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Letztes Kapitel

Der Löw ist los

Vor dem Glevinertor in Güstrow hatte die Zirkusmenagerie Holzmüller ihre Tiere heimisch gemacht. Wie gut oder wie schlecht sie es da haben mochten, Löwengebrüll, anzuhören wie Erbrechen und bängliches Auswerfen der eigenen widerstrebenden Ungetümlichkeit aus dem Leibe eines Riesen, bestrich die grünen Weideflächen hin bis zum Pfingstberg. Die Bäuche zweier großer Zelte schienen knapp weit genug, um die Gewalt solcher Töne hervorzudrücken, und Seespeck, der den Berliner Abendzug abwarten mußte, betrat, als er vorbeigeschlendert kam, das Tierschauzelt, die eigentliche Wohnstube dieser Majestäten im Elend, das durch einen Gang mit dem Zirkus verbunden war, wo sie allabendlich für das bißchen lebensnotwendige Pferdefleisch in schwitzender Würdelosigkeit ihre Faxen machen mußten. In engen Zellen drängten sie sich proletarierhaft durcheinander, ein Gewühl struppiger Löwen mit Ziegenbärten und so dünnwandigen Kinnladen, daß sie einer greisenhaften Zahnlosigkeit verdächtigt wurden, mit pomphaft aufgestrubelten Mottenmähnen an die Leiber ihrer Mätressen als Wärmekissen gebettet, sich über sie lagernd oder sie unter sich drängend -- Wand an Wand in trauriger Luderkameradschaft mit einer wahren Schlafratze von Tiger, einem blinden Eisbären, einem schwindsüchtigen Braunbären, einem Sohlentrampler, der seit Jahren unermüdlich gegen die Kälte auf der Stelle marschiert zu haben schien, einem Zebra, einem hustenden Pavian und einem Kehrichthäuflein von Federn in einer Käfigecke, das sich als ein Kondor erwies, der den Kopf schaurig hartnäckig in den aufgeplusterten Federn vergrub. Er war so heruntergekommen, daß er nicht einmal einen Ast oder Pfahl hatte, um darauf, wenn nicht in Chimborassohöhe, so doch einen einzigen Lumpenmeter hoch überm Erdboden zu hocken. Durch den aufgeklappten Leinendeckel des Zeltdaches stieg eine zarte Säule Dämmerlichts in diesen Tierdunst hinein, aber es schien, als fräße die Hungerbrunst das bißchen Lichtkörper von unten weg und verdaue ihn zu feuchkaltem Qualm.

Der nasse Herbstwind heizte den Zirkustieren zum Erbarmen schlecht ein, und Seespeck gab es bald auf, beim Anblick eines Jammers in Tiergestalt eine Erheiterung zu suchen, dem er in Menschengestalt nur widerwillig genaht wäre. Er sah ins hoffnungslos gefühlsrohe Publikum und bedachte ein paar Rüpel, die dem hustenden Pavian so lange zusetzten, bis er einen Tobsuchtsanfall erlitt, mit Peitschenhieben auf die entblößten Rücken. Wohlgemerkt, es waren Peitschenhiebe der Mißachtung nach gewünschter Entblößung, und den Rüpeln selbst erwuchs keine Beeinträchtigung ihrer Hochstimmung. Sie hatten gebellt, als der Pavian die Zigarre gefressen, die sie ihm anboten. Jetzt wieherten sie, als er, gereizt durch Vorhalten und schnelles Entziehen guter Bissen, an Treu und Glauben in der Welt verzweifelte und die Wildnisunbändigkeit ihn schüttelte. Seespeck entwich.

Es wollte sich in ihm allerlei Galliges zusammenrotten, als vom Zelt anstatt eines majestätisch wüstenhaften Gebrülls ein wüstes Gröhlen auszugehen anhub. Aber als er ein paar Sekunden lauschend gestanden hatte, schätzte er, anfangs erschrocken, die Ursache dieses unflätigen Getöses leichter ein. Es schien im ganzen Lustkreischen zu sein, wenn auch unverkennbar Schreck oder wenigstens Erschrecken dazwischenschrillte. Ich wollte doch, der Löwe brächte sie einmal auf die Beine‹, dachte er. Als er weitergehen wollte, sah er ein hübsches Kindermädchen, halb noch Schulkind, halb Dämchen mit einem frech aufgerissenen Munde vor sich stehen, das einen Kinderwagen geschoben hatte und nun, den Kopf über die Schulter zurückgeworfen, an Seespeck vorbeisah und in die Richtung der Holzmüllerschen Herrlichkeit horchte, was sie anscheinend mehr mit den großen Augen als den kleinen Ohren vollbrachte. In diesem Augenblick ward bei einem Hausabbruch an der Stelle, wo sie standen, ein tüchtiges Mauerstück ziemlich hoch oben umgelegt, brach durch einen oder mehrere Fußböden hindurch nieder und wühlte eine weißliche Schuttwolke wie einen kleinen Berg auf, der sich, vom Wind seitwärts geführt, langsam auf die Straße niedersenkte. Seespeck und das Kindermädchen standen im stickigen Staub, und das kleine Kind bekam erst Augen und Nase und, als es darob in Geschrei fiel, auch den Mund voll Kalkstaub. »Fahren Sie doch zu, Sie dummes Ding!« sagte Seespeck. Das Ding, das sich nicht für dumm hielt, spaltete ihre Lippe noch dreister auseinander, und Seespeck durfte sich einer frechen Erwiderung versehen, als er, halb wütend, halb mit dem Wunsche, das Ganze ins Scherzhafte zu wenden, mit den Händen nach den Zelten wies und sagte: »Flink, flink, sehen Sie zu, daß Sie nach Hause kommen, haben Sie nicht gehört, daß der Löwe ausgebrochen ist?«

Und alsobald hatte er dies gesagt, als der Racker von einem Kindermädchen, nicht ohne ihm in aller Geschwindigkeit die Zunge zu zeigen, fortlief und ihn bei dem Kinderwagen und dem schreienden Kinde stehen ließ. Nun hatte sich aber der Lärm aus den Zelten herausgemacht. Er schlug sich in unbestimmter Richtung hin und galt, das war nicht zu unterscheiden, einer Flucht oder einer Jagd oder einem Gewimmel, in dem sich das Gruseln und die Aufregung von beiden verband. Schon kamen ein paar pantoffelklappernde Rangen von der oberen Straße daher, wo das Kindermädchen sich aus dem Staube gemacht, freudebeschwingt wie zu einer Lustbarkeit ersten Ranges herab. Sie schrien nach dem Löwen, als wäre er herausspaziert mit keiner anderen Absicht, als sich ihnen außerhalb seiner vier Wände zu zeigen und ihnen durch dies Entgegenkommen das teure Eintrittsgeld zu sparen. Zwei, drei Haustüren wurden aufgerissen und hastig wieder zugeworfen, und ein des Weges fahrender Schlachter mit einem nüchternen Kalbe im Wagenkäfig hatte kaum ein bißchen in den Tumult hineingehorcht, als er seine Pferde in den Weg, der von der Plauerstraße am Krankenhaus vorüber längs der Schanze läuft, links hineinpeitschte und sie, das Kalb und sich selbst an dem Grab im Löwenmagen vorüberlenkte. Die Leute auf dem Bau lungerten und lugten durch den immer noch aufsteigenden Staub nach vorn und hinten herab, und ein weißbärtiger Mann, der ›der‹ Maurerpolier oder der Meister selbst zu sein schien, trat langsam an Seespeck heran, indem er rechts und links umschaute. Obgleich er vielleicht wegen des Löwen, von dem das Geschrei ging, nicht unbesorgt war, schien er Seespecks Verhalten neben dem Kinderwagen mit herzlicher Heiterkeit zu betrachten. Er lachte beim Herumstöbern mit den Blicken, schalt auf die »verdammte Deern« und fragte schließlich, was denn überhaupt los sei. »Ja«, sagte Seespeck, »ich weiß auch nichts Genaues, das Mädchen ist vor dem Löwen ausgerissen.« -- »Dat arme Diert«, antwortete der Mann mitleidig, indem er an den Löwen dachte, »dat möt sick jo bi so'n nattkollen Wäder 'n Snöw weghalen.« Indem kam ein kleiner Mann mit langem weißem Theater- und Heldenbart, der weniger an dem weinfarbigen Säufergesicht als an dem spitzigen Filzhut selbst zu hangen schien, einen blanken Orden oder doch Medaille auf dem schwarzen Rock preisbietend und seinen Stock gewissenhaft wie ein drittes Bein taktmäßig setzend, unbekümmert um Lärm und Gewühl, das sich nach den Wiesen zu verzogen hatte, von der Stadt heran und ward von dem Mann, der bei Seespeck stand, begrüßt, worauf er mit einfältiger Wichtigkeit seinen Hut abzog und stehenblieb. Vom entsprungenen Löwen habe er auch nichts gesehen, antwortete er auf die weiteren Fragen, und seine blöden Augen, seine hilflosen Mienen sagten aus, daß er wohl kaum im dicken Nebel seines Geistes einen bestimmten Begriff von diesen oder anderen untrinkbaren Dingen zusammenraffen konnte. Aber als Seespeck mit der flachen Hand in Höhe eines Löwenrückens eine Linie durch diesen Nebel zog und die Vermutung wie einen Schlagbaum niederließ, er habe doch wohl so ein Tier irgendwo laufen sehen, war er schnell erbötig, sich zu erinnern, daß er über einen großen gelben Hund gestaunt, der nicht weit von ihm über den Graben gesprungen. Wo denn der Hund abgeblieben wäre, verlangte jetzt der andre zu wissen, und nun ließ der Dekorierte seine Blicke hin und her irren, als folgten sie irgendeinem schwer erkennbaren Flüchtling beim Schlüpfen und Fliehen durch vielerlei Verstecke. »Ja«, sagte er endlich, »he kann god von achterher up Se Ehr Grundstück lopen sin, Holk. Kiken Se man to!« Soweit waren die Verhandlungen zu Seespecks geheimem Vergnügen gediehen, als derjenige, von dem hierbei am meisten die Rede war, als wolle er gegen den Mißbrauch seines Namens Verwahrung einlegen, selbst seine Stimme erhob, und weil das Donnergrollen seines Wüstenhungers über den Trubel gewaltig herfuhr, der jetzt im Wege hinter den Häusern, unter den Alleebäumen oder zwischen den Gesträuchen längs des Mühlbaches laut wurde, Wind und Blätterrauschen aus Höhe und Ferne sich einmischten und dies Gemengsei über die Gegend hin verbreiteten, konnte man in Zweifel sein, ob ein drohendes Löwenbrüllen mehr oder ein mißtönendes Kreischen und Gellen von Menschenstimmen weniger hinter den Häusern hervorscholl. Holk ward bedenklich und fand es geraten, die Straße zu räumen. Dabei schlug er Seespeck vor, das Kind einstweilen bei ihm in Sicherheit zu bringen, und legte selbst Hand an den Wagen, der durch einen schmalen Gang zwischen zwei Hausmauern hindurchgeschoben wurde und bald in einem düstern und weiten Räume stand, einer seit längerem unbenutzten Töpferwerkstatt, deren Brennofen in die Mitte hineingebaut war und mit verschiedenen Zulassen zum Heizraum, höhlenartigen Löchern, abgestuften Eintiefungen, vollgestopft mit Gerätschaften und lagernden Materialien für den benachbarten Bau, eher nach einem Burgverließ als einem Ort nüchterner Tätigkeit aussah. Schneider Wandschneider schloß sich an, denn Holk hatte ihm geraten, sich weiteren Begegnungen mit Löwen nicht auszusetzen.

Nun war dieses vernachlässigte Gebäude, das wie das benachbarte zum Abbruch verurteilt schien, gewiß ein rechter Ort für ein von der Menge gescheuchtes Wüstentier. Da gähnte aus dem Boden die schwarze Kellerluke, und niemand konnte wissen, ob das Tier nicht schon darin saß oder vielleicht den gewölbten Zugang zum Brennraum vorgezogen hatte. Obendrein war, um einige Balken und Bretter zu lagern, vom Hofe ein Loch durch die Mauer gestoßen. Der Aus- und Eingänge zu dem käfigartigen, dickgemauerten, fensterlosen Feuerraum waren also genug, und genügend verborgen waren sie auch. Das alles überschlugen sie in der ersten Minute, nur konnte Holk wie eine Art fixer Idee die Vorstellung nicht loswerden, daß der Löwe sich in der Kalkgrube versenkt hätte, die hinterm Hause im. Hof gegraben war, ging also hinaus, um einen Blick dahinein zu tun.

Es fing an, entschieden dämmrig zu werden, im Raum dunkelte es, und das zarte Kind, erschreckt von zudringenden hörbaren und sichtbaren Unheimlichkeiten, säumte nicht, den Kampf dagegen zu eröffnen, es schrie. In Seespeck erglimmte ein schlechtes Gewissen, er ahnte unbehaglich etwas von Mutterangst und machte, um sich abzulenken, dem Schneider, der ratlos, als erwarte er irgendeine Anregung, zwischen den Sprossen einer Leiter am Boden hin- und hertrat, eine Hindeutung auf die Kellerluke und möglicher Nähe einer darin lauernden Gefahr, und der Schneider tappte und stolperte durch seinen Nebel von Willenlosigkeit auf die Luke zu, kletterte auf der schlüpfrigen Treppe einige Stufen abwärts, war auch richtig mit halbem Leibe untergetaucht, als er anhielt und mit spürbarer Widerhaarigkeit, immerhin noch trottelhaft genug, fragte, warum denn Seespeck selbst sich nicht die Mühe mache nachzusehen. Seespeck antwortete, er wolle sich hüten -- außerdem habe er ihm ja gar nichts befohlen. Aus dieser Antwort wußte nun der Schneider, offenbar nicht, weil er sich fürchtete, sondern weil er sich wieder im Leeren, Nebligen fühlte, nichts zu machen, und begnügte sich, Augen und Mund erwartungsvoll aufzureißen. Da gab es draußen schnell aufeinander ein paar Schläge, wie wenn Bretter übereinander gelegt würden, und zugleich schlug ein hitziger Kläffer an, ein paar unbestimmte Geräusche drangen zu, und durch die offene Tür huschte eine Katze, verfolgt von einem Hunde, herein und stürzte sich, den Schneider streifend, kopfüber ins Kellerloch, während der Hund aus der blinden Wut über den halben Menschen vor ihm in wahren Zorn verfiel und dem Schneider, der in kläglicher Haltung, wobei ihm der Hut über die Augen klappte, einbrecherhaft genug aussah, mit den Zähnen näherrückte, die Rückenhaare sträubte und seine ganze Hundeseele mit Knurren verbrauchte. Das Kind, dem ein neuer Schreck widerfuhr, zog ein frisches Schreiregister auf und brachte im Ringkampf der Töne ohne viel Mühe die Kraft auf, wo nicht zu siegen so doch sich nicht unterkriegen zu lassen. Und wie nun der angegriffene Schneider schwerfällig die erste Bewegung der Abwehr tat, glitten seine Füße aus, und er versackte ziemlich sanft in den nicht gar tiefen Keller, wo von dem Töpferbetrieb her ein Berg von nassem Ton, belebt und bewohnt von einer Unzahl von Fröschen, lagerte. Dem Hunde verschlug vor Überraschung das Knurren, und er schwankte, ob er dem geflohenen Gegner ins Dunkel folgen solle oder lieber als Sieger zum Triumphe übergehen; da gewahrte er in Seespeck einen frischen Feind, der ihm mit einem schnell errafften Stocke zu Leibe ging, nach ihm schlug, aber fehlte und den Schritt für Schritt weichenden aber unerschreckten Köter zwischen die Beine einer Gruppe einiger hoher Gerüstböcke drängte. Der Lärm war ganz der eines Ganges auf Tod und Leben.

Seespeck wollte ein Spaß, bei dem er fast in Schweiß geriet, gereuen, aber der Hund verbellte die Reue, ihm war die ganze Sache ohne allen Spaß, er zackerlotete in seligster Hingenommenheit und fühlte bis ins hinterste Schwanzende die Verantwortungsfreudigkeit seiner Parteinahme gegen zwei freche und fremde Eindringlinge; er achtete nicht Kopf und Kragen, die sein Draufgehen kosten konnte, und allmählich ward Seespeck im scharfen Gegenüber mit einem unverfälschten Löwenmut ganz warm und wohl. Es war nur gut, fiel ihm ein, daß des Löwen Rolle für diesmal seine eigene war und die des Seespeck, falls es eine Löwenbegegnung für ihn gegeben, von dem braven Köter so gut vertreten wurde. Wäre er wohl so brav gewesen gegen den Löwen, wie der Hund gegen ihn? Einerlei, er fühlte ein lebhaftes Vergnügen, es zu wünschen, es sich vorzustellen. ›Ich wollte, ich wäre so tapfer wie dies kleine Vieh, und so hätte mich ein Löwe gern zerreißen können, es wäre nichts Schlimmes gewesen‹, dachte er bei sich, warf den Stock fort und fing an, dem Hund schön zu tun und ihn, selbst weichend, zu locken. Inzwischen hatte sich auch Schneider Wandschneider mit der froschreichen und tongepolsterten Finsternis auseinandergesetzt, und diese Auseinandersetzung war nicht als Verbesserung seiner Dekoration ausgefallen. Er gewann das Licht, aber das Licht empfing ihn nicht mit Lob und bewies jedermanns Augen, daß Ton und Frösche so lange nicht ungestört bleiben, ohne in Schimmel und Moder mit Kellerasseln und tausendfüßigem Gewürm eine regelrechte freie Wildnis auszubilden. Da unten im Dunkeln herrschte ein schlüpfriges, bitterböses, schwieriges, grausames Elend, aber immerhin eine Freiheit. Kurz: die Welt wird frei, groß, kühn, wenn sie in Brand, in Not, in Wut gerät.

»Oh, oh«, sagte der alte Holk, als er mit einigen Maurern vom Bau hastig eingetreten war, »oh, oh, Snider, wat ward de Großherzog to den schönen Orden seggen, den he Se schickt hart.« Und in seinen flink drehenden Augen funkelte eine tüchtige Bosheit, als er sich nicht entbrechen konnte, Seespeck in aller Eile, indem er mit dem Zeigefinger nach dem beschmutzten Orden pickte, zu erzählen, der sei für fünfundzwanzigjährige Zugehörigkeit zum Verein -- Holk sagte: »allgemeiner Unnützlichkeit« -- verliehen worden. Der arme Schneider, dessen persönliche Würde längst vom Fusel hinausgestänkert worden war und der seine Dekoration für sich sprechen lassen mußte, da er selbst längst nichts mehr zu sagen hatte, was die jüngste Rotznase in der Freischule anerkannt hätte, Wandschneider fühlte sich offenbar selbst ausgetilgt, nachdem die bunten Streifen und das Metallglitzern durch reichlichen Auftrag von Schmutz unscheinbar geworden waren. Vielleicht hatten auch die Schrecken der Tiefe ihn noch in den Krallen. Wenigstens als Seespeck ein wenig unbarmherzig spottend sagte: »Man sieht, er hat sich im Keller mit dem Löwen herumgeschlagen«, ließ er sich im Aufbügeln seiner schäbigen Gewandung nicht stören, sondern warf nur einen seiner hilflosen Blicke in die Runde, aus denen nichts andres zu erkennen war als der Bankerott des Willens und die nichts enthielten als eine kümmerliche Verwunderung. Es schien sogar zweifelhaft, ob er sich klar darüber wäre, wie viel oder wie wenig Seespeck gelogen. Holk aber klappte, ohne den Abenteuern des Schneiders genauer nachzufragen, im Umsehen den Deckel über das schwarze Loch, und seine Gesellen, die ihm auch ohne ausdrückliche Verständigung gehorchten, beschwerten den Verschluß in derselben geräuschlosen Schnelle mit einem halben Dutzend Zementsäcken. Ihr Meister verabschiedete sie mit einem unmerklichen Zucken des Kopfes nach der Tür und sagte zufrieden: »So, nu kann de Vadder von dat Kind em sülwst wedder afhalen, wenn he binnen is.« Dann besann er sich einen Augenblick und äußerte seine Zweifel, nörgelte und quetschte Wandschneider so lange, bis er die Wahrscheinlichkeit hervortropfte, daß eine Katze, aber kein Löwe unter ihnen stecke. Die glühenden Augen hätte er deutlich gesehen, und der Hund habe sie hineingejagt. Holk, obgleich Seespeck das letztere bestätigte, übernahm sich dennoch nicht an Vertrauen in Wandschneiders Aussagen. Der gelbe Hund von vorhin war ihm noch nicht entfallen -- erst Hund, dann Katze, das ließ sich schlecht vereinen.

Er ließ also geruhig Katz und Löw einerlei sein und wandte sich dem Kinderwagen zu, nachdem er den Hund, der sich mit Seespecks und Wandschneiders Gegenwart nicht abfinden wollte, verscheucht hatte, und es war merkwürdig, wie leicht sich seine Stimme zum Schmeicheln niederbog, wie sie sich zum Behüten und Beschwichten dem Kind ins Ohr schmiegte, als sprechende Musik, als sanftselige Lautlieblichkeit in Güte und Wohlgeneigtheit dort zu wohnen. Und des Kindes Seele erwiderte der andern guten, obgleich sie in einem fremden Manne war, mit Augenvertraulichkeit und Herzensauftulichkeit, und so befanden sich die beiden in gegenseitiger Leichterkanntheit wie in einem zweisamen Lichtkämmerchen, das Besitz und Wissen aller Dinge miteinander gab und aus dem Seespeck sich ausgeschlossen wußte. Das Kind fühlte sich nicht mehr von finstern Schrecken umwölkt, vergaß sein Weinen und Wehren und ergriff mit den Händchen das Lichtbild der andern guten Seele, das sich weich und lind wie die liebe Luft selbst anfühlte, da es den harten Körper selbst keineswegs erreichen konnte. Der Donner eines Löwengebrülls unter seinen Füßen wäre in diesem Augenblick eine geringe Überraschung gewesen gegen die, welche Seespeck empfand, als er sah, daß die Wesen durch Menschsein mehr voneinander geschieden als zueinander geführt werden. Das Kind und der alte Mann waren sich wildfremd, aber trotz diesem Menschentum fanden sich Türen und Gänge, die sie hinüber und herüber brachten. ›Wir sind ja alle Menagerietiere‹, dachte er, ›aus unserer freien Wildnis sind wir in den Käfig des Menschentums gebracht -- und hier‹ -- er sah auf den Schneider, der seinen Orden putzte -- ›im Menschsein werden wir schlimmer zugerichtet als Eisbären, Kondore, Affen und Löwen, die ja bloß blind und mottig werden. Aber wo sollen wir hin? Wenn wir ausbrechen, gehts uns wie den Bestien, wir werden doch wieder eingefangen.‹ Was er aber in diesem Augenblick ganz genau unter Ausbrechen verstand, wußte er selbst nicht.

»De Lütten sind beter as de Groten«, sagte Holk, indem er sich vom Kinderwagen zu Seespeck wandte, »wenn se irst klok warden, freten se ehr Oellern up.« Seespeck fragte nicht, welche Erfahrungen der Alte mit seinen Kindern gemacht hatte.

In dem Maße, wie die Dämmerung zunahm, verzog sich das Rufen und Rennen jenseits des Mühlbaches, der etwa zwanzig Schritte hinter den Häusern seicht und kraus über die Steine des Grundes hinhastete. Hätte es einer Jagd gegolten, so hatte das Wild verstanden, sich der Verfolgung zu entziehen und seine Hetzer zu verwirren. Eine Flucht war so weit gelungen, daß die Fährtensucher sich auf verschiedenen Spuren sahen und niemand eine ordentliche Verfolgung aufnehmen konnte. Die Maurer und Zimmerleute machten offenbar Feierabend, denn hinter der Wand der Töpferei regten sich allerlei friedliche Geräusche, ein bißchen karges Grüßen ward lauter, Pantoffelscharren, Stiefelstampfen, Klappern mit blechernem Geschirr und ein ständiges Signalpfeifen von den Angeln der auf- und zugehenden Tür der Baubude. Holk schien geneigt, dem Beispiel seiner Leute zu folgen, die den Löwen, falls es keine Katze wäre, bis auf weiteres in Nummer Sicher wußten, aber natürlich, das Kind mußte an seinen Ort geschafft werden, das verstand sich von selbst, und wenn dann der Menageriebesitzer für heute abend, wo die Leute einmal fort waren, keine Bergungsversuche machen wollte, so konnte man ja getrost zum Abendbrot heimgehen.

Man hörte Holpern leichter Räder über Pflastersteine, und das Bild einer rotbäckigen, mit Zeug wohl ausgepolsterten Frau verdunkelte das niedrige Fenster zu dem seitlichen Gang, und gleich darauf hielt sie mit ihrem Kinderwagen, in dem sich aber kein Kind sondern leere Fischkörbe bargen, unter der offenen Tür. Der Hund, denn es war der ihrige, mit dem Seespeck gefochten, umtänzelte sie und schien gespannt darauf, was sie denn zu den abscheulichen beiden Fremden sagen würde. Sie bog sich von draußen, beide Fäuste auf dem Griff liegenlassend, herein und schrie munter: »Holk, weten Se all dat Nigste? Se hemmt' een Kind stahlen.« »Wat Se seggen!« gab Holk zurück, indem er den Wagen zwischen dem Gerümpel am Boden dem Lichte entgegenlotste. »Ick hew'n Kind stahlen?« »Nee,« schrie die Frau zurück, »Se meen ick nich, de Lüd, ick weet nich, wat för Lüd --«

Hier aber tauchte der noble Kinderwagen mit dem gestohlenen Kinde aus dem Dämmer, gezogen von dem Mietsherrn der erstaunten, fettkiemigen Frau Paap und geleitet von zwei ganz und gar unräuberisch auftretenden Helfern, von denen der eine wenigstens von stadtkundiger Harmlosigkeit, um nichts Schlimmeres zu sagen, war. Die ehrbare Fischfrau war nicht nur gut ausgepolstert, sondern auch an Fleisch und Bein war sie nicht bedürftig, und so konnte sie als wind- und wetterbeständig genug gelten. Ihr Kopf aber war offenbar weniger widerstandsfähig, und so hatte sie ein romantisch rumorendes Gerücht nur zu gutgläubig aufgenommen, und die Autorität des Geraunes galt ihr für stark genug, um doch Seespeck mit dem Atem geräuschvoll tätiger Nüstern wie in Mißtrauen einzuhüllen. Sie schien aus den Erklärungen, die ihr Holk über das Bergen des Wagens auf seinem Grundstück gab, verdächtige Umstände zu folgern. »Maken Se doch keen Malhür ut so'n beten Unglück«, sagte Holk lachend. »Ick hew doch von dor ut«, er wies nach dem kleinen Straßenfenster, »all mit ankeken, de Dirn is för den Löwen uträten un hett den Wagen för min Hus stahn laten.« »Löwen, Löwen«, sagte Frau Paap, »wat för Löwen, Se maken sick jo lächerlich mit Ehr Löwen un sünd doch all Grotvadder, Holk.« »Na«, sagte Holk gefaßt und sah sich nach Wandschneider um, »irst wir dat jo'n gelen Hund, denn 'ne Katt, denn is toletzt doch woll öwerhaupt keen Löw wegkamen -- äwer, Fru Paap, de Dirn is uträten, dat hew ick sehn, man worüm se uträten is, weet ick denn nich.« Er sah dabei Seespeck an, der also wohl oder übel zur Verantwortung gedrängt war. Es war dabei ersichtlich, daß der Hund sich schon zu neuen Angriffen bereit hielt, da ihm längst klar geworden, wie gut sein eigener mit dem Geruch seiner Herrin übereinstimmte; Seespecks Sache war bei beiden als übel ausgewittert. Er ließ also beifällig seine Zähne blinken und fing langsam an, das Wehr des Zornes in seiner Brust aufzuziehen. Seespecks Löwenmut ward vor dem Geschnauf der Fischfrau klein, mit dem Hunde, ja, mit vielen Hunden hätte er sich seine Sache schon auszumachen getraut. Die Frau Paap aber hatte zu oft gegen mancherlei Leute ihres Hundes Partei führen müssen, als daß sie nicht ein bißchen in Abhängigkeit von dem Befund seiner Nase gekommen wäre, sie war, da sie sehr zankfreudig schien, durch ihn stets mit Anlässen zu Zungenboxerei versorgt, brauchte also keine Besorgnis zu hegen, daß ein kleines Feuerchen durch allzuviel kühle menschliche Vernunft auszubrechen gehindert werden könnte.

Seespeck zog instinktiv die Auseinandersetzung mit dem Tier der mit der Fischfrau vor. »Wenn der Hund noch näher kommt, hau ich«, sagte er, und Frau Paap, die wie viele Hundebesitzer der Meinung war, daß man erst gebissen sein muß, ehe man schlagen darf, antwortete so draufgängerisch, daß der Hund blank zog und die gute Gelegenheit an Seespecks Beinen ersah. Er schnappte tüchtig zu, aber ein Fußtritt Holks schleuderte ihn um einige Meter in den Hof zurück, wo er gekränkt wütendes Anklagebellen und schmerzliches Theaterheulen anhub. Es ward offenbar, daß Holk mit dieser Mieterin schon längst unzufrieden war. Die andern kleinen Leute im Hofe lägen ihm ewig wegen des Hundes in den Ohren, sagte er, und sie solle nur in Gottes Namen zum nächsten Termin ausziehen, worauf sie nicht faul war, dem Beispiel des Hundes zu folgen, und ihnen beiden einen Ohrenschmaus zum besten gab, bei dem nicht die schmälsten Brocken für Seespeck abfielen und wozu das Kind und der Hund die Musik machten. Ein wahres Staubecken des Zorns war gebrochen, und Seespeck wunderte sich nur immer, welche Schleuderkraft es sein mußte, die so viel Ungetümlichkeit und Unziemlichkeiten durch ein schmallippiges Mündchen zwischen einem so rosigen Backenpaar aus einem so fettigen Halspaß flink und flinker hervorpolterte. Eigenartig war Holks Verhalten; er sah auf seine Uhr, und als fiele ihm plötzlich ein Versäumnis ein, lief er, wie in entschuldigender Eilfertigkeit, und ohne Mißachtung der ihm zugedachten Gaben zu zeigen, an die Hausecke, um nur einen Blick nach dem Abbruch zu tun, kehrte aber sogleich mit leicht zerstreuter Miene zurück, als hindere ihn irgendein zukünftiges Geschäft, seine ungeteilte Aufmerksamkeit diesen Paapschen Bemühungen zu erhalten, die ja soweit -- schien er zuzugeben -- im Augenblick recht willkommen und nichts weniger als unbehaglich für ihn seien. Der enge Gang und der Hof mit kleinen Hinterhäusern hallten wieder, und Seespeck wünschte seinen Ohren zur Übertäubung solcher menschlichen Mißtöne einen Felsenton aus dem Vulkan des Löwenrachens herübergeworfen, um diesen Unrat an widersinnigen Beschuldigungen, diese Anhäufung von verdorbenen, mißbrauchten Zungenlauten zu begraben.

Nun wäre ja der ganze üble Schwall, da die beiden Männer nichts erwiderten, der Schneider aber sich langsam trottend straßenwärts salvierte, wohl von selbst verebbt, wenn nicht Seespeck unversehens an Holk ein paar Worte verloren hätte, als Laut- oder Halblautwerden dieser seiner Empfindungen, die aber, unverstanden, wie sie blieben, darum nicht sanfter, ja noch vergiftender trafen. Frau Paap mäßigte ihre Stimme, dagegen schwollen aber die Verse ihrer Kapitel in wuchernder Wüstheit ins Apokalyptische. Als sie einen Augenblick verschnaufen mußte, machte ihr Holk sanfte Vorhaltungen. »Fru Paap«, sagte er bedauernd, »Sei räden sick um Ehren Hals, -- Sei stahn doch nich in Seepacht mit de Stadt, dat Sei so väl Fisch verköpen können, as dat Geld kost«, -- womit er freilich selbst wohl kaum ernstlich ihren Lästermut zu dämpfen dachte. Er fügte noch schlicht hinzu: »Sei versupen jo in Ehr eegen Supp.«

Aber Frau Paap dachte nicht an Ersaufen, die Luft war ein Rohstoff, den sie verschwenden durfte, und so lange sie bei Leibe war, konnte sie jede Mahnung zur Sparsamkeit in ihrem eigenen Winde ersticken. Es war ihr aber nicht vergönnt, das Ende zu wählen, es ward ihr gesetzt, denn als ein junger Geselle oder Lehrling, zum Heimweg fertig, von der Abbruchsteile her um die Ecke bog und mit undurchdringlichem Ernst meldete, der Löwe sei dahinten, wohin er mit dem Daumen wies, auf dem Hofe gesehen worden, und der Meister möchte doch ungesäumt einmal hinschauen, wenn er -- mit einem Blick auf Frau Paap -- von seiner Unterhaltung abkommen könne, fuhrs ihr doch wie ein Stein in den Schlund und preßte den Rohstoff der Luft zur Ohnmacht in ihrer Brust zusammen. Nun war Holk über die verschiedenen narrenden Spiegelungen, unter denen die Wüstenmajestät sich seinem Bewußtsein dargestellt hatte, entweder der Glaube an die Möglichkeit seines endlichen körperlichen und nüchternen Nahens selbst entschwunden, oder er durchschaute die anscheinende Undurchdringlichkeit seines Jungen zu gut, um nicht irgendeine Eulenspiegelei dahinter zu ahnen, er handelte jedenfalls absichtlich selbst eulenspiegelhaft, indem er der verstummten Frau aufgab, den Gang an der Straßenseite zu sichern und den Löwen, den er mit seinen Leuten, soweit sie noch erreichbar wären, vom Hof durch die Tür in die Werkstatt, vor der sie noch immer standen, scheuchen wollte, auf keine Weise durchzulassen; er gab ihr die weitgeöffnete Tür, die den Gang fest verbarrikadierte und vor der der Leu abprallen und seitwärts flüchten solle, in die willenlosen Hände und rief ihr zu, nur immer brav festzuhalten, unverzagt gegenzudrücken und, wenn er brüllte, auch zu brüllen, dann würde er schon durch die dunkle Türöffnung ins Verließ hineinschlüpfen, oder, wenn er sich nach links wende, in ihre, Frau Paaps Wohnung, die erste des Hofes, wo er ja ebenfalls bestens aufgehoben sei. Während er dies sagte, drang vom Hofe Johlen und Pfeifen heran. »Nu stah fast, Fru Paap«, herrschte er noch einmal mit Schrecken einjagender Verhärtung des Tons, »glik kikt he üm de Eck!«

Der Hund bellte schon so heldenhaft im Hintergrunde, daß Frau Paap ihn im Geiste mit dem Löwen balgen sah. Ihr unerschöpflicher Rohstoff war auch wieder mächtig geworden, ihr fetter Hals würgte, ihre roten Backen blähten sich, und ihr Mund, durch den einige Augenblicke vorher so viel Unrat gedrungen, weitete sich zu einem unnatürlichen großen O und entband sich einer Schlange von öligen O-Lauten als ununterbrochenes »Ogott -- Ooogottogottooogottooogottooo!« -- »Snider!« rief Holk nun dem backsteinroten Kopf zu, der wie ein Mauerteil mit einem Mausloch von offenem Munde an der sicheren Ecke überhing, »Snider, faten Sei den Kinnerwagen un fohren em ganz sacht nah Nummer söß, dor wahnt de Mudder to dat Kind, heet Fru Krahnatz, un bringen ehr dat wedder trüg. Grötens ehr veelmals von mi un seggen ehr, ick harr dat Lütt so lang an mi nahmen hatt, hüren S'?« Aber ehe er noch ausgeredet, warf sich Frau Paap hinter der Tür wie eine Robbe herum, patschte ihre roten Hände in den Wagen und riß so das Rettungswerk mit einem Ungestüm an sich, das den Schneider mitsamt seinem Orden, mit dem sich seine lahme Menschenwürde selbst in der Dämmerung als Krücke behalf, an die Wand drückte, als er ihr entgegenstockerte, weil er glaubte, sie wolle das Geschäft einfädeln helfen. Er griff, gegen die Mauer gedrängt, blindlings an den Wagen, er wußte noch nicht, sollte er ihn fassen oder lassen, als sie ihm schon so derb auf die Finger schlug, daß er sich dünnmachte und sie vorüberwuchten ließ.

Inzwischen hatten sich aber Holk und Seespeck nach dem Hof gewandt, der sich hinter dem Abbruch in einen verwüsteten Garten verwandelte. Hier waren ein paar Bäume gefällt, eine Kalkgrube angelegt und Baugerümpel, das in der Werkstatt gesammelt lag, war hier verstreut. Der Hund bellte irgendwo im Schatten eines Baumes, und ein Teil der Arbeiter sowie ein paar Halbflügge, die mit Zigarren zwischen den Lippen, abstehenden Ohren und unersättlicher Lust am Erleben irgendwo immer aus irgendeinem Grunde müßig sind, ließen sich die Beobachtung desselben Baumes angelegen sein, ja, einer von ihnen, dessen Zigarre schon im Blattdunkel glühte, hatte sich zum Angriff nach oben bäuchlings auf die unteren Äste gehängt und ließ seine Beine aussichtslose Anstalten in der Luft machen, dieselben Äste zu gewinnen, als plötzlich das Lichtpünktlein im Laube wie ein Leuchttierchen im Bogen zur Erde sprang, zugleich aber ein komischer Laut, wie aus dem gepreßten Bauch, der nach oben und unten auseinandergesprengt ist, herausfuhr und das Schattenbild aus den Ästen entsprang. Ein Affe wäre ausgebrochen, hieß es, als sie fragten, und Seespeck erinnerte sich sogleich des Pavians. Er säße im Apfelbaum und fräße sich dick, erfuhren sie weiter, und wirklich, als sie nähertraten, sahen sie durchs herbstliche Laub gegen grauen Himmel wie Dämmerspuk eine finstere Gestalt von da unten, wo sie soeben die angreifende Zigarre abgeführt, den oberen Zonen des Baumes zustreben. Der Abgeschlagene hatte zwar seine Zigarre wiedergefunden, aber nicht seinen Hut, und die Courage war vollends verloren. »Dat Dirt ritt Eenen jo de Uhren aw«, erläuterte er lakonisch, da ja so vielfacher Verlust einer Erklärung bedurfte, und tatsächlich mußte der Zustand seines Schopfes einen Skalpierungsversuch von Affenhänden nur bestätigen. Niemand unter der unternehmenden Jugend zeigte weiter Lust, Ohren und Zigarre zu riskieren, dagegen suchte der eine und andre nach Steinen, und bald hörte man die Würfe durch Laub und Äste schlagen; dagegen ereiferte sich nun Holk, aber gegen seine Warnung ereiferte sich eine Stimme aus der Menge, und es schien wirklich eine Meinung Anhang zu haben, daß man eben nichts Besseres tun könne, als den Pavian totzuschlagen, ja, ein Radikaler rief nach einer Stange, um den schattigen Alb, der selbst vom Baum aus aufs Herz zu drücken schien, zu eigener Erleichterung herabzustoßen. Wogegen Holk, ohne seine Stimme noch einmal vorzuschicken, leise diejenigen seiner Leute, die das Ende der Begebenheit erwarten zu wollen schienen, anrief und ihnen auftrug, alles, was an längerem Gestänge herumstand, zusammenzusuchen, ja, er selbst nahm dem Forschen eine Latte aus den Händen, indem er sich dabei leichthin ausbat, sie einmal »ankiken« zu dürfen.

Niemand hatte sonderlich auf zwei oder drei Leute geachtet, die ohne Eile und Lärmen hin- und hergetreten waren, jetzt nahte der eine von ihnen mit einem kurzen Stock, wie es schien, dem Baum und zog dabei ein dünnes Tau, das in den Blättern schurrte, hinterdrein, ein andrer verschwand, und sogleich schien sich der Stock zu versteifen und in den Händen seines Trägers zu sträuben, er hustete ein paarmal kurz hintereinander wie ein auftauchender und Luft ausblasender Seehund, ein silbernes Schlänglein schlüpfte im Bogen zur Erde nieder, erstarkte aber schnell im Rückgrat und ward im nächsten Augenblick zum Wasserstrahl, der wie eine Stange gegen den Baum stieß, oben zersplitterte er wie knisterndes Glas -- im tausendfältigen Getröpfel. Die Halbreifen jenseits wichen vor dem Sprühregen zurück, nicht ohne in derben Worten, die noch derber belacht wurden, den Affen zu seinem neuen Trutzverfahren zu beglückwünschen, als ginge die Nässe von oben aus. Die dunkle Gestalt im Baum aber schmolz zusehends mehr und mehr, und als gar von der Gestalt mit dem kalten Strahl die wohlbekannte Stimme seines Dompteurs oder Besitzers Schimpfworte von echt sächsischem Schrot und Korn wie »Lauseviech« oder »Bäschtje« oder »wiehschter Limmel« die Erinnerung an Schläge und Hungerstrafe aufpeitschten und zum Herabkommen ermunterten, fügte sich ein de- und wehmütiges Häuflein Jammer von neuem ins Elend. Der Wasserstrahl ward eingezogen, das Schlänglein schlüpfte in die Spritze zurück, und den reuigen Ausbrecher erwarteten am Stamm des Baumes eine Schiebkarre und ein Sack. Der Hund mochte denken, daß »Schäsar«, wie der Dompteur sein Tier beim langsamen Abrutschen zur Erleichterung des letzten Schrittes mit betrüglicher Vertraulichkeit empfing, ein Wildpret sei, das er niedergebellt hätte und das seiner Siegerlaune füglich zum beliebigen Zausen gegönnt sei, aber er erfuhr, als er sich unverschämt heranmachte, zum zweiten Male dieses Abends eine Abfuhr durch einen Fußtritt, diesmal von dem Dompteur selbst, der ihm, als er, zwischen die Zähne getroffen, seine Enttäuschung mit Gesang heimführte, einen Hornissenschwarm sächsischer Sticheleien nachschickte, die aber über den Köter und seinen Jammer hinweg in die abstehenden Ohren der Anrichter dieses ganzen Unglücks eindrangen. Er sprach hochgemut wie ein Pharisäer, der Gott für sein Hochdeutsch dankt, von »bladdeitschen Biffelgebben«, und man muß gestehen, er spritzte es mehr als er sprach.

Als er aber seinen Affen im Sack und aufgeladen hatte und mit der Karre fortschieben wollte, hängte ihm Holk, zu dessen Inventar das Rad gehörte, ein Gefolge von zwei Lehrlingen an die Fersen mit dem Auftrage, die Karre wieder ans Haus zu besorgen, und fügte hinzu: »Wenn he wedder von Büffelköpp anfangt to dröhnen, denn smit Ji em de Kor um, un denn kann he sinen Apen up'n Puckel na Huus drägen!« Der Dompteur bequemte sich, so viel Plattdeutsch zu verstehen daß er seinen Sack voll zahmgewordener Wildnis zu ihrem Zellengefängnis zurückfahren durfte. Die Zigarren und ihre Besitzer mit den feuchten Ohren stolperten nun unter Anführung ihrer Hauptrüpel dem weiteren Erlebnis eines Glases Bier »in'n Linnengoren« zu, während Seespeck und Holk zusammen auf die Straße traten; hier wurden sie auf der menschenleeren, dunklen Straße von zwei Frauen gestellt, von denen die größere die ein wenig widerstrebende kleinere am Arm vor Seespeck hinschob und, wie es Seespeck schien, von ihrer Seele verlangte, ob ›Er‹ das sei oder ob ›Er‹ das nicht sei. Es war das Kindermädchen von vorhin, und sie bekannte weinerlich, ›Er‹ sei es, worauf die Mutter Seespeck hinter ein Gitter von Folgerungen sperrte, aus denen es nur zwei Ausgänge gab. Der eine war sofortige Zahlung eines Monatsgehaltes an die Tochter oder Verantwortung auf dem »Büro«, damit meinte sie die Polizeiwache.

Seespeck konnte nicht abstreiten, daß er »es« gewesen sei, nämlich derjenige, welcher das »gute Kind, die Klara« in Schrecken gestürzt und es von seinem Posten am Wagen verjagt hätte, wonach er erfuhr, daß sie von ihrer Frau auf dem Platze geohrfeigt und entlassen sei. Das Geld für die Ohrfeige, hatte sie gesagt, solle Klara von dem Manne einkassieren, der sich den Spaß gemacht hätte, der also für sein Vergnügen füglich auch bezahlen möge.

Seespeck fühlte eine Art Erleichterung, als er erfuhr, eine wie handfeste Dame die Mutter des kleinen Kindes sei und daß sie also mit einem ähnlich beschaffenen Herzen ausgerüstet den Schrecken wohl ohne Schaden bestanden habe. Nun mußte er seine Schuld büßen, daran war nichts zu ändern, und doch war er zu einer schnellen Fügsamkeit nicht gleich bereit. Der alte Holk half ihm zögern, indem er die Ansprüche auf Schadenersatz durchhechelte. Wenn doch einmal jemand Klara die Ohrfeige und den Verlust der Stellung bezahlen solle, so müsse sie sich an den Menageriebesitzer wenden, der dann seinerseits den Affen verprügeln möge. Der Herr, er wies auf Seespeck, hätte sich selbst gefürchtet. Die Laternen waren soeben angezündet und gaben Seespeck Licht genug zu sehen, daß die Mutter Wunderlich dürftig angezogen war, während die Tochter sich mit unechter Feinheit in allem Fleiß mit Zuspitzung auf Fräulein Gnädig Wunderlich schlecht moderecht, recht modeschlecht gab. Ihm erschien sie als Vogelscheuche neben ihrer Mutter. Und es war offenbar, daß diese noch mehr als Frau Paap ihres Kläffers die unentwegte und unkritische Vorfechterin ihrer Tochter war. Sie jammerte ihn mehr, als daß sie ihn mit ihrem Auftrumpfen, das übrigens immer von frischem gespornt werden mußte, belästigte. Die Tochter aber, die zwischen Licht und Schatten ihre junge Schönheit unauffällig leuchten, überraschen, blenden und schnell wieder ins Dunkle schlüpfen und dort lauern zu lassen wußte, bestrebt, ihr Geld mit Bezauberung desto sicherer zu bannen, sie verdarb ihm die Gelassenheit, mit der er die ganze Sache ins gleiche zu bringen gemeint hatte. »Nun«, sagte er also kurz, »daß der Löwe nicht heraus war, wußte ich ganz gut, ich wollte sie wirklich erschrecken.« Er hätte in diesem Augenblick die kleine Lüge, der man kaum den Glauben versagen durfte, nicht vorbringen können. »Na«, antwortete der alte Holk auf dieses Geständnis, »dat hemm' Se äwer würklich ganz natürlich upspeelt, dat kann ick Se betügen. Ick bün mi den Löwen orrig genog vermauden west.« Er dachte offenbar gar nicht daran, daß auch er ein bißchen sogar zum Lamm vor dem Löwen geworden war, schien aber die Dinge in bezug auf die Geldforderung kaum verändert zu finden und nach wie vor zu Seespecks Unterstützung bereit zu sein. »Vor so'n Löwen möt Klara doch dat Kind nich in'n Stich stahn laten«, sagte er so bieder zur Mutter, als wäre es selbstverständlich, daß ein halbes Schulkind pflichtgemäß dem Löwen trotzen müsse.

Es schien ihnen allen ganz grundlos zu sein, warum denn Seespeck eigentlich die Klara geschreckt habe, ja, es schien ihnen zu genügen, daß er es getan, um den Fall völlig aufzuhellen. Er nahm die Schuld auf sich, das war nett und vernünftig von ihm. Aber Seespeck, der nach der Uhr sah und fand, daß er noch ein Stündchen zu verspielen hatte, kitzelte es, ihnen den Löwen, den er persönlich nicht zur Verfügung hatte, doch nicht ganz zu schenken, es fiel ihm ein, selbst ein bißchen Löwe zu spielen, wobei ihm zustatten kam, daß sein absonderliches Benehmen ein unbestimmtes Befremden bewirkt hatte. Denn er schien sich weder um die Geldzahlung herumdrükken noch sonst Vorteile für sich in Anspruch nehmen zu wollen. Das alles tut man sonst in Güstrow nicht so leicht.

Er studierte in seinem Portemonnaie, bemerkte murmelnd, daß sein Geld nicht reiche und griff nach der Brieftasche im Rock. Aber, oh weh, die Brieftasche war verschwunden, ließ sich auch in andern Taschen nicht finden und mußte für verloren gelten. »Sicher«, schloß er, »ist sie mir über der Balgerei mit dem Hund aus der Tasche geflogen, denn ich habe mich mehrmals gebückt, und das Ding war nur klein --«, ob er nicht so freundlich sein wolle, wandte er sich an Holk, in der Rumpelkammer, wohin sie mit dem Kinderwagen geflüchtet, einmal nachzusehen. Da er übrigens gar nicht zahlungsunfähig aussah, war die Annahme plausibel, und Holk schlug vor, die beiden Frauen möchten mit hineingehen und suchen helfen. So standen sie denn in kurzem wieder in der Töpferwerkstatt und leuchteten mit einer Laterne zwischen den Geräten und Gerüsten herum, während ihre Schatten, da die Laterne leicht schaukelte, die Wände entlang torkelten oder zuckend Teile von ihnen gevierteilt auf den Brettern und Leitern und Balken von unsichtbaren Henkern höchst bravourmäßig behandelt wurden. Das Grab des Hintergrundes verschlang die armen Reste, während die belichtete Wand sie, im Grabe frisch gefügt, wieder an sich riß und auf einer Wiese von Staub und Spinnweben in gespenstischer Ausgelassenheit taumeln ließ. Holk suchte zwischen den Leitersprossen, Seespeck auf der andern Seite im Geklüft aufgestapelter Bretter, und die beiden Frauen bemühten sich überall, wo ein entflohener Schatz im Schatten sein Nest hätte bauen können. Frau Wunderlich war einen Augenblick neben Seespeck getreten und hörte, wie er eine zahme Verwünschung bei sich selbst über die Brieftasche aussprach, und fragte gewissermaßen in absichtlichem Mißverständnis, um ihm über das immerhin leicht beschämende Selbstgespräch wegzuhelfen, als hätte er zu ihr gesprochen, ob er denn gar so viel verloren, worauf er aber nichts Eigentliches antwortete, sondern bei sich selbst zu murmeln fortfuhr. Der Verlust mußte also wohl nicht leicht zu verschmerzen sein, denn er hängte sich bis zur offenbaren Geistesabwesenheit an seine verlorene Brieftasche. Doch faßte er sich und sagte, bemerkend, daß er angeredet worden: »Ja, ja, aber es ist nicht gerade das Geld -- aber Dokumente«, und war nun schon wieder abgerufen und gleichsam allein, fuhr aber mechanisch fort zu sprechen und beschwor ziemlich undeutlich einen Namen, der in der verflossenen Zeit oft genug gehört worden war, um auch hinter dem Zaune eines Selbstgesprächs verstanden zu werden. Denn Seespeck hatte im Zuge von Güstrower Einwohnern alles Kurz- und Langweilige eines kürzlichen Mordprozesses vor dem Schwurgericht zu hören bekommen. Der Prozeß war mit einem Todesurteil abgeschlossen. »Ach«, sagte Frau Wunderlich neugierig, »haben Sie damit zu tun gehabt, daß Sie Dokumente mithaben?« Seespeck sah überrascht aus einem düsteren Gewölbe hervor, starrte ein wenig gradeaus und fuhr dann mit dem Zeigefinger um seinen Hals. »Morgen früh«, sagte er, »aber schweigen Sie ja still davon, Frau Wunderlich, ja?« -- »O Gott«, sagte sie kurzluftig, »sind Sie der --?« Worauf Seespeck besiegelnd nickte und ihr noch einmal mit dem Wink der flachen Hand, als tropfe er Öl auf die Regungen ihrer Mitteilsamkeit, Stillschweigen anbefahl. Sie fuhr von ihm fort in eine andre Ecke zu ihrer Tochter.

Es dauerte aber nicht lange, so glückte es Seespeck, da, wo er eben recht im Verborgenen suchte, seinen Fund zu machen.

»Lassen Sie noch einen Augenblick brennen, wir wollen uns nur noch eine Zigarre anstecken«, schlug er vor, als Holk, zufrieden, seinen Feierabend wirklich anbrechen zu sehen, die Flamme der Laterne niederzuschrauben begann. Er war auch hiermit einverstanden und mochte annehmen, daß Seespeck die Rauchpause zum Geldzählen benutzen wollte. Klaras Augen glänzten, und ihre Backen waren wohl von der Ohrfeige noch so rot, aber die Mutter verzog sich, während ihre Tochter sich Schritt für Schritt mehr in den Schein dieses grellen Lichts, das von Seespeck auszugehen begann, hineinschob, nur immer rückwärts. Er hatte seine Person für die Vorstellungen der Klara ein bißchen in eine Jahrmarktsbudenbeleuchtung gestellt. Es hing ein greller Schein um ihn.

Die Zigarren rauchten, und man stand einen Augenblick ohne bestimmte Erwartungen, ja, es schien niemand aufzufallen, daß Seespeck, statt die Brieftasche zu öffnen, sie recht sorgfältig barg und sämtliche Knöpfe seines Rockes darüber schloß. »Ich gehe hier nicht gern ins Hotel«, sagte er dann zu Holk, »wissen Sie nicht vielleicht, wo ich diese Nacht in einem Privathaus wohnen kann?« Holk antwortete: »Die Hotels sind alle ganz sauber, da können Sie ruhig bleiben, Erbgroßherzog oder Bahnhofshotel oder --« Seespeck schob mit der Hand sämtliche Hotels beiseite, schüttelte sogar indigniert den Kopf, schien von etwas anderem sprechen zu wollen, wollte dann aber offenbar den Stolz des Alten auf die Sauberkeit der städtischen Hotels nicht verletzen und sagte, seine Worte zu künstlicher Harmlosigkeit dehnend: »Ich war schon mal hier, wissen Sie, und blieb natürlich im Erbgroßherzog, aber -- wissen Sie -- na, ich schreibe meinen Namen nicht gern ins Fremdenbuch, die Leute sind so neugierig.« -- »Das ist was anderes«, gab Holk zurück, der viel zu gern fortgegangen wäre, um aus Neugierde Zeit zu vergeuden. »Nee, ich weiß hier auch keine Gelegenheit.« -- »Wenigstens sehe ich«, sagte Seespeck, »nun, daß Sie gar nicht neugierig sind.«

Holk machte sich gelassen wieder an seiner Laterne zu schaffen und steckte, um beide Hände frei zu haben, die Zigarre zwischen die Zähne; als er die Laterne hob, legte er den Kopf schief, um den Rauch der Zigarre an der Nase vorbeisteigen zu lassen, und blinzelte, weil es ihn in die Augen biß. »Ich schreibe meinen Namen ruhig überall hin« sagte er, -- »na, Sie werden ja woll auch nicht der Teufel sein.«Er war gewiß nicht neugierig.

»Na«, sagte Seespeck, »Sie wollen gern nach Haus, dann können wir ja gehen«, dachte auch halb und halb, den Charakter als Scharfrichter und Löwe fahren zu lassen, als er der Klara weit aufgerissenen Augen begegnete und ihr beinahe wider Willen die Frage hinwarf, ob sie morgen bei der Hinrichtung zuschauen wolle, und fügte unsicher, ja ärgerlich über sich selbst hinzu: »Ich kann das so einrichten -- aber natürlich nur, wenn Sie es durchaus wollen.« Holk ließ die Laterne sinken und machte ein Gesicht, als stünde der Leibhaftige nun doch vor ihm.

Er war in den Dingen seiner Welt sicher wohlbeschlagen, er kannte sich aus und ein und hatte vor allem, was draußen war, wenig Respekt. Er mochte denken, Himmel und Hölle, alles, was mit Menschsein zu tun hat, müßte wohl im ganzen den Güstrower Zuständen gleichen. Er war natürlich überzeugt, daß es einen Gott gab, aber all dies Unerkannte und Unerkennbare lag für seine Augen undeutlich grau verschwommen im Hintergrund seines Daseins. Er glaubte auch natürlich sonst nicht an Gespenster, aber diese Person da vor ihm in ziemlich anständiger Kleidung wurde für ihn plötzlich zum Gespenst, ein Hauch aus einer anderen Welt umwitterte ihn grausig. Einen wirklichen Scharfrichter greifbar vor sich zu sehen, war gleichbedeutend mit einer leibhaftig glaubwürdigen Erscheinung des Alten Fritz oder Luthers, und er musterte mit den flinken Augen, die unter dem Vorbau der kahlen Stirn ein wenig wie Affenaugen hin- und herfuhren, seinen Gast, ja, es war ja sein Gast gewissermaßen hier auf dem Grundstück, wie gläubige, inbrünstige Gäste gruselnd im Panoptikum die Leibhaftigkeit eines sagenhaften Zeitgenossen. Die Fassung hatte ihn verlassen, denn ein Mensch, ein wirklicher Mensch stand vor ihm, der berufsmäßig nüchtern etwas tun konnte, was nur gleich?! -- Unsagbares. -- Er schaute ein Stück fremder Welt, mitten in der gewohnten, altbekannten, wie man mit Zweifel an sich selbst kämpfen müßte, wenn eines Morgens die Sonne nicht im Osten, sondern im Westen aufgehen wollte. Ja, er war so bestürzt, als wäre er selbst bei einer Schimpflichkeit ertappt, aber das währte nur Sekunden lang, dann schlug es bei ihm durch, als schäme er sich mit einer stellvertretenden Scham für die ganze Menschheit, nein, sogar für die Natur und den Schöpfer, die einen solchen andern unbegreiflichen »Menschen« zu bilden vermochten. Er mochte sich wohl sonst im Gespräch über das Problem des Henkers mit dem Spruch von der »Gewohnheit, die alles macht« hinweggeholfen haben, aber Aug' in Aug' mit einem »solchen« versagte der ganze Apparat der ordnenden Vernünftigkeit. Er war noch immer verwirrt wie ein unerfahrener Jüngling, den seine Dreistigkeit unversehens vor eine Liebesfrage gebracht hat, zu deren Beantwortung ihm noch das ABC abging. Er plinkerte mit den Augen und drehte sich rechts und links, ja, er lachte sogar tölpelhaft und blöde. Des Teufels Erscheinung wäre er vielleicht auf Lutherart begegnet, aber Seespeck stand gräßlicher vor ihm als der Teufel.

Die Klara war vor Seespecks Frage zurückgezuckt, aber ihre Nerven hatten die Verfassung der modernen Roheit, sie sah die Tür offen zu einem Schauerdrama, zu einem Kino allerverlockendster Art, so verzog sie nur einen Augenblick und wob ein Lächlein um das Näschen und nahm die freundliche Einladung an wie einen Pfefferkuchen. Schon tauchte die Kleidersorge mit ihren Schatten auf, und ihretwegen kehrte sie sich zu ihrer Mutter.

Frau Wunderlich hatte ein Löwenschreck gelähmt, Tränen wollten ihr überlaufen, sie hatte für die Sorgen ihrer Tochter nichts über. Aber der Löwe, der vor ihr stand, erbarmte sie gewaltig, es war ein verwünschter Unseliger, sie ahnte in seiner Seele ein schauerlich leidendes Ungetüm. Sie stand ganz im Dunkeln, und ihre feuchten Augen glichen im Schein des Lichts Spiegeln, die das unfaßbare Leiden des Elenden in sich faßten.

Seespeck war keineswegs behaglich zumute, er fühlte sich bis auf die Knochen blamiert vor sich selbst, und so kam es heraus, daß die Seelen zweier simpler Menschen ihn mit Flammenarmen umfaßten, was ihn aber nicht hinderte, in kindischem Trotz seine Maske zu behalten. »Na«, sagte er schließlich onkelhaft, »sie ist doch wohl noch zu jung. Es wird besser unterbleiben.« -- »Ja«, sagte Frau Wunderlich, »Klara weiß das noch nicht so.« Und als Klara sich auf ein oft erprobtes Maulen verlegen wollte, fügte sie hinzu: »De arme Mann kann je woll ok nix dorför.« So wenig aber Klara in ihrer Seele Bedauern, wohl aber Bewunderung für Seespeck fühlte, so wenig gab sie ihr Spiel verloren, zog ihr Schnupftüchlein und gedachte, die Hindernisse des in Aussicht stehenden Glücks in Tränen fortzuschwemmen.

»Nee, min Dochter«, beharrte die Mutter, »dor kann un kann nu mal nix ut warden.«

Nun hatte aber das gute Kind Klara eine Art Bildung auf der Straße oder wer weiß wo und in welcher Geselligkeit aufgeschnappt. Wenn sie sich darauf als eine im Grunde unklare Sache besann, so hielt sie sich vornehmlich an eine Häufung von Zischlauten, und hier mochte es ihr die rechte Gelegenheit dünken, ihren Sonntagstaat vorzuführen, und da es dem Widerstand gegen ihre Mutter galt, so wußte sie sich nichts Besseres, es war auch hier unklar, ob sie es auf der Straße oder in wer weiß welchem Schlupfwinkel für geheime Vorübungen auf das Leben außer Haus und Familie studiert hatte, als ihre Mutter anzuschwärzen. Sie zischte also sehr flott ihr: »Isch kann nisch den Mund auftun«, -- oder: »Isch verzischte auf Deine Erlaubnis«, ließ es aber nicht bei der Bekundung ihres Mißfallens, sondern riß sozusagen alle Türen und Fenster ihres Hauses auf, gegen sie und für jedermanns Augen Verrat an dem, was eine Familie nach außen verhehlt, zu üben, und besorgte es gründlich. Es kam nicht darauf an, was alles Seespeck und Holk anhören mußten, es kam darauf an, daß ihre Mutter ›es‹ sich vor ihr nun sagen lassen mußte, mit deren Sache es hier und da wohl nicht peinlich sauber stand. Da war von einem kranken Schwein die Rede, das, obzwar an falscher Wartung eingegangen, doch von der Versicherung hatte bezahlt werden müssen, auch hatte die Mutter kleine Vorteile, die ein nachbarlicher Misthaufen bot, bei der Pflege ihres eigenen Ackers mitgehen heißen, ja, es blieb wahrscheinlich, daß ein Wechselirrtum, der in einem Laden zugunsten Frau Wunderlichs geschehen, verheimlicht geblieben ist, und wenn alles, was mit der Wäsche schon passiert wäre, herauskäme, -- »Pfui«, sagte Seespeck verdrossen, und als die Jungfer noch zweifeln wollte, über wen dieses Pfui ausgesprochen, brachte er ihr in dürren Worten seine Meinung bei, über die sie zunächst mehr erstaunen als erzürnen wollte. Ihr Schluchzen verstopfte sich, es war doch jammerschade um ein so bewegliches Erbärmlichtun vor den Menschen, und als es klar war, daß der ganze Zauber ihn nicht gerührt und ihre ganze gute Meinung von ihm keine gleich gute von ihr bei ihm erdrungen hatte, haspelte sie -- und hier war es fraglos, daß sie es nur auf der Straße gelernt haben konnte -- einen Vorrat von bösen Worten so geschwind hervor, als hätte sie ihn längst heimlich vorbereitet, es ging alles, ob es schlimmste und allerschlimmste Worte waren, wie am Schnürchen und riß nicht eher ab, bis der alte Holk sie hinausgescheucht hatte. Draußen fand sich die liebe Seele im dunklen Herbstabend zum Schluchzen in der Jammergrube erlittenen Unrechts wieder zurück.

Seespeck hatte nicht gewußt, daß eine Beschimpfung wie ein körperlicher Überfall belästigen könne, daß gewisse Worte im Stoß eines wütenden Atems auf sich gerichtet, mögen sie auch aus der Kehle eines Kindes kommen, verwunden müssen, wenn sie laut genug klingen und keinen Widerspruch finden. Es ist im Augenblick, als ob man der sei, als der man ausgeschrieen wird. Der Löwe ward als Affe behandelt und mit kaltem Wasser begossen. Vor dem Alten und der Mutter war er aufs bitterste gedemütigt, ehe noch den Zigarren das erste Viertel ihrer Länge abgebrannt war.

Als Holk hinter der Klara die Tür schloß, stand er einen Augenblick horchend, ob sie sich in die Gesellschaft mit sich allein schicken würde. Diese Frist, wo sie fast im Dunkeln mit Seespeck allein war, benutzte Frau Wunderlich, näher zu kommen und ihm über die Achsel den Ärmel hinab zu streicheln, und Seespeck empfand schüchterne und bittende Tröstungen und widerstrebte nicht dem Gruseln eines Selbstbedauerns, wozu ihn der Glaube der Frau an seine fluchwürdige Existenz als Scharfrichter gelangen ließ. Es war wirklich so: sein Aussatz schreckte sie nicht bei ihrem Erbarmen, und so tief war sein Elend in ihren Augen, daß das laute Gericht, das ihre Tochter mit ihr abgehalten, gegen das stille Urteil des Gefühls gegen Seespeck nichts wog. Dann erschrak Seespeck bei dem Gedanken, daß sein Betrug spätestens morgen an den Tag kommen würde, und fühlte doch zu wenig Mut, ihr heute noch sein Spiel zu gestehen. Da fiel ihm ein, daß er ihr noch einen Schaden vergüten müsse, und ›er‹ bat sie, ihm mit der Laterne, die Holk bei sich auf den Boden gestellt hatte, zu leuchten, hatte auch schon seine Brieftasche in der Hand, als er spürte, ohne doch die bestimmte Beobachtung zu machen, die es ihm ausdrücklich bestätigte, daß sie sich vor seinem Geld, Geld aus seiner Hand, graulte. Sie gehorchte zwar seinem Wunsch und brachte die Leuchte, stand aber dann so schief neben ihm, daß Seespeck die Umwandlung ihres Erbarmens in Abscheu nur zu deutlich war. Das erboste ihn, als wäre er selbst schuldlos an der ganzen Komödie und litte unter fremder Verdächtigung. Er sah sie zornig an und sagte: »Machen Sie doch keine Faxen, so schlimm ist es doch nicht« aber als er ihrem Blick begegnete, konnte er sich nicht verbeißen, sie ein wenig höhnend aufzufordern, nun endlich gescheit zu sein und zu erkennen, daß er sich einen Spaß mit ihr gemacht. Sie hörte ihn wortlos an, nahm das bißchen Geld aus seinen Händen und ging damit an Holk, der sich in diesem Augenblick zu ihm umwandte, vorbei zur Tür hinaus. Es war deutlich, daß sie so schnell nicht umlernen konnte, und sein Menschentum mochte als chaotische Unbegreiflichkeit um sie einen Nebel von Unheimlichkeit ausgebreitet haben.

Holk war eine zu robuste Natur, als daß er länger wie ein paar Minuten in seiner anfänglichen Bestürzung befangen geblieben wäre, vielleicht versagte auch sein guter Wille, sich in das Unfaßbare einzufühlen, jedenfalls war seine Verlegenheit gewichen. »Na«, sagte er ganz unbefangen, »denn wollen Sie dem armen Mädchen morgen früh den Kopf abhacken?« -- »Ach Unsinn«, antwortete Seespeck, »ich denke nicht daran, wie können Sie auch so was glauben! Aber sagen Sie mal, ist es nicht ganz egal, ob ich es tue, oder ob es ein anderer doch mal tut? Ich bin übrigens ein Reisender und handle mit Holz, müssen Sie wissen.«

Dem Alten war bei diesem zweiten Geständnis Seespecks gar nicht geheuer. Er wollte sich zwar nicht empören, vermochte aber den Angaben nicht sogleich Glauben zu schenken und fragte ziemlich abhold: »Un wenn dat nu mit den Holthannel ok nix mihr is, wat ward denn ut Se?«

Seespeck wollte auf eine Frage, die er selbst gern gestellt hätte, keine Antwort geben. Er erkundigte sich aber, als sie im Vorraum an der Tür standen, nach dem Zustande des Brennofens, dessen Stirnwand, mit Vertiefungen des Bodens und Luftzuführungen wie ein Fuchsbau anzusehen, von der Leuchte aus dem Dunkel gehoben war. Holk antwortete, und es konnte nicht ausbleiben, daß sie hinzutraten, um Einzelheiten zu untersuchen, als hätte es sich für Seespeck um einen Kauf gehandelt. Und wirklich, es wäre ihm recht gewesen, noch diesen Abend Besitzer einer halbwegs nutzbaren Ruine von Töpferwerkstatt zu werden. Hatte er doch zufällig in Berlin die Bekanntschaft des Keramikers Mutz aus Altona, des Jüngeren, versteht sich, aufgefrischt und mit ihm vor dem Ofen und an der Drehscheibe während mancher freien Stunde sein Holzhändlerleben vergessen. Da hatte es zu heftig in seinen Finger gezwickt, als daß er den Ton unangetastet gelassen hätte, und Mutz hatte ein paar Püppchen aus seiner Hand mit in dem Ofen untergebracht, ja sogar behauptete er, einmal eins dieser Stücke an einen Liebhaber verkauft zu haben, ein Handel, von dem er Seespeck den Beweis, nämlich den Erlös, freilich nicht geliefert hatte. Aber die Ruine war dem Abbruch verfallen, und der bisherige Besitzer hatte sich um so leichter zum Nichtstun entschließen können, weil er aus der alten Überlieferung seines Handwerks heraus sich nicht mehr zu Änderungen von Hand und Augen bequemen mochte, die ihm zudem gegen die Massenabsatzgefälligkeit der Fabrikware auch nicht geholfen haben würden. Seespeck wußte aber, daß diese älteren Töpfereien einen im Grunde unendlich überlegenen Stand gegenüber zweifelhaften Neuerungen behaupteten, und davon unterhielt er sich mit Holk auf dem Wege durch die Stadt zum Bahnhof, mußte auch innewerden, daß der Alte selbst im ganzen Umfange als Mensch und Meister in einer Zeit wurzelte, von der Seespeck in aller Unschuld und bei der knappen Gelegenheit um so unverhohlener mehr Gutes sagte, als er selbst zu denken gewagt hätte. So schieden sie, beide übereinander verwundert, vor des Alten Hause, und Holk meinte mehr im Ernst als im Spott, ihm schiene denn doch, daß es mit dem Holzhandel auch wieder nicht so ganz das Richtige gewesen wäre; wenn ihre Bekanntschaft länger gedauert hätte, wäre es wohl auch ganz anderswo herausgekommen. Seespeck fragte dagegen, ob er schon mal einen Menschen gekannt hätte, der ihm nicht immer unheimlicher vorgekommen, je länger er ihn gekannt. Darüber wollte nun der Alte, der sich selbst recht gut zu kennen meinte, nichts ausgemacht sehen.

Seespeck war rechtzeitig am Zuge und gewahrte im Gang stehend kurz hinter dem Bahnhof über die dunklen Weiden her als Lichtgespinst das Holzmüllersche Zirkuszelt, wo präzis sieben Uhr die Galavorstellung begann und wo Affe und Löwe Natur und Wildnis, Herkommen und Art in freier Dressur selbst verhöhnen mußten.


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