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Mir wird das Wort »artfremd« zugeworfen – ich ergreife es und prüfe es am Lichte. Und siehe, es ist ein häßliches Wort, möge man es getrost einen Mißklang heißen! Wer möchte artfremde Kunst zwischen seinen vier Wänden gewahren, sie in den Kirchen, auf Plätzen, in repräsentativen Räumen dulden ...
Ohne Umschweif aber bekenne ich, nicht zu wissen, was artgemäß oder artfremd ist. Von welchem Jahrhundert, welcher Vergangenheit soll man sich belehren lassen, etwa vom letztvergangenen? Da galten herzlich wenig diejenigen, die wir, einmütig, wie es scheint, zur Zeit als ganz besonders prägnant deutsch berufen. Dem arglos-artgemäßen Geist jener Zeit beliebte das Gedeihen der großen Dekorateure, und er belegte niemanden mit dem Schimpf als »Welscher«, der in Italien ausstudiert, seine Falten bei Michelangelo, seine Hände bei Donatello, seine Raumorganisation bei Piero della Francesca und Raffael ausgeborgt hatte. Oder soll man sich in welcher sonstigen Früh- oder Spätzeit orientieren, welche Einflüsse als nachweisbar bemängeln oder mit mehr oder weniger Gnädigkeit gelten lassen, mit welchem Belieben will man in der herrlichen Grenzenlosigkeit von Entfaltungen einen gültigen Maßstab des Artgemäßen, des wahren deutschen Kunstschaffens gewinnen? Eine wahrhaft überwältigende Verlegenheit! Nur unumgänglich, gleichzeitig festzustellen, daß es immerhin nicht Wenige gibt, die der Übergewalt dieser Verlegenheit auszuweichen verstehen, einen Triumph des Aus- und Unterlegens feiern und denen es vor den aufgetanen Weiten schwindelt, über die sich Goethe mit den Worten ausließ: »Der Dichter wird als Bürger und Mensch sein Vaterland lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kräfte und seines poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und Schöne, das an keine besondere Provinz und an kein besonderes Land gebunden ist und das er ergreift und bildet, wo er es findet. Er ist darin dem Adler gleich, der mit freiem Blick über Länder schwebt und dem es gleichviel ist, ob der Hase, auf den er hinabschießt, in Preußen oder in Sachsen läuft.« Oder in guter Gelassenheit wie folgt: »... wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unsrer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel ...« und so weiter, und zwar nicht weniger unmißverständlich.
Wer schimpft, hat immer Unrecht, und so sei denen, die nach der Elle langen, um damit die eigene Begrenztheit selbstzufrieden auszumessen, ihr Gefallen am gutgemeinten Tun gegönnt – aber da ist nichts zu beweisen, wo die Unbegrenztheit des schöpferischen – um bei der Kunst zu bleiben – Entfaltens und Freiwaltens aus ungestümem Drang und Willen künstlerischer Kräfte ihre Bahn breitet. Ich glaube als gewißlich wahr, daß es nur eine einzige Artfremdheit gibt, als welche man das bewußte Wollen aus Gründen der längeren oder kürzeren Gültigkeit bestimmten Herkommens und Eingewohntheit heißen könnte. Wer möchte dem ins Blinde tappenden Sucher den Weg weisen, wer hat studiert das Unbegreifliche im Werdenden, auch das Kommen des noch Unbekannten?
Wie gut, daß es diese Goetheschen »Pedanten« nicht ums 11. Jahrhundert herum gab, denn die französische Plastik gab der schöpferischen Energie des deutschen Bildhauers um das Jahr 1200 entscheidenden Anstoß, einen Anstoß, bedeutungsvoll und frische Möglichkeiten weisend. Ohne das Eingreifen oder Zutun desselben Goetheschen »Dünkels« geschah, was uns mit Dank und Stolz erfüllt – so waren die Auftraggeber ihrer Meister frei umschauende Männer, die wußten, daß hinter den Bergen auch Menschen wohnen, sie hießen die Botschaft aus der Fremde willkommen und gestalteten sie zur Artechtheit um.
Ich bekenne mich zur Schülerschaft von unbekannten Meistern, wie etwa des Christus am Kreuz, als oberdeutscher Herkunft bezeichnet, 13. Jahrhundert, zu sehen im Germanischen Museum in Nürnberg, oder eines anderen Christus schwäbischer Herkunft, 12. Jahrhundert, ebenda – und [des] Ungarnkreuz [es] von St. Severin in Andernach, von einem Kölner Meister des 13. Jahrhunderts. Oder der Jesus am Kreuz der Gruppe eines Tiroler Meisters in Innichen, Südtirol, offenbar aus Willen zum Grotesken mit rauh hackendem Beil gestaltet und mit einem regelrechten Schifferbart – heute würde man dieses Antlitz aus eingebildeter Rassenkunde als negroid bespeien – unsre unbekannten Meister, falls sie dergleichen zur Zeit riskierten, wer gäbe ihnen Brot und Aufträge? Aber weiter, der weltberühmte und gewiß nicht artfremde Thorwaldsen mit seinem Christus, er wäre um Anno ... höchstens bei der Zuckerbäckerinnung Meister geworden. Wenn vor solchen Werken wie den vorher genannten heute die meisten gebildeten Zeitgenossen aus artechter Empörung zu Bilderstürmerei übergingen – schon gut, ihre Elle ist eine Art von Wünschelrute in der Hand suggestionsbesessener Leute, die finden, was sie wollen, und das Besserwissen um so fleißiger ausüben, je weniger sie wissen.
Soll immerhin das Lob der Bodenständigkeit erschallen! Da lebe ich seit fast einem Menschenalter in meinem Städtchen und betrage mich, falls ich einmal, und sei es nur für Tage, fort muß, wie ein Chinese. Und doch sitze ich denen und jenen, vielen von dieser oder jener Art, wie ein Übel im Halse, und sie raunen einander das Ärgernis meiner Fremdheit, nicht einer schlichten, sondern einer bösartig-verzwickten, aus entzündeter Wutkehle zu ...
Es ist ja nicht mehr nötig, heute Liebermann einen sehr deutschen Maler zu nennen – aber, da wir unversehens auf der Streife von früheren ins jetzige Jahrhundert gelangt sind, so muß ich das Erlebnis des französischen Impressionismus preisen. Ihm auf dem ziemlich mühsamen und arg verworrenen Wege meines langsamen Vorankommens begegnet zu sein, dankte ich als bereicherndes Geschehen einem guten Geschick zu einer Zeit, wo ich, einen originalsüchtigen Gestaltungstrieb gewissermaßen ausbeutend, dennoch um das Mißliche des gewaltsam vordringenden Persönlichen ahnungsvoll wissend, erfuhr, daß der Sohn den Vater nicht nur beerben soll, um mit dem nicht selbst erworbenen Gut großzutun, sondern die Väterlichkeit in sich behutsam pflegen und, wenn das Glück das Seine dazutut, ohne Posaunenschall und Fahnenschwingen ausweiten, erhöhen und vollerer Bewährung des Herkommens zuführen. Ich gewann langsam und beinahe dem Instinkt widerstrebend die Idee des Aussprechens der Dinge ohne dicke Deutlichkeit, der Niemand zum zweitenmal zuhören mag, die Idee des Geschehens aus der Sicherheit persönlicher Zurückhaltung – gleich wie die Natur und alles gestalttreibende Sein sich betätigt, ohne daß der Meister des guten Gelingens zur Seite seines Vollbrachten paradiert und als Ausrufer sein eigenes Tun überschreit: Seht, so ein Kerl bin ich, Achtung für mich und meine Hochleistung! Daß ich in dieser Hinsicht ausgelernt, wage ich nicht zu behaupten, riskiere aber zu sagen, daß ein Auslernen nirgendwo stattgefunden habe und zu keiner Zeit.
Irre ich nicht, so war es Nietzsche, der darauf hinwies, wie die Griechen, immer wieder neuen und fast überwältigenden Einwirkungen von außen preisgegeben, diese Einflüsse immer wieder aus Eigenem umgestaltet, einbezogen, ins eigene Wesen umgeschmolzen haben. Es sei erlaubt, mit einem Zitat zu enden. Nietzsche, im »Basler Philosophenbuch«, sagt, nichts sei törichter, als den Griechen eine autochthone Bildung nachzusagen – »sie haben vielmehr alle bei allen Völkern lebende Bildung in sich eingezogen.« »So wie sie sollen wir von unsern Nachbarn lernen.« Und in der Zweiten Unzeitgemäßen: »Niemals haben sie in stolzer Unberührbarkeit gelebt: ihre Bildung war vielmehr lange Zeit ein Chaos von ausländischen, semitischen, babylonischen, lydischen, ägyptischen Formen und Begriffen – ähnlich etwa, wie jetzt die ›deutsche Bildung‹ ein ... Chaos des gesamten Auslandes, der gesamten Vorzeit ist ... Die Griechen lernten allmählich, das Chaos zu organisieren, dadurch, daß sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heißt auf ihre echten Bedürfnisse zurückbesannen –. Dies ist ein Gleichnis für jeden einzelnen von uns: er muß das Chaos in sich organisieren ...«