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Die Liebe verblendet, sagen die Leute, aber sie verblendet meistens nur den Menschen, der liebt. In der kleinen Stadt, in der Tobias amtierte, gingen über seine Freundschaft mit der jungen Frau dunkle Gerüchte von Mund zu Mund. Zuerst glaubte man an eine Freundschaft zwischen Carla und Elisabeth, aber einmal hatte ein Reisender, der sich in den Wartesaal zweiter Klasse verirrte, Tobias in einer etwas vertrauten Nähe mit der jungen Frau getroffen. Auf den Besuchen bei der Kundschaft machte der gerissene Herr allerlei Andeutungen, und als er dabei gute Geschäfte machte, beschloß er sofort, diese Methode auch in den Nachbarstädten anzuwenden. Und so kam es, daß Tobias ahnungslos unter einer unsichtbaren Wolke gefährlicher Gerüchte wanderte und einmal vor der halb väterlichen Ermahnung eines Vorgesetzten zusammenzuckte wie vor einem fernen Blitz, der vollkommen überraschend aus strahlendem Himmel fällt.

Die Schwester aber hatte mit dem feinen Gefühl der Vertrauten doch allerlei geahnt und lief zu Elisabeth. »Bleibe bitte zu Hause,« sagte sie, »Elisabeth, es wird in der Stadt über euch gesprochen. Du weißt ja, was für Tobias auf dem Spiele steht. Er hat dich lieb, aber es könnte auch dein Unglück sein. Warte bis alles vorbei ist, Elisabeth, und ihr braucht euch ja nicht voreinander zu verstecken, aber es ist besser, wenn ihr euch einige Wochen nicht seht.« Das sagte Carla, die Kupplerin, und endlich weinte Elisabeth nicht mehr und war damit einverstanden.

Sie verwaltete ihre Wirtschaft und zeigte den Gästen ein gleichgültiges Gesicht, ging mit gelassener Kälte auf alle Scherze ein und besiegte dadurch viel Mißtrauen. Tobias aber verhüllte sich in verächtliches Schweigen, wenn Carla von Vorsicht und Überlegung sprach. Er versah ohne Begeisterung seinen Dienst und stümperte die Predigt zusammen. Als könne er unsichtbare Feinde damit treffen, legte er für kleine, gebeichtete Sünden schwere Bußen auf. Nein, er war durchaus nicht mit sich selbst zufrieden.

Dann kamen, um das Maß der Schmerzen zu füllen, neue Krankheiten, ewige Krankheiten an dem verkürzten Bein, eine neue Operation und lange Wochen im Bett. Endlich ging auch das vorüber, aber der Krankenurlaub wurde verweigert, einmal, zweimal, dreimal verweigert. Tobias wurde seiner Behörde mit der Zeit ein sehr kostspieliger Pfarrer, und die Gerüchte mit der Frau waren immer noch nicht verstummt. So vergeßlich war der Herr Bischof nicht. Nein. Als Tobias wieder aufstehen und gehen konnte, hinkte er zu dem einsamen Bahnhof, besuchte Elisabeth und war nicht mehr unglücklich.

Immer noch klirrten die Schnellzüge vorüber, immer noch schien der kleine Bahnhof mit fortfliegen zu wollen, mit fort in die Welt. Die Gläser klingelten auf dem kleinen Büfett wie zarte, wohlgestimmte Glocken vieltönig auf und ab. Auch die Personenzüge machten sie klingend, aber dieses Geläute war lustlos. Da lag nun der einsame Bahnhof auf freiem Feld, ein schmuckloses Gebäude wie eine preußische Kaserne, eine geschichtslose Baracke, von der Technik aus der Erde gestampft und dennoch der rührende Schauplatz von zwei Verliebten, die sich nun heimlich trafen und am Tage kaum einen Blick auszutauschen wagten und brennend auf die Nacht warteten. Da waren nun zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, die nicht »Ich liebe dich« zueinander sagen durften, wenn sie sich auch liebten.

Das Leben von Tobias war nun durchaus nicht nur ein Seufzen um Liebe, nicht nur flehende Bitte um Kuß und Umarmung, obwohl er ein viel zu unglücklicher Mensch war, um Liebe und Kuß als unbegreifliche Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Manchmal war er auch ein Schwächling und nicht wert, daß man so viel Atem an ihn verschwendet. Wenn wir nun nach seinem Tagebuch einen Roman schreiben und sein Leben schildern, tun wir das hauptsächlich, um eine vergangene Zeit zu zeigen und jene Probleme mit aufzurühren, die auch heute noch viele Millionen Menschen quälen.

Die Geschichten über die allzuenge Freundschaft zwischen dem Pfarrer und der jungen Frau hatten auch den einsamen Bahnhof erreicht und die Beamten und Weichensteller neugierig gemacht. In einer Herbstnacht belauerten sie den Wartesaal zweiter Klasse, in dem Tobias mit seiner Freundin zusammen war. Sturm heulte, als gehöre er mit zu der dunklen Verschwörung. Die beiden hörten keinen Sturm, sie hörten nur die Musik ihres Blutes und lagen glühend in der tiefen Dunkelheit, die den Raum ausfüllte. Plötzlich flammte das elektrische Licht auf. In der Tür standen einige Männer und blinzelten höhnisch und lüstern auf das erschreckte Paar.

Tobias sprang auf, taumelte zuerst, geblendet vom grellen Licht, das weiß und kalt das tiefe Dunkel teilte, nach der Tür, aber dann blieb er stehen und blickte schweigend die Männer an. Sie hielten den starren Blick schweigend aus, wie eisgraue Richter den Blick eines Verurteilten aushalten. Tobias seufzte und lief hinkend in die Dunkelheit hinaus. Ihm war, als tappe er einem Abgrund entgegen. An seine Freundin aber, die immer noch im grellen Licht den Blicken der Männer schamlos ausgesetzt war, dachte er nicht. Er dachte nur an sich selbst.

»Alles vorbei. Alles erledigt. Aus. Fertig!« spielten seine Gedanken, als er durch die Nacht hinkte. »Jetzt kann ich kein Pfarrer mehr sein. Die Qual ist aus. Ich bin ein Mann. Ein Mann bin ich, jawohl, ein richtiger Mann. Die Welt ist groß. Sie ist groß genug, um sich darin zu verlaufen. Um zu hinken, zu hinken

Carla, was wird Carla tun? Und Lisabeth! Heilige Madonna, hilf den Frauen! Oh hilf auch mir ... Nein, nein, nicht mehr bitten, nicht mehr betteln. Es wird allzuviel gebettelt in der Welt ...«

Kurz vor dem Pfarrhaus lag der Friedhof. Dahinter dunkelte ein kleiner Wald, in dem jetzt zur Nacht der Sturm orgelte. An der hohen Mauer, die den Todesacker umschloß, stand ein Liebespaar und war so abseits von der Welt und so von sich besessen, daß sie den hinkenden Schatten Tobias, den gestürzten Liebhaber, ungesehen vorüberlaufen ließen.

Da war nun ein Todesacker unter hohem Himmel. Da lagen die vermorschten Herzen, die verwesten Leidenschaften. Alles war aus und vorbei, das Leben, der Haß, die Liebe, die Freundschaft und die Habgier. In der kalten, feuchten Erde lagen die nackten Gerippe (nur das Haar wuchs manchmal an den runden, hohlen Schädeln weiter), aber an der Mauer, der die letzte und grausame Wohnung umschloß, lehnten zwei junge Leute, ein Jüngling, ein Mädchen, und hatten sich in diesem Augenblick so lieb, als ob es keinen Tod gäbe, kein Ende und keine Verwesung.

Tobias eilte weiter. Endlich kam ihm zum Bewußtsein, daß er Lisabeth schamlos preisgegeben hatte. Schon wollte er umkehren. Da sah er, daß der Wartesaal verdunkelt war. Das tröstete ihn schnell und als er sein Haus erreichte, fand er die Schwester noch wach.

»Fertig, ganz fertig, Schwester«, sagte er mit erloschener Stimme. »Ick fahre nach Berlin. Ich bin verraten. Pack meine Sachen. Ich muß fliehen. Sie haben mich bei Lisabeth gefunden.«

Die Schwester sagte kein Wort, nur ihre Augen begannen, im Zimmer herumzuirren. Sie sagte nichts, kein Wort des Trostes und kein Wort der Strafe. Sie stand wie angenagelt auf ihrem Platz. Sie seufzte nur. Als der Klageton sein Ohr erreichte, mußte er wieder an Elisabeth denken, an den Sturzbach des elektrischen Lichtes, der wie ein ewiger Blitz den Wartesaal erhellte. Da riß es ihn herum, und er wollte nach dem Bahnhof, doch die Schwester stellte sich ihm in den Weg.

»Bleib!« sagte sie mit harter Stimme. »Jetzt ist es zu spät. Du mußt sofort verreisen. Ich werde midi um Elisabeth kümmern. Fahre nach Berlin. Du kannst in Königsberg den Morgenzug noch erreichen.«

»Lisabeth!« wimmerte Tobias. »Carla, versprich mir, daß du Elisabeth hilfst. Ja, ich fahre. Ich bin noch jung. Irgendwo in der Welt wird schon ein Platz für mich sein. Jeder Hund hat seinen Platz auf der Welt... Schwester, Schwester, was soll ich tun?«

»Ein Mann sein, das Schicksal ertragen, nicht heulen. Du hast nicht nur für dich zu sorgen, Bruder, du mußt auch Elisabeth helfen. Ja, ja, du kannst über mich verfügen, da ist das Reisegeld, aber nun geh, aber nun geh.« Sie lief nach dem Sekretär, schrieb einen Scheck über tausend Mark aus und gab ihn dem Bruder. Der ließ alles über sich ergehen, hinkte dann in sein Zimmer, stand ratlos vor seinem Koffer, bis endlich die Schwester kam und das Notwendigste zusammenpackte. Dann besorgte sie noch von dem Bauer Kuhn einen Wagen und in der dritten Morgenstunde fuhr er zur nächsten Bahnstation, erreichte den Zug nach Königsberg und bekam Anschluß nach Berlin.

In derselben Stunde, als Tobias nach Berlin reiste, saßen die beiden Frauen zusammen. Elisabeth weinte und erzählte von der schrecklichen Nacht und den furchtbaren Minuten, als sie im grellen Licht den Blicken der Männer preisgegeben war. Ein Weichensteller hatte endlich das Licht ausgeschaltet und seine murrenden Kameraden entfernt. Die ganze Nacht hatte sie im Wartesaal verbracht und auf Tobias gewartet. Zwei Eisenbahnzüge hämmerten vorbei, Hunde bellten, Schritte tappten vor der Tür, aber kein Tobias kam. Was sollte nun werden? Was sollte sie anfangen? Berlin?

»Er ist nach Berlin gefahren, ja, er ist in Berlin und wird dich nicht vergessen. Ein neues Leben soll aufgebaut werden, Elisabeth, er wird dich niemals verlassen. Bitte, weine nicht mehr,« tröstete Carla.

»Er ist ja noch ein großes Kind, Carla,« sagte endlich die weinende Frau, »ein Kind ist er, und wir waren ja auch wie Kinder. Wir hatten die Tür zum Wartesaal offengelassen, solche Kinder waren wir, Carla. Und was werden jetzt die Leute sagen? Ich kann unmöglich in dieser Stadt bleiben!«

»Ich bleibe auch nicht mehr. Wir werden alles verkaufen und zusammen leben, Elisabeth. Zuerst fahren wir zu meinem Vater und dann gehen wir nach Berlin. Tobias will sofort schreiben.«

»Ja, ich kann der Schwester die Wirtschaft übergeben. Mein Pachtvertrag gilt noch auf zwei Jahre. Ein wenig Geld habe ich auch gespart, und wenn Tobias will, gehe ick zu ihm nach Berlin. Ja, wir besuchen deinen Vater, Carla, und warten auf fröhliche Nachricht.«

Tobias war in Berlin, und die kleine Stadt hatte ihre Sensation. Nach dem Bahnhof begann ein großer Pilgerzug kleiner Handwerker und Kaufleute. Der Wartesaal zweiter Klasse war überfüllt, aber Elisabeth blieb unsichtbar. An ihrer Stelle erschien die Schwester, die Frau eines kleinen Reisenden, und lächelte kalt in alle fragenden Gesichter hinein.

»Bedaure,« sagte sie, »Elisabeth ist verreist, ich bin jetzt an ihrer Stelle. Der Betrieb geht weiter, und wir werden uns freuen, noch oft die werten Gäste begrüßen zu können. Ja, es ist eine furchtbare Geschichte, und ich verstehe es auch nicht. Mein Mann sagt, es gäbe keine Verzeihung.«

Die Leute sahen sich grinsend an. Jetzt verleugnete sich das eigene Fleisch und Blut. Ja, es ist eine schlimme Geschichte, und der Herr Pfarrer ist die längste Zeit Pfarrer gewesen.

Das Gerücht von der Liebschaft hatte auch den Vater erreicht. Als Carla mit Elisabeth in das kleine Dorf kam, wußte der alte Mann schon alles. In den letzten Tagen gab es noch viel Aufregung. Carla hatte die Möbel verkauft und alles in Ordnung gebracht und ging stolz durch die gaffende Reihe der Spötter. Kein Mensch wagte sie anzusprechen. Nun war alles vorbei. Endlich konnte sie Luft schöpfen. Von Berlin aus hatte Tobias seinem Vater geschrieben. Der alte Mann stand schon am Rande des Grabes und verzieh. Er war nachsichtig und freundlich zu Elisabeth und zärtlich und liebevoll zu Carla.

»Bleibt hier, liebe Kinder,« sagte er, »alles geht vorüber, auch die Schmerzen. Tobias ist noch jung und wird ein neues Leben beginnen. Es ist nur gut,« fügte er leise hinzu, »daß die Mutter ihren Frieden hat. Das hätte ihr das Herz gebrochen, Carla.«

Von Berlin aus hatte Tobias auch an seinen Bischof geschrieben. In diesem Brief legte er sein Amt nieder, und erklärte er seinen Austritt aus dem Klerus. Er fand stolze und selbstgerechte Worte für sein Verhalten, legte keine Reue an den Tag und klagte an. Erhob Klage vor allem gegen das tödliche Gesetz und Dogma, das einen gesunden Mann von einer gesunden Frau trennt, schilderte in jenem Schreiben auch seine innere Entwicklung und die endliche Abkehr vom Glauben. Er berichtete in dem Brief von seinen Erlebnissen in Freiburg und von den verschnittenen Sängern in Rom.

Berlin! Endlich war er frei. Er brauchte sich nicht mehr verstellen, er konnte allen Menschen aufrecht ins Gesicht sehen, und durfte sich an schönen Frauen erfreuen. Er schwelgte in Musik und Theaterbesuchen. Ihm war, als sei er endlich aus einem Gefängnis befreit worden. Er kam auch mit Bergmann zusammen, den einsamen Wolf, und heulte mit ihm das rebellische Lied von der Menschenfreiheit. Auch Bergmann war nicht gebrochen. Nein, das Gefängnis hatte ihn nicht zermalmt. Er erzählte die Geschichte von der kleinen Henriette, von ihrer Liebschaft und von jenem Tag, als sie auf die Straße ging und von einem berittenen Polizisten verwundet wurde. Er erzählte von dem Genossen Schubert und seiner Frau, die ihr kleines Kind über alles in der Welt liebten. Ja, es war ein freundschaftliches und menschliches Gespräch in jener Nacht. Menschen, die der junge Pfarrer kannte, schritten im Geiste vorüber und lachten oder weinten. Der Pfarrer? Nein, er war kein Pfarrer mehr. Er war wie Bergmann auch ein Wolf und heulte nach den Sternen.

»Herr Doktor,« sagte Bergmann, »was wollen Sie tun? Berlin ist ein harter Kampfplatz. Mit Rebellion allein ist nichts zu machen. Ich kenne Sie zu gut und weiß, daß Sie nicht nur aus persönlichen Gründen Schluß gemacht haben. Nicht nur wegen der Geschichte mit Elisabeth. Können Sie schreiben? Mensch und Mann Gottes, schreiben Sie Ihre Lebensgeschichte auf, es wird ein Bombenschlager! Die Verleger werden sich darum reißen.«

»Die Geschichte meines Lebens? Meine seelischen Kämpfe? Den Irrsinn des Dogmas? Nein, das habe ich nur mit mir selber abzumachen. Ich bin kein Überläufer. Ich will sehen, daß ich als Sprachlehrer und Übersetzer Arbeit bekomme. Was Sie von mir verlangen, bricht meinem Vater das Herz und macht mich nur noch unglücklicher. Lachen Sie nicht, meine Schwester ist ein sehr gläubiger Mensch und auch Elisabeth. Ich darf ihnen das nicht antun.«

»Nun schön,« antwortete Bergmann, »nun schön, Doktor, ich wünsche Ihnen alles Gute, und wenn Sie nicht mehr wissen wohin, hier ist meine Adresse.«

»Und was machen Sie? Ich verstehe langsam, daß Sie das Land hassen, das Sie immer ins Gefängnis schickt. Wann ist die nächste Strafe fällig?«

»Ich hasse Deutschland nicht, ich liebe Deutschland,« sagte Bergmann. »Unser Kampf geht ja darum, daß dieses Land die Heimat für alle wird, nicht nur für die Schmarotzer und Ausbeuter. Meine neuen Pläne? Vielleicht gehe ich nach der Schweiz. In Zürich oder Bern könnte es mir schon gefallen. Aber immer kämpfe ich für das neue Deutschland.«

»Sie sind ein glücklicher Mensch. Sie haben noch ein großes Ziel vor sich und glauben an den Sieg,« antwortete seufzend Tobias. Das Gespräch war zu Ende. Der Morgen graute. Ein neuer Tag begann und mit dem neuen Tag kamen die neuen Sorgen.

Zum dritten Mal stand Erler auf einer Höhe. Das erste Mal erklomm er den Gipfel, als er Helene kennen lernte. Das zweite Mal stand er oben, als er Elisabeth liebte, lind jetzt in Berlin, als er ganz frei war, erfüllte ihn auch wieder das Hochgefühl. Und wie auch alle Steigerungen seines Daseins, wie nach einem unheimlichen Gesetz, Abstürze folgten, so fielen auch in Berlin wieder die ersten Schatten in sein Leben. Es war für einen davongelaufenen Pfarrer durchaus nicht leicht, als Sprachlehrer unterzukommen oder Übersetzungen zu machen. Einige Wochen arbeitete er an seinem italienischen Reisebuch und ging dann mit dem Manuskript von Verlag zu Verlag und wartete und drängte auf die Entscheidung. Er lernte viele Verleger und Schriftsteller kennen, und bald graute ihm vor jenem maschinenmäßigen Betrieb, der sich deutsche Literatur nannte und sehr oft weiter nichts war als ein erbitterter Kampf um das tägliche Brot, ein Kampf voller Neid, Eifersucht, Haß, Schiebung, Intrige und mit vielleicht einem Sieg auf tausend Niederlagen. Immer noch hoffte er, immer noch versuchte er, neue Verbindungen herzustellen, aber seine Geschichte war aus Ostpreußen auch in Berlin bekannt geworden und brachte mehr Schaden als Nutzen.

Elisabeth schrieb verzweifelte Briefe. Ihrer Schwester, die den Bahnhofsbetrieb übernommen hatte, war gekündigt worden, und sie saß jetzt auf der Straße. Elisabeth wollte nach Berlin kommen. Der alte Vater war krank geworden. Carla pflegte ihn. Was soll nun werden? Ja, der alte Organist war schwer krank. Er hatte den Sohn nicht verurteilt, er selbst wußte aus seinem langen Leben, wie schwer es ist, einen Menschen zu verurteilen, aber die Erschütterungen der letzten Zeit überstiegen doch seine Kräfte.

Der Vater ist krank? Der Vater stirbt? Den verzweifelten Brief von Elisabeth hatte Tobias vergessen: er dachte nur an den Vater und gab sich selbst die Schuld. Wohl hatte er manchmal mit dem Gedanken gespielt, den ihm Bergmann eingeblasen hatte, den Gedanken nämlich, ein großes Pamphlet gegen die Kirche zu schreiben und schonungslos und schamlos seine eigenen Erlebnisse und Qualen aufzudecken, aber zuerst hinderten ihn die Erfahrungen, die er mit seinem italienischen Reisebuch gemacht hatte, daran, dann kamen die entsetzlichen Nachrichten von Carla: der Vater liegt im Sterben! Bergmann, den er aufsuchen wollte, war nach der Schweiz gefahren, und als er einmal nach Hause kam, fand er zwei geistliche Herren bei sich vor, zwei Domkapitulare, die ihn dringend und väterlich zur Umkehr und Unterwerfung aufforderten.

Umkehr? Gab es noch eine Umkehr, um den Vater zu retten? Unterwerfung, gab es eine Unterwerfung, die Carla fröhlich und Elisabeth glücklich machen konnte? Der Vater stirbt, die Schwester ist verzweifelt, die Freundin weint endlose Tränen! Oh Berlin, du wildes Wettrennen um den Bissen Brot, du Jammerhöhle, du grausamer Käfig! Frieden, wo war der Frieden? Gab es überhaupt Glück auf der Welt? War Glück vielleicht nicht nur eine seelische Täuschung? Oh Madonna, hilf dem armen Hinkepeter auf den richtigen Weg.

Tobias Erler unterwarf sich. Seine Umkehr kam aus aufrichtigem Herzen. Lieber opferte er sein Leben als das seines Vaters. Lieber weinte und verzweifelte er, als daß Carla und Elisabeth weinten und verzweifelten. Wie in einem gräßlichen Traum durchlebte er die Wochen, ehe vom Bischof die Antwort kam und die Aufnahme in ein Priesterhaus in Westfalen vermittelte. Tobias begann in verzweifelter Einsamkeit mit sich selbst zu sprechen, vernachlässigte sein Äußeres und taumelte halb irrsinnig durch die Straßen Berlins. Manchmal fuhr er erschreckt zusammen, wenn ihm die Leute allzu mitleidig oder lächelnd betrachteten. Er sah am hellen Tage Gespenster und wußte nicht, daß er ja selbst wie ein Gespenst aussah.

Im Sommer war er aus seiner kleinen Stadt geflohen. Die Ernte stand auf den Feldern, und nun war es Herbst. Nun war er in Berlin. Berlin, was war die Ernte in Berlin? Unterwerfung, Umkehr, halbe Gefangenschaft in einem alten Kloster, wo verschiedene gescheiterte Pfarrer untergebracht wurden und unter der strengen Aufsicht von drei Franziskanern lebten. Ja, aber der Vater war nicht gestorben. Carla und Elisabeth lebten wie Schwestern zusammen.

Tobias Erler reiste nach Westfalen, wurde von den Franziskanern wie ein kranker Mensch empfangen und in eine winzige Zelle gebracht, die ihn wie ein Grabgewölbe bedrückte. Er hatte das Gefühl, als müsse er zwischen den steinernen Wänden ersticken. Durch Gebet und Askese versuchte er, Seelenfrieden zu finden, erlebte auch Augenblicke, in denen er die Engel singen hörte, wie man so schön sagt, aber noch öfters hörte er die Teufel lachen.

Mit den anderen Geistlichen kam er fast gar nicht zusammen. Einige von ihnen waren gänzlich verfallen und stumm wie die Gräber. Sie schlichen geduckt durch die hohen, kühlen Gänge und waren nur noch kummervolle Schattenspiele an der getünchten Wand eines abgeschlossenen Daseins. Ein Pfarrer war dabei, der nachts gellend schrie und mit entsetzlicher Stimme seine Zelle beinahe sprengte. Ein anderer Mann betete ununterbrochen Tag und Nacht. Sie durften sich nicht verständigen und aussprechen, nur einige Minuten am Tage konnten sie miteinander reden. Die ganze Korrespondenz wurde kontrolliert. Menschen im Grab, noch leben sie, noch atmen sie, aber die Tür ist hinter ihnen zugeschlagen, und es scheint keine Rettung mehr zu sein.

Über drei Monate verbrachte Erler in jenem Kloster, über drei Monate rang er mit Gott um Wahrheit und Klarheit. Drei schwere Monate voller Gebet und Ergebung, drei Monate, die wie ein Ende schienen und doch nur Anfang waren zu neuer Heimsuchung. Wieder überfiel ihn die Krankheit. Über ein halbes Jahr litt er unter den Operationsmessern und Gipsverbänden der Ärzte. Wieder flammte ein Sommer über der Welt. In diesem Sommer konnte er nicht fliehen wie damals nach Berlin. In diesem Sommer machte er wie ein kleines Kind die ersten Gehversuche.

Er hatte sich in sein Schicksal ergeben. Sein Brief an Elisabeth war ein einziger Klagegesang. Nein, er hatte sich jetzt entschieden, Gott möge ihm verzeihen, wie sie ihm verzeihen möge. Er schrieb einen Brief an Carla »Liebe Schwester,« schrieb er, »ich bin ein unglücklicher Mensch, tröste Elisabeth.« An den Vater schrieb er einen Brief. »Lieber Vater, ick bin glücklich und habe den Weg zu Gott wiedergefunden.« Was sollte er tun? Krank und elend, wie er war, schien es ausgeschlossen, in den nächsten Jahren überhaupt eine neue Pfarrstelle zu bekommen. Und wer garantierte seinem Bischof, ob nicht eine neue Helene oder eine neue Elisabeth in sein Leben eingreife? Er bat demütig um Pensionierung und wurde abgewiesen. Nein, keine Pensionierung. Wir halten dich fest, kleiner Pfarrer, wir müssen ein Exempel statuieren. Nein, Herr Doktor, Sie werden nicht pensioniert, höhnte die Antwort.

Von Westfalen aus übersiedelte Tobias im Herbst in ein altes Kloster nach Köln, in dem kranke und gebrochene Menschen die Jahre verbrachten. Da stand nun der himmelaufstrebende und gewaltige Dom über den Straßenfluchten der römischen Innenstadt und über den vielen Kirchen und Kapellen. Der Rhein verströmte sich nach dem nahen Meer. Die Industrie legte ihren rußenden und eisernen Gürtel um das Land, und neben den Fabriken drohten die grünen Forts der Festung. Truppenübungsplätze waren angelegt, die kalten Schachbretter, auf denen das Spiel von Krieg und Sieg ausprobiert wurde. Unten am Strom klirrten die langgestreckten Hafenanlagen mit der lautlosen Musik des Handels. Auch das war Köln und in den Vorstädten die geschichtslosen Straßen, in denen die Arbeiter wohnten.

Was wußte Erler von jener Stadt! Was wußte er überhaupt von der Welt! Ein Narr war er, ein Träumer, ein Rebell und ein Sklave: ein armer Mensch, mit dem das Schicksal spielte.

Im nächsten Frühjahr starb sein Vater. Tobias erfuhr erst davon, als alles vorüber war und der alte Mann in der Erde neben der Mutter lag. »Lieber, lieber Bruder,« hatte Carla geschrieben, »der Vater ist tot und wir gehen nach Berlin. Lisabeth bleibt bei mir. In letzter Zeit hat Vater immer nur von dir gesprochen, Tobias, und er weiß, daß du glücklich bist im Frieden des Herrn. Er war eigentlich nicht krank, der Vater, und verlöschte still wie eine Kerze in der Nacht, Tobias. Nein, wir sollten dir erst schreiben, wenn alles vorüber war. Nun haben wir ihn begraben und sind frei. Die Tränen sind getrocknet, Tobias, nur Lisabeth weint noch um dich. Vom ganzen Herzen beten wir für dich, Bruder, und der Herr wird uns verzeihen und alle Sünden vergeben.«

Dieser Brief peitschte ihn auf und geißelte sein Herz. Er setzte sich hin und schrieb einen großen Brief an die verlassene Freundin, aber der Brief erreichte sie niemals; Er kam zu den Akten, und der Bischof las ihn mit gerunzeltem Gesicht. Als Tobias keine Antwort bekam, ergab er sich und rüttelte nicht mehr an den Ketten. Er betete viel und legte sich strenge Bußübungen auf.

Das Jahr drehte sich vorüber und versprühte. Für Tobias Erler aber sprühte das Jahr nicht, Für ihn war es wie ein großer, grauer Ball, der langsam über die Erde rollt und das Leben erdrückt. Er wurde menschenscheu und vergrub sich in der Einsamkeit. Kurz vor Weihnachten versuchte er noch einmal, seine Pensionierung durchzusetzen, lebte drei Wochen in gesteigerter Hoffnung, aber der Bischof lehnte seinen Antrag ab.

Tobias ertrug auch diesen Schlag, wie er schon viele Schläge ertragen hatte. Er beugte sich in den Staub und stand auf, wenn seine Gedanken in der Vergangenheit spielten, nur in der Vergangenheit, in der Erinnerung an Helene und Elisabeth, in der Erinnerung an Ulitsch, Carla und Bergmann. Jetzt war er endlich ein Mensch ohne Hoffnung und Zukunft.

Die Jahre vergingen.

Carla und Elisabeth lebten in Berlin und hatten sich im Westen der Stadt ein kleines Blumengeschäft eingerichtet. Sie versorgten die Lebenden und die Toten mit ihren Blumen. Ein großer Friedhof lag in der Nähe, und bald verwandelte sich ganz Europa in einen einzigen Friedhof. Der Weltkrieg flammte auf.

Mitten im Sommer brach der Krieg los, und die feurige Sonne schien in alle Völker und in alle Hirne Wahnsinn geschickt zu haben. Die ersten Schüsse auf dem Balkan weckten ein millionenfaches, brüllendes Stahlungewitter im Westen, Osten und Süden. Deutschland erklärte an Frankreich den Krieg und stand bald vor einer Mauer englischer, belgischer, russischer Soldaten. Tragödien des Abschieds, weinende Frauen und Mädchen, berauschte Kolonnen, flatternde Fahnen. Dann Blut und Tränen. Die taumelnden und trunkenen Städte, Triumphzüge, dröhnende Glocken, gespenstige Lügen, Blutgier und Begeisterung: Tag und Nacht orgelte in jener Zeit das ungeheuerliche Gefühl der Todbereitschaft in den Herzen der Männer. Aber auch Frauen, Mädchen und Kinder waren von dem Wahnsinn erfaßt, der das Sterben verachtete und an das ewige Leben glaubte.

Die jungen Regimenter marschierten auch durch Köln. Sie marschierten singend und mit Blumen geschmückt in das Feld, Sie marschierten auch an Tobias Erler vorbei, einem armen Krüppel, den die neue Operation an einen Krankenwagen gefesselt hatte. Und als Tobias die Regimenter marschieren sah und das harte Schreiten der starken Füße hörte, den stampfenden Takt einer neuen Zeit, wie er glaubte, da verfluchte er sein Krüppeldasein. Das wilde Räuberblut des Mannes schäumte in ihm auf, der brüllende Wunsch nach Sturm und Vernichtung. Viele Glocken läuteten. Ein Fahnenwald rauschte durch die Stadt und spiegelte sich auch im Rhein, der in seinen Wirbeln immer noch das gletschergrüne Leuchten seiner Quelle zeigte. Erler ließ sich traurig durch die Stadt fahren, die heiß und wild und so voller Leben war, daß sie nach der Schlacht aufheulte.

Auch in Berlin sahen Carla und Elisabeth die Soldaten marschieren. Blumen blühten aus den blanken Gewehrläufen. Der Kaiser hatte gesprochen: es gibt keine Parteien mehr, nur noch Deutsche. Die Geschütze sprachen schon in Belgien. Lüttich war gefallen. Namur brannte. Löwen brannte. Ostpreußen brannte. In den Vogesen ging eine schwere Schlacht. In Belgien wurden Franktireurs erschossen. Der Vormarsch der Soldaten überschwemmte schöne Landschaft.

Die Stuttgarter Regimenter standen schon im Feuer. Reservisten und Rekruten überfüllten die alten Kasernen. Der Leutnant Weinmeister aus Eßlingen ging mit einer Kompanie junger Pioniere nach dem Westen. Aufsässige Redakteure von der Arbeiterzeitung wurden verwarnt. Keine Parteien mehr, nur noch Deutsche. Nur noch Kanonenfutter. Nur noch Schlachtvieh. Entsetzlich krachte die eiserne Maschine des großen Krieges.

Bergmann wurde vom Krieg in der Schweiz überrascht und wollte nicht nach Deutschland. Wie eine kühle Gletscherinsel inmitten einer brennenden Welt war die Schweiz. Eine versprengte Schar junger und alter Rebellen sammelte sich in Zürich, Genf und Bern, eine internationale Sturmkompanie der Idee. Franzosen verbrüderten sich mit Deutschen. Russen mit Österreichern. Manifeste wurden über die Grenzen geschmuggelt, pathetische Aufrufe für den Frieden, die ungehört verhallten im Konzert grauenvoller Schlachten.

Der Sommer verging. Die Fahnen flatterten nicht mehr so sausend im Wind. Die Lieder klangen gedämpft oder waren gestorben wie die jungen Sturmregimenter in Flandern. Tod und Verderben – Tod und Verderben waren Alltag geworden. Das Einzelschicksal interessierte nicht mehr. An den Fronten wurden wieder Gefangene gemacht und nicht mehr erschossen wie im Rausch der ersten Wochen. Verwundete kamen zurück. In ihren Gesichtern konnte man wie in offenen Spiegeln die Wahrheit über Sieg und Krieg sehen. In den Kirchen und Kapellen wurde um den Sieg gebetet. Für die Toten las man viele Messen.

Krieg und Sieg. Der Winter kam, der erste Winter im Feld. Die Fronten hatten sich in die Erde verbissen und sprangen sich krachend mit Masdünengewehren, Haubitzen, Minen und Handgranaten an. Im Osten wechselte Vormarsch mit Rückzug. Und überall strömte das Blut, im Sieg und in der Niederlage. Das Volk sehnte den Frieden herbei. Aber nur die Toten hatten den Frieden. Die Massengräber wuchsen. Fliegergeschwader stießen aus dem Himmel und ließen Bomben regnen. Der Frühling kam und brachte neue Siege, die keine Siege waren, weil sie bis zu den Hüften im Blute wateten.

Nur dunkel und verworren donnerte der Krieg an die Pforten des Klosters, in dem Tobias Erler wie ein Gefangener lebte. Manchmal krachten die Geschütze der Festung Köln nach den unsichtbaren französischen Fliegern auf. In einer stillen Nacht hörte auch Tobias das feine, stählerne Surren ferner Äroplane und dazwischen die dumpfen Explosionen suchender Granaten. Krieg und Sieg? Der einsame Mensch verfluchte nicht mehr sein Krüppeldasein. Wohl konnte er wieder gehen und ohne Wagen leben, sein Blut war kein Räuberblut mehr, sein kleines Schicksal unwichtig, und die schweren Kämpfe ... Hatte er jemals gekämpft und sich die Kehle heiser geschrien nach Frieden und Erlösung? Hatte er nicht die Hände gerungen wie ein schlechter Schauspieler, der zum erstenmal auf der grellerleuchteten Bühne steht und vor dem verdunkelten Parkett Angst fühlt und dem Ende zufiebert? Lächerlich und anmaßend kam er sich nun vor und mußte an die anderen gerungenen Hände denken, an die Hände der Soldaten im Feld, die sich um die Gewehre oder Handgranaten klammerten oder tot und verdorrt aus den Gräbern wuchsen.

Krieg und Sieg?

Der Sommer verging. Es wurde Herbst in der Welt. Viele Verwundete kamen müde und zerschossen in die Heimat zurück:. Als die Kölner Lazarette überfüllt waren, wurden zehn Mann in das Kloster gelegt. Diese verfallenen Männer, aus deren Gesichtern immer noch die verschleierte Furcht vor dem Tode blickte, kamen aus den Argonnen und konnten in der ersten Zeit kaum die Stille des alten Gebäudes ertragen. Manchmal fuhren sie nachts schreiend aus Schlaf und Traum, schlugen mit den Händen um sich und erlebten immer wieder eine Schlacht.

Tobias war nicht mehr einsam. Endlich, endlich fand er Ziel und Aufgabe. Er durfte die Verwundeten besuchen und den Pflegern behilflich sein. Menschendienst war Gottesdienst. Er wurde erst jetzt ein Seelensorger. Die Soldaten liebten ihn. Er beschäftigte sich nun durchaus nicht nur mit der Seele. In sein Herz kam Haß gegen den Krieg und auch Haß gegen Gott, der gelassen über den Fronten thronte und nach dem vergeblich der Schrei gequälter Menschheit aufbrüllte. Ja, er haßte Gott, zu dem alle sich zerfleischenden Völker um Sieg flehten und in dessen Namen die Geschütze und Soldaten gesegnet wurden.

In jener Zeit, als die Soldaten aus den Argonnen im Kloster lagen, schrieb er ein

Herbstgedicht

Nun die Blätter fallen von den müden Bäumen
Und die Menschen nur vom Frieden träumen,
Frieden, Heimkehr, Licht und Segen,
Und die Hände zum Gebet zusammenlegen,
Schrei ich auf: Warum das große Sterben,
Fiebern, Rasen, Blut und Verderben?
Antwort! (Ach, die Antwort tröstet Kinder!)
»Dieser Krieg ist Strafe für die Sünder!«
Sünde? Nein, das will ich nicht mehr hören,
Nein, ich laß mich nimmermehr betören,
Denn die größten Sünder, Volksvergifter,
Lügner, Wölfe, Kriegsanstifter
Sammeln Reichtum straflos an und lachen
Über die Zerquälten und die Schwachen.
Wenn die Wölfe sich vor ihrem Tod bekehren,
Mußt du ihnen Himmelreich gewähren,
Paradies und alle Engelsgaben,
Auch wenn sie das arme Volk gefressen haben.
Und es bleiben ungesühnt die großen Schmerzen,
Alle Tränen um gebrochne Herzen ...
Großer Gott, man nennt dich den Gerechten,
Gib ein Zeichen deinen dir ergebenen Knechten!
Aber aus den blauen Himmelshallen
Hört man keine Antwort schallen!
Nur ein Wetter wittert in der Ferne,
Wo man lästernd schießt in schöne Sterne!
Dann ein Ton, im Blutgebrüll verloren:
»öffnet, Menschen, eure Ohren!
Durch des Krieges Wahnsinn soll auf Erden
Meine Menschheit besser werden!
Dieser Weltkampf sei der allerletzte,
Hört es, Tränenvolle und Zerfetzte!
Doch ihr müßt bis an das Ende gehen,
Um in Glorie einst auferstehen,
Alle, alle seid ihr meine Kinder,
Der gerechte Mensch und auch der Sünder ...«
– Herr, ich bin ein Mensch und voller Schwäche,
Doch erlaube, daß ich widerspreche:
Bei dem Blutkampf bis aufs Messer
Wird kein Mensch auf Erden besser!
Eine Bombe, die in deinem Namen ist gesegnet,
Doch nur Tod und keine Gnade regnet,
Deine Glocken, deine Priester, deine heiligen Messen
Werden angehört und rasch vergessen,
Wenn mit feuerheißem Rachen, Qualm und Blitzen
Donnernd sprechen die Haubitzen.
Viele Priester, viele Meßgewänder,
Viel Gebet und viele Vaterländer!
Deutsche, Russen, Engländer, Franzosen,
In die Höllenschlacht hineingestoßen,
Alle beten flehend auf zu dir mit blutigen Armen,
Daß du ihrem Land dich neigest voll Erbarmen!
... Wenn du bist im Lobgesang der Sterne,
Steige nieder aus der wüsten Ferne,
Stell dich in des Krieges abgrundtiefe Pfütze,
Heiße Schweigen allem Mordgeschütze,
Jedem Volke sei das Lebensglück beschieden:
Frieden! Frieden! Nichts als Frieden!

Tobias schrieb auch noch andere Verse, und immer waren sie ihm Erlösung und großer Trost. Ihm war, als sei er kein Knecht mehr, kein verstummter Mund, kein gefangener Mensch. Ihm war es manchmal, als könne er sich durch seine Gedichte von der Mitschuld am Kriege befreien. Er beschäftigte sich auch manchmal damit, die Ursache und Blutquelle des Schlachtenwahnsinns zu suchen. Er las nationalökonomische Bücher und wurde nicht glücklich dadurch. Er dachte auch viel an Hans Bergmann.

Einmal bekam er ein Flugblatt gegen den Krieg in die Hand. Er verstand die glühende Sprache dieses Manifestes nicht, aber er fühlte doch eine heftige Glut durch die pathetischen Sätze sausen. Er ahnte dumpf, daß dieser Krieg nicht mit einem Schlag und mit dem letzten Minenschuß aufhören würde, er ahnte, daß das Gleichgewicht der alten Welt für lange Jahre erschüttert sei und eine neue Zeit sich vorbereite.

Unter den neuen Verwundeten, mit denen ein Teil des Klosters belegt wurde, die ersten Soldaten waren schon wieder an der Front und in der Knochenmühle, war auch der Landwehrmann Schubert aus Berlin, der bei Verdun seinen Heimatschuß verpaßt hatte. Schubert, ja, Schubert lebte noch, der Mann aus der Weinstraße, für dessen Frau sich der Herr Leisewitz so sehr interessierte, Schubert, der kranke Prolet, der Gärtner, der Portier, der Fabrikarbeiter, der Soldat. Fünfzehn Jahre, eine unwahrscheinlich lange Zeit, waren vergangen, und nun lag er in einem stillen Kloster mit zerschossenem Fuß in einem kühlen Bett. Er sah wie ein Urmensch aus, verwildert, und in seinen Augen waren die zuckenden Schatten eines Höhlenbewohners. Der Schuß war gut verheilt, aber so glücklich empfangen, daß eine weitere Betätigung an der Front nicht mehr in Frage kam.

Die Welt brauste und donnerte fern, die Welt des Todes und der Vernichtung. Für ihn war der Frieden gekommen. Jetzt lag er wie in einem Meer atemloser Stille. Er war auch ein wenig stolz auf seine Wunde, konnte sich schon allein im Bett aufrichten und an die Zukunft denken. Als Tobias die neuen Verwundeten besuchte, sie kamen halbgeheilt aus einem Feldlazarett, stieß er auf Schubert und wurde von ihm nicht mehr erkannt. Auch Tobias erinnerte sich nur dunkel, aber der Name machte halbvergessene Dinge lebendig.

»Schubert?« sagte Tobias und trat an das Bett, »Schubert? Ist das der Schubert aus Berlin?« Der Verwundete sah auf und er schien aus einem tiefen Abgrund aufzublicken. Dann lächelte er schwach und erkennend.

»Der Herr Doktor Erler!« sagte er und streckte seine Hand aus.

»Schon lange keine Doktor mehr, schon lange. Verwundet wie Sie, Schubert, auf dem Schlachtfeld des Lebens ... Ach Unsinn, Schlachtfeld des Lebens! Sie kommen aus der Hölle von Verdun?«

»Ja, von der Höhe 304. Vom Toten Mann. Und vorher lagen wir in den Argonnen. Am Amselgehölz.«

»Entsetzlich, dieser Krieg! Was müssen Sie erlebt haben ... Vor drei Wochen waren junge Soldaten bei uns, Grenadiere. Einer von ihnen, er hieß Gerlach, kam auch aus den Argonnen. Er hat mir grausige Geschichten erzählt. Auch vom Amselgehölz. Was ist das für ein Wald, das Amselgehölz?« fragte Tobias.

»Das Amselgehölz kenne ich gut,« antwortete Schubert, »über ein halbes Jahr, den ganzen Winter lagen wir dort in Sturm und Regen. In einer Frühlingsnacht wurden wir von Grenadieren abgelöst. Die Tornister wurden gepackt, die Mäntel gerollt, dann marschierten wir los. Endlich heraus aus dem Dreck, um nach vier Wochen bei Verdun zu bluten.«

»Von der Ablösung hat mir auch Gerlach erzählt. Kennen Sie Gerlach? Nun, ein Soldat wie viele Tausend andere junge Soldaten, zwanzig Jahre alt, vielleicht auch fünfundzwanzig Jahre, ich weiß es nicht, er erzählte mir, daß die Franzmänner das Amselgehölz später in die Luft gesprengt haben.«

»Ja, in die Luft gesprengt, ich weiß das. Es war eine sehr schöne Himmelfahrt!« antwortete Schubert.

»Der Kampf um den kleinen Wald, wie ihn Gerlach schilderte, war eine Tragödie,« fuhr Tobias fort, »da waren nämlich zwei Freunde, der Gerlach und der Sommerschuh, die den Krieg nicht liebten und quer durch Europa nach allen Schlachtfeldern fuhren. Vor dem Tod hatten sie keine Angst. Sie liebten das Leben. In jener Nacht der Ablösung wurde übrigens auf sie geschossen.«

»Fast in jede Ablösung wird geschossen,« sagte Schubert und erklärte, »das ist nämlich so, man weiß nicht, was im anderen Graben los ist, vielleicht Vorbereitung zum Angriff, aber vielleicht ist es auch nur die Sehnsucht nach Frieden und Heimkehr, die den Finger krümmt und die Schüsse auslöst. Wir haben auch immer geschossen, wenn die Franzmänner die Stellung wechselten.«

»An den folgenden Tagen wurde sehr wenig geschossen, erzählte mir Gerlach,« sagte Tobias, »und ick kenne die Stellung aus seinen Berichten sehr gut. Zuerst kam zerfetzter Wald, dann eine kleine Wiese und hinter der Wiese, vollkommen unversehrt, ein kleines Wäldchen, das Amselgehölz. Nachts prasselte tief im Wald das Feuer großer Gefechte. Es regnete nicht mehr. Schöne Tage kamen. Frühlingstage.

Sie lagen vielleicht vier Wochen im Wald, da wurde Gerlach mit Sommerschuh auf eine Nachtpatrouille geschickt. Der Unteroffizier Klemm ging mit. Klemm war ein junger Lehrer aus Berlin. Die Nacht war mondhell, erzählte Gerlach, und als sie auf die freie Wiese kamen, warfen sie sich ins Gras. Große Stille. Kein Laut war zu hören. ›Die große Stille zwischen zwei Feuerüberfällen war da, das gewaltige Nichts, in dem man die Musik der Sterne zu hören glaubt‹ sagte wörtlich Gerlach.«

»Die Musik der Sterne!« wiederholte Tobias nachdenklich. »Sonderbar,« fuhr er fort, als müsse er Schubert ein Geheimnis anvertrauen, »sonderbar, drei Soldaten gehen auf Patrouille und glauben die Musik der Sterne zu hören.«

Schubert lächelte, als hätte er auf seinen Patrouillen ganz andere Dinge gehört. Er starrte den Erzähler an, der sich aus den Worten eines anderen ein Bild vom Kriege zurechtmachte.

»Auf jener Wiese unter Blumen und Gräsern lagen nun die drei, Schubert«, erzählte Tobias weiter. »Da lagen sie, und aus dem Amselgehölz kamen zwei Schatten und schoben sich auf der Wiese langsam vorwärts. Das waren zwei Franzmänner. Einmal hob einer von ihnen fragend und suchend den Kopf, hat mir Gerlach erzählt, und man sah ein schönes, knabenhaftes Gesicht unter dem im Mondlicht schimmernden Stahlhelm. Das Gesicht gehörte Claude Benoit, einem jungen Gymnasiasten aus Paris, der sich freiwillig an die Front gemeldet hatte. Der zweite Mann war ein Fabrikarbeiter aus Lille und hieß Pierre Morriot. Das hat Sommerschuh später erfahren.

Als sie auf der Wiese lagen und die fremde Patrouille sahen, erzählte mir Gerlach, waren sie sehr erschrocken. Sommerschuh bewegte sich, Klemm sagte: ›Mensch, so sei doch still, ganz still sein,‹ flüsterte er, ›oder willst du vielleicht eine blaue Bohne im Bauch haben?‹ Dann war alles still, und sie vergaßen den Krieg und ihren Auftrag, der Frieden der Nacht erfüllte sie ganz.

Die Franzosen kamen näher.

Sie waren ungefähr noch zwanzig Meter von unseren Soldaten entfernt, und wenn es nach dem Hauptmann Neukrantz gegangen wäre, erzählte Gerlach, dann hätten jetzt einige Schüsse gekracht. Aber es ging nicht nach dem Hauptmann Neukrantz. Claude richtete sich hoch, aber er sah unsere Leute nicht, Schubert. Der Mond schüttete sein Licht wie eine Tarnkappe auf sie. Dann wurde Morriot unruhig, erzählte Gerlach, und zog seinen Kameraden ins Gras. Man hörte ein leises, leises Flüstern, die Franzmänner gingen ins Amselgehölz zurück. Sie blieben noch einige Minuten liegen, Schubert, unsere Leute, und bewegten sich dann auch nach dem Gehölz. Die Franzosen waren verschwunden. Klemm fand einen verlassenen Posten und zeichnete ihn auf der Karte ein. Dann der Rückzug über die freie Wiese. Endlich standen sie in dem zerschossenen Wald.

»In dem Wald sahen wir durch die zerfetzten Kronen den Mond treiben, fern und kühl und bleich, eine unbegreifliche und vollkommen andere Welt mit riesigen Kratern, schroffen Gebirgen und absonderlichen Schluchten', erzählte mir wörtlich Gerlach, und dabei machte er ein Gesicht, als sähe er in jenem Augenblick noch einmal diesen geisterhaften und sonderbaren Mond über dem Schlachtfeld.«

Tobias schwieg.

»So ist es, Herr Doktor,« begann nun Schubert, »wir Soldaten aus der Front kennen alle das unheimliche Gefühl zwischen den Gräbern im Niemandsland. Man fühlt sich so elend und so einsam, beinahe wie aussätzig, und wenn der Mond über den toten Wäldern schwimmt, möchte man heulen ... Man ist ausgeschlossen von jeder Gemeinschaft, und wenn diese Gemeinschaft auch nur eine Postenkette in der Nacht ist. Ein verdammtes Gefühl, ich kenne es gut!«

»Der Klemm hat sich dann bei dem Hauptmann Neukrantz gemeldet und kein Wort von den zwei Franzosen gesagt. Was sollte er auch davon erzählen! Auch ich hätte geschwiegen, Schubert, auch ich. Er gab dem Hauptmann die Karte, in welcher der verlassene Posten eingezeichnet war und bekam eine Handvoll Zigaretten dafür. In den folgenden Nächten, erzählte Gerlach, gingen noch viele Patrouillen von beiden Seiten vor die Gräben. Es wurde auch geschossen. Von beiden Seiten. Einmal wurde ein Grenadier tot zurückgebracht. Mit dem Frieden war es aus. An einem Tage hatte Gerlachs Kompanie sieben Tote! An einem anderen Tag setzte sich eine französische Mine vor den Unterstand des Hauptmanns. Auf der anderen Seite fiel Pierre Morriot durch Herzschuß, hat Gerlach erzählt, und der Claude Benoit hat zum erstenmal in der Front geweint. ›Er war ja noch ein Kind,‹ sagte Gerlach, der ja auch noch ein Kind war, ›und wir haben es aus einem Brief gesehen, den wir gefunden hatten, als alles vorbei war.‹ Alles vorbei ... Alles war nur ein Anfang! Ja, und in den ersten Junitagen begann der Kampf um das Amselgehölz.«

Schubert hatte sich im Bett aufgerichtet. Er stöhnte und ächzte. Tobias unterbrach seine Erzählung.

»Anfang Juni begann der Kampf um das Amselgehölz,« sagte Schubert langsam und stöhnte nicht mehr, »am fünften Juni in der dritten Morgenstunde schossen sich die Geschütze ein. Wir lagen nämlich in Sturmreserve, Herr Doktor. Vier Stunden lang trommelte das Feuer zum Franzmann hinüber, und ich habe Sie erzählen lassen, weil ich die Vorgeschichte kennenlernen wollte. O ja, ich habe den Claude Benoit auch gesehen! Und den Klemm und den Sommerschuh ... Vier Stunden lang trommelten die Granaten, verschütteten die Stollen und Unterstände und streiften und knickten auch das Amselgehölz. Als die Kanonade begann, flohen die Vögel in schwarzen und schreienden Schwärmen. Auch der Franzmann eröffnete das Feuer. Seine Granaten heulten und winselten. Dann kamen die Flieger. Wie blitzschnelle Raubvögel stießen sie hernieder und ließen Bomben regnen. Fünf Flugzeuge wurden abgeschossen, deutsche und französische. Und wir lagen und lagen, und warteten und warteten. Worauf haben wir gewartet? Das weiß ich nicht. Auf alles, aber nicht auf den Tod, das weiß ich genau.

Die Kompanie mit Klemm, Sommerschuh und Gerlach wurde dann, als das Trommelfeuer aufhörte und das Sperrfeuer einsetzte, als Flankenstoß gegen das Amselgehölz geworfen. Das sollte, um unsere Linien zu verbessern, genommen werden. Klemm stürzte mit seinen Leuten aus dem Wald, wir sahen das aus unserer Stellung, und im selben Augenblick brach in dem kleinen Gehölz die erste Mine auf. Der Wald verwandelte sich in einen Krater. Ganze Bäume flogen in die Luft, Büsche, Sträucher, Wolken von Rauch und Feuer: so kann man sich die Hölle vorstellen.

›Los! Los! Los!‹ brüllte Klemm, das hörten wir nicht, aber der Sommerschuh hat es mir später erzählt, ›lauft was ihr laufen könnt, wenn wir erst über die Wiese sind, dann wird's besser!‹ Die Granaten heulten, die Soldaten stürmten, und als wie mit einem Schlag eine sekundenlange Stille einsetzte, da konnte Klemm nicht mehr schreien. Da war er tot. Im letzten Sprung auf der Wiese hatte ihm eine Granate den Kopf weggerissen.«

Schubert schwieg. Tobias schwieg. In der Stadt begannen die Glocken zu läuten. Ein neuer Sieg wurde verkündet.

»In der Front läuten keine Glocken«, sagte Schubert voller Hohn.

Tobias lächelte schmerzlich.

»Der Kampf ging weiter«, begann Schubert von neuem zu erzählen. »Wir hängten das Sturmgepäck um, in drei Minuten sollten wir eingesetzt werden. Die Grenadiere stürmten weiter, Sommerschuh und Gerlack stürmten weiter, sie sahen und wußten nicht, daß Klemm tot war. Sie wußten ja selbst nicht, was sie taten. Sie liefen wie unter fremden Willen. Sie liefen um ihr Leben. Als sie das Amselgehölz erreichten, begann die große Sprengung, die Himmelfahrt, wie wir es nennen.

Die Franzosen hatten das Amselgehölz unterminiert und sprengten es in die Luft, als die Grenadiere die Wiese überquerten. Ein schauriger Anblick! Aufkrachte der Wald, die Bäume, die kleinen Hügel, die grünen Büsche und auch die Quellen. Eine ungeheuerliche Wolke voller Qualm und Feuer und Donner, entwurzelte Bäume taumelten und krachten, rieselnde Wolken schwarzer und gelber Erde, Felsblöcke: ein Massengebrüll der Vernichtung begann, ein teuflisches Konzert des Todes ... Dann stürmten wir und wurden zurückgeschlagen, denn im selben Augenblick setzten die Franzosen mit dem Gegenstoß ein. Auch der junge Claude stürmte vor und als er auf der kleinen Wiese stand, die immer noch grünte und blühte, als sei nichts geschehen, wurde er von einem Maschinengewehr zusammengeschossen. Er warf die Arme weit auseinander und stürzte hin. Über eine Stunde krachten noch die Geschütze, dann wurde es ruhiger. Wir suchten das Schlachtfeld ab. Von beiden Seiten kamen Sanitätspatrouillen. Kein Schuß fiel. Auch ich ging mit vor. Auf der Wiese lagen zwei Tote übereinander. Ein Franzose und ein Deutscher. Der Schüler Claude Benoit aus Paris und der Lehrer Klemm aus Berlin.«

»Ja, dieses Gefecht hat mir auch Gerlach geschildert«, sagte Tobias. »Er stand mitten in der Sprengung und war von Sommerschuh getrennt, als ihn ein Streifschuß in einen Granattrichter warf. Er fiel in Ohnmacht, und als er wieder zu sich kam, da suchten die Sanitäter die Toten und Verwundeten zusammen. Auch Sommerschuh hatte sich freiwillig gemeldet, Schubert, und er fand den Gerlach und schleppte ihn zurück und ist in den nächsten Tagen selber verwundet worden... Das Amselgehölz,« fragte er und berührte den Arm des Verwundeten, »das Amselgehölz, was wurde aus dem Amselgehölz?«

»Nichts. Ein Dreck und ein Schlachtfeld, ein blutiger Dreck wie der ganze Argonnerwald,« antwortete Schubert, »ein Dreck und eine Schlammgrube, wie jetzt die Wälder um Verdun.«

Immer noch läuteten die Glocken einen großen Sieg ein. Aber auch in Paris und Moskau begann das schwingende Geläut. Überall läuteten die Glocken große Siege ein, aber die Toten in den Schlachtfeldern wurden auch davon nicht lebendig. Sie verwesten in den Drahtverhauen oder in den Massengräbern und ihre beinernen Schädel grinsten in die Gottesdienste in Paris, Berlin, London, Rom und Moskau.

Noch oft saß Tobias bei dem genesenden Schubert, und die beiden Männer besprachen die Zeit. Der Soldat war nicht mehr der verwilderte Höhlenmensch und Waldbewohner, und einmal sagte er:

»Wir waren Arbeiter an den Maschinen und liebten den Frieden. Jetzt hat man uns aus der Arbeit gerissen und den Krieg gezeigt. Wir haben schießen gelernt, das sollten die Herren bedenken. Die Welt hat sich gedreht, und wir lassen uns nicht wieder in das Elend zurückschmeißen.«

Als Schubert entlassen wurde, gab ihm Tobias für Frau und Kind kleine Geschenke mit. Keine letzten Worte mit gemachter Wehmut, nein, die zwei Männer sprachen hart und sachlich, und erst als der Soldat heimgefahren war, überkam die alte Verzweiflung das Herz des Zurückgebliebenen. Er schrieb neue Verse, konnte viel besser über den Krieg fluchen als beten, wurde am Ende schwermütig und dachte nur an sich und sein kleines Leid. Er vergaß den Krieg, schrieb auch keine Briefe mehr an Carla und Elisabeth und war selbst wie gestorben. In das Kloster kamen auch keine Verwundeten mehr.

Der Krieg ging weiter. Er warf nun andere Schatten in das Leben des Tobias Erler, Schatten der Sorge, Schatten der Not. Immer noch wurde er wie ein Gefangener gehalten. Das Pensionsgeld für ihn kam direkt an die Verwaltung, als sei er entmündigt. Nur über ein kleines Taschengeld konnte er verfügen. Das Essen wurde immer schmäler. Manchmal spielte er mit dem Gedanken an Selbstmord. Er konnte sich auch keine neuen Bücher kaufen und hatte, was ihn am meisten quälte, keinen Freund, mit dem er sich aussprechen konnte. Seine Briefe standen unter Zensur und da schwieg er lieber, als kalten Spitzelaugen sein Herz zu zeigen. Er war im Grunde ein geselliger Mensch, ihn graute vor der Einsamkeit. In anderer Umgebung und im anderen Beruf wäre er vielleicht ein problematischer, aber doch ein wertvoller Mann gewesen.

In jenen Tagen, als er ganz elend war, erschoß sich im Kloster ein früherer Staatsanwalt, der hier Frieden und Heilung suchte. Er fand keinen Frieden und keine Heilung, er jagte sich eine Kugel durch den Kopf und lebte noch zwei lange, schwere Tage. Tobias besuchte ihn und der Sterbende gab ihm neue Kraft. Ein Ende machen? Ja, vielleicht ein Ende machen, aber ein Ende ohne Qual und ohne Kunstfehler. Er fand einige Verse von Schiller und machte sie auf seine Art zurecht. Er notierte sich: »Wir achten einen freien, mutigen Tod Anständiger als ein erbärmlich Leben.« Aber bis zum freien Tod war noch lange Zeit. Er lebte sein Leben weiter, las oft in dem italienischen Reisebuch wie in einem Brevier, schrieb neue Verse an Helene und niemals ein Gedicht an Elisabeth. Dann beschäftigten ihn plötzlich die vielen Kinder sehr, die in den Anlagen vor dem Kloster spielten. Stundenlang konnte er von einem versteckten Fenster aus ihr Spiel betrachten und entdeckte in den kleinen Menschen die Unterschiede der Temperamente. Auch in den Kindern fand er schon Leidenschaften, Vorurteile und die Himmelsleiter der Gefühle vom Haß bis zur Liebe und Freundschaft. Er sah arme Kinder und reiche Kinder wie Licht und Schatten. Brudergefühl für die Armut erfüllte seine Brust. Reichtum aber verbitterte ihn.

Viele Jahre waren schon vergangen. Er hatte viele Menschen kennengelernt, auch im Kloster. Einmal bekam er Lungenbluten. Die Schwindsucht wohnte in den Zellen. Viele Pfleger waren tuberkulös. Als er einmal mit einem Mann, der Blut spuckte, über diese mörderische Seuche sprach, versuchte ihn der arme Mensch mit dem Hinweis auf die ewige Seligkeit zu trösten.

Aber jetzt war Krieg.

Im Westen zertrümmerten englische und amerikanische Tankgeschwader die deutsche Front. Im Osten war der Zar schon lange gestürzt und erschossen. Eine ungeheure Revolution hatte im Grenzland von Europa und Asien begonnen, die ganze Welt zu erschüttern. Kein Wort von himmlischer Seligkeit war zu hören, hier auf der blutigen Erde sollte schon das Glück blühen, das Brot wachsen und der Hunger nach Liebe gestillt werden. Dieselben Aufrufe, von denen einen Tobias mitten im Krieg gelesen hatte, dieselben Aufrufe wurden jetzt von Moskau aus an alle Völker gefunkt. Die Glocken in Köln, Paris und Berlin, die Glocken in Rom und Wien, in London und Stuttgart läuteten jetzt nicht mehr herrliche Siege. Sie ertranken im Blutmeer und im Ozean der Tränen, der die ganze Erde bedeckte. Viele Glocken in Deutschland waren verstummt und zu Geschützen umgeschmolzen und ihr Gruß war feurig und voller Verderben.

Dann kam der Zusammenbruch und der Waffenstillstand. Zwölf Millionen Menschen verwesten, wohlgewachsene Jünglinge, halbe Kinder noch, und das edelste Blut der Männer düngte die Erde. Hungeraufstand schüttelte schon die Länder. Endlich, endlich: Frieden! Der letzte Schuß!

Der letzte Schuß?

Die Revolution erlebte Tobias Erler an einem grauen Novembertag. Militär hatte einige Straßen abgeriegelt, aber man konnte schon Soldaten sehen, die aufrührerisch über die Plätze zogen und sich mit den Arbeitern aus dem Industriegürtel verbrüderten. Die Stadt fieberte und schleuderte viele tausend Menschen auf die Straßen, einen schweren, gurgelnden Strom, über dem das Feuer roter Fahnen wehte. Einem jungen Offizier wurden die Achselstücke heruntergerissen. Er ertrug die Beleidigung mit kaltem, beherrschten Gesicht. Die Sperrkette des Militärs klirrte auseinander und schleifte hilflos über die Steine. Die Stadt raste.

Ein Zug Arbeiter und Soldaten marschierte nach den Kasernen und befreite die Gefangenen. Wie Gespenster wankten die halbverhungerten Sträflinge durch die Jubelgasse des Volkes. Dann wurde geschossen. Die Demonstranten strömten, als seien sie unsterblich, in die Schußrichtung nach der großen Brücke, wo einige Offiziere mit Mauserpistolen in die Luft knallten, um sich mit Anstand zu ergeben. Und überall strömte auch Tobias Erler mit. Er schrie sich die Kehle und auch die Seele heiser mit Hoch und Nieder und immer wieder Hoch und Nieder, redete mit wildfremden Menschen und sagte »Genosse« zu ihnen.

Am Abend löste er sich von der trunkenen Masse und kam aufgewiegelt in das Kloster zurück, dessen tausendjahre alte Mauern zu wanken schienen. Die elektrischen Schläge von jenem Herbstgewitter zuckten auch durch die kahlen Zellen, die keine Grabgewölbe mehr waren, sondern Bereitschaftszimmer für den Aufbruch in eine neue Zeit.

Schubert hatte sich in Berlin der roten Garde angeschlossen und marschierte mit durch Berlin. In Stuttgart aber organisierte der Hauptmann Weinmeister die ersten Stoßtruppen der weißen Garde. Tobias erlebte vertausendfältigt jene Monate. Er war viel in der Stadt und einmal trat er selbst als Redner auf. Nein, er war kein Gefangener mehr. Er konnte sich frei bewegen und auf brüllen, wenn er brüllen mußte. Und Carla? Und Elisabeth? Gute Nacht, Carla und Elisabeth! Alle Menschen waren seine Schwestern und Brüder, vor allem die Elenden und die Schwachen. Und wie arm und schwach Carla und Elisabeth in diesen Tagen waren, als er für die Menschheit schwärmte, wußte er nicht.

*


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