blaues Silberband zwischen weißen Blumen hin. Sie klang und sang durch Dämmerung und Stille.
Eine Lichtung zwischen hohen Stämmen. Mächtige, breite und dicke Blätter hingen in ruhigen Bogen und siebten gleichsam das Licht, daß es in blaß violettem Schimmer bis zum Rasen hinunter bebte, gegen die Ringmauer der Stämme hin dunkler werdend. Ganz drinnen in ihrer Mitte, wo sie am dichtesten standen, war es fast schwarz, mit scharfen weißen Flecken.
In dieses unruhig sickernde Licht blickte er mit weit aufgerissenen Augen. Er hatte es so lange eingetrunken, daß ihm war, als erwache er aus einem tiefen Schlaf, aus dem das diskantfeine Klingen der Quelle ihn zurückgerufen hatte. Fast war es eins mit dem Licht, wie die schwache Stimme des Lichtes. Er ließ sich von ihr vorsingen, bis sie seine erloschenen Sinne, einen nach dem anderen, wieder ins Leben zurückrief.
Aber mit jedem Sinn, der erwachte, erwachte gleichzeitig ein Teil eines Schmerzes. Anfangs nur wie ein unbestimmter Kummer. Dann wie ein hastiges und brennendes Jagen. Zuletzt schneidend scharf, bis ein stummer Schrei ihm die Kehle zupreßte.
Er aber biß die Zähne zusammen, wollte ihm nicht erlauben, sich zu äußern. Er machte sein Gesicht zu einer Maske aus Stein, um ihn zu besiegen. Die blutroten Gedanken, die sich in ihm erhoben, und die zügellos zu rasen verlangten, zwang er zur Ruhe, wie eine Koppel wilder Hunde. Er hielt die Hände gegen sein Kinn gepreßt, damit nicht eine ihrer Bewegungen verraten solle, wie sie sich danach sehnten, zu ergreifen und zu besitzen. Zuletzt kämpfte er mit seinem Herzen, und es gelang ihm, den Aufruhr zu brechen. Er maß dessen Schläge in einem Rhythmus aus, der dem Atemzuge folgte, bis er das Blut gleich einem ruhigen Strom durch die Flüsse der Adern sandte.
Dann lächelte er. Ein trotziges und kaltes Lächeln, das wie eine blanke Speerspitze den letzten Rest des Kummers verstummen ließ.
Nun fürchtete er nicht für sich. Weniger noch für sie …
Dem Schatten nach zu urteilen, meinte er, es müsse Abend sein. War sie am Ende hier gewesen? Hatte sie ihn schlafend gefunden? Oder lag sie irgendwo in der Nähe, wartend, um ihn zu beobachten?
Er sah sich schnell und spähend um, ohne seine Stellung zu ändern. Er lauschte, hörte aber nur den klingenden Ton der Quelle. Dann sogen seine Nasenflügel den würzig feinen Duft der weißen gesternten Blüten ein, die sie mit ihrem Laub umrandeten. Er sog ihn tief ein, diesen Duft, und fühlte sich erquickt von seinem herben Hauch.
Da kam ein Falter, blau und groß wie eine Hand, aus einer der blassen Blütentrauben der Pisangbäume dahergesegelt. Tiefer sank er über die Lichtung und folgte ein Weilchen dem Quellenlauf, als spiegelte er sich darin. Ganz magisch zog er Frodes Blick an. Der wandte den Kopf zurück, um seinem Fluge zu folgen …
Da stand sie doch! Von der Schulter bis zum Knie in flammendes Blau gehüllt, gleich als wäre sie der Falter, der Falter, der die Flügel als Gewand um sie geschlagen. Die Schatten spielten um die zarten, bronzegoldenen Schultern. Die Arme hielt sie ein wenig auswärts mit unruhig gespreizten Fingern. Ihre Füße berührten die Erde leicht und federnd, als wären sie zur Flucht bereit. Er sprang auf, und er sah, wie ein Schatten der Angst über ihre sanften Augen dahinfuhr. Aber sie senkte nur leicht den Kopf und hob die schlanken Arme grüßend empor. Er aber sah es nicht. Er sah nur ihre Stirn. Sah nur den schmalen, blanken Metallreif, der ihr welliges Haar fest umspannte.
Da merkte er, wie all sein Kämpfen vergebens gewesen. Zuerst erwachte sein Herz und schlug wie eine Keule gegen seine Brust. Dann erwachten seine Hände und ballten sich wie in wilden Krämpfen. Dann erwachten seine Gedanken und sein Blut zu einem Strom, der vom Nacken bis zur Ferse in ihm tobte. Diesmal aber ließ er ihn sich austoben, während er dastand und auf diesen goldenen Reif schaute, mit dem sie ihn verraten hatte. Und als er zu sprechen anhub, war nur der nagende Schmerz, den er für besiegt hielt, in ihm zurückgeblieben.
Erst jetzt hob er die Arme zum Gruße.
»Frieden über dich, Rhuahiti!« sagte er. – »Du trägst eines Mannes Stirnreif. Gab er ihn dir?«
»Ja, Freund!« sagte sie, und ihre Stimme war noch klingender als die der Quelle. »Er gab ihn mir. Deswegen wage ich zu kommen, wie du mich batest!«
Er zögerte einen Augenblick, auf daß seine Stimme ruhig werde.
»Ich glaube nicht daran, Rhuahiti!« sagte er leise. »Deswegen bat ich dich!«
»Es mußte geschehen!« flüsterte sie. – »Wünschtest du es nicht selbst?«
Er trat einen Schritt vor, und in seinen Augen blitzte es.
»Und wenn ich dir nun den Reif vom Kopfe reiße …?« Ihr Nacken straffte sich. Es war, als straffte sich ihr geschmeidiger Körper, als reckte er sich empor. Ihr Blick wurde kalt, aber ihre Stimme klang noch immer sanft.
»Das wirst du nicht wagen …!« sagte sie. »Du würdest dadurch nicht mich, sondern nur dich selbst entehren. Kein Mann wird sich dir mehr nähern, und die Frauen werden ihre Brust vor dir verhüllen. Du wirst es nicht wagen!«
»Und wenn ich all dem trotze …?«
Sif streckte die Hand beschwörend nach ihm aus. Ihre Augen wurden dunkel vor Schmerz.
»Freund«, sagte sie, »dann hast du mich belogen, dann liebst du mich nicht. Kühle nur dein Blut bei mir, wenn es nicht anders sein kann!«
Er erzitterte unter ihren Worten, gleich als wären es Steinwürfe gewesen. Seine Augen flackerten, als wolle er flüchten, als schäme er sich, es zu tun.
Sie erhob ihre Augen zu ihm.
»Sieh, ich warte!« sagte sie. »Dann werde ich in die Betgrotte gehen und mich vor den goldenen Spiegel werfen. Und ich werde von ihm, der Geburt und Tod lenkt, verlangen, daß du siebenmal zehntausend Jahre mein Gesicht nicht sehen sollst.«
»Und wenn ich selbst dem trotze, Rhuahiti! – Wenn ich siebenmal zehntausend Jahre der Lust einer Sekunde opfere …?«
Seine Stimme zerbrach.
»Rhuahiti!« flüsterte er heiser und bebend. »Mein Blut brennt nach dir!«
Sie beugte den Kopf.
»Nimm den Reif aus meinem Haar, löse meine Schärpe. Die Sekunde, die du begehrst, ist dein. Mein Leib wird keinen Widerstand leisten!«
Sie standen ein paar Augenblicke unbeweglich und hielten ihre Blicke gegenseitig fest. Dann warf er mit einer höhnischen Bewegung den Kopf zurück. Er machte ein paar Schritte auf sie zu. Er näherte sich ihr langsam, nicht zögernd und unschlüssig, sondern als wolle er sie absichtlich quälen, indem er es hinzog.
Ihre dunklen, aufgerissenen Augen folgten ihm, ungläubig. Aber dann begriff sie, daß es wahr war … daß er jetzt käme. Und schweigend barg sie das Gesicht in die Hände, um nichts zu sehen.
Aber es geschah nichts. Dicht vor ihr stand er still. Ihre gebeugte Stellung, ihr Gesicht, ihr hilfloses Warten auf den Griff seiner Hände ließen ihn innehalten. Der Kummer brauste durch alle seine Adern und erfüllte ihn mit Mattigkeit. Er wagte ihre zarten Schultern nicht zu berühren, diesen weißen Nacken nicht zu zwingen. So zart und blütenfein war sie, daß er plötzlich wünschte, er möge nicht hier stehen, um ihr Gewalt anzutun, sondern um sie zu beschützen. – Die schlanken Arme, auf denen die Korallenringe gegen die goldene Haut leuchteten, die kindlich schmale Linie der Hüften, die straffe junge Brust mit der schwarzen Blütenknospe der Warze …! Er mußte die Augen schließen. Das alles rief nach ihm. Nicht mehr mit Hitze und Wildheit, sondern mit einer Sehnsucht, so sanft, daß sein Herz sie nicht zu fassen vermochte.
»Rhuahiti!« sagte er. »Geh in Frieden. Ich will nichts von dir!«
Sie blickte auf, verwundert. Sie zweifelte. Ihre Augen fragten stumm. Dann verdunkelten sie sich noch mehr. Ihre Nasenflügel bebten, so schnell atmete sie. Sie glaubte zu verstehen.
»Nicht einmal das!« sagte sie leise und tonlos, »nicht einmal das …!«
Sie wandte sich langsam ab und schritt dahin zwischen den Stämmen. Es war, als verstumme sogar die Quelle vor seinen Ohren, als verblasse das Licht um ihn her. Alle seine Sinne waren nur ihr zugewandt. Noch sah er von weitem ihren Körper, straff in das leuchtende blaue Gewand gehüllt. Er hörte ihren Schritt auf dem Moose.
Und er ließ sie gehen …!
Nein! Alles, was an Trieben in ihm war, bäumte sich auf zu neuem Trotz, zu neuer Verzweiflung. Angesicht in Angesicht mit ihr konnte er sie zähmen! Sie sollte nicht sehen, wie er sich quälte. Sie sollte ihn nicht in Gedanken verspotten, wenn ein anderer sie an sich riß!
Aber jetzt! Jetzt, da er allein war, schien es ihm, als riefe ihm jeder ihrer leichten Schritte zu, er möge ihr folgen. Und er folgte. Lautlos schlich er von Stamm zu Stamm. Ließ sie nicht aus den Augen. Trank den Rhythmus ihres Ganges in seine Seele ein. Ließ sich von der Luft umwogen, die erst sie umarmt hatte. Es war ein Rausch, wilder als der, den sich die Gefallenen im Kaktussaft antranken. Und er schämte sich mehr, als wenn er einer von ihnen gewesen.
Und doch blieb er nicht stehen, solange er noch im Pisanghain war. Er stand am Rande und blickte über den grünen Rasenteppich, wo er und Rhuahiti gesessen und einander spielend Worte zugerufen hatten, an jenem Tage, da sie die Rose für ihn brach. An jenem Tage, da der Schmerz und der Kummer begann …
Er sah, daß auch sie stehen geblieben war. – Ja, sie war gerade vor der dichten Rosenhecke stehen geblieben, die noch die großen brennenden Kelche zum Licht entgegenstreckte. Sie stand da wie eine Statue, unbeweglich, den Nacken zurückgebogen, die Fersen leicht vom Erdboden erhoben. Grüßte sie ihre Schwestern, die geweihten Blumen der Liebe?
Da hob sie langsam die golden leuchtenden Arme. Ihre Hände reckten sich ziellos dort hinauf. Erst liebkosten sie, dann griffen sie, dann zerrten sie an den zähen Ranken. Sie füllte ihre Hände mit fallenden Blättern. Sie streute sie um sich und über sich. Ihr Rücken bebte, wie unter einem schneidenden Schluchzen.
Dann senkte sie ihr Gesicht herab und barg es in diesen Händen, die rot waren von Blut und Rosenblättern.
Und so ging sie, langsam und schwankend, hinein in das Dunkel der Betgrotte.
Jetzt erst erwachte er. Noch schwindelte ihm von dem, was er gesehen. Er begriff, daß sie hier, wo sie sich unbeobachtet wähnte, wortlos ihre Seele entblößt, wortlos ihr namenloses Weh zum Himmel emporgeschrien hatte. Diese Rosen, die er voll Zorn und Wildheit entehrt hatte, die wollte auch sie vernichten, zum Zeichen dessen, daß deren Träume nicht mehr die ihren waren. Sie sollten nicht mehr blühen und leuchten, nun, da sie den goldenen Reifen eines anderen im Haare trug …
Er schlich vorwärts zu der Stelle, wo sie gestanden hatte. Seine Augen schmerzten beim Anblick der geplünderten Hecke.
Ihm war, als sei auch sein Herz so öde, so verheert. Am liebsten wäre er inmitten all dieser blutenden Blätter auf die Knie gesunken, hätte sein Gesicht in ihnen vergraben, sich selbst und sie vergessen. Ausgelöscht werden. Erlöschen! Sterben!
Doch nein, das wäre nutzlos. Der Schmerz, den man sich schafft, wird doch nie ausgelöscht, ehe er durchgelebt, ehe er gesühnt war. Selbst in den Regionen des Sternenhimmels wirft er seinen Schatten. Und in jedem neuen Leben trägt man ihn als einen Keim in sich. Und er wächst dort wie ein Baum, unter dessen dunklem Laub man wandern muß! – Nein! Lieber in die Betgrotte flüchten, zu dem goldenen Spiegel, und in Gottes Antlitz starren.
… Sie lag ausgestreckt darinnen, die Arme unter der Stirn gekreuzt, die Fußsohlen aufwärts gerichtet. Der flammende Kupferspiegel beleuchtete ihr Haar und ihre Schultern. Es durchlief sie ein Zittern, als sie seinen Schritt auf den glatten Fliesen hörte.
Er schrieb das heilige Kreuzzeichen der Ewigkeiten in die Luft. Dann beugte er sich vor und küßte das unsichtbare Zeichen, ehe er niederglitt an ihrer Seite.
Unter der Flamme des Spiegels wurde seine Seele still. Als er seine Augen erhob und hineinschaute, sanken rote Lichtwellen auf ihn herab. Sie dunkelten und wurden von weißen Pfeilen durchkreuzt. Sie hielten seinen Blick fest. Sie sammelten sich zu Bündeln, zu strahlenförmigen Fächern. Sie breiteten sich aus und entfalteten sich, bis der Raum ein glitzerndes weißes Meer war.
Dann sank sein Gesicht wieder vornüber. Seine Sinne waren erschlafft. Er fragte still, und die Antwort kam zu ihm in sanftgleitenden Bildern!
»Ewiger und allmächtiger Gott!« betete seine stumme Seele. »Du, der du Geburt und Tod lenkst, du, von dessen Wesen mein Wesen nur ein umherschweifender, matter Funke ist, der durch Freude und Schmerz, Kampf und Frieden, durch Weinen und Lächeln, durch Sehnen und Hoffen und Traum zu dir sich emporsehnt, der du das Licht bist und die Reinheit! Ich bete hier vor deinem Angesicht: Zeige mir mein Schicksal und das Rhuahitis!«
Er sah eine Hand. Und in ihrer Höhlung lagen zwei zarte Keime. Sie waren wie in eine flimmernde, weiße Wolke gehüllt. Und die Hand schüttete sie aus, und sie flossen dahin, wie von unsichtbaren Wellen getragen. Sie trennten sich, während sie dahinflossen. Weiter und weiter glitten sie auseinander, einer nebligen Küste, einer weiten Ferne entgegen.
Und er sah die Hand geballt im Raume ruhen. Und als sie sich öffnete, breitete sich auf ihrer Fläche ein meilenweiter grüner Garten. Er sah zwei Kinder darin spielen. Hohes Gebüsch und dichte Blumenwildnis, Kaktushecken und blanke Wasserläufe trennten sie voneinander. Sie wußten nichts voneinander. Jedes spielte auf seinem Flecken.
Es kamen buntfarbige Falter dahergeflattert und verlockten sie zum Haschenspielen. Sie jagten ihnen jubelnd nach, stolperten über Steine und Erdhügel, vergaßen sie wieder, aus Verwunderung über den neuen Fleck des Gartens, zu dem sie gekommen waren. Dort spielten sie dann eine Zeitlang, bis etwas Neues sie weiter lockte. Sie durchbrachen Hecken, sie wateten über Wasserläufe, und ihre Augen wurden größer und lachender bei jedem neuen Wunder, das sie entdeckten.
So kamen sie einander spielend immer näher und näher. Blind, unbewußt. Bis es plötzlich derselbe Falter war, nach dem sie griffen, und statt dessen sie ihre Hände faßten. Da vergaßen sie alle früheren Wunder ob dieses größten: Daß sie zwei waren, die nun miteinander weiterspielen konnten.
Aber während sie spielten, kam die Hand, in deren Höhlung sie wie zwei zarte Keime geruht hatten, und schloß sich um sie. Und sie trug sie fort, jeden für sich, an einen unbekannten Ort …
Das Bild wirbelte an ihm vorüber, wechselte und wandelte sich. Einmal übers andere sah er die Hand, wie sie diese beiden Samenkörner auswarf, von denen jedes eine Seele war. Und er sah sie wiegend fortgleiten zur Küste des Lebens. Stets waren sie wie in eine flimmernde Wolke gehüllt. Aber sie war nicht mehr strahlend weiß. Sie verschwand in sanften Farben, die ineinander überglitten, einander durchstrahlten. Flüchtige Spiegelbilder des sorglosen Spieles in dem bunten Garten leuchten gespenstisch hervor und wurden wieder ausgelöscht von anderen.
Und er sah, wie die Kinder Blumen und Faltern nachjagten, bis ihre Hände sich begegneten. Aber während er ihrem Spiele zusah, war es, als gleite ein sonnenfeiner Nebel über den Garten dahin. Und während der Nebel wich, erblickte er andere spielende Kinder. Sie ließen sich von den gleichen Wundern locken, aber sie schienen es selbst kaum zu merken. Je zu zweit und zweit spielten sie blindlings, bis sie einander begegneten. Ab und zu blieb eines von ihnen stehen, sah sich verwundert um, ergriff lächelnd und gedankenlos die erste Hand, die ihm nahekam, und hielt sie fest. Und er sah, wie andere das Spiel aufgaben, ratlos und müde. Aber alle wurden fortgetragen zu dem unbekannten Ort …
Da klagte und betete er:
»Du Gott mit dem leuchtenden Antlitz! All dies weiß und kenne ich. So hat man mich gelehrt, daß Leben und Tod ewig wechseln, nach deinem Willen. Aber zeige mir mein Vergehen!«
Und wieder sah er die beiden Kinder spielen. Und er sah, wie das Mädchen leicht und anmutig einem großen blauen Falter nachjagte, der es von Blume zu Blume lockte. Und er sah den Knaben keck und jubelnd durch Gebüsch und Hecke brechen und an der Jagd teilnehmen. Er sah ihn den Falter ergreifen und triumphierend in die Höhe halten. Aber als das Mädchen flehend und glücklich seine Arme zu dem Falter emporstreckte, daß er ihn ihr gebe, preßte er schnell und zornig seine Finger um ihn und zerdrückte ihn …
Aber während sein Herz sich bei diesem Anblick zusammenkrampfte, begannen die beiden Kinder unmerklich vor seinen Augen zu wachsen, bis er das Mädchen dastehen sah, von der Schulter bis zum Knie eingehüllt in eine weinrote Schärpe, einen leuchtendroten Blumenkelch in den hoch erhobenen Händen. Und er erkannte sich selbst, wie er vor ihr stand, trotzig und hochaufgerichtet. Doch als er ihr die Blume entriß, war es keine Blume, sondern ein lebendiges Herz.
Und wieder sah er den Knaben und das Mädchen, wieder sah er den getöteten Falter. Und wieder sah er die Hand, die sich über ihm schloß und die ihn forttrug zu der unbekannten Stätte … Da war es, als senke sich eine große Einsamkeit auf ihn herab. Und er betete in seinem Kummer und in seiner Demütigung:
»Ewiger und allmächtiger Gott! Du, der du Geburt und Tod lenkest, du, dessen Wesen sich in meiner Seele offenbarte, wie ein umherirrender Funke …! Ich bitte dich hier vor deinem Antlitz: Gib mir Rhuahiti wieder! Ich wollte ihr ja kein Leid zufügen!«
Da glitt ein letztes Bild hervor. Bleich und fern und flimmernd stand es da. Es war gleichsam ein tiefer und meilenweiter Abgrund zwischen ihr und dem Bilde. Er sah eine Frau, fein und schlank und geschmeidig. Ihre Züge waren ihm fremd. Ihre Haut war licht wie Perlmutter und ihr Haar schwer und wogend. Aber als sie lächelte, erkannte er sie. Denn es war Rhuahitis mildes und bebendes Lächeln.
Und er sah, wie ein Mann sich über sie beugte. Der war groß und elastisch. Er hatte eine zarte Haut wie sie, aber seine Züge waren weich. Er sah ihre Lippen sich einander nähern, aber gleichsam zögern, ehe sie sich begegneten. Und er sah weshalb. – Denn siehe: zwischen ihren Lippen schwebte wiedergeboren, der große, blaue Falter. Er streifte sie beide mit seinen Flügelspitzen, ehe er davon glitt. Fein, durchsichtig, unwirklich, als wäre er aus der Luft geschnitten. Dicht zusammen standen sie und sahen ihn über blühenden Hecken und grünen Feldern verschwinden. Er fragte nicht mehr. Er starrte auf diese zwei lichten, flimmernden Gestalten in der Ferne. Und der sonnenfeine Nebel kam wieder herangeglitten. Er verbarg sie, verhüllte sie vor seinen Augen. Er verblich in einem Meer von Weiß. Löste sich auf in zitternden Strahlenbündeln. Dann blitzten blauviolette Schattentöne auf. Sie waren wie von einem unsichtbaren Feuer durchstrahlt. Wurden durchglüht. Quollen in roten Wellen hervor …
Und als er sein Gesicht erhob, starrten seine Augen wieder in die lohenden Flammen des Kupferspiegels.
Er reckte sich auf seine Fersen empor. Dann machte er das Zeichen des Kreuzes und erhob sich.
Rhuahiti stand in der niedrigen Tür. Sie stand mit gebeugtem Haupt, als warte sie auf ihn. Er ging zu ihr und berührte leicht ihre Schulter.
»Komm!« sagte er. Und als sie in dem abendlichen Garten standen, den der Mond mit länglichen Schatten füllte, sagte er mit einer Stimme, die gedämpft klang und gebrochen:
»Rhuahiti! Ich habe in Gottes Antlitz gelesen, daß ich sterben muß.«
Sie richtete ihre traubendunklen Augen zu ihm empor.
»Fürchtest du dich davor …?«
»Nein!« sagte er und lachte kurz. – »Aber du? Was tust du?«
Sie zögerte mit der Antwort. Ihre Lippen bebten ein wenig. Dann sagte sie mit dieser Stimme, die milder war als die Abendbrise:
»Ich ziehe morgen bei Sonnenaufgang zum Tempel der weißen Säulen, um mir die Weihe geben zu lassen …!«
»Rhuahiti!«
Sie senkte langsam den Blick.
»Dann gehe ich zu ihm, der mir den Reif schenkte.« –
Er tastete ins Leere. Ihm war, als senke sich langsam eine Mauer zwischen ihnen herab. Eine Mauer, die von der Erde bis zur Decke des Himmels reichte. Er sah Rhuahiti sich wenden und gehen, aber er konnte ihr nicht folgen. Dichter und dunkler wurde die Mauer. Das Dunkel all der flimmernden Schatten sog sie in sich auf. Er wandte sich, um zu fliehen, aber das Dunkel war auch dort. Es kroch von allen Seiten auf ihn zu. Es senkte sich über ihn. Es zwang ihn auf die Knie.
Da war es, als berste die Erde unter ihm. Er sank durchs Dunkel herab in schwindelnde Tiefen. Und aus diesen heraus ertönte ein Laut. Ein fernes, gedämpftes Sausen. Wie der Flügelschlag von Zugvögeln in der Nacht.
*
Als sie aus der weichen Dämmerung der Laube heraustraten und wieder den Morgen über ihren Köpfen blauen sahen, wirkte das fast betäubend auf sie. Nur einige Minuten waren sie dort drinnen gewesen, aber lange genug, auf daß sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Nun wurden sie geblendet und schauderten fast, als wäre das Licht eine plötzliche Kältewoge, die ihnen entgegenschlug.
Sie schlugen den Fußpfad ein durch den kleinen Buchenwald. Es war drinnen noch tauig und frisch, und sie hörten, wie die Vögel zwischen die dichten Blätter des Jungwaldes schlüpften.
Sif hatte beim Gehen lächelnd zu Boden geschaut. Jetzt richtete sie schnell und verstohlen den Blick empor.
»Denk nur!« sagte sie leise. »Mir war einen Augenblick bange! Es kam mir vor, als wäre es ernst …!«
Frode nickte. Seine Augen schweiften in die Ferne, als wäre er sich noch nicht recht klar über Zeit und Ort.
»Vielleicht war dem auch so. Es war vielleicht auch ernst!« sagte er. »Wer von uns weiß das?«
»Ja …!« fuhr sie fort. »Ich hatte nämlich plötzlich das Gefühl, das einen ja hin und wieder überkommen kann, daß das Ganze schon einmal zuvor geschehen sei! Es war, als wir zusammen niederknieten. Der Raum, die Beleuchtung, die Stimmung. Es verschwand gerade so schnell wieder, aber es war genug, um nur ein wenig bange zu machen!«
Frode blieb stehen. Ihm war, als erwache er und als würde es ihm erst jetzt klar, wo er sich befand und was sie gesagt hatte. Er blickte ihr verwundert in die Augen.
»Das war merkwürdig!« sagte er. »Denn es ist nämlich schon einmal geschehen. Da trennten wir uns auf diese Weise. Vielleicht sind wir gerade einander begegnet, um alle die abgerissenen Fäden wieder zu knüpfen! Obwohl, nein, jetzt vergesse ich …!«
Er faßte sich an den Kopf. Er mußte lachen.
»Puh! Hilf mir! Entweder bin ich im Begriffe verrückt zu werden oder …!«
Auch sie lachte.
»Nein, kein oder!« sagte sie. »Halten wir uns an den ausbrechenden Wahnsinn. Um den kommt man gewiß doch nicht herum!«
»Freilich!« sagte er. »Das will ich. Aber langsam beginne ich vor mir selbst ein wenig Angst zu haben. Ich bin sonst ein nüchterner und einigermaßen klarköpfiger Mensch. Aber in diesen paar Tagen ist mir, als seien all meine Gedanken verhext!«
»Das kenne ich gut!« sagte Sif zwischen Ernst und Lächeln. »Hier bei Simon und Lilli ist die Luft anders als sonstwo. Ich selbst bin nicht weit entfernt, an Elfen und Meerjungfrauen und Dryaden zu glauben, so oft ich hier bin. Und ich bin sicher, wenn ich allein mitten in den Wald hineinginge, so würde ich dem großen Pan in eigener Person begegnen.«
Frode schüttelte resigniert den Kopf.
»Sif … Sif!« sagte er. »Wollen wir nun auch Pan aus der Mythologie ausgraben? Meinst du nicht, daß wir ohnedies hinlänglich miteinander Versteck spielen?«
»Tun wir das …?« fragte sie, und das Lächeln spielte fein und listig über ihre Augen.
Sie waren in Frau Lillis Garten gelangt. Sie gingen unter den sanft gewölbten Apfelbäumen, deren süßer Duft sie umwob. Sie verstummten. Was für Worte würden sie sich sagen können, die nicht massiv und banal wirken mußten unter diesem Märchenhimmel von Blumen? Selbst den Atem hielten sie unwillkürlich an, als fürchteten sie, er könne die zerbrechlichen Blätter herabsinken lassen. Ganz langsam gingen sie, und als sie durch die Allee gekommen waren, standen sie ein paar Augenblicke still und schauten zurück.
»Komm!« bat Sif. »Laß uns wieder hineingehen. Das war fast noch schöner als ein Traum.«
Frode blickte sie an. Ihm schien es, als habe ihre Haut einen Schimmer der Blütenfarbe angenommen. Er war gerade im Begriff, es ihr zu sagen. Dann schüttelte er plötzlich, von einer Müdigkeit befallen, die Stimmung ab. –
»Nein!« sagte er. »Das tut uns gewiß nicht gut! Wenn es schon sein soll, dann ziehe ich den Pan vor!«
Sie biß sich auf die Lippen.
»Wie du willst!« sagte sie. »Aber dann mußt du es auf dich nehmen, ihn mir zu zeigen!«
Er beugte sich über sie.
»Ja!« sagte er gedämpft. »Ich werde ihn dir zeigen. Sagtest du nicht, daß er tief drinnen im Walde wohnt?«
»Ja …!«
»So gehen wir hinein, immer tiefer und tiefer, bis wir ihn finden!«
Sie blickte fragend zu ihm empor, als wisse sie nicht recht, was er meine.
»Jetzt …?« fragte sie.
»Ja!« sagte er. Und sein Tonfall war halb neckend, halb ernsthaft. »Oder fürchtest du dich gar vor Pan?«
Sie nickte kaum merklich.
»Ja …! Ich glaube!« sagte sie zögernd.
Er steckte seinen Arm unter den ihren und spielte liebkosend mit ihrer Hand.
»Weshalb?« fragte er, und wieder klang seine Stimme ruhig und gedämpft. »Ist er nicht nur der Gott der Stille? Und ist seine Flöte nicht noch sanfter als Quellen und Vogelstimmen? Es sind nur die armen und unfruchtbaren Herzen, die er schreckt. Er sitzt und lauscht dem Herzschlag von all denen, die sein Reich besuchen. Dich, Sif, wird er erkennen als ein Kind, als Seele seiner Seele. Hört er das Blut durch deinen Körper rieseln, geheimnisvoll und rein wie eine Quelle, dann wird sein Flötenspiel bloß in deinen Sinnen singen, bis es noch stiller wird. Allen Kummer, alle Sehnsucht, allen Zweifel nimmt er fort. Schmilzt alles in Töne um. Er wird dich einhüllen in Stille und in Finsternis, bis deine Angst sich in Frieden wandelt. Er wird deinen Mund küssen und deine Brust und deinen Schoß, bis du schläfst …!«
Er hielt inne. Er hatte plötzlich seine eigene Stimme gehört. Sie klang wie verschleiert von Glück und Zärtlichkeit. Aber er wußte nur halb, was er gesagt hatte. Er wußte nur dies: daß er gegangen war und in die Tiefe ihrer Augen geschaut hatte, und daß sein Blick nicht von ihr lassen konnte. Erst jetzt, da er gleichsam erwachte, sah er, wie sie sich ein paar Sekunden schlossen, als wollten sie eine Vision festhalten.
Dann lächelte sie.
»Ist Pan so?« fragte sie. »Du kennst ihn ja viel besser als ich. Ich fürchte mich nicht, ihm zu begegnen.«
Sie schlenderten über taufeuchte Haferfelder unter einem kühlblauen Himmel und atmeten eine Luft, in der salzige Meeresluft und süßer Blumenhauch sich mischten. Sie schritten wie durch ein Lichtmeer! Und ihnen war zumute, als werde jede Faser ihres Wesens davon durchrieselt. Es spielte in ihrem Lächeln, es bebte um ihren Mund, jedes Wort, das sie sprachen, hüllte es ein. Sie merkten es am Rhythmus ihres Ganges und am leichten Schlage ihrer Herzen. Sie vergaßen fast, weshalb sie hier gingen. Sie lebten auf eine neue unbegrenzte Art, bei der die Zeit nicht aus Sekunden und Minuten bestand, sondern wie eine unsichtbare und gewichtlose Kette im Raume hing.
Sie gingen in einem Bogen südlich um die Stadt und erreichten den Wald gerade an der Stelle, wo er breit und dicht zu werden begann. Die Bäume waren hier höher. Es war etwas von der ruhigen Geradheit der Tempelsäulen über den Stämmen, die den Waldrand bildeten, und nur im Innern war es schon kühl und dunkel.
Sif blieb auf der Schwelle dieses Waldtempels stehen. Sie zögerte, ihn zu betreten. Noch sang und klang all das Glitzern, die ganze Frische in ihren Adern. Drinnen würde es erbleichen und verstummen. Dort würde ein neuer Ton, der gedämpfte Ton der Stille, sich über ihre Sinne breiten. Wie tief, wie gefährlich, das wußte sie nicht. Sie wußte nur, daß …
»Nein!« sagte sie leicht erschauernd. »Laß uns hier draußen bleiben im Sonnenschein! Ich wage es nicht. Ich habe Angst vor Pan!«
Frode lachte leise.
»Sif …! Mein Kind …!« sagte er und nahm ihre Hand. »Hast du Angst, weil du ihn schon rufen hörtest? Dann ist es zu spät!«
»Höre …!« fuhr er fort, während er sie über das zarte Moos führte. »Hörst du seine sanfte Flöte? Sie klingt wie aus weiter Ferne. Aber er verbirgt sich hinter einem dieser Bäume vor unseren Blicken. Er schleicht von Baum zu Baum, bei jedem Schritt, den wir vorwärts gehen. Er lockt uns stets tiefer und tiefer hinein. Denn er läßt seine Töne ständig dunkler und voller werden, so daß wir glauben, wir kommen ihm näher. Er läßt uns nicht mehr los. Wir müssen ihm folgen, so lange er es will. Er umschleiert unsere Augen, er umschleiert unseren Weg. Jede Fiber in uns erfüllt er mit seinem Zauber. Und erst, wenn wir nichts mehr wissen, nichts mehr fühlen, dann wartet er schweigend. Aber dann merken wir es nicht. Denn dann brausen die Töne noch höher und stärker in unseren eigenen Herzen. Dann hat er uns gefangen …!«
Sif zog ihre Hand zurück und blieb wieder stehen.
»Nein, nein, nein!« sagte sie. »Schweige doch! Das war nicht der Pan, den du mir zu zeigen versprachst!«
Frode lächelte.
»Komm!« sagte er. »Habe ich dir nicht gesagt, daß du dich nicht fürchten sollst? Pan ist, wie wir sind. Wir selbst sind es, die ihn wecken. Wir selbst sind es, die ihn im Gleichnis unseres eigenen Sinnes erschaffen. Alles, was wir Tag für Tag uns selbst und anderen verbergen, all die geheimen Wünsche und Sehnsüchte unserer Seele, sie erhalten Leben in seinen Tönen, sie sind es, die uns entgegenquellen und uns zu Gutem oder Bösem verlocken. Sie betören uns oder erschrecken uns. Aber wir können ihnen nicht entrinnen. Denn sie sind in unserem Innern.«
Er trat dicht an ihre Seite.
»Sif!« flüsterte er. »Wenn du dich vor Pan fürchtest, so liegt das daran, daß du dich vor dir selber fürchtest.«
Sie schloß eine Sekunde lang die Augen.
»Nein!« sagte sie leise. »Aber ich fürchte mich vor dir!«
Er lachte weich und gedämpft.
»Komm!« sagte er und legte seinen Arm um ihre Schulter. »Am gefährlichsten ist es, wenn wir ihn vergebens warten lassen. Zögern wir, seiner Flöte zu folgen, jetzt, da wir innerhalb seines Machtbezirkes sind, so sind wir verloren!«
Was war das für eine leichte und glückliche Ekstase, die Frode gefangennahm, während er sie willenlos über Wege führte, die er selbst nicht kannte? Er fragte es sich flüchtig, mühte sich aber nicht, eine Antwort zu finden. Ihm war nur plötzlich, als seien alle Rätsel gelöst, als sei die Zeit geschwunden und all die bodenlosen Ewigkeiten, die sich vor ihm geöffnet und ihn erschreckt hatten. Sie schwanden in dem Augenblicke, da er an der Seite eines neunzehnjährigen Mädchens dem Geheimnis aller Dinge ins Herz schaute. Und erlosch dieser Augenblick, so gab es keine mehr. Dann sank die Welt in Staub, wurde zu flimmerndem Nebel im Raum. Aber ehe das geschah, würden ihre Seelen sich in eine zeitlose Existenz gerettet haben, um dort auf die Erschaffung eines neuen Himmels, einer neuen Erde zu warten.
»Sif …« sagte er und hob ihr Gesicht zu dem seinen empor. »Du feine, blumenzarte Sif! Sage mir, was dein Blut dir zuflüstert. Erzähle mir deine Träume! Schließ mich eine Sekunde in dein Herz ein, das wie ein grüner, duftender Garten ist, voll blauer Schmetterlinge! Laß mich wie eine Schwalbe durch den Himmelsraum deiner Augen fliegen! Laß mich alle deine Sehnsüchte aus dem sanften Kelch deines Mundes trinken! Gestatte mir, daß …!«
Sif entwand sich ihm.
»Nein, nein, nein!« sagte sie halb lachend, halb ängstlich. »Hör' doch auf, du! Schweig doch! Bist du denn ganz und gar von Sinnen!«
Frode lachte wieder dasselbe gedämpfte Lachen.
»Ich?« sagte er. »Du irrst dich, Sif! Ich bin stumm wie ein Baumstumpf! Was du hörst, ist nicht meine Stimme, es ist Pans Flöte. Je tiefer ihre Töne uns erfüllen, um so besser verstehen wir sie. Es sind keine bloßen Töne mehr, es sind ekstatische Worte, die uns rufen und umgaukeln und uns beim Namen nennen. Sie senden uns ihren Hauch, bis unsere Herzen sich öffnen wie zwei brennend rote Blumen. – – Schließ die Augen, Sif. Und wenn ich dich frage, wo du bist, und wer du bist, dann weißt du es nicht. Du hast vergessen, weshalb du mir in das Reich der Unwirklichkeit gefolgt bist, und du denkst nicht daran, ob du jemals wieder von hier herauskommen wirst. Es tanzen goldene Ringe in der Luft um uns her, und unsere Füße schreiten auf Sternenstaub. Ich sage dir, Sif, wir werden unsichtbare Spuren dieser Wanderung tragen bis in alle Ewigkeit hinein.«
Er hielt sie unablässig umschlungen. Die Worte bildeten sich in einer seltsam traumhaften Weise auf seiner Zunge. Seine wachen Gedanken hatten gleichsam keinen Anteil an ihnen. Während er sie aussprach, wunderte er sich selbst über sie und lauschte ihnen wie ein Fremder. Er wußte nicht einmal, ob es ein Spiel war, ob es einen Zweck hatte, daß er sie auf diese Weise vergessen machte, wie weit und wie lange sie bereits gingen. Er merkte nur, daß irgendwo tief in seinem Innern ein kleines lichtes Lachen erklang. Es färbte seinen Sinn mit einem flimmernden Sonnenschimmer. Es machte ihn leicht und froh.
Sifs Kopf war leicht herabgebeugt. – Lauschte sie? Oder hörte sie nichts? Hatten seine leise Stimme, ihr Klang, ihr Tonfall vielleicht nur ihre eigene Traumwelt erschlossen? In die keine fremden Worte und Bilder gelangen konnten? Er wußte es nicht. Aber er wußte, daß selbst dort drinnen sein Schattenbild wohnte. Ihm würde sie begegnen und es wiedererkennen in der Gestalt eines blauen florfeinen Falters.
Als er schwieg, blickte sie auf und blieb stehen. Ein fernes Lächeln erblühte um ihre Lippen. Ein Lächeln, das er an ihr nicht kannte. Es ließ ihr Profil noch kindlicher erscheinen. Es bat gleichsam um Schutz gegen etwas, das sie zwingen, das sie willenlos machen würde. Er ahnte es nur in den paar Sekunden, während ihre Augen sich zu den seinen erhoben. Dann lehnte sie den Nacken gegen seinen Arm mit einer leisen, liebkosenden Bewegung.
»Frode!« flüsterte sie. »Wann glaubst du, daß Pan aufhören wird, für mich die Flöte zu spielen? Mir wird schwindlig davon!«
Um das stille und helle Lachen, das Frodes Herz durchrieselte, war es plötzlich geschehen, als es seine Kehle erreichte. Dort blieb es stecken und nahm ihm für ein paar Sekunden den Atem. Er beugte sich über ihr aufwärts gewandtes Gesicht, über ihre weitgeöffneten Augen, in deren Tiefe er, wie ihm schien, ferne Visionen vorübersegeln sah. Es war diese süße und müde Hingabe in ihrer Stellung und ihrem Lächeln, die in einem brennenden Augenblick sein Blut entzündete.
»Sif …!« flüsterte er. »Hast du Pan noch nicht gekannt, so will ich ihn dir zeigen! Lausche, denn jetzt flüstert er dir die schönsten Worte zu: Ich liebe dich! … Fürchtest du dich vor ihm? Siehst du sein Gesicht sich über dich beugen? Siehst du seinen Mund? Er begehrt deinen bebenden Mund. Er hat dich in seinen Tempel geführt, an die geweihte Stätte, wo er dich mit Seele und Leib fordern wird. Er hat deinen Ohren alle Stimmen des Lebens und des Tages verschlossen. Du bist seine Braut. Tritt vor ihn hin, nur in das erbleichende Gewand deiner Haut gekleidet. Sein Wille erfülle sich an dir! … Erkenne mich, Sif, fürchte mich nicht. Denn nun habe ich dich gefangen …!«
Sie schloß die Augen unter seinem Kuß. Sie reichte ihm ihren Mund so weich und tief wie nie zuvor. Dichter und dichter schloß er seine Arme um sie. Dann merkte er plötzlich, wie ein leises Zittern ihre zarten Schultern erschütterte. Es kam wieder, stärker, fast wie Zuckungen, die ihren ganzen Körper durchbebten. Erschreckt ließ er von ihren Lippen ab. Sie veränderte ihre Stellung nicht. Sie blieb in seinen Armen liegen, das Gesicht emporgewandt und den Mund halb geöffnet.
Ihre Augen öffneten sich schwer. Sie schüttelte langsam den Kopf, als erwache sie.
»Frode …!« flüsterte sie. »Ist es auf diese Weise, daß man Herzen einfängt?«
Er wollte lächelnd bejahen, aber er hielt inne. Das Blut schoß ihm in die Wangen. Die Frage traf ihn jählings wie ein schmerzender Stich, und sie beschämte ihn. Der Griff seiner Hände lockerte sich. Sie glitten an ihren Armen, an ihren Schultern, ihren Hüften entlang, während er – als könne er nicht anders – mit gesenktem Kopf vor ihr auf die Knie sank. –
»Sif …! Nein …!« sagte er still. »So will ich dich nicht gewinnen! Ich will mich nicht durch einen Kuß in deine Umarmung schleichen. Aber ich will dich bitten: Gib ihn mir als ein Geschenk!«
Sie umfaßte mit beiden Händen seine Wangen und wandte sein Gesicht zu sich empor. Wieder schüttelte sie den Kopf, gleichsam verwundert.
»Ist er denn so viel wert …?« fragte sie nur.
Er mußte über diese seltsame Frage lächeln, und plötzlich kam ihm das Theatralische in seiner knienden Stellung zum Bewußtsein. Er erhob sich.
»Ja …!« sagte er. Aber er merkte sehr wohl, daß eine zögernde Betonung über dem Wort lag – als begänne er selbst zu zweifeln. Einen Augenblick blickte er schweigend auf ihr bewegtes Gesicht. Dann legte er die Hand über die Augen, als würde ihm schwindlig, als verstünde er nicht …
»Sif!« sagte er. »Weshalb verschließest du dich mir immer und immer wie eine empfindsame Blume, jedesmal wenn ich dir nahe komme? Hast du Angst vor mir?«
Sie schüttelte den Kopf und lächelte.
»Nein!« sagte sie. »Nicht jetzt. Nicht mehr. Vorhin, vielleicht. Ein wenig …!«
Er sah dieses jähe Lächeln, das um ihren Mund erblühte. Und er sah, wie sicher sie dastand, neben ihm, und ihre sanften grauen Augen fragend in den seinen ruhen ließ. Und er hatte das Gefühl, als wären es neue, unsichtbare Ketten, die sie um seine Hände wand, so daß er sie nicht greifen konnte. Aber jetzt wollte er die Fesseln abschütteln. Er wollte dies eine Mal nur ihr frei gegenüberstehen, nicht gebunden, nicht geblendet.
»Sif!« bat er. »Wenn du keine Angst mehr hast, so antworte mir: Ist dies noch immer ein Spiel für dich? Oder ist es …?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Ein Spiel …?« wiederholte sie verwundert. »Das ist es nie gewesen. Aber sage du mir, was es ist?«
Es zuckte in seinen Händen, als wollten sie sie fassen. Aber er hielt an sich. Sein Blick suchte ihren Mund, wie um die Antwort zu lesen, noch ehe er gefragt hatte.
»Aber wenn es kein Spiel ist, Sif …«, sagte er gedämpft. »Liebst du mich denn?«
Er gewahrte ein leises Zucken um ihre Lippen. Sie stand einen Augenblick unbeweglich. Dann legte sie ihren Arm um seinen Nacken. Nicht wie eine Liebkosung. Eher lag etwas Müdes, etwas Flehendes über der Bewegung.
»Frode, liebster Freund!« sagte sie. »Du fragst, und du fragst, aber ich weiß es nicht! … Glaubst du, ich merkte nicht, wie all deine Gedanken nach mir rufen? Ich habe in mich hineingelauscht, aber dort ist es so stille. Dort ist nur eine sanfte Freude darüber, zu wissen, daß du mich liebst. Ja, mehr als Freude! Ein träumendes Glück, ein tiefer Friede. – Aber dort ist kein Sehnen, das gestillt zu werden verlangt.«
Er löste behutsam ihren Arm von seinem Nacken. Er senkte den Kopf.
»Danke, Sif!« sagte er leise. »Das war es, was ich wissen wollte!«
Er wandte sich um und ging ein paar Schritte fort von ihr. Es war keine Enttäuschung, die ihn erfüllte. Auch nicht Trauer. Es war eine seltsam lähmende Mischung von Zorn und Kummer. Es kam ihm vor, als wäre sie nicht aufrichtig. Es war kein Ja, und kein Nein. Wieder hatte sie ihr Herz geschlossen und sich vor ihm versteckt. – Sie hatte recht: es war kein Spiel. Es war an der Grenze des blutigsten Ernstes.
War es anderes, hinter einem kindlichen Lächeln noch verborgen, als unfruchtbarer Genuß und bebende Neugierde? Ein Netz, feiner als Spinngewebsfäden? In dem er zappeln sollte, begehrend, machtlos, während sie …!
Er ballte die Hände. Das Blut schoß ihm in die Wangen. Es blendete während einiger Sekunden fast seine Augen. – Und er hatte sie in seinen Armen gehalten … Seinen Mund in dem ihren vergraben. Und sie wieder losgelassen, wie sie es gewollt hatte! Ja, mehr als das: Er hatte ihre Brust geküßt und ihren Schoß, und war von ihr gegangen, so wie sie es damals gewollt hatte …!
»Frode!« sprach ihre Stimme hinter ihm. Sie klang tief und verschleiert, wie durchzittert von Angst und Erregung. »Bist du bekümmert?«
Er wandte sich jählings um. Er wollte ihr Gesicht sehen, ob es vielleicht gleichzeitig lächelte. Aber ihre Augen waren dunkel und verschleiert wie ihre Stimme. Das machte ihn unsicher. Ihm war, als würden ferne Erinnerungen in ihm geweckt. – Er wußte nicht woran – –
»Bekümmert …?« wiederholte er mit einem kurzen, spöttischen Achselzucken. »Nenne es lieber abgekühlt!«
Er sah, wie sie stutzte. Ein schmerzliches Zucken lief über ihre Züge. Ihre Augen suchten ratlos die seinen.
»Der große Pan ist tot!« fügte er in gleichem Tonfall hinzu. »Wir können getrost heimwärts gehen!«
Einen Augenblick stand sie atemlos da. Ihre Hände griffen tastend in die leere Luft. Dann atmete sie tief auf.
»Du glaubst mir nicht …!« flüsterte sie.
Er biß die Zähne zusammen. Sein Herz pochte. Sein Blut rief. Kam sie ihm nur einen Schritt näher, dann …!
»Ein Spiel?« sagte sie still. – »Ja, vielleicht war es trotzdem ein Spiel. Aber wir sind es nicht, die miteinander gespielt haben. Es ist ein lichter und funkelnder Traum, der mit uns gespielt hat. Am meisten mit dir, meinst du nicht auch? Aber wieso weißt du das? Wieso weißt du, welche Blumen in diesen Tagen in meinem Sinn erblüht sind? Weißt du, wie fein und zart sie sind? Und ob jemand sie pflücken darf? Ob du sie pflücken darfst? – Du weißt nichts. Du kommst mit deinen starken Händen und willst etwas Ungreifbares umfassen. Und da merkst du, daß deine Hände leer sind. Und in deiner Enttäuschung verlangst du von mir, daß ich dir das von mir geben soll, was du fühlen und sehen kannst: meinen armen, bangen Körper …! Sind diese beiden Dinge denn ein und dasselbe für dich …?«
Sie schwieg ein wenig, als würde ihr bange vor ihren eigenen Worten. Bange davor, daß sie tiefer verletzen könnte, als sie es beabsichtigte. In ihr vollzog sich eine plötzliche Wandlung. Ihre Züge, die in diesen paar Minuten wie versteinert gewesen, waren plötzlich verklärt von diesem Lichtschein, der einem Lächeln glich. Sie biß sich auf die Unterlippe und breitete die Arme aus.
»O, Frode!« sagte sie sanft. »Du verstehst das so wenig! Glaubst du denn, das größte von allem sei zu fordern, zu nehmen, zu besitzen? Hätte ich das gewußt, so hättest du schon längst alles bei mir nehmen können … Was du nur wolltest! Wie hätte ich es hindern können? Mein Blut kann geweckt werden wie das eines jeden jungen Weibes, aber ich, Frode, ich ging und wartete. Ich träumte nicht davon, genommen zu werden, sondern geben zu dürfen!«
Es war, als ob alles Blut über Frodes Herz hinspülte, bis es zu schlagen aufhörte. Ihre Stimme, die so sanft und zärtlich geklungen, verstummte. Aber der Klang und die Worte, die sie gesprochen, rieselten noch durch sein Ohr, in die tiefsten und verborgensten Winkel seines Bewußtseins hinein. Dort begegnete er einer anderen Stimme, deren Worte ungefähr die gleichen waren. In plötzlichem Staunen und voller Angst begriff er, glaubte er zu begreifen …!
Er erwachte dadurch, daß er Sifs Stimme wieder hörte.
»Liebster du! …« sagte sie zwischen Lächeln und Weinen. »Du fragst, ob ich dich liebe, ich aber weiß es nicht. Ich weiß nur, daß die Antwort noch nicht erwacht ist. Ich habe dir alles gegeben, was ich zu geben wagte. Meinen Mund, meine Gedanken, meine Träume. Meine linke Brust und meinen Schoß hast du geküßt. Und doch erwachte die Antwort nicht, obwohl ich lauschte. Du fragtest mich nie, ob mir bange wäre. Mir war bange, aber du merktest es nicht.«
Sie lächelte still. Sie kam langsam auf ihn zu.
»Willst du, daß ich dir mehr gebe, damit du an mich glauben kannst? Daß ich dir alles gebe? Mein Geheimstes und Tiefstes? Das, was ich selbst nicht kenne? … Frage mich nicht, ob mir jetzt bange ist. Selbst werde ich meine Gewänder lösen. Aber sieh mir solange in die Augen. Nimm mich, Frode. – Dann werde ich lauschen, ob die Antwort erwacht!«
Sie stand dicht vor ihm. Ihre Lippen bebten. Ihre Hände glitten langsam zu den weißen Perlmutterknöpfen auf den Schultern empor. Da sank Frode wiederum vor ihr auf die Knie und barg sein Gesicht an ihrem Schoß. –
»Sif, Sif …! Nein …!« flüsterte er. – »Wie konnte ich dich verführen! Du sollst mir nichts geben, was nicht mein ist. Ich besitze dich trotzdem tiefer, als du selbst es weißt!«
*
Sie hatten die Insel in ihrer ganzen Ausdehnung durchquert, ohne es zu wissen. Als sie aus dem Wald heraustraten, hinaus in den Sonnenschein, und dies entdeckten, merkten sie erst, wie müde sie eigentlich waren. Sie hatten ein Gefühl, als hätten sie nicht Stunden, sondern Tage drinnen verbracht, ihre Sinne waren gleichsam verschleiert. Sie blinzelten mit den Augen gegen das Licht. Beide mußten einen Augenblick vor dem Waldrande stehen bleiben, um sich zu sammeln.
Frode holte tief Atem.
»Ja …!« sagte er, und seine Stimme klang merkwürdig hell und singend. »Dies ist der Tag, hierher gehören wir. Nichts ist reiner und wirklicher als Sonnenschein.«
Er wandte sich zu Sif und ergriff ihre beiden Hände.
»Nicht wahr, Sif?« fragte er mit einem Lächeln, das eine fast ängstliche Bitte barg. »Was Pan uns dort drinnen in Stille und Dunkelheit vorgaukelte, das ist nie zwischen uns geschehen. Es ist nur ein Traum.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich weiß bald nicht mehr«, sagte sie, »was Traum ist und was Wirklichkeit. Wenn du auf deinem blauen Falter wieder davon geflogen bist, wird es vielleicht sein, als hätte ich nur geträumt, all dies Seltsame sei geschehen.«
Er lächelte ein müdes Lächeln.
»Und mir«, sagte er still, »wird es eher scheinen, als sei all das, was davor und dahinter liegt, nur ein Traum …! Was ist am schönsten?« – Sie begannen langsam zu gehen. Sie folgten dem Pfade, der sich am Wald entlang zum Strand erstreckte. Sie gingen schweigend einher, aber trotzdem war es, als redeten sie miteinander. Als begegneten sich ihre Gedanken unsichtbar, als kehrten sie mit unausgesprochenen Antworten zurück. Es lag etwas Sanftes und Sicheres in diesem Gefühl. Wie Stille und Friede senkte es sich auf sie herab. Als ihre Augen sich wieder umstreiften, sprach keine Unruhe, keine Frage mehr aus ihnen. Nur eine Erinnerung, eine gedämpfte Freude.
»Wollen wir Bob besuchen?« fragte Sif und dabei deutete sie in eine bestimmte Richtung, »da ist sein Zelt. – Wie spät ist es allmählich geworden?«
Frode sah auf seine Uhr. Dann lachte er.
»Es ist kaum sieben!« sagte er ungläubig. »Aber ist es Morgen oder Abend? Oder ist es Abend gewesen und wieder Morgen geworden?«
Sif blickte freudig zu ihm empor, als sie seinen sorglosen Ton hörte.
»Das weiß ich nicht!« sagte sie. »Und darüber will ich auch nicht nachgrübeln. Das kann Bob uns erzählen, wenn es überhaupt von Bedeutung ist.«
Die Zeltöffnung war beiseite geschlagen, als sie dorthin kamen. Das Zelt selbst war leer. Die Schlafutensilien lagen in einer Ecke zusammengerollt und auf einem Baumstumpf, der als Tisch diente, standen die Reste eines Frühstücks.
»Er ist fort!« sagte Sif enttäuscht. »Gewiß auf einer seiner einsamen Ruderfahrten, und dann kann es viele Stunden dauern, bis er wiederkommt.«
»Oder auch …« fügte sie bald darauf lachend hinzu …, »oder auch ist er nur im Wasser, so daß er plötzlich auftaucht wie Adam vor dem Sündenfall. Das habe ich schon einmal, mit Simon zusammen, erlebt!«
Frode ging umher und schaute sich die Bilder an, die an der Zeltwand entlang standen. Er war auf achteckige Kunstwerke eingestellt und er wurde in der Beziehung nicht enttäuscht. Sie alle hatten etwas seltsam Geometrisches. Er kannte dieses Genre von verschiedenen Ausstellungen her und hatte kein Jota von dem ganzen begriffen. Anfangs hatte es ihn belustigt, später gelangweilt.
Sif stand da, beobachtete lächelnd seinen Rundgang, sagte aber nichts. Erst als er mit dem Beschauen fertig war, deutete sie auf eines der Bilder. »Das bin ich …!« sagte sie mit einem Ernst, der fast stärker wirkte, als das herzhafteste Lachen.
Frode kniff prüfend die Augen zusammen.
»Er ist verrückt!« sagte er nur. »Das ist ja Blasphemie!«
»Sage das nicht zu Lilli«, meinte Sif. »Bob und sie sind sich darüber einig, daß ich froh sein könnte, wenn ich so gut aussähe!«
Sie holte einen gichtbrüchigen Rohrstuhl aus einer Ecke hervor.
»Setz' dich dorthin, dann wirst du sehen! Malen kann er nämlich, wenn er will.«
Sie ging hin und wendete einen Blendrahmen um. Frode saß einen Augenblick und starrte auf die Leinwand. Erst stutzte er nur, weil dies Bild inmitten all der übrigen Farbenpracht in weichen und gedämpften Tönen gehalten war, so daß die Konturen eines jungen Mädchenantlitzes fast mit dem Hintergrunde verschmolzen. Aber als seine Augen sich erst daran gewöhnt hatten, als die Züge sich auf einmal in Linien auflösten und plastisch wurden, war es, als würde ihm eine Sekunde schwindelig.
War es eine Vision, die er sah? …
Nein, nein …! Er glaubte es nicht!
Es war Sif und es war doch nicht Sif. So mußte sie wohl aussehen für denjenigen, der sie mit solchen Augen angesehen hatte, daß die sichtbaren Züge nicht mehr das Wesentlichste waren. Ein neues Moment war hinzugekommen, gleichsam ein verborgenes Spiegelbild ihres Wesens, das von innen her darüber geworfen und durch das die Konturen unmerklich auf eine fast unheimlich visionäre Art verändert wurden.
Aber dies war das Unbegreifliche! Frode wurde sich halbwegs und mit einem Gefühl der Angst dessen bewußt, daß er selbst Sif genau so sah. Wenn jemand ihn gebeten hätte, er möge sie beschreiben, so würde er vielleicht sich kaum mehr auf ihre Züge besinnen, kaum mehr sagen können, ob sie schön oder häßlich, ob ihr Mund klein oder groß, ob ihre Nase gerade oder gebogen, ob ihr Kinn weich oder scharf war. All das war für ihn nicht mehr Sif. Es war langsam und unmerklich von so viel anderem durchstrahlt worden, das er von ihr wußte und ahnte und träumte. Und wenn er sie sah, dann sah er sie just so, wie dies Bild sie zeigte. Ja, just so. Eins mit dem Hintergrunde, so daß er ein wenig starren mußte, ehe sie daraus hervortrat.
Dies war ihm bis jetzt so geheim gewesen, daß er nie daran gedacht hatte. Und jetzt, als er sah, daß ein anderer, einer, den er nicht kannte, ein Fremder, dieses gleiche Blendwerk von etwas, das war und doch nicht war, erfaßt hatte, empfand er beinahe Zorn darüber. Es war wie eine Profanation, wie ein Diebstahl, wie ein Einbruch in seine verborgenste Geheimkammer.
Aber in diesem spontanen Zorn lag gleichzeitig eine Spur von Enttäuschung und Betrübnis. – Wie kannte dieser Fremde Sif so genau? Welchen Traum von ihr trug er mit sich herum? Und was war geschehen in der Sekunde, da seine Augen sich öffneten und er sie so schaute, daß er vermittels seiner Farben der Vision den Anstrich der Wirklichkeit geben konnte? Wer war er? Und was wollte er von ihr? – – – –
Sif hatte gewartet mit einem gespannten Lächeln um die Lippen. Jetzt fragte sie:
»Kannst du erkennen, wer das sein soll?«
Frode nickte. Dann ließ er seine Augen von dem Bild.
»Was sagst du selbst dazu?« fragte er.
Es dauerte eine Weile, bevor sie antwortete. Sie wandte sich um und ging langsam zur Zeltöffnung.
»Ich habe Bob gern, nur um dieses Bildes willen!« sagte sie. »Ich weiß nicht weshalb, aber ich mußte weinen, als ich es das erste Mal sah.«
»Das erste Mal?« fragte Frode erstaunt. »Saßest du ihm denn nicht Modell?«
Sif drehte sich auf dem Absatz um. Sie lachte munter.
»Freilich!« sagte sie und deutete auf das geometrische Porträt, »aber da kam das dabei heraus. Das andere … ich ahne nicht, wie er es gemalt hat!«
Sie standen zusammen in der Zeltöffnung und blickten hinaus auf das Wasser, über das sich ein seidenweicher Nebel breitete.
»Hast du den Ring bemerkt?« fragte Sif plötzlich.
»Den Ring? Welchen Ring?« Frode schaute verständnislos zu ihr empor.
Sie lächelte.
»So komm!« sagte sie. »Bob sagt, er habe ihn zu dem Bilde inspiriert.«
Sie stellten sich wieder davor auf. Sif drehte es ein wenig um, so daß das Licht stärker darauf fiel. Diesmal brauchte Frode seine Augen nicht einzustellen. Es war, als habe das Bild in den verflossenen paar Minuten sein eigenes geheimes Leben gelebt. Als habe es aus Sifs Nähe eine eigenartig flimmernde Klarheit gesogen. Seine Augen sahen ihn an mit diesem fragenden, spähenden Lächeln, das sein Herz erbeben ließ. Das dichte Haar umrahmte das Gesicht wie ein dunkler Schatten. Und erst jetzt sah er den schmalen Goldreif, der das Haar umspannte und durch die herabfallenden Strähnen fast verborgen war.
Frode stand unbeweglich da und sah ihn an. Eine Sekunde lang war es ihm, als schwanke die Erde unter seinen Füßen. Er mußte die Zähne fest zusammenbeißen, um nicht zu stöhnen. Seine Gedanken waren wie gelähmt. Sie wiesen gleichsam jede Erklärung, jede Reflektion zurück. Denn es gab keine. Es konnte keine geben. Keine andere, als die eine: Daß es Rhuahitis Ring war. Der Ring, den der Fremde ihr gegeben hatte …!
So, halb betäubt, stand er ein paar Minuten. Dann löste er sich mit einem Ruck aus diesem Zustand. Er beugte sich vor. Er wollte sehen, ob es nicht ein Trug sei. Denn dies konnte ja nicht mit rechten Dingen zugehen!
»Ist er nicht schön?« hörte er Sif fragen. »Und kleidet er mich nicht gut?«
Er blickte zu ihr auf, noch immer zweifelnd. Er machte ein paar Schritte auf sie zu.
»Liebster Gott, Sif!« sagte er leise. »Wie ist er darauf gekommen, dich mit diesem Reif zu malen?«
Sif mußte lachen, als sie sein versteinertes Gesicht sah.
»Soll etwa auch darin etwas Mystisches liegen?« fragte sie neckend.
Frode versuchte mitzulachen, aber es gelang ihm nicht recht. Seine Augen hingen an Sifs Stirn, als erwarte er, den schmalen Reif durch ihr Haar durchschimmern zu sehen.
»Das ist mehr als mystisch!« sagte er. »Das ist unheimlich!«
»Nicht die Spur!« versicherte Sif. »Von dem Gefühl des Unheimlichen kann ich dich jedenfalls sofort befreien!«
Sie ging zu einem kleinen Schrank aus Kiefernholz, der in einer Ecke des Zeltes stand, und zog ein paar Schubfächer heraus. Sie wühlte ein wenig in ihnen herum, leis trällernd. Frode blickte sie an, ihren Nacken und ihre zarten Schultern. Das alles war seinen Augen eine Wonne. Und doch geschah es, daß ihn plötzlich ein müdes Verlassenheitsgefühl beschlich. Es war wie eine erdrückende Gewißheit, daß er mit der Versuchung im Walde die Grenze erreicht hatte. Daß der Traum nur so weit reichte. Dort hatte er zum letzten Male den blauen Falter, ihre reine, bange Mädchenseele in seiner Hand gehalten, hatte zum letzten Male die Macht gehabt, ihn zu zerdrücken … oder ihn fortflattern zu lassen, unbeschädigt und ohne, daß er die Erde berührt hatte. Nun war ihm weiter nichts übrig geblieben, als ihn in der Bläue verschwinden zu sehen, zu wissen, daß er so am gütigsten gehandelt, an ihm, an ihr und an sich selbst.
Er sah, wie Sif sich aufrichtete. Dann hob sie die Arme langsam empor. In den Fingern hielt sie den schmalen Reif. Mit einem Anflug koketter Anmut drückte sie ihn fest um ihre Schläfen und wandte sich zu ihm.
»Sieh!« sagte sie. »Hier ist er. Er ist weder aus Mondstrahlen, noch aus dem Golde der Morgenröte geschmiedet. Er ist mindestens achtzehnkarätig.«
Frode nickte. Auf einmal kam es ihm gar nicht so seltsam vor, daß Sif dastand, Rhuahitis Reif um die Stirn. Es war nur das letzte Glied des Traumes, das in die Wirklichkeit eingriff und die Kette schloß. So hatte er Rhuahiti zum letzten Male gesehen, ehe sie von ihm ging. Aber bestand da ein Unterschied, weil es jetzt Sif war?
»Wie schön du bist …!« sagte er leise. – »Du solltest ihn immer tragen.«
Sie lächelte glückselig. Sie hob stolz den Kopf, als trüge sie die Krone einer Königin.
»Das werde ich auch tun!« sagte sie. »Denn er gehört mir. Er hat ihn mir geschenkt.«
Nur einen Augenblick wunderte Frode sich darüber, daß er sie ungefähr dieselben Worte sprechen hörte, deren er sich von der vergessenen Insel des Traumes her entsann. Ihn traf ein kleiner, schmerzlicher Stich ins Herz, ein Flimmern breitete sich über seine Augen, als wollten sie sich mit Tränen füllen. Dann zwang er sich, zu lächeln.
»Wo hat Bob ihn eigentlich herbekommen?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Das weiß ich nicht!« sagte sie. »Danach habe ich ihn nie gefragt. Aber er ist gewiß sehr alt. Nimm ihn mal in die Hand, er ist viel schwerer, als man glauben sollte.«
Sie machte mit den Händen eine Bewegung, als wolle sie ihn abnehmen, aber Frode hinderte sie daran.
»Nein …!« sagte er. »Laß, Sif! So will ich dich gern in der Erinnerung behalten.«
»Warum gerade so?« fragte sie erstaunt.
»Weil …!« er zögerte.
Er suchte nach einer Antwort. Aber er sah ein, daß es ihm unmöglich sein würde, zu erklären, was dieser Ring ihm plötzlich bedeutete. Es hatte wie ein Blitzstrahl sein Bewußtsein durchzuckt, so daß er selbst es verstanden hatte. Aber, würde er versuchen, es in Worte zu kleiden, so würde es nur wie eine abenteuerliche und überspannte Fabel in ihren Ohren klingen.
Und in derselben Sekunde, in der er sich dies alles sagte, packte ihn ein jäher Schmerz. Er empfand, wie tief er doch Recht habe mit dem, was er vor wenigen Stunden gesagt hatte. Nun war es geschehen. Nun sahen sie, daß sie nackt waren. Das Traumgespinst, das sie gefangen gehalten, begann zu verblassen und sich aufzulösen. Noch spannen sich feine Fäden zwischen ihren Seelen. Vielleicht würde der letzte niemals zerreißen. Aber er würde sich vor ihnen verbergen, so daß sie ihn weder sehen noch spüren könnten. In ihren Herzen würde nur ein Lächeln zurückbleiben, über dem sie heimlich wachen würden. Ein unsichtbarer Keim zu einem neuen, künftigen Schicksal, wenn auch diese Insel eine vergessene war …
Sif hatte während dieser Augenblicke verwundert und wartend dagestanden und ihn angeschaut.
»Weil …?« wiederholte sie fragend. Dann breitete sich plötzlich ein schwacher, roter Schimmer über ihre Wangen.
Sie ging lächelnd auf ihn zu und nahm seinen Kopf in ihre beiden Hände.
»Nein, Frode! Du dummer Frode!« sagte sie leise. » Das bedeutet der Reif ja gar nicht. Es ist nichts Mystisches oder Symbolisches an ihm. – Sieh: nun nehme ich ihn ab und lege ihn dorthin, wo ich ihn hergenommen habe. Glaubst du mir jetzt?«
Er zögerte ein wenig.
»Ja und nein, Sif!« sagte er leise seufzend. »Selbst wenn du meine Gedanken lesen kannst, so verstehst du ihren Sinn nur halb. Aber es ist gut so! Ob nicht die größten und reichsten Augenblicke im Leben ihre Schönheit verlieren würden, wenn man sie ganz verstünde? – Sie sollen sein wie ein unverdientes Geschenk, das einem gereicht wird.«
Sif stand gedankenvoll da und drehte den Reif zwischen den Fingern. Sie schüttelte den Kopf.
»Jetzt verstehe ich dich nicht!« sagte sie. »Wie sollte das Glück ein Glück sein können, wenn es nicht ein Geschenk wäre? Wenn es eine Belohnung wäre, würde man es ja nur als eine triviale Selbstverständlichkeit entgegennehmen.«
Sie blickte ihm ein paar Sekunden forschend in die Augen. Dann glitt ein trauriges Beben um ihren Mund. Sie legte schnell den Reif in das Schubfach und trat zu ihm.
»Frode!« sagte sie leise. »Sind wir noch Freunde? Oder wurde ich dir fremd, dort, in Pans Reich …?«
Er nahm ihre beiden Hände. Er preßte sie an seinen Mund. Er beugte sich über ihr Gesicht, ganz tief, so daß seine Lippen fast die ihren berührten.
»Freunde?« wiederholte er verwundert. – »Laß mich es dir nun zum letztenmal sagen, damit du es nie vergißt, und wenn wir uns auch in tausend Jahren erst wiedersehen sollten: Ich liebe dich! Und ich liebe dich tiefer, nun, da ich weiß, daß ich dich verlieren soll und weshalb ich dich verlieren soll! … Verstehst du das?«
Sie starrte ihm geblendet in die Augen.
»Ja! Nein!« flüsterte sie. »Nein, ich verstehe gar nichts! Wie kannst du etwas verlieren, was du nicht besitzest?«
Seine Lippen streiften die ihren mit einer leichten, fast unmerklichen Liebkosung.
»Ich besitze dich, Sif!« sagte er. »Und ich besitze dich tiefer, indem ich dich verliere! Verstehst du auch das nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. Da ließ er langsam ihre Hände los.
»Du sagtest vorhin«, fuhr er fort, »das Glück müsse unbedingt ein Geschenk sein. Aber du sagtest es schöner noch da drinnen im Walde: Daß es kein Geschenk ist, das man empfängt, sondern eines, das man gibt! Das begriff ich erst, als du mir den Reif zeigtest!«
Sie strich sich über die Augen, als erwache sie aus einem Zauberbann. Sie sah sich um in dem lichten Zelt. Ihr Blick blieb an dem Bilde in dem weißen Rahmen haften.
»Der Reif …?« wiederholte sie verwundert. »Was ist mit ihm?«
Er lächelte vor sich hin. Es senkte sich plötzlich ein milder Friede über sein Herz.
»Rhuahiti …!« sagte er, und das Lächeln färbte seine Stimme, so daß sie halb ernst, halb scherzend klang. »Den schmalen goldenen Reif schenkte dir dereinst ein fremder Mann. Aber du schenktest ihm nichts dafür, weil ich alles genommen hatte. – Sif …! Ihm schuldest du dein Herz! Deshalb habe ich es nicht berühren können!«
Sie seufzte und sie mußte lächeln wie er.
»Wie schön das ist!« sagte sie. »Du seltsamer Frode, träumst du noch von alledem?«
»Ja«, sagte er. Und nun sprach eine ganz bewußte Heiterkeit aus seiner Stimme, gleich als wolle er die letzten Fäden des Märchenschleiers zerreißen. »Kannst du mir denn sonst erklären, weshalb du mich liebst?«
Sif blickte überrascht zu ihm empor. Dann lachte sie gedämpft und fröhlich.
»Wenn … wenn … wenn …!« begann sie neckend, aber doch mit einem heimlichen Unterton von Zärtlichkeit. »Wenn tausend kleine zappelnde Wenns in mir verstummen würden, dann …! Ja, dann … vielleicht!«
Sie sahen einander in die Augen, ruhig, gleichsam lauschend. Dann wandten sie sich um und schritten schweigend hinaus in den taufrischen Morgen.
*
Die Sonne ging unter, klar und wolkenlos. Sie warf einen breiten Goldstreifen über das Wasser, und in der Luft tanzte ungreifbarer Goldstaub. Nicht ein Lüftchen regte sich, und doch spülten kleine spielende Wellen gegen den Sand und brachen eine nach der anderen mit zarten spröden Tönen. Jede von ihnen hatte nur diesen einen Laut zu künden, bevor sie wieder ausgelöscht wurde. Nur deshalb wurden sie geboren. Aber zusammen mit den anderen schuf dies ein sanftes und ewiges Glockenspiel, einen lebendigen Gesang, der niemals schwieg …
Frode strich sich müde über die Stirn. Er war hier herausgegangen, um durch die Wanderung ruhig und heiter zu werden. Statt dessen hatte er nun gelauscht, bis ihn die Schwermut befiel. Er hatte geglaubt, es würde alles in seinem Innern von selbst friedlich werden, wenn er nur nicht denke oder frage. Aber er merkte plötzlich, daß die gefährlichsten Gedanken nicht die sind, die man bewußt zusammenkettet, sondern gerade die, die wie Seifenblasen in unserem Sinn emporsteigen, leicht wie Luft, aus den verborgensten Tiefen Botschaft kündend.
Eine solche Seifenblase war es, die nun emporstieg und die Oberfläche seines Bewußtseins streifte. Sie machte ihn zum Bruder dieser kleinen spielenden Wellen und fragte ihn, ob er etwas anderes oder mehr sei als sie. Ob Ziel und Zweck seines Lebens, seitdem er auf dem großen gemeinsamen Meer geboren wurde, während er davongetragen wurde zu einer Küste, die er nicht kannte, bis er an ihr zerbrach und ausgelöscht wurde, anderes oder mehr wären als einen einzigen Ton des Schmerzes oder der Freude im endlosen Sang der Allschöpfung zu erzeugen.
Der Gedanke schlich sich in ihn ein, sanft und unschuldig, als wolle er ihm den Frieden geben, den er begehrte. Und müde flüchtete er sich unter den Schutz seiner Sanftheit, um auszuruhen. Aber während er es tat, wuchs der Gedanke mit rasender Schnelligkeit und umschloß ihn, hielt ihn fest. Es war kein vorübergleitender Gedanke mehr. Es war eine Frage, die Antwort erheischte. Ein Ruf, der ihn durchschallte, der alles andere in ihm und um ihn übertäubte und dann schwieg. Mit einer Plötzlichkeit, die ihn beinahe lähmte.
»Der Ton, zu dessen Erzeugung du geboren wurdest, ist er nun erklungen?« fragte es in seinem Innern. – »All die Tage und Jahre, die du bisher gelebt hast, zielten sie nur hin auf den Traum, den du auf dieser Insel geträumt hast? Und all die Tage und Jahre, die folgen, bedeuten sie nur die Welle, die zum Meere zurückgleitet, aus dem sie geboren wurde?«
So fragte es. Und in dem Schweigen, das folgte, war es, als würde ein großer, leerer Raum um ihn aufgebaut, weil er nicht zu antworten wagte. Und in einer Sekunde eisigen Erschauerns hatte er das Gefühl, als solle er das Leben zu Ende wandern in diesem leeren Raum, durch den keine Wärme von der Welt draußen zu ihm gelangen konnte.
Da stieg aus dem Tiefsten seines Innern eine Sehnsucht danach empor, diesen leeren Raum auszufüllen. Sie kam wie eine klagende Bitte um Schutz gegen die Einsamkeit. Und wie eine leise Antwort flüsterte es in seinem stummen Denken: » Sif! …« Es glitt durch sie wie ein Lächeln, wie ein Blütenhauch. Es wand sich um ihn wie ein Schleier, der feiner war als Spinngewebe und leichter als Blütenstaub. Er flüsterte den Namen halblaut hinaus in die Luft, verwundert, als kenne er ihn nicht oder als hätte er einen neuen tieferen Sinn erhalten, als den er zuvor gehabt …
Er strich sich wiederum über die Stirn, etwas verwirrt, als er den leisen, rufenden Klang seiner eigenen Stimme vernahm. Er sah sich um. Er erkannte die Stätte. Er erinnerte sich. Und noch bevor er es hindern oder sich schämen oder seinen Trotz dagegen stemmen konnte, merkte er, wie die Tränen ihm jäh und heiß aus den Augen brachen. Er legte unbewußt die Hände gegen das Gesicht, als wolle er sich vor sich selbst verstecken.
»Sif …!« flüsterte er wieder. »Süße, süße Sif …!«
Es lag ein seltsam reiches Glück im Weinen. Es lag eine Erlösung darin, ein heiliges und tiefes Sichbeugen unter etwas, das größer war, als er selbst es wußte.
Er hatte das Gefühl, als fielen Bande und Ketten von ihm ab, als würden Türen, die zuvor geschlossen waren, geöffnet, so daß ein Schwall von Sonnenschein hineindränge, in den er hinauswandern sollte. Keine Angst, kein Zweifel, keine Hoffnung war mehr in ihm. Nur eine leuchtende Gewißheit. Ein Ja und ein Nein.
Er richtete wieder den Kopf auf. Er atmete tief. Ihm war, als sei die Luft um ihn her reiner und lichter als zuvor.
Dies also war sein letzter Abend auf der Insel! Wenn die Sonne, die jetzt nur wie ein Streifen auf dem Meere leuchtete, aufginge, würde Sif von neuem den blauen Falter ebenso fern und unwirklich verschwinden sehen, wie er vor wenigen Tagen aufgetaucht war. Sie würde ihm nachschauen und dem Traum zulächeln, den er ihr gebracht hatte. Und sie würde die Antwort flüstern, die sie ihm zu geben gewußt hatte, als er sich vor ihr entfaltete. »Wie schön war das …!«
So hatte es begonnen und so sollte es enden. Kein Bodensatz von Trauer und Bitterkeit dürfte in ihnen zurückbleiben. Er hatte jetzt alles weggeweint. Sie würde es einhüllen in ihr Lächeln. Sie würde daran zurückdenken, als hätten sie mit einem Traum gespielt, der schön und zerbrechlich war wie eine Seifenblase. Und während er sie zerbrach, würde es ihr scheinen, als wäre sie nie gewesen.
Aber das war es gerade, was diesen Tag so grau gemacht und so öde, und doch reicher und durchleuchteter, als irgendeinen anderen: daß er und Sif plötzlich aus der weichen Dämmerung des Traumes, wo es weder Frage noch Antwort gab, hinausgetreten waren in das Licht des Tages. Oder nein – es war das Licht, das hereingebrochen war über sie, das den glitzernden Schleier der Unwirklichkeit zerrissen hatte, der ihre Augen bedeckt hatte. Nun standen sie da und sollten sehend einander bei den Händen fassen. Und sie wagten es nicht.
Als sie durch den Wald heimwärts wanderten, gab es Augenblicke, in denen er das Gefühl hatte, als wären sie meilenweit voneinander entfernt, als würde sie ihn nicht hören können, wenn er nach ihr riefe! Aber gleichzeitig sah er sie klarer vor sich als je. Sah sie an wie eine Fremde, der er begegnet war und die er auf seltsame Weise mit einer anderen identifiziert hatte. Jeden ihrer Züge, jede ihrer Bewegungen mußte er sich von neuem vertraut machen. Und mit einer Angst, die ihm neu war, mußte er sich selbst fragen, wie er es hatte wagen können, dieses Mädchen zu begehren, das er nicht einmal kannte.
War sie es, war es überhaupt Sif, mit der er in diesen Tagen zusammen gewandert war? War es nicht die andere, das Bild, das aus einer rätselhaften Tiefe aufgestiegen war und sich Rhuahiti genannt hatte? War es nicht das Wesen dieser Gaukelgestalt, das er mit Sifs Körper umkleidet hatte, um es lebendig zu machen? Um es ergreifen und als Fleisch und Blut besitzen zu können? Und war es das, was Sif gefühlt hatte, als sie sagte, daß auf sein Rufen in ihr keine Antwort erwache? Und was wäre geschehen, wenn er Sif genommen hätte, da sie beide diese Antwort zu wecken begehrten … Und er sich dann mit einem fremden Weib in den Armen gefunden hätte …?
All dies hatte er nicht gedacht. Es war nur durch sein Bewußtsein gewirbelt, während er mit ihr ging. Es waren die Zwielichtschatten des Traumes, vom Tageslicht verscheucht. Aber mit jedem Schatten, der da flüchtete, wurde es leerer in ihm. Was er Glück genannt hatte, das löste sich in Nebel auf. Was er für unverlierbar gehalten, hatte er nie besessen. Alles war bloß ein Zauberschleier gewesen.
Und an ihrer Stimme hatte er es gehört, an ihrem Lächeln hatte er es gesehen, daß sie ebenso gedacht hatte. Ihre Augen waren klarer und freimütiger als zuvor. Doch lag auf ihrem Grunde ein Schimmer von Wunder, als frage auch sie sich, wer er sei. Als sie das Gartentor erreichten, war sie stehengeblieben. Sie hatte nicht aufgeblickt. Sie stand zögernd da, als suche sie nach Worten. Dann hatte sie leise den Kopf geschüttelt, wie hoffnungslos! Sie schmiegte sich dicht an ihn …
»Dank …!« flüsterte sie. Dann war sie den Gartenweg hinaufgeeilt, als flüchtete sie.
Da geschah es, daß die Leere in ihm wie durchsichtig zu werden begann. Nicht als ob sie gewichen oder mit neuen Tränen gefüllt wäre. Nein! Es war eine Klarheit, die fast noch mehr schmerzte, weil sie offenbarte, daß auch nicht ein einziges, goldenes Staubkörnchen mehr darin umherschwebte.
Zu anderer Stunde an diesem Tage war er von einem kühlen und selbstbeschaulichen Staunen erfüllt gewesen. Ihn konnte, inmitten eines Gespräches, inmitten einer Menschenmenge, ein seltsames Gefühl befallen, als ob nicht er selbst, sondern nur sein Ebenbild hier stünde, als ob es lächelte und ihm antwortete und die Arme schwenkte. Jählings überkam ihn immer dies Gefühl. Aber mit jedem Male wurde es ihm vertrauter, war er fast glücklich darüber, daß es so war.
Es war ein großer Flugtag. Es war der letzte und es waren viele Besucher zur Insel gekommen. Vormittags und Nachmittags war er fast ununterbrochen ein paar Stunden in der Luft gewesen. Das ermüdete ihn nicht. Er änderte seine Manöver in einer selbstverständlichen und mechanischen Art und Weise, über die er sich zuweilen selbst wundern mußte. Wenn er dort oben zwischen Himmel und Erde hing, konnte es geschehen, daß sein ganzes Bewußtsein sich gleichsam sammelte in einem klaren Funken, der ein Lichtbündel durch alle seine Nerven sandte. In diesen kurzen Sekunden hatte er das Gefühl, als wäre diese Ruhe nur eine äußere Form der Geduld. Als wüßte er es unweigerlich, daß jede Stunde, die verstrich, ihn der Sekunde näher brachte, … da …
Was …? Ja, so lange hatte das Sprühen des Funkens nie gewährt, daß er zu einer Antwort auf diese Frage gelangt wäre.
Aber abgesehen von diesem etwas ungewöhnlichen Zustand war ihm fast den ganzen Tag über merkwürdig leicht und fröhlich zumute gewesen. Am Frühstückstisch hatten er und Simon die Möglichkeit eines sommerlichen Ferienbesuches erörtert. Ohne Maschine, ohne alles das, was sonst die Harmonie dieses kleinen Abstechers gestört haben würde. Er hatte versprochen, daß er es sich überlegen wolle. Mehrmal waren seine Augen Sifs Blicken begegnet, und jedesmal hatte es ihn freudig durchrieselt, wenn er ihre ruhige Reinheit sah. Es war, als spiegle er sich in klarem Wasser. In ihnen gab es kein Dunkel und keine Schatten. Sie waren still und stumm und voller Frieden.
Später standen sie zusammen, er und Sif, auf der Veranda. Ohne es zu wissen, hatte er ihren feinen, kindlichen Kopf, ihr nachdenkliches Profil betrachtet. Dann hatte sie sich plötzlich umgewandt, als wolle sie etwas sagen. Aber sie lächelte nur. Über den grauen Augen spielte ein kleiner heller Lichtstreif, um die Oberlippe ein weiches Zucken. Aber das weckte ihn in einem Nu. Denn er entsann sich dieses Lächelns. Entsann sich ihres Antlitzes, wie es jetzt war. Es war das Lächeln, das seine Verwunderung und Unruhe geweckt hatte, am ersten Tage, da sie gemeinsam über den schmalen Pfad zwischen den Haferfeldern dahinschritten.
»Sif …!« flüsterte er bewegt. Er hatte fast vergessen, daß sie lächeln konnte.
Sie deutete auf die hellroten Apfelblüten.
»Sieh doch!« sagte sie. »Daß Lilli das übers Herz bringt!«
Frau Lilli ging dort unten und pflückte Zweige ab. Sie sollten dazu dienen, den Tisch und die Stuben zum abendlichen Abschiedsfest zu schmücken. Sie hatte fast beide Arme damit gefüllt. Sorgsam suchte sie die aus, die die zartesten Blüten trugen, damit die Blätter nicht herabfielen.
Frode mußte einen Augenblick an Simons Schöpfungsmärchen denken. Eine leise Traurigkeit beschlich ihn.
»Ja«, sagte er. »Das ist Sünde! Wer weiß, ob nicht die halb entfalteten Träume des Apfelbaumes ihm ebenso viel wert sind, wie uns unsere Träume. Und doch kann jede weiße Mädchenhand sie pflücken.«
Sie senkte langsam den Kopf. Dann wandte sie sich um und ging durch die Stuben.
Frode bedauerte im nämlichen Augenblick, daß diese Worte über seine Lippen gekommen. Er sah ein, daß in ihnen eine Bitterkeit verborgen war, die er gar nicht empfand. Jetzt sah er, daß sie verletzt hatten.
Er blieb ein paar Minuten unbeweglich stehen. Auf eine seltsame Art verknüpfte er diese Anklage, die ihm entschlüpft war, mit ihrem Lächeln von vorhin. Dem Lächeln, das er in der ersten wachen Nacht Sifs Lächeln genannt hatte. Dem Lächeln, aus dem der Zauberschleier gewebt war, bis er es endlich vor ihm verborgen hatte.
Aber jetzt, da sie von neuem ihm vor Augen stand, wie das fremde Mädchen, dem er begegnet war, und noch immer mit demselben gleich reinen und verwunderten Lächeln … Wie konnte er es jetzt wagen, mit bitteren Gedanken sich ihr zu nahen, mit Gedanken, die nur dem unwirklichen Traumkind, zu dem er selbst sie umgeschaffen, gelten konnten? Er schritt den Gartengang hinab, hinein in das dichte Gebüsch. Er mußte allein sein. Er mußte sich klar werden über dieses Dunkle, das immerfort ihn gleichsam rief, gleichsam um eine Antwort bat. Ja, er mußte sich selber das beantworten, was von allem das Rätselhafte war: Weshalb hatte er in diesen Tagen geglaubt, daß er Sif liebe? Und was war in ihm vorgegangen, daß er sie so plötzlich als eine andere sah?
Hier ging er einher und träumte von einem mystischen Schleier! Aber ohne alle Bilder und Gleichnisse! Wer war Sif, daß sie seine Seele in eine so tiefe Verlorenheit versenken konnte?
Diese Frage ließ sich nicht fassen. Immer wieder drängte sich ein neues Antlitz zwischen ihn und die Antwort, und zwar immer das Gesicht, das er gerade nicht sehen wollte, um nicht noch mehr in Verwirrung zu geraten. Es hatte große, traubendunkle Augen und eine bronzegoldene Haut, und seine Stirn umschloß ein schmaler leuchtender Goldreif. Er verdrängte es aus seinen Gedanken. Aber es kam wieder, jedesmal wenn er fragte, als ob gerade das die Antwort wäre.
Dann gab er den Kampf auf. Hielt es absichtlich fest. Nannte es beim Namen! Rhuahiti! Und fragte es: »Wer bist du denn?«
Aber noch während er fragte, vergaß er dieses Antlitz wieder über plötzlichen Erinnerungsbildern aus diesen Tagen. Schnell durchjagten sie seine Gedanken, daß er nicht ein einziges von ihnen greifen konnte …
Verwirrt blieb er stehen und preßte beide Hände gegen die Schläfen. Dann lachte er leise. Denn im gleichen Augenblick hatte er wieder dieses unerklärliche Gefühl, daß er es gar nicht sei, der hier in diesem fremden Garten stand. Es war eine leere und gleichgültige Hülle, mit der er nichts zu schaffen hatte. Auch jetzt währte das Gefühl nur den Bruchteil einer Sekunde. Aber diesmal doch lange genug, daß er gleichsam es selbst merken konnte, wie er in die Hülle hineinglitt und sie von neuem in Besitz nahm.
Er hörte schlendernde Schritte im Gartengang und wandte sich um. Hinter den Büschen sah er Simons leuchtende Mähne auftauchen und seine munter winkende Hand.
»Nun«, sagte Simon, während er seinen Pierrotmund bis an beide Ohren hinaufzog. »Grübelst wohl über einer Rede für heute abend? Du siehst mir so geistesabwesend aus.«
»Stimmt!« nickte Frode. »Aber nicht mit Bezug auf die Rede, wohl aber auf das Geistesabwesende. Ich war nämlich gerade zu der erhebenden Erkenntnis gelangt, daß ich wohl überhaupt nicht existiere!«
»Nicht übel!« sagte Simon anerkennend. »Doch ist es, philosophisch gesehen, nicht gerade neu!«
Frode zündete sich eine Zigarette an. Er sog den Rauch ein, langsam und mit halb geschlossenen Augen. Dann zuckte er die Achseln mit einem leichten zweideutigen Lächeln.
»Vielleicht!« gab er zu. »Aber ich bin zu der genannten Erkenntnis auch nicht so sehr auf dem Wege des Denkens, als dem der Erfahrung gelangt. Du hast mir gerade gefehlt, um sie mir zu widerlegen!«
Simon blickte verstohlen zu ihm empor.
»Daß du dazu Lust hast …« sagte er mit einer kleinen Grimasse. »Gerade heute, da Lillis sämtliche Apfelbäume aufgeblüht sind! Hier suche ich nach dir, um mich ein wenig in der höheren Poesie zu baden, und dann kommst du mir mit einem Eimer voll solchen Zeugs, das ich selbst zehnmal besser machen kann!«
Er packte mit seinen langen, hageren Fingern Frode bei den Schultern und schüttelte ihn. –
»Ich sage, daß du dazu Lust hast!« wiederholte er. »Ich selbst habe eigentlich nur Lust, nackt einherzugehen wie Adam im Garten des Paradieses!«
Frode blieb stehen. Er sah sich verwundert um, als gingen ihm erst jetzt die Augen auf für den Sonnenschein. Er bemerkte, wie die Luft von feinen Düften erfüllt war. Er war umrieselt von dem Summen unsichtbarer Insekten. Von einem der hohen Bäume ließ ein Buchfink sein helles Gezwitscher auf ihn herabfallen. Sein Herz erschloß sich plötzlich dieser lichten Welt, während alle die Betrachtungen und Empfindungen, die es an diesem grauen und leeren Tag erfüllt hatten, wie Stäubchen in sich zusammenfielen. Er atmete diese milde reine Luft ein mit einer Begierde, als wolle er so die letzten Schatten verjagen. Dann lachte er übermütig. –
»Unsinn …!« sagte er triumphierend. »Unsinn! Dank für den Gegenbeweis, Kamerad!«
Simon blinzelte ihm skeptisch zu. Es zuckte nachsichtig um seinen Mund, während er die Wandlung in Frodes Mienenspiel beobachtete. Seine zusammengekniffenen Augen begannen zu blinzeln, halb nachdenklich, halb spöttisch.
Sie hatten wieder den Weg zum Hause eingeschlagen. Quer durch die Apfelbaumallee sah Frode Sif wieder auf der Veranda stehen, halb verborgen zwischen den grünen Ranken. Als sie die beiden erblickte, beugte sie sich vor und lächelte ihnen zu, als hätte sie nur nach ihnen ausgespäht.
In Frodes Herz tönte noch ein Widerhall des lichten Lenzwunders, das ihn soeben gefangen genommen. Und als er sie da stehen sah, war ihm plötzlich, als verdanke er ihr all diesen Reichtum, als müsse er ihr seine beiden offenen Hände entgegenstrecken und sie daran teilnehmen lassen.
Dieses stille und sanfte Gefühl durchstrahlte ihn während des ganzen Nachmittags. Aber es hatte ihn weder ruhiger noch sicherer gestimmt. Es erhöhte sogar sein Einsamkeitsgefühl, weil es ihn daran erinnerte, daß alles jetzt Wirklichkeit war und nicht mehr Traum. Wenn ihre Augen sich trafen, so geschah es mit einem wachen Lächeln. Kein unsichtbarer Falter flimmerte zwischen ihnen, und ihre Lippen wurden nicht heiß durch unausgesprochene Worte.
Und doch zwitscherte sein Herz so seltsam jedesmal, wenn seine Gedanken Sifs Namen dachten. Es war fast, als begänne eine ganz neue Art von Glück in ihm zu keimen. Eine Zärtlichkeit, eine Dankbarkeit dafür, daß sie ein Mensch von Fleisch und Blut geworden. Er spürte in seinen Händen einen heimlichen Drang, ihre Hände zu ergreifen und ihr dies zu sagen. Aber er fürchtete, von neuem die Unruhe in Sifs Augen zu wecken. Er flüchtete vor dieser neuen Erkenntnis, die wie ein Erwachen war. Er wußte nicht einmal, daß sie es war, die ihn im Laufe des Abends vertrieb. Vielmehr hatte er geglaubt, daß es ihm glücken würde, die letzten Reste von Zweifel und Unruhe während einer halbstündigen einsamen Wanderung am Strande abzustreifen. Alle Gedanken und Fragen wollte er ruhen lassen. Nur sich mit Frieden füllen …
Aber da geschah es, daß gerade, als es still wurde in ihm, all das Verborgene gleich Seifenblasen aus den Tiefen seiner Seele emporstieg. Und aus der allertiefsten Tiefe stieg Sif empor. Nicht das Traumkind, halb verborgen unter Rhuahitis Zügen, sondern sie selbst, jung und sprühend, mit ihren fragenden Augen und ihrem sanften Munde. Und da wich alle Angst. Da wurde sein Herz von einer Süße erfüllt, so reich und rein, daß die Tränen ihm aus den Augen quollen.
Da geschah es, daß er sah und verstand. Da geschah es, daß er sein Gesicht in den Händen verbarg und flüsterte:
»Sif … Süße, süße Sif!«
*
Frau Lillis Apfelbäume standen allesamt in Blüte. Sie dufteten so milde in den lichten Abend hinein. Schlummernd streckten sie ihre geschmückten Zweige über die Erde hin und machten die Schatten tief und flimmernd.
Vor der offenen Gartentür stand ein Lichtkegel über dem Kiesweg, aber er hielt inne vor der Schwelle zu dem dunklen Reich der Apfelbäume, als wage er nicht, ihren Schlummer zu schrecken.
Hier, an der Grenze zwischen Licht und Dunkel, standen Sif und Frode. Noch hatten sie den Lärm von Gelächter und Munterkeit im Ohr, und ihnen war heiß von Musik und Wein. Aber plötzlich hatten sie mitten in dem Wirrwarr der vielen Stimmen gegenseitig ihre Gedanken eingefangen. Es war wie ein leises Rufen, das ihre Augen zwang, sich zu begegnen. Da lächelten sie und standen auf und traten zusammen hinaus auf die kühle Veranda.
Draußen atmeten sie auf. Tief und befreit. Ihre Hände streiften sich heimlich. Langsam, als würden sie angezogen von der Dämmerung, schritten sie zur Apfelbaumallee. Dort blieben sie einen Augenblick stehen, als fragten sie sich selbst, ob sie es wagen sollten …
Frodes Lippen berührten Sifs Schläfe. Er strich das Haar fort und küßte sie.
»Ich liebe dich …!« flüsterte er.
Sie senkte den Kopf. Da schlang er seinen Arm um ihre Hüfte und führte sie unter die duftenden Zweige. In ihm war ein Friede, ein Glück, das nichts weiter begehrte als diesen Augenblick, in dem sie auf Erden allein waren, in dem es keine Vergangenheit gab und keine Zukunft.
Ein Vogel erwachte und schwebte über ihren Köpfen dahin.
»Sif …!« flüsterte er, noch leiser als zuvor, und seine Stimme bebte. »Hast du keine Angst, es mich sagen zu hören?«
Sie lächelte und schüttelte den Kopf.
»Du hast es doch nicht zum erstenmal gesagt?«
»Doch!« sagte er zögernd. »Zu dir … sage ich es zum erstenmal!«
Sie blickte ihm fragend in die Augen.
»Zu mir …?« wiederholte sie verwundert.
»Ja, wußtest du das nicht?« fragte er lächelnd. »Ich habe dich bis heute überhaupt nicht gesehen oder gekannt. Ich habe ein Traumbild geliebt, das ich selbst geschaffen hatte! Ich habe ein Antlitz hinter einem verzauberten Schleier geliebt. Es war gewebt aus einem spielenden Lächeln, aus einem Lichtstreif über deinen Augen. Es existierte nur in meiner Seele und dort beschattete es alle meine Sinne. Du warst es und warst es doch nicht. Es war …«
Sif lauschte, das Gesicht zu ihm emporgewandt. Sie wiederholte langsam, als erlebte sie selbst dieses Wunder.
»Das Traumbild …! Rhuahiti?«
»Ja«, sagte Frode ernst. »Sie mußte ich zuerst lieben, bevor ich dich lieben konnte. Vielleicht, weil sie das leiseste Rufen, der verborgenste Kern in deinem Wesen ist? So leise und verborgen, daß du selbst sie gar nicht gekannt hast. Aber sie lebte doch in dir, sie spiegelte sich in deinem Lächeln wider. Da sah ich sie zuerst!«
Sie waren an das Ende des Apfelganges gelangt. Sie standen ein paar Minuten dem weißen Licht zugewandt, das durch die offene Tür quoll. Sie hörten die Stimmen von dort oben. Sie erkannten Simons Lachen und ein paar abgerissene Akkorde. Sie sahen Gestalten vorübergleiten, schwarz und scharf wie Silhouetten. Dann begegneten sich ihre Augen wieder. Aus Frodes sprach eine stumme Frage.
Sif nickte.
»Ja«, sagte sie. »Laß uns noch ein wenig gehen. Laß uns träumen, daß ich Rhuahiti bin.«
Sie bogen in den schmalen Pfad längs der Hecke ein. Sie gingen Seite an Seite, ganz langsam.
»Nein!« sagte Frode leise. »Jetzt wollen wir nicht mehr träumen. Jetzt wollen wir diesen letzten Abend dazu benutzen, herauszufinden, wer sie ist. Denn sie ist das einzige, was ich mit mir nehme, wenn ich morgen abreise!«
»Wir wollen sie Sifs sanfte und unsichtbare Schwester nennen!« sagte sie lächelnd. – »Näher können wir ihr, glaube ich, nicht kommen. Rhuahiti ist all das, was du in deiner Verliebtheit in mich hineingedichtet hast. Sie existiert nicht. Sie ist die, die ich vielleicht werden könnte, wenn du mich formen dürftest …!«
Frode beugte sich plötzlich über sie, bewegt und beglückt.
»Sif …!« flüsterte er. »Darf ich …?«
Sie senkte den Kopf.
»Ich wage es nicht«, sagte sie leise und zögernd. »Obwohl ich glaube, daß die lebendige Sif Rhuahitis Bild verdunkeln würde.«
Dann schaute sie mit einem bebenden Lächeln zu ihm empor.
»Ich hätte lieber sagen sollen, daß sie die ist, die ich vielleicht werden könnte, wenn das Leben immer so rein und ehrlich wäre, wie es uns erscheint, wenn es uns am schönsten vorkommt! Wenn es die Menschen zu dem Glauben veranlaßt, daß sie ewig leben müssen, daß sie sich nach dem Wesen sehnen, das sie zu werden träumten, wenn … wenn … wenn …?«
Frode sah ihr verwundert in die Augen.
»Ja«, sagte er – »so ist es. Und es ist gleichzeitig die Antwort auf alle Rätsel, die mich in diesen Tagen verwirrten. Denn wenn, Sif … wenn die Seele des Menschen unsterblich ist, dann ist es gerade diese Sehnsucht, die ihn zwingt, geboren zu werden und zu sterben, wieder geboren zu werden und wieder zu sterben …!«
Sif nickte.
»Das glaubt Simon!« sagte sie.
»Ja, das glaubt er!« wiederholte Frode. – »Aber ich weiß es. Nun weiß ich es! Meinen Ohren klang es wie Phantasterei, als Simon mir sein Evangelium predigte. Aber trotzdem hat es mich nicht ruhen lassen, weil ich dahinter dein Antlitz schimmern sah und das Rhuahitis!
»Jetzt ahne ich, daß das einzige, was wirklich von uns existiert, dies Unbekannte ist, was wir unsere Seele nennen. Ihr Dasein ist ewig, aber sie ist einsam in ihrer dunklen Welt. Um sich begegnen zu können, müssen sich die Seelen in Fleisch und Blut kleiden und eine Welt schaffen, in der ihre Körper wohnen können. Vor Jahrtausenden einmal hat deine Seele sich in Rhuahitis Bronzehaut gekleidet, um meiner Seele auf der vergessenen Insel zu begegnen. Jetzt sind wir als Sif und Frode gekleidet, um uns wieder zu treffen und zu sühnen, was wir damals aneinander verbrachen. Und jedesmal, wenn sich zwei einsame Seelen begegnen und büßen, formen sie das Bild, das zu werden sie sich sehnen, deutlicher und vollkommener. Aber das Geheimnis besteht darin, daß sie es nicht allein tun können. Je zu zweit und zweit müssen sie einander vorwärts helfen. Nur indem sie lieben und geben, kann es gelingen. Jedesmal, wenn einer von ihnen trotzig fordert, legt er eine Kette um seine Hände, die erst das nächste Mal gelöst werden kann …!
»Verstehst du das, Sif?« fragte er leise und fast ekstatisch. »Verstehst du, daß, wenn ich dich in diesen Tagen in Versuchung geführt habe, es geschah, ohne daß ich selbst es wußte, daß es ein Ruf war, eine Bitte an dich, meine Hände zu lösen. Und du tatest es. Heute morgen. In Pans Wald. Deshalb wurde es plötzlich so still in uns beiden. Wir waren befreit von den Ketten von Rhuahitis vergessener Insel!«
Sif war mit gesenktem Kopf gegangen, lächelnd. Ihr Lächeln war fast bewegt. Hin und wieder hob sie die Augen zu ihm empor. Plötzlich sah er, daß sie voll Tränen standen, und daß ihr Mund bebte.
»Sif …!« flüsterte er. Er wandte ihr Gesicht zu dem seinen empor. »Was ist denn, Sif? Weinst du?«
»Ja«, flüsterte sie, »ja, Frode. Ich fühle mich so klein und erbärmlich. Alles, was du mir da sagst, verrät mir nur eins: daß du mich mehr, viel mehr liebst, als ich es verdiene …!«
»Verdienst du nicht, daß ich dich liebe?« fragte er.
»Nein!« sagte sie und schüttelte betrübt den Kopf. »Und du sagst mir, daß du das selbst weißt. Niemals hast du so flehend, so verzweifelt nach mir gerufen wie nun, da du versuchst, mein Zweifeln und Zögern mit Phantastereien zu erklären. Selbst darüber willst du einen Schleier breiten, daß ich es gewagt habe, dein Träumen herauszufordern … und daß ich doch zuletzt Angst hatte vor dem, was ich in dir geweckt. Nein, nein Frode. Ich bin nicht Rhuahiti! Ich bin nur ein kleines Mädchen mit einem armen weichen Herzen!«
Frode gab ihr Antlitz frei.
»Süße Sif!« sagte er. »Deshalb darfst du nicht weinen. Denn nur, wenn ich danach greife, erscheint es dir arm. Wenn die beiden Hände, die es einmal besitzen sollen, es umfassen, dann wirst du merken, wie es blüht, reicher als sämtliche Apfelbäume der Frau Lilli. Dann wirst du seinen Reichtum nicht fassen können, wenn du nicht geben und geben und geben darfst …!«
Sif blickte verwundert und zweifelnd zu ihm empor.
»Wie kannst du darüber nur so ruhig sprechen, wenn du mich liebst?« fragte sie. »Ist das nicht auch nur ein Traumgefühl?«
» Gerade, weil ich dich liebe!« sagte er. »Auch das wirst du dereinst verstehen. Das tiefste Glück, Sif, ist es, den geliebten Menschen glücklich zu sehen, wenn auch nur als Zuschauer. Die meisten sehen darin nur den Schmerz, das aber will ich nicht …!«
Sie stand da und starrte ihn ungläubig an. Ihre Augen wurden groß und weit. Sie umfaßte seine Hände fast angstvoll.
»Nein, nein, nein …!« flüsterte sie, und ihre Stimme klang seltsam hastig und verschleiert. »Nein, Frode! So lieb darfst du mich nicht haben, hörst du? Du darfst es nicht! Es ist nicht wahr …! Weshalb sagst du das …?«
Frode streichelte leise ihr Haar. Dann lachte er gedämpft.
»Meinst du vielleicht, es sei überspannt?« fragte er. »Du kannst es dir ja nur so erklären, daß, wenn ich dich und Rhuahiti liebe, mit Naturnotwendigkeit aus beiden zusammen etwas einigermaßen Gewaltsames entstehen muß.«
Er löste vorsichtig ihre Finger von seinem Handgelenk. Er lächelte ihr in die Augen, bis er das Lächeln auch in den ihren aufleuchten sah.
»Komm!« sagte er dann. »Ich will dir alles erzählen, was ich von Rhuahiti, dem Bronzemädchen auf der vergessenen Insel weiß. Du kannst lauschen, wie du einem Märchen lauschen würdest. Für etwas anderes brauchst du es nicht zu halten!«
Sif drückte seine Hand rasch und sanft.
»Meinst du, ich sei ein kleines erschrockenes Kind, das getröstet werden muß?« fragte sie leise und lächelnd. »Da du mir Märchen erzählen willst?«
Frode nickte.
»Ich will dich wieder froh machen!« sagte er. »Nicht nur jetzt, sondern immer!«
»Ja, aber ich kenne es ja, das Märchen von Rhuahiti«, wandte sie ein.
»Nein«, sagte er. »Nur den Schluß. Den sah ich seltsamerweise zuerst. Aber zweimal habe ich seitdem auf der pisangbekränzten Insel in dem perlgrauen Meer geweilt. Ich habe gesehen, daß ich Rhuahiti nicht erlöste, als ich mit ihr aus dem Tempel der weißen Säulen flüchtete. Ich stahl sie … Dem, der ihr den Reif um die Stirne legte.«
Sif blieb wiederum stehen. Ein enttäuschter und trauriger Zug legte sich um ihren Mund.
»Nein, Frode!« sagte sie. »Das Märchen will ich nicht hören!«
Frode schwieg. Ihm selber wurde plötzlich bange. War er nicht gerade jetzt im Begriff, das zu tun, was er nicht hatte tun wollen? War er nicht im Begriff, ihr die unsichtbaren Fäden zu zeigen, die ihr Schicksal an das eines anderen banden, über den schwindelnden Abgrund einer Ewigkeit hinweg? Würde er sie dadurch nicht, ob sie daran glaubte oder nicht, mit Gewalt dem zuführen, dem sie sich geben mußte, als ein freiwilliges Geschenk?
Er hielt seine Hand müde über die Augen. Dann legte er leise seinen Arm in den ihren.
»Verzichten wir lieber darauf, Rhuahiti zu finden!« sagte er scherzend. »Sie entschlüpft uns ja doch immer wieder! Wollen wir zu den anderen hinaufgehen?«
»Nein …!« sagte Sif zögernd und ängstlich. Nun schlug sie ihre Augen zu ihm empor. Sie schauten eigentümlich ernsthaft drein.
»Nein!« wiederholte sie. »Noch nicht. Ich muß dir vorher etwas sagen. Zwar fürchte ich mich ein wenig davor, aber …!«
Sie gingen langsam weiter, vorüber an dem irisbekränzten Teich, der in der Dämmerung schlief, während einzelne bleiche Sterne seine Tiefe erleuchteten. Ihre Augen begegneten sich flüchtig. Beide gedachten gleichzeitig der heftigen Begegnung ihrer Lippen an diesem Morgen. –
Nur ein sonnenblanker Tag lag zwischen jetzt und damals.
»Aber …?« fragte Frode. Er fragte es ganz leise. Aber dennoch durchlief es sie wie ein heftiger Ruck, als sie seine Stimme hörte. Sie beugte das Haupt tief, als wolle sie ihr Gesicht verbergen.
»Ja, ich will es dir sagen!« flüsterte sie. – »Das, wovon ich selbst nichts wußte, das hast du, lieber, kluger Freund, schon gesehen, noch bevor ich ahnte, daß es in mir keimte … Aber jetzt weiß ich, was es ist. Ich habe es dir den ganzen Tag, seit heute morgen, sagen wollen … Es gibt einen, den ich liebe mit einer starken, seltsamen, fast beängstigenden Liebe. Und es gibt einen, der mich liebt. Und zwar mit einer fast noch beängstigenderen Liebe, noch größeren Liebe. Ihm würde ich gern ein wenig Licht und Freude schenken dürfen … schon, weil er davon so wenig genossen hat. Wenn ich nur könnte und dürfte!«
Einen Augenblick schien es Frode, als wandere er durch ein tiefes Dunkel. Dann sah er Sifs Augen fragend zu sich erhoben. Über ihnen lag ein weicher und verschleierter Schimmer.
»Bei alledem ist ja gar nichts Seltsames!« sagte sie still. »Aber ich mußte es dir sagen!«
Er beugte sich auf ihre Hand herab und küßte sie.
»Süße, kleine Sif …!« flüsterte er.
»Es lag so tief, so tief in mir verborgen!« sagte sie. »Wie ein Samenkorn, das eines Tages in mein Herz hinabgesunken ist, ohne daß ich es ahnte. Ganz langsam ist es aufgegangen und ich habe es nicht gewußt. Es gehörte nur der Kuß eines einzigen Sonnenstrahles dazu, vielleicht auch eine einzige Träne, damit es aufkeime. Nun ist es geschehen, Frode. Und nun ist mir, als hätte ich es all die Zeit gewußt …!«
Sie blieb plötzlich stehen. Sie umfaßte seine Schläfen mit ihren beiden Händen. Sie schüttelte leise und verwundert den Kopf.
»Ist es nicht merkwürdig,« sagte sie, »daß ich nach all dem, deinen und meinen Falter noch lieber habe als zuvor? Es ist gleichsam, als sei er mit dem Geschenk zu mir gekommen. Und ist es nicht gut und schön, wenn man in den dunklen Stunden, die wohl zu jedem Menschen kommen müssen, sein Herz erschließen und einen kleinen blauen Traumfalter darin finden kann? Er wird ja keinem von uns etwas zu Leide tun, nicht wahr?«
Alles Dunkle schwand langsam aus Frodes Gemüt vor dem sanften und strahlenden Licht in Sifs Augen. Er lächelte ihr zu.
»Nein, Sif!« sagte er. »Er wird dir nichts Böses tun. Und wenn es dir eines Tages nottut, so lausche. Dann wirst du hören, wie er sein tiefes und reines Geheimnis flüstert: Ich liebe dich! wird er sprechen. Du sollst nur lächeln, wenn du es hörst. Denn es will dir nicht weh tun. Es soll bloß eine lichte Erinnerung sein …!«
Sie blieben ein wenig stehen. Es war, als wollten ihre Augen nicht voneinander lassen, als wollten sie zum letzten Male den Blick ergründen, eindringen in die geheimen Tiefen, wo die Freude nicht nur ein Widerschein von Lust und Erwartung ist, sondern eine ruhige Flamme. Als wollten sie, daß ihre Seelen sich einmal noch von Angesicht zu Angesicht begegneten …
Dann reichte Sif ihm ihren Mund, hastig, als fürchte sie es zu bereuen, falls sie zögerte.
»Das durfte ich doch, nicht?« sagte sie leise. Und ihre Stimme bekam denselben spröden, jugendlichen Klang, dessen er sich entsann, seit er sie zum erstenmal hörte. »Das soll nur der Dank sein für all das Feine und Schöne, das du mir gabst. Dank für alles das, was war und was ist, für das Unsichtbare und Unsagbare, das weder berührt werden kann noch darf. Dank für deine Gedanken und dein Sehnen. Dank für den Traum, Frode …!«
Sie merkte, daß ihre Augen feucht wurden, und versuchte schnell zu lächeln.
»Nicht traurig sein!« sagte sie schnell. »Es ist ja kein Lebewohl. Wir werden uns immer freuen, wenn wir uns begegnen, nicht?«
Frode nickte ernst.
»Immer, Sif! Und ich glaube, wir werden uns begegnen, auch wenn keiner von uns es weiß. Wir werden es nur als eine heimliche und unerklärliche Freude in unseren Herzen spüren. Dort haben wir uns in geheimen Gefilden getroffen! …«
Sie gingen wieder durch die Apfelbaumallee hinauf zu dem weißen Lichtkegel, der aus der offenen Tür drang. Auf der Schwelle zwischen Licht und Dunkel blieb Frode stehen.
»Wäre es doch jetzt!« sagte er still. »Jetzt möchte ich gerne fortfliegen mit deinem Kuß auf meinen Lippen, mit deiner Stimme in meinem Ohr. Durch die Lüfte steigen wie ein großer blauer Falter! Du aber, Sif, gingest fort zu ihm … der dir den Reif schenkte!«
*
Der unruhige Sang des Propellers. Der ruhige Rhythmus der weißen Plane. Sonst nur der weite Himmel um ihn und über ihm. Die Luft peitschte sein Gesicht, während er aufstieg. Die Rufe unter ihm waren erstorben. Er fühlte sich wieder wie ein Nichts, das in der umarmenden Stille des Raumes verweht wurde.
Aber in ihm war weder Freude noch Freiheitsjubel. War es denkbar, daß ein Vogel während seines Fluges zwischen den Wolken in plötzlicher Müdigkeit die Flügel fast gegen den Körper preßte und sich wie ein Stein zur Erde herabsausen ließ? … Frode saß da mit zusammengebissenen Zähnen, die Finger hart um das Rad gepreßt, und hatte das Gefühl, als läge in einem jähen Sturz, der gewollt und gleichzeitig willenlos, die einzige Form des Lebens, die jetzt seine Nerven erbeben lassen konnte, so daß er sie wie die seinen fühlte. Erst in der Sekunde, da der Tod ihm die Faust ins Genick schlug, würde er merken, daß er lebte.
Er stieg und stieg. Ihm war, als könne er nicht hoch genug steigen. Ein kleiner Funke funkelte dort, wo der Propeller raste. Er hatte das Gefühl, als hätte ein Teil seines Wesens darin Wohnung genommen, als flüchte dieser Teil vor ihm, während er ihm nachjagte, blind und verzweifelt.
Dann suchten seine Augen plötzlich, gewohnheitsmäßig, den Höhenmesser, und als er sah, welche Zahl er anzeigte, war es, als erwachten all seine Sinne mit einem Ruck, als zerrisse ein Band, das sein Bewußtsein eingeschnürt hatte. Das lichte und kecke Lachen, das er von früher her kannte, durchrieselte seine Kehle. Wieder fühlte er sich frei und unbeschwert. Die Erde und alles, was zu ihr gehörte, ging ihn nichts an. Er segelte wolkenlos über ihr von einem Stern zum anderen.
Er legte die Maschine horizontal. Sie gehorchte ihm willig. Er fand den Kurs und steuerte vorwärts. Vorn, tief unten, erblickte er die flimmernde Seidenfläche des Wassers und eine ferne neblige Küstenlinie. Kleine, weiße Wolken hingen, langsam segelnd, mitten in dem blauen Sonnenschein.
Was mochte wohl Clausen über die Fahrt in diesen Höhen denken …? Oder leistete er sich vielleicht auch jetzt nicht den Luxus, über eine Tatsache zu grübeln, an der doch kein Räsonnement etwas ändern konnte? Er saß sicherlich nur dort hinten und …
Plötzlich schwand Clausen mitsamt seinen etwaigen Grübeleien aus Frodes Bewußtsein, als wäre das alles nie dort gewesen. Es war kein Platz für etwas anderes, als für die große, überwältigende Verwunderung darüber, daß Sif ja nun dort unten auf dem Fleckchen Erde stand, das er noch nicht einmal als einen dunklen Punkt auf dem Meere erblicken konnte, wenn er sich hinausbeugte, und danach starrte. Und auf diesem Punkt, der so klein war, daß man kaum sagen konnte, er existiere, war sie ein noch unsichtbareres Atom. So verschwindend klein, daß es fast lächerlich und unwahrscheinlich schien, sie als etwas Selbständiges zu betrachten.
Und doch sah er, wenn er den Blick nach innen richtete, ihre Gestalt, ihre Hände, ihr Gesicht mit dem wogenden Haar, ihre grauen fragenden Augen … Alles, was vor wenigen Minuten Sif gewesen. Von dort, wo sein Verstand ihm sagte, daß sie stehen müsse, war sie verschwunden. Allein hier oben, wo das, was er für sie gehalten hatte, nicht existieren konnte, hier war sie. Hier war sie so lebendig und greifbar, als hätte er sie mit hinaufgeführt durch alle sieben Himmel.
Und während dieses Wunder noch in seinen Gedanken aufblitzte, wurde es von einer neuen Vorstellung verdrängt, nämlich von dieser: daß sie zur gleichen Zeit auf festem Boden stünde und zu dem leeren Himmelraum emporstarre, wo sie ihn und seine Maschine aufsteigen und kleiner werden und entschwinden sah. Ihren Blicken war sie einmal noch wie ein großer blauer Falter erschienen, der in der glitzernden Luft entschwand. Für sie würde er jetzt in dieser nämlichen Sekunde ein unwirkliches, von der Unendlichkeit verschlungenes Atom sein. Und doch konnte sie, wenn sie wollte, ihn vor sich sehen, groß und blond, sein Gesicht, seine Hände, sein Lächeln, seine Augen.
Beide waren sie körperlich füreinander ausgelöscht und doch existierten sie beieinander. Nicht nur sichtbar, so daß jeder Zug verriet: das ist er oder sie. Nicht nur als ein totes Bild. Sondern ihr Wesen selbst existierte in dieser Weise. Alles, was jeder von ihnen in diesen Tagen gesagt oder getan hatte, konnte von neuem vor ihren Augen und Ohren geschehen, wenn sie selbst es wollten. Es lebte unvergänglich in einer verborgenen Welt ihres Innern, aus der sie es hervorrufen konnten. Und für sie beide würde es wirklicher sein, als was sie später, fern voneinander, sagen oder tun konnten, ohne daß sie es voneinander wußten …!
Frode war erfüllt von einer friedvollen, leuchtenden Klarheit. Hier, hoch da oben, wo keine fremden Gedanken die seinen stören oder zersplittern konnten. Er begriff plötzlich das Bild, das Frau Lilli gebraucht hatte. Genau so empfand er es: als wäre jeder Gedanke, den er gedacht, jedes starke und heimliche Gefühl, das ihn durchzittert hatte, wirklicher als selbst die greifbarste Handlung. Die Handlung war nur die Form, die während eines Augenblickes den Gedanken oder das Gefühl sichtbar machte, um dann wieder zu vergehen. Der Gedanke selbst aber konnte niemals sterben. Er würde irgendwo in ihm ruhen. Und so oft er es begehrte, konnte er ihn vor den Augen seiner Seele als ein Bild aufsteigen lassen, zu Glück oder zu Pein.
Und in gleicher Weise waren sein eigener und Sifs Körper nur eine vergängliche Gestalt, in der sie in die flüchtige Welt der Handlungen eintraten. Wenn diese Form verschwand, wenn sie für sie nicht mehr existierte, so wie jetzt, so existierten sie doch gleichwohl füreinander. Diese ewige und unvergängliche Summe von Gedanken und Gefühlen, die hinter der Hülle der Körper wohnte, war immer da, unabhängig von Zeit und Raum. Sobald sie es wollten, in jedem Augenblick, konnten ihre Wesen sich in einer tieferen, innigeren und greifbareren Art begegnen, als wenn sie von Angesicht zu Angesicht einander sahen …!
Frode saß und starrte durch die blaue Luft, ohne zu sehen. Es war, als dringe jetzt endlich ein Lichtstrahl in die dunklen Schächte seines Bewußtseins, wo seine Gedanken in diesen Tagen blind umhergeschweift waren. Selbst Rhuahitis Antlitz beleuchtete er, so daß sie kein Rätsel mehr war und keine Traumvision, sondern gerade das, was er am liebsten in ihr sehen wollte: sie war eins mit Sif. Ihre feine, bange und verwunderte Seele hatte eine längst vergessene Gestalt angenommen.
In Frode quoll plötzlich ein Glücksbrausen empor. Sein Herz weitete sich und sandte einen Strom von Süße durch alle seine Adern. In einer schwindelnden Sekunde schwand diese Ewigkeitsspanne dahin. Sifs Insel und Rhuahitis Insel wurden eins. Sie selbst wurden eins, auch körperlich, weil der Körper ja nur einem Gewande glich, das sie trugen. In ihm war weder Entbehrung noch Begierde. Er hatte sie besessen, hatte ihre zarte Hüfte umschlungen. Wahrer wurde für ihn, was er schwor, als er am Ruhebett in der niedrigen Kammer auf der vergessenen Insel kniete: daß er die Süße ihrer Liebkosung durch ewige Zeiten mit sich tragen würde.
Aber das dauerte nur eine Sekunde. Es war, als zerplatze eine schöne große Seifenblase vor seinen Augen. Seltsam ernüchtert saß er da und versuchte, noch einen letzten Schimmer zu erhaschen von dem, was ihn durchstrahlt hatte. Doch nichts war geblieben. Nichts, als was seine Augen sahen, was seine Hände fühlten. Nur kalte und harte Wirklichkeit. Er spürte, wie die Luft sein Gesicht peitschte. Eine breite wollgraue Wolkenfläche glitt unter ihm dahin. Vorn raste der Propeller. Wie ein kleiner blanker Funken war er im Sonnenschein zu sehen. Das Rad zitterte unter seinen Händen, und gewohnheitsgemäß suchten seine Augen Kompaß und Höhenmesser.
Und im selben Augenblick, als würde ein Zauberspiegel des Traumes zerbrochen, erklang ein Hohngelächter in ihm. Er hatte einen trockenen, bitteren Geschmack im Munde, und ein bitterer Verdruß erfüllte ihn. Etwas wie Scham und tiefe Erniedrigung, eine Verbitterung, die einen Augenblick lang seine Augen fast blendete. –
»Er besitzt Sif …!« hohnlachte es in ihm. – Wähnte er, er könne sein viehisches Verbrechen hinter diesem bald etwas reichlich mißbrauchten Märchen verbergen, das sein Hirn verhext hatte? Jawohl: Verbrechen! Jetzt, da es zu spät war, mußte er sich damit abfinden. Daß nicht sie es war, die mit ihm gespielt hatte, sondern …!
Es traf ihn wie ein eisig schmerzender Stich, daß er Sif liebte und daß er sie um eines Traumes willen verraten hatte. Und gerade jetzt, während er hier saß und seine jämmerliche Seele in die letzten Fetzen dieses Traumes hüllte, verließ sie die Stelle, wo sie gestanden, wo sie ihren Traum, den blauen Falter, hatte verschwinden sehen. Sie ging fort, nicht ängstlich und betrübt, weil er verschwand, sondern mit einem neuen, bebenden Licht im Herzen. Sie ging, ihren Mund, ihre Arme, ihren Schoß … all ihr keusches und heiliges Sehnen, einem fremden Mann zu geben, einem Mann, den er nicht kannte, den er nie gesehen! Und weshalb …?
Weil er, in seiner blinden Selbstversunkenheit, es nicht begriffen hatte, daß eines der tiefsten Wunder des Lebens sich vor seinen Augen vollzogen. Einem Kinde, einer schlummernden Blütenknospe war er begegnet. Einem reinen mädchenhaften Sinn, den noch keine Sehnsucht gestreift hatte, einem jungen, unberührten Körper, dessen Geheimnis stumm und verschlossen war. Als er diesem Kinde mit den fragenden Augen begegnete, hatte er es gefühlt, daß es in seinem eigenen profanen Alltagsherzen still wurde und kühl.
Ja, so war Sif gewesen! Deshalb war ihr Lächeln ein schlummerndes Rätsel, eine wortlose Frage. Ihr Sinn war von geheimer Erwartung bewegt. Er hatte, gleich einer jungen Blüte, die zarten Kronenblätter zum Lichte emporgestreckt, auf daß ein Sonnenstrahl ihn mit einem Kusse wecken solle …
Wieder erklang das Hohngelächter in ihm und übertäubte das sanfte Bild. Es wurde zu einer bösen, knurrenden Stimme, die seine Gedanken zerfetzte und sie mit Dunkel füllte. –
»Laß uns doch all diese poetischen Umschreibungen überspringen!« sagte sie. »Sieh es unsentimental an und wie ein Mann.« Sie war reif dazu, daß man sie nahm, das Mädel! Du kamst gerade im kritischen Augenblick. Und du enttäuschtest sie in jeder Hinsicht. Zuerst erwecktest du in ihrer Jungfernseele all die schwärmerischen Instinkte, so daß du dir erlauben konntest, ihr im Mondenschein die banalsten Dinge zu sagen, ohne daß ihre Vernunft reagierte. Bei dem Punkt, der die erste Schanze bildet, die genommen werden muß, war sie sogleich gelähmt. Ja, so besiegt war sie, daß sie, als du an ihr keusches Lager schlichst, während sie schlief, sich darein fand, daß du ihr in einer Weise den Hof machtest, die man sonst nicht für schicklich hält …!
Frode biß die Zähne zusammen. Er wollte nicht hören. Was raste in ihm? Was wagte all das zu verhöhnen, was ihm bis jetzt rein und heilig gewesen? Er wollte diese Stimme erwürgen, sie aber lachte nur mit noch schneidenderem Hohn.
»Du küßtest sie über und über, vom Scheitel bis zur Sohle«, heulte sie. »Willst du mir etwa einreden, du seiest darüber im Zweifel gewesen, was du von ihr wolltest? Dann kann ich dir versichern, daß sie nicht im Zweifel war! Und sie nahm es sehr artig auf, nicht wahr? Protestierte sie etwa? – – Jawohl, aber nur so, wie es ehrbare kleine Mädchen nun einmal tun, weil der gute Ton diesen scheinbaren und sanften Widerspruch erheischt! Aber schrie sie etwa? Weckte sie das ganze Haus, damit ihre Tugend verteidigt werde? Nein, Freundchen! Sie zeigte die bewunderungswürdigste Geduld und Selbstbeherrschung. Denn sie glaubte, einmal müßtest du doch wohl ernst machen. Aber tatest du es? Tatest du es?«
Die Stimme schwieg ein paar Augenblicke, als wünsche sie, daß das Gift der Worte sich einfresse! In dieser kurzen Pause nahm ein tiefes Entsetzen von Frode Besitz. Dies also war die Kehrseite des schönen Märchens? Auch in dieser häßlichen Form lebte es irgendwo in seinem Bewußtsein. Und so mußte er es jetzt sehen, damit ihm selbst der letzte Schleier genommen werde …!
Dann hub die Stimme von neuem an. Ihr höhnischer Klang war nun mit einer listigen Schadenfreude gemischt.
»Ich sehe, wir fangen an, einander zu verstehen!« sagte sie. »Wollen wir uns dahin einigen, daß du dumm warst! Ich begann damit, es ein Verbrechen zu nennen. Ich tat das nur, um es interessanter zu machen, und damit du mich anhörtest. Jetzt kann ich mir gewiß gestatten, es Dummheit zu nennen. – – Nicht wahr: Du wecktest sie vom Kinde zum Weibe, um in höherem Stil zu reden. Zuerst ihre ahnungerfüllte Seele, dann ihren unwissenden Körper. Und nachdem das geschehen war, gingest du von ihr, und glaubtest, du handeltest edel. Nicht wahr? Du fandest, es sei so schön und rührend von dir, daß du die arme Blüte nicht pflücktest. Und dabei wollte sie doch nichts lieber, als gepflückt zu werden!
»Verstehst du das? Gibst du das zu?« brüllte die Stimme, als wolle sie jeden Einwand übertäuben. »Tag für Tag locktest du dies Sehnen, diese Sinne, die du geweckt hattest. Du sorgtest dafür, daß sie durstig blieben, aber den Durst löschtest du nicht. Aus purem Edelmut.«
»Und dann …«, fuhr die Stimme schmeichelnd fort, – – sie wurde plötzlich gedämpft vor lauter unterdrücktem Hohn und Ergötzen. »Und dann war noch ein extra Raffinement bei diesem Durst! Er wußte selbst nicht, wie tief sein Verlangen war, gestillt zu werden. Sie, die kleine Dame, ging nur umher, und fabelte von blauen Faltern, weil ihr die Realität für ihre Zärtlichkeit fehlte. Jedes Wort, jedes Lächeln, jede Bewegung war die schüchterne Bitte: ›Nimm mich!‹ Du aber nahmst sie nicht! Zuletzt, als du sie bis an die äußerste Grenze gelockt hattest, suchte sie selbst den einzigen Ausweg aus all ihrer Ratlosigkeit. Da wurde das stumme Lächeln zu den hörbaren Worten: Nimm mich …!«
»Und was tatest du?« kicherte die Stimme. »Du knietest aus lauter Edelmut vor ihr nieder und sagtest: Danke, nein!«
»Da wurde sie müde. Ihre gesunden Instinkte gaben dich auf. Und als du sie überdies noch darauf aufmerksam machtest, daß es noch einen anderen brauchbaren Kerl auf der Insel gäbe, da …! Ha, ha, tja! Kann es dich wundern, daß sie ohne nachzudenken, all das Sehnen, das sie an dich verschwendet hatte, auf ihn übertrug?«
»Schafskopf! Esel! Überspannter Tölpel!« wieherte die Stimme. »Willst du noch mehr wissen? So aber sieht die Legende vom blauen Falter aus, wenn man ihr die Vergoldung nimmt …!«
Frodes Hände umklammerten das Rad. Es brannte in ihm vor Trotz und Qual, vor Sehnsucht, Verlangen, Erniedrigung. Er erkannte diese Stimme als seine eigene. Sie hatte schon einmal in ihm gerufen, aber Sifs Augen hatten sie zum Schweigen gebracht. Sie war verstummt und hatte sich verborgen, noch bevor sie Sifs Bild beschmutzen konnte. Denn, was ihn erfüllte, wenn seine Hände Sif berührten, wenn sein Mund die sanfte Süße ihrer Lippen trank, das war etwas Tieferes und Heiligeres als Begierde. Das Blut konnte in ihm brausen, aber es verlangte mehr als Lust und Liebkosung. Es war das dunkle Rätsel hinter ihrem Lächeln, das ihn am stärksten rief. Das war es, was er kennen und besitzen wollte. Nur wenn er das löste, gewann er ein Anrecht auf alles andere …
Aber jetzt … jetzt, da jede Sekunde ihn von ihr entfernte, jetzt, da er wußte, daß sie harmlos und in demütiger Freude all dies einem anderen schenken würde, einem, der nicht davon träumte, Rätsel zu raten … Jetzt schrie es in ihm. Jetzt erlangte diese Stimme Macht. Jetzt schleuderte sie ihm jeden verborgenen Gedanken ins Gesicht. Sie riß das Linnen von Sifs weißer Brust. Sie entblößte den dunklen Veilchenstrauß ihres Schoßes. Sie zeigte ihm ihre weichen Arme und die kindliche Rundung ihrer Hüften. Und sie rief ihm zu: »Sieh, dies ist Sif! Dies alles hättest du besitzen können, aber du wolltest nicht! Ja, du getrautest dich nicht einmal! Du warst kein Mann, du warst ein Träumer! Du warst kein Liebender, du warst ein Bußprediger! Sie würde dich geliebt haben, du aber brachtest sie dahin, dich zu bedauern! Zieh von dannen! Verbirg deine Schmach! Sie wird dich verlachen, wenn sie die heißesten Stunden des Lebens mit einem anderen verlebt …!«
So peitschten ihn die Gedanken. Über seine Augen legte sich ein Nebel. Seine Zähne schlugen aneinander. Nur ein Instinkt, der sogar stärker war als sein Schmerz und seine Verachtung, preßte noch seine Finger um das Rad. Sonst hätte er seine geballten Hände gegen das Gesicht gedrückt, das wie zur Maske erstarrt war.
Er wunderte sich plötzlich, daß er dies Rad nicht losließ. Was hinderte ihn daran, sich herabwirbeln zu lassen in das Vergessen, das ihn auf dem Grunde des blauen Luftmeeres umarmen würde?
Es war fast wie eine Beruhigung, daß dieser neue Gedanke sich Bahn brach durch die Dunkelheit, die auf ihm lastete. Es war, als wecke er ihn, als brächte er ihn für eine Sekunde zur Besinnung. Nicht, als hätte er Sif und alles was zu ihr gehörte, aus seinem Bewußtsein gelöscht, aber er verschaffte ihm eine brennende Sehnsucht, damit fertig zu werden. Er ließ ihn ängstlich und flehend Sifs Namen rufen, damit nur dessen sanfter Klang ihn mit alledem erfüllen konnte, was er dereinst träumend hineingelegt hatte.
Da überkam ihn plötzlich das Gefühl, als lege sich eine weiche Hand auf seine Stirn. Es wurde ganz still in seinem Innern, und er mußte lächeln. Ihm war, als atme er den Duft der Apfelblüten, als blicke er in zwei graue, fragende Augen. Fern, fern hörte er eine Stimme, die seinen Namen rief.
»Komm!« sagte sie. »Ich werde dir den Frühlingsgarten meines Herzens zeigen!«
Die weiche Hand glitt langsam über seine Augen herab. Um ihn wurde es dunkel. Seine Hände preßten sich um das Rad und in einem letzten Aufblitzen durchfuhr ihn der Gedanke: »Jetzt stürzen wir! Jetzt ist alles vorbei …!«
Allein er lächelte unablässig. In ihm war keine Angst. Denn nun kannte er dieses Dunkel. Kannte er den gedämpften Klang, der aus ihm emporstieg. Ein sachtes, sanftes Sausen … wie der Flügelschlag von Zugvögeln in der Nacht.
*
Es war so still, so rein, so tauig. Selbst das Licht rieselte kühl aus einem fernen und tiefen Himmel herab. Der Wind war wie ein mildes, süßes Atmen, das in einem gedehnten Rhythmus sank und stieg.
Er stand inmitten all dieses träumenden Friedens ohne Verwunderung, nur erfüllt von einer fast unwirklichen Freude.
»Sif!« flüsterte er. »Jetzt lasse ich dich nie mehr!«
Er hielt ihre beiden Hände. Sie stand vor ihm zart und schlank, den Kopf gesenkt. Nun blickte sie auf und lächelte ihm in die Augen.
»Wer sagt, daß du mich lassen sollst?« fragte sie. »Ich habe dich selbst hierher geführt. Ich will dir den Ort zeigen, wo ich mich verberge, wenn ich am glücklichsten bin. Jeden Tag sind wir mit geschlossenen Augen zusammen hier gewandert. Und mit völlig wachen Sinnen wird keiner von uns hier eintreten können. Nur der kann es, der die Gabe des Traumes besitzt!«
Er lauschte ihren leisen Worten. Sie erfüllten ihn mit einer Klarheit, die größer war und tiefer, als er sie je zuvor gekannt. Sein ganzes Inneres wurde gleichsam von ihrem Lächeln durchstrahlt. Ja, er hatte die Empfindung, als sei dieses Lächeln ein Teil des Lichtes und der Luft um ihn her. Er fragte sich verwundert, ob es denn überhaupt etwas anderes gäbe als dieses sanfte und kindliche Lächeln. War nicht der ganze Garten, in dem sie gingen, von ihm erschaffen, so daß er dahinwelken würde in dem nämlichen Augenblick, da es erlosch?
Sie breitete die Arme aus mit einer leichten und anmutigen Bewegung.
»Sieh!« sagte sie glücklich. »Ist es hier nicht schön? Nichts kann hier Wurzeln schlagen, nichts kann blühen und sich entfalten, was nicht eine verborgene Schönheit in sich trägt. Nicht einmal das, dessen Schönheit allen sichtbar ist, kann hier gedeihen. Denn es wäre überflüssig. Aber alles, was ich ahne, das darf in meinem heiligen Garten leben und duften!«
Sie wandte ihr Gesicht zu ihm empor, als wolle sie fragen, ob er sie verstünde. Dann seufzte sie und schüttelte den Kopf.
»Du glaubst, es sei etwas Neues und Merkwürdiges, was du entdeckt hast!« sagte sie. »Daß wir unser eigentliches Leben hinter unserem wachen Bewußtsein leben. Vielleicht habt ihr, die ihr mit so großer Geschäftigkeit handeln und kämpfen und triumphieren und euern Willen durchsetzen müßt, das nie gewußt oder bemerkt. Ich aber, ein träumendes, junges Mädchen, ich lebe mehr hier drinnen als dort draußen unter euch. Ich glaube mehr an meine Ahnungen und an meine tiefe Verwunderung, als an all eure Worte und Taten. Sie schrecken mich und machen mich unruhig. Nur wenn ein Ton von ihnen hier hereindringt, lausche ich und werde bewegt.«
Ihre Stimme erreichte ihn, nicht wie ein Laut, sondern vielmehr wie ein wogender Windhauch, der in jeden Winkel seines Wesens eindrang, so daß er nicht nur die Worte begriff, sondern auch den heimlichen Gedanken, der sie trug. Er spürte ihre Hand in der seinen. Sie war kühl und schlank wie ein Blumenblatt. Zugleich aber lebte sie und zitterte, und das Blut sang seinen lautlosen Hymnus unter ihrer Haut.
»Süße, süße Sif …!« flüsterte er. »Wie gut du zu mir bist!«
Sie senkte den Kopf.
»Ich habe dich ja lieb!« sagte sie milde. »Deshalb will ich die Bürde der Bitterkeit und des Begehrens von dir nehmen. Deshalb hat meine Seele deine Seele bei der Hand genommen und sie in das Reich des Schweigens geführt. All dein Sehnen, all deine Begierden, all deinen Trotz und deinen Kummer hast du hier auf dieser Schwelle ablegen müssen. Nur das Stumme und Unsagbare, das am tiefsten in dir träumt, erfüllt dich jetzt. Deshalb dieser Friede in deinen Augen, diese Freude um deinen Mund! So liebe ich dich!«
»Liebst du mich …?« wiederholte er leise und verwundert.
Sie schmiegte sich an ihn, während sie gingen.
»Ja, aber nur hier!« sagte sie. »Draußen in deiner Welt wage ich es nicht, darf ich es nicht. Da hast du meine Lippen geküßt und meinen Schoß und meine linke Brust, allein die Antwort erwachte nicht. Ich werde dir zeigen, weshalb!«
Sie führte ihn durch den schmalen Laubgang zu einer Lichtung. Er sah sich verwundert um. Es war, als kenne er dies alles! Die hohen, lichten Bäume mit den mächtigen Blättern, den mit weißen Sternblumen übersäten Rasen. Und dort die hohe Rosenhecke mit den weit offenen aufwärts gerichteten Blumenkelchen.
»Sieh!« sagte sie geheimnisvoll. »Nichts hat sich verändert. Die geplünderte Hecke trägt neue und schönere Blüten.«
Er stand und schaute. Er glaubte es nicht.
»Rhuahiti …!« flüsterte er bewegt. »Habe ich denn gebüßt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Bedenke, es ist nur ein Traumgarten!« sagte sie ernst. »Du siehst ihn, wie ihn deine Träume erschaffen.«
Wiederum ergriff sie seine Hand.
»Komm!« sagte sie lächelnd, »ich werde dir zeigen, wie mein Herz schwillt, hier im Reiche des Schweigens! Liebst du mich, so wirst du mein Herz erkennen unter tausend anderen Blumen.«
Sie standen vor der flammenden Rosenhecke. Blüte an Blüte erhob den roten Kelch zum Licht. Seine Augen suchten und fanden eine einzige. Er wußte nicht weshalb, aber seine Augen füllten sich mit Tränen, als er sie fand. Sie war nicht größer oder schöner oder aufrechter als die anderen. Aber er fühlte plötzlich, daß in dieser einen Blüte die ganze Hecke lebte. Daß alle Schwesterblumen dahinwelken würden, wenn er sie pflückte!
Ein Schimmer von Röte glitt über Sifs Züge. Ihre Lippen bebten vor Freude.
»Ich wußte, daß du mein Herz erkennen würdest!« sagte sie. »Küß es nur mit deinem Munde, denn er ist ohne Begehr! Er wird mir nichts Böses tun.«
Er neigte sich über die Blüte. Seine Lippen streiften ihre Blätter, die kühl waren wie Seide. Ein Zittern durchfuhr Sifs Körper, und sie schloß die Augen wie in unsagbarem Glück.
»So nahe warst du mir nie zuvor!« sagte sie und atmete tief. »Nicht einmal, als du meine Lippen und meinen Schoß und meine linke Brust küßtest. Nicht einmal, als du mich in Pans Wald in Versuchung führtest. Denn all deine Liebkosungen erfüllten nur meine Sinne mit Süßigkeit, aber sie erreichten nicht die rote Blüte meines Herzens!
»All deine Worte und alle deine Bitten, alle deine Küsse und alle deine glühenden Versprechungen … konnten nicht in das Reich des Schweigens gelangen. Nur ihr Schatten glitt hinein. Mögen sie auch in deiner Welt gleich Feuer gewesen sein … hier drinnen wurden sie kühl. Mochten sie auch stürmisch sein, wenn sie mein Ohr trafen … hier drinnen wurden sie zu linder Brise. Würde ich dir meinen Körper gegeben haben, wie du mich batest … so hätte dessen ganze Lust doch niemals auch nur eine Fiber in der roten Blume meines Herzens erzittern lassen.«
Ihr Lächeln wurde zärtlich und verschleiert.
»Erst jetzt, da du dies weißt«, sagte sie, »wirst du die seltsamen Tage verstehen, wirst du begreifen, weshalb die Antwort auf dein Rufen nicht erwachte. Alles, um was du mich batest, konnte ich dir geben, freiwillig, weil ich in dem Traumschleier deiner Liebe eingesponnen war. Nur nicht mein Herz. Das wagte ich nicht. Das gebe ich nicht fort. Das wählt selbst, wenn seine Stunde gekommen ist … Und das vollzieht sich nach Gesetzen, die wir nicht kennen!«
Sie beugte den Kopf tief herab. – Sie selbst glich einer jungen Blüte aus dem Traumgarten.
»Dir hätte ich so gern mein Herz gegeben«, flüsterte sie. »Dir am liebsten von allen. Ich weiß nicht, weshalb ich es nicht durfte. Vielleicht hattest du recht, als du sagtest, daß ich es ihm schulde. Daß er ein Anrecht habe auf all die Güte und Sanftmut und Zärtlichkeit, die es umfaßt. Bei dir war ich ängstlich. Und nur glücklich in dem Erinnern, wie man es in Träumen ist. Zu ihm wage ich zu kommen, wach und fröhlich. Da bettet sich mein Herz zur Ruhe, wie ein Zugvogel, der die Flügel zusammenfaltet und fühlt, daß er heimgefunden hat …!«
Er umfaßte ihren Kopf und hob ihr Gesicht empor.
»Sif …!« sagte er leise. »Ich habe in meinen Gedanken an dir gesündigt. Was habe ich dir nur Gutes getan, daß du mich einschließen willst in dein heiliges Innere?«
Ihre Augen wurden groß und tief.
»Du hast mir den blauen Falter geschenkt!« flüsterte sie. »Deshalb liebe ich dich!«
»Nein«, sagte er. »Nein, Sif! Den hast du mir geschenkt. – Den Traum von der Ewigkeit. Den Traum von …!«
Seine Blicke versenkten sich in die ihren, in das strahlende Dunkel bis auf den Grund, als wolle sein Bewußtsein in ihrer Tiefe erlöschen. Er glitt, sank, wirbelte dahin. Aber aus der Dunkelheit heraus, fern, fern, verschwand dieser Ton, dieses langsame weiche Sausen … wie vom Flügelschlag der Zugvögel in der Nacht.
Vor sich erblickte Frode einen kleinen funkelnden Funken. Dann erblaute der Himmel über ihm. Dann übergoß das Licht sein Gesicht.
Er spürte wie sein Herz mit sanften und singenden Schlägen schlug.
Das taufrische Gras einer Wiese. Ein blanker Maienmorgen. Der Himmel ist verschleiert. Die Atmosphäre unter seiner perlmutterfarbenen Kuppel ist klar und rein, und ein verborgenes Gefunkel hoch droben wartet gleichsam darauf, den Nebel durchbrechen zu können.
So war das Bild, das Frode begegnete, als er der Maschine entstieg, als er ein paar Augenblicke dastand und sich umschaute. In seinem Kopf war es seltsam leicht. Der antwortete gleichsam nicht auf all die Sinneseindrücke, die ihn durchwirbelten. Sie waren bekannt und fremd zugleich. Sie waren, in dem Maße, wie er sie aufnahm, und sich ihrer bewußt wurde, so bekannt, daß sie ihm fast unwirklich schienen. Während einer kurzen Sekunde fragte er sich, ob dies der Morgen der Abreise sei oder der der Wiederkehr, ob alles, was dazwischen läge, nur ein Traum sei? – –
Er atmete tief. Er füllte seine Lungen mit dieser himmlischen Luft, bis es in seinem Blute sang und prickelte. Er machte unwillkürliche Bewegungen … bis …
*
Er mußte lächeln, ungläubig fast. Er entsann sich derselben Bewegung, desselben Entschlusses an jenem Morgen, vor einer Ewigkeit. Es war, als schlösse sich eine Kette. Das erste und das letzte Glied glitten ineinander. Da, wo er das Leben losgelassen, emporgetragen zu werden vom Traum, da stand er wieder. Das Leben streckte von neuem seine Hand nach ihm aus und forderte ihn zurück.
Und es war gut so. Er wollte ihm nicht wie ein Schwärmer und Phantast begegnen. Aufrecht und erhobenen Hauptes wollte er ihm in die Augen blicken und seine süßen und bitteren Gaben entgegennehmen. Sie würden doch keine Macht mehr haben, ihn zu berauschen oder zu verletzen. Sie würden keinen anderen Wert mehr für ihn haben, als den, den er selbst ihnen beimaß.
Er lauschte.
Dasselbe Geräusch einer erwachenden Stadt. Derselbe ferne und gedämpfte Lärm vom Kampf der Menschen mit den Bürden, die der Tag ihnen auferlegen will. Jetzt öffneten sich Münder zu Wortwirbeln, jetzt würden Papiere mit Tintenmengen angefüllt. Jetzt bohrte sich Auge in Auge, jetzt ballte sich Faust gegen Faust.
Er lachte laut. Befreit erhob er seine Arme zu dem blauen Raum. Er preßte die Hände hinter den Nacken, er spannte seinen Körper wie einen Stahlbogen, und seinen trunkenen Sinnen wollte es so scheinen, als sei dies alles, womit die Menschen sich abgaben, nur ein leeres und törichtes Schattenspiel. Alle diese Lasten, unter deren Gewicht sie sich krümmten und hinsanken, existierten gar nicht. Nur weil sie sich mit ihrem eigenen Kummer, ihrer eigenen Ermattung, ihrem eigenen Haß anfüllten, wurden sie zu untragbarer Last. Sie sanken ins Grab, ohne zu ahnen, daß sie an unwirklichen Schatten zugrunde gegangen.
Dann glitt auch diese Gedankenreihe vorüber. Sie wurde ihm plötzlich so gleichgültig. Er schloß die Augen. Sein Lächeln wurde tief und zärtlich. Sifs Name durchdrang ihn wie ein leichter und bebender Ton. Es war keine Trauer in ihm, keine Sehnsucht. Ihm war, als müßte sie vor ihm stehen, sobald er nur die Augen öffnete. Und gleichzeitig schien es ihm, als habe er auf seinem Fluge heute morgen den ganzen funkelnden Himmelsraum zwischen sich und sie gelegt. Es gab keinen Weg mehr, der zurückführte zu ihr, sie wanderte ferne, ferne von ihm auf einem fremden Stern. Und wenn er auch emporstiege und ihn wiederum suchte, so würde er ihn auf seiner verborgenen Bahn doch nicht finden können. Aber auch das war gut. So würde er wenigstens nicht mehr in die Versuchung geraten, noch einmal mit seinen Händen und seinen Sinnen nach dem greifen zu wollen, das nur wie ein Traum sein sollte. Jetzt war sie sein. Ewig und unverlierbar. So lange er ihr Lächeln in seinem Herzen strahlen ließ. Mochte auch ein anderer glauben sie zu besitzen. – – – Was besaß der anderes, als eine Hülle, eine Form, die so unwirklich war, daß sie mit jedem Tage verblassen, sich wandeln, dahinschwinden würde.
Ich aber, ich Frode, so sang es in ihm, ich kann sie zu mir rufen, zart und fein, wie ich sie liebe, in jedem Augenblick. Und wenn ich meine Augen schließe und meine Ohren, so daß das Flimmern der Welt und ihr Lärmen zu mir nicht dringen kann, so werden wir uns wieder begegnen, sie und ich. – – Im heiligen Reiche des Schweigens.
Er ließ die Arme sinken, er schaute sich um. Er erkannte seine taufrische Wiese, sein geflügeltes Stahlinsekt, das schräge Wellblechdach des Schuppens. Dies alles nahm er schließlich in sein Bewußtsein auf, befestigte es darin und gestaltete es zu einer kompakten Wirklichkeit. Er hörte Kochs monotones Brummen, das ihm munter und vertraut in den Ohren klang. Er nickte Clausen zu, der seinen Rundgang um die Maschine machte und sie mit zusammengekniffenen Augen musterte, und er betrat den Schuppen, um nach einem Auto zu telephonieren.
Fest und fast genießerisch traten seine Füße auf das Gras der Wiese, während er der Landstraße entgegenschritt. Das Leben sollte ihn so zurückerhalten, wie es ihn haben wollte. Er wollte es nicht enttäuschen. Er wollte es nicht einmal beschämen, indem er ihm einen Traum vorgaukelte, einen Traum, der schöner, tiefer und reicher war als irgendeine Lebensform, die er zuvor gekannt – –
Den Traum eines Traumes!
*