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Die blaue Wolke des Rauches löste sich auf, als sei ein Fenster aufgestoßen. Es war, als stiege die Nacht in den Raum. Die vier Leute, die über ihren Aufsätzen und Manifesten saßen, sprangen auf und umringten den Eindringling. Der behielt seine Ruhe.
»Meine Herrn,« sagte er, »das Spiel nähert sich dem Ende. Ihr macht viel Lärm in Deutschland. Ich komme, um über den Abzug zu verhandeln. Wer von Ihnen ist Doktor Schill?«
»Das bin ich,« sagte Schill und trat einen Schritt vor. »Ich habe Ihre Bücher gelesen, Herr Doktor, und das Bild, daß ich mir von Ihnen machte, paßt nicht ganz zu dem Ort und zu den Umständen, in denen ich Sie treffe. Mir gefällt vor allem »Die sibirische Reise«. Tolle Gegend, was?«
»Es geht,« sagte jetzt Smirnow. »Ich bin in Tobolsk geboren.«
»Das ist also der Russe, vor dem die Nina Korff solche Angst hat? Sie haben die junge Dame in Moskau kennen gelernt?«
»Ja,« sagte Smirnow und holte die Pistole hervor.
»Wir wollen die Knalldinger beiseite lassen, solange wir uns mündlich und menschlich verständigen können,« sagte der Hauptmann lächelnd. »Es kommt wahrhaftig nichts heraus als Tod und Feuer. Das können Sie mir altem Landsknecht schon glauben. Ich denke, wir werden uns verständigen ohne Tod und Feuer.«
»Zwischen uns gibt es keine Verständigung,« griff Lewitzki an. »Ihr habt einen Toten zwischen uns gestellt. Blut ist geflossen. Die Soldaten haben zuerst geschossen.«
»Sie sind der Herr Lewitzki?« fragte der Hauptmann.
»Was soll das Affentheater?« brauste der Gefragte auf. »Ja, ich bin der Herr Lewitzki!«
»Genug, Herr Hauptmann. Wir bitten um Aufklärung. Sind Sie für die Generale in Berlin?« sagte Bessemer.
»Nein, dagegen. Die werden morgen oder übermorgen erledigt sein. Aber darum geht es ja gar nicht. Der Herr Korff ist auch für die Republik und trotzdem gegen euch. Weil ihr euch nicht so glatt fressen laßt, Kinder! Aber was habt ihr für Unsinn gemacht! Ihr setzt euch in eine Mausefalle und die ist jetzt zugeschlagen. Von Herrn Korff nämlich. Was könnt ihr mit fünfzig Knarren gegen sieben schwere Maschinengewehre, hundert Karabiner und fünfzig Handgranaten machen? Der tote Mann da unten ist umsonst geopfert. Immer müßt ihr opfern. Im Kriege und im Frieden. Ich weiß schon, was Sie sagen wollen, Doktor,« wandte er sich an Schill. »Ich kenne Ihren Lieblingsgedanken von der Erlösung durch das Opfer. Ich bin dagegen. Auch das Opfer ist nämlich dagegen und wird immer dagegen sein, wenn es zuerst befragt würde und wenn es nicht schon in der Grube verfaulte ... Ich komme von Korff und habe eine Lektion in Patriotismus gehört, daß mir das Kotzen kam. Und deshalb ging ich auf seine Pläne ein, um sie umzuschmeißen.«
Er setzte sich an den großen Tisch, der mit Manuskripten übersät war, und als die Männer auch saßen, berichtete er von seiner Unterredung mit Korff und der jungen Russin. Bisher hatten die Freunde nur die eine Seite der Welt gesehen, ihre Welt, und sie waren aus der Masse der Kameraden als Beauftragte und Vollstrecker eines großartigen Willens aufgebrochen, sie wußten von all dem Haß und der messianischen Verzückung, von aller Sehnsucht und Verbitterung, vielleicht war es auch die stürmische Nacht, die sie gerufen und verzaubert hatte, die endlose Nacht, die sich jetzt dem grauen Ende zuneigte. Und jetzt tauchte in dem fahlen Licht der Gegenspieler auf, ein Gegenspieler, und wahrscheinlich auch ein Mensch, der sich als Beauftragter seiner Klasse fühlte. Korff tauchte auf.
»Was sind Ihre Pläne, Herr Hauptmann,« fragte Bessemer, als der Bericht beendet war.
»Die Zeitung muß auf alle Fälle geräumt werden. Ohne einen Schuß. Von keiner Seite. Ich habe mich in euer Spiel gedrängt, jetzt bin ich mitten drin und stelle die Spielregeln auf. Und spiele mit. Verdammt, da ist der Korff, wenn er von Deutschland spricht, trieft er nur so wie eine Speckschwarte überm Feuer. Er war ein angenehmer Kerl, bis er einer ehrgeizigen Russin in die Hände fiel, die noch patriotischer ist als er. Wenn schon, denn schon ... Sagen Sie mal, Herr Russe, lieben Sie Moskau? Lieben Sie Rußland?« fragte er unvermittelt und beugte sich zu dem jungen Smirnow.
»Ja, ich liebe Moskau und liebe Rußland,« antwortete Smirnow.
»Und warum sind Sie in Deutschland?«
»Ich studiere an der Technischen Hochschule ...«
»Jetzt auch, in dieser Nacht?«
»Nein. Jetzt bin ich bei meinen Genossen.«
»Quatsch, ich komme ins Geschwätz hinein,« unterbrach sich der Hauptmann. »Ich bin ja für die Vereinigten Staaten von Europa ... Meine Leute warten vor der Tür,« fuhr er fort. »Es sind brave Kerle. Sie würden, ohne mit der Wimper zu zucken, ihre Handgranaten auf euch schmeißen. Wann werdet ihr fertig? Wann kann das Lokal geräumt werden? Meine Soldaten haben nämlich verflucht kalte Füße bekommen und möchten gern nach Hause.«
»In zwei Stunden,« sagte Bessemer. »Wir machen die letzte Seite fertig. In einer halben Stunde kann gedruckt werden.«
»Jetzt ist es vier Uhr. Um sechs Uhr komme ich. Laßt nicht schießen. Verdammt, nicht schießen lassen. Ja, der Tote liegt zwischen uns, Herr Lewitzki, aber wenn ich nicht gekommen wäre, in der Frühe würde mehr als einer von euch starr und steif auf dem Pflaster liegen... Mein Plan? Ich habe da einen guten Bekannten nicht weit von hier, einen Herrn Lamprecht, und ihr würdet gut daran sein, die Stadt auf einige Tage zu verlassen. Bis sich alles beruhigt hat. Was meinen Sie, Herr Doktor?«
»Herr Hauptmann,« antwortete Schill, »ich habe im Augenblick keine eigne Meinung, und wenn ich eine hätte, wäre sie vollkommen unwichtig. Ich stelle mich in eine Reihe mit meinen Freunden und übernehme auch, wenn es sein muß, jede Verantwortung.«
Hauptmann Kries trat auf ihn zu und schüttelte seine Hand. Diese Ehrung freute und verwirrte den Doktor sehr.
»Also die Nacht nähert sich dem Ende. Das Spiel ist aus. Wir wollen es gut zu Ende führen. Hämmert euern Leuten in den Schädel, nicht zu schießen. Und schreibt nicht zu wüste Aufsätze in euer Blatt, der helle Tag ist erbarmungslos kühl und nüchtern.«
Er stand und ragte in die blaue Rauchwolke hinein, die über den Männern schwebte, dann schüttelte er Bessemer die Hand, verbeugte sich vor den anderen Männern, warf seinen Mantel um und verließ das Zimmer. Die drei Soldaten an der Tür salutierten, der Matrose Becher führte sie wieder durch endlose, im weißen Licht wie vereist aussehende Korridore hinunter in den Hof, an der Barrikade vorbei, in deren Schatten der Tote lag. Das eiserne Tor drehte und öffnete sich kreischend. Der Hauptmann und die Soldaten traten auf die kalte, verdunkelte Straße.
Die letzten Manuskripte waren fertig. Bessemer erzählte seinen Freunden von der Bekanntschaft mit dem Hauptmann Kries, den er auf einer Vagabundage in Italien getroffen hatte.
»Ein feiner Kerl, der Hauptmann, ein Mensch unter Unmenschen,« sagte er zum Schluß, »es ist wie ein Schicksal, daß er heute Nacht das Kommando über die Soldaten hat. Es ist ein Wunder.«
»Die ganze Nacht ist ein gläsernes Wunder,« sagte der Doktor Schill. »Ein Wintermärchen aus Glas, das im grauen Morgen zerbrechen muß. Und bald ist der graue Morgen da.«
Die anderen schwiegen.
Lewitzki knurrte noch ein wenig.
Smirnow bewahrte seine höfliche Ruhe.
Vor einem Jahr war dieser Smirnow aus Rußland gekommen, um in Deutschland zu studieren. Aus dem russischen Umsturz kam er in den deutschen Umsturz hinein, und der tragische Bruch ging durch den ganzen Menschen. Er war der geborene Techniker und ein glühender Revolutionär. Sein Vater war in der Verbannung zugrunde gegangen. Schon in Moskau hatte der junge Smirnow zwischen den Hörsälen und der bewegten Straße hin und her geschwankt, und in Deutschland wiederholte sich dasselbe Spiel. Er war mit Lewitzki sehr gut befreundet, und als er von ihm heute nur einen leisen Wink bekommen hatte, war er sofort nach dem Volkshaus geeilt und schloß sich dem Marsch der Arbeiter an. Oft schien es ihm, wenn er über die Dinge nachdachte, als ginge die Grenze der vielen Länder nicht nur durch wechselvolle Landschaften, ihm war es, als ginge sie viel feuriger und tiefer durch die Herzen der Arbeiterklasse in der ganzen Welt. Natürlich liebte er Rußland. Das war eine Liebe wie zu einer Mutter. Aber nun war er ja erwachsen und ein Mann.
Seine Liebe hatte Flügel bekommen und umarmte auch Deutschland.
Der Matrose Becher hatte nur einen Blick auf die Straße geworfen. Im Licht vereinsamter Laternen sah er den matten Schimmer der Stahlhelme von den vielen Soldaten, er sah die zusammengestellten Gewehre und schauderte zusammen. Rasch trat er in das Haus zurück, ging durch alle Zimmer, stand dann lange an einem Fenster und blickte noch einmal auf die Straße, die vollkommen vom Militär abgeriegelt war. Da trat der Matrose in das Dunkel zurück. Er stellte den Karabiner in die Ecke, schnallte die Mauserpistole ab und warf seinen Mantel über einen Stuhl, als sei er ein schlechtes Kleid, schlich noch einmal an das Fenster und ging dann mit leisen Sohlen aus dem Raum und verschwand wie ein Dieb.
In dem hellen, vom elektrischen Licht flammenden Korridor der ersten Etage hatten sich einige Posten um die junge Frau mit den Tieraugen gesammelt. Ab und zu trommelte Sturm an die Fenster, die Scheiben klirrten, die Rotationsmaschinen krachten dunkel. Die Streikzeitung wurde gedruckt. Neue Posten kamen, und plötzlich begann die junge Frau zu sprechen.
»Wir sitzen in einer Falle,« sagte sie. »Wir sind umstellt und verloren, wenn wir uns nicht wehren. Die Führer sitzen weich und warm in ihrem Zimmer und schreiben und verhandeln. Der Hauptmann war eine halbe Stunde bei ihnen. Und sie haben gelacht. Ich habe es gut gehört. Wer von da oben kann überhaupt schießen? Keiner, sage ich euch. Sie haben uns an den Hauptmann verkauft und verraten. Wenn wir abziehen, knallen uns die Soldaten wie Hunde über den Haufen. Denkt an den Toten an der Barrikade! Wir müssen kämpfen. Bis zum letzten Atemzug. Soll auch heute alles wieder umsonst sein? Das Blut. Der Streik. Die Zeitungsbesetzung? Ihr habt ja, wenn ihr nur wollt, die Macht. Kämpft und haltet durch. Oder habt ihr vielleicht Angst?«
»Angst?« fragte der Metallarbeiter Schulz, dessen Bruder erschossen war, »Angst? Nein, was ist das? Wir haben keine Angst!«
»Dann schießt, wenn die Soldaten kommen!«
Die Freunde näherten sich der Gruppe und hatten den Schluß der wilden Rede noch gehört. Lewitzki drängte sich vor. Sein junges Gesicht war kalt, hart und entschlossen.
»Wer spricht vom Schießen? Wer hat Sie für diese Rede bezahlt? Wer sind Sie? Und wer hat Sie gerufen?« herrschte er die junge Frau an.
»Das Volk hat mich gerufen. Der Tote unten im Flur,« sagte die Frau und blickte Lewitzki feindlich an. »Die im Zuchthaus sitzen, haben mich gerufen. Mein Mann, der in der Festung sitzt. Alle!«
»Die Streikleitung hat Sie nicht gerufen. Auch der Tote nicht. Was wissen Sie vom Zuchthaus?!«
Die Frau schwieg. Ihr Mund zuckte. Durch das tiefe Rot der Lippen schimmerten die weißen Zähne. Sie sah schön und gefährlich aus. In der kalten Nacht stand sie als weiches, heißes Weib vor den ernsten Männern, ewige Verlockung, glühender Trost vor dem Grauen der Niederlage. Alle hingen an ihrem Gesicht, an dem weißen Hals und an der vollen, runden Brust. Jetzt erst schien die Nacht Sinn und Leuchtkraft zu bekommen: die Frau war da. Der Sturm heulte nicht mehr so wütend, die Nacht war nicht mehr so kalt und einsam.
Lewitzki aber blieb kühl und klar.
»Also,« fragte er weiter, »wer hat Sie in das Haus gelassen? Auf wem können Sie sich berufen?«
»Der Matrose Becher kann sagen, wer ich bin,« antwortete sie.
»So holt den Matrosen!« Ein Posten eilte davon.
Zurück blieb das kalte Schweigen, die Gier der Männer, harte Windstöße, klirrende Fenster, die Arbeit der stampfenden Druckmaschinen, ferne Kommandorufe auf der Straße.
In den wenigen Minuten der Windstöße und klirrenden Fensterscheiben versuchte die Frau ein verwegenes Spiel. Sie ließ die schwarzen Augen zärtlich über die vielen Männer wandern, lockte und warb, forderte heraus und ergab sich. Lewitzki stand bei seinen Freunden. Der Doktor Schill begann in sein Notizheft zu schreiben, Smirnow erzählte eine Spitzelgeschichte aus Moskau. Immer weiter spielte die junge Frau und hatte beinahe gewonnen, als der Posten aufgeregt zurückkam.
»Der Matrose Becher ist nirgends zu finden,« meldete er. »Der Posten an der hinteren Tür sagt, daß er ihn vor zehn Minuten das Haus hat verlassen sehen. Ohne Mantel und ohne Waffen.«
»Nun,« begann Lewitzki von neuem, »nun, junge Frau, es ist am besten, wenn auch Sie verschwinden. Gehen Sie schlafen, Madame. Paul,« wandte er sich an den Posten, »Paul, zeige doch auch ihr die hintere Tür. Still sein!« schrie er, als die Frau reden wollte. »Los, abführen!«
Noch einmal, zum letztenmal, ließ das junge Weib die Augen wandern, zum letztenmal, schon unterliegend, lockte und warb sie. Als sie endlich begriff, daß diese Nacht nur eine Nacht der Männer war, warf sie den schönen Kopf in den Nacken, lachte verächtlich auf und ließ sich dann abführen.
»Kameraden,« sagte Lewitzki, »über diese Frau keine großen Worte mehr. Sie ist von der anderen Seite geschickt worden. Vielleicht von Korff ... Ja, wir haben mit dem Hauptmann verhandelt und das war das beste, was wir tun konnten. In zwei Stunden kommen die Soldaten. Unsere Zeitung wird jetzt gedruckt. Aber wenn wir abmarschieren, wechseln wir nur den Kampfplatz. Wenn die Soldaten kommen, nicht schießen. Ein Toter ist mehr als genug. Haben wir verspielt? Vielleicht diese eine Partie, aber wir unterbrechen ja nur das Spiel ... Es ist freier Abzug vereinbart worden ... Wer will jetzt gehen? Der Weg ist frei!«
Schweigen antwortete, tiefes Schweigen, aus dem hier und da dunkles Grollen aufstieg. Diese Männer waren am Abend durch die Stadt marschiert, nun war es späte Nacht, der Morgen kam, und was stand am Ende des Marsches? Eine Niederlage. Wieder eine Niederlage! Ein Toter lag auf den kalten Steinen. Ein Mann war verwundet. Ja, immer lagen die Toten hinter dem Marsch. Geopferte. Opfer. Immer war Blut. Und jetzt? Worte, nichts als Worte ...
»Lewitzki,« erhob sich endlich eine Stimme, »Lewitzki, wir kennen dich gut und glauben, was du sagst. Auch wir wissen, daß wir in der Falle sitzen. Da blieb nichts weiter übrig, als zu verhandeln. Hans ist tot. Viele werden wohl noch sterben, bis wir gesiegt haben. Das ist bitter. Wieviel Mann brauchst du bis zum frühen Morgen?«
»Sechs Mann genügen.«
»Sechs Mann vortreten,« befahl Schulz, der das Kommando übernommen hatte. »Sechs Posten bis die Soldaten kommen.«
»Wir bleiben bis zur letzten Minute,« antworteten alle.
Aber nicht alle blieben bis zur letzten Minute. Einige hängten die Gewehre ab, senkten die Köpfe und verließen das eingeschlossene Gebäude. Als sie auf die Straße traten, wurden sie zuerst von den Soldaten umringt. Der Befehl des Hauptmanns aber bahnte ihnen freien Weg. Immer noch stieß der Sturm. Kein Stern war am Himmel. Schwermut und Verzweiflung kamen und umhalsten die Geschlagenen, flüsterten vom geruhigen Dasein, von einem kleinen Haus mit blühendem Garten und animalischem Dasein zwischen Geburt und Tod und neuer Geburt. Nein, der Weg durch die sinkende Nacht war nicht schön.
Auch die Zurückgebliebenen hatten die Stimmen der Versuchung gehört. Junge Leute wurden müde und ungläubig; alte Männer, die sich ihr ganzes Leben lang gebeugt hatten, beugten sich in dieser Nacht nicht und erwarteten mit tränenlosen Augen das bittere Ende. Ja, sie würden, wenn es an der Zeit war. wieder zum Gewehr greifen und durch eine Stadt marschieren. Ja, und dann würden sie auch schießen, wenn es die Zeit war zu schießen.
Am frühen Morgen, als die Soldaten in das Haus eindrangen, standen noch zehn Posten auf ihren Plätzen. Die anderen waren abtrünnig geworden und hatten sich davongeschlichen. Bessemer und seine Freunde warteten im Zimmer des Chefredakteurs auf die Zeitung. Die ersten Zeitungen, noch feucht vom Druck, wurden gebracht. Auf der ersten Seite des »Tageblatt« stand der Aufsatz, den der Doktor Schill geschrieben hatte. Bekanntmachungen der Streikleitung füllten den anderen Platz aus. Auch die Streikzeitung war fertig.
Eine Seite Neuzeit kämpfte gegen elf Seiten alte Welt! Und was war in dieser Nacht die neue Zeit? O, Streik in der Stadt, Vorstoß gegen den Putsch in Berlin, der Wille zur Macht, ein trüber Novemberabend mit Sturm, eine besetzte Zeitung, ein Verwundeter und der Tote im Schatten der Barrikade. Was war die neue Zeit? Zehn bewaffnete Arbeiter im Morgengrauen, ein Doktor, ein russischer Student, zwei junge Schwärmer und ein leuchtend schöner Aufsatz von Schill. Aber auch das war die neue Zeit: die großen Demonstrationen bis in die Nacht, das dunkle, namenlose Volk, das wieder in die Vorstädte zurückgetrieben war und sich zu neuer Sammlung bereit hielt.
Die Gewehrkolben knallten an das schmiedeeiserne Tor. Die Soldaten brachen ein. Es waren junge Kerle vom flachen Land. Sie hatten die ganze Nacht untätig vor der Zeitung gelauert, waren durchfroren und voller Wut Sie zerstörten die Barrikade und trugen den Toten in den Maschinensaal, in dem die Maschinen ausgetobt hatten und nun stumm und gigantisch lauerten.
»Es geht los, benehmt euch heldenhaft,« sagte Bessemer, als die Gewehre an das Tor knallten.
»Wird der Hauptmann sein Wort halten?« fragte Smirnow, der Mann mit dem Kindergesicht, einen Ton tiefer als sonst.
»Hoffentlich kommt er bald,« sagte der Doktor Schill. »Es war eine endlose Nacht, und nun bin ich müde.«
Sie brauchten nicht mehr lange zu warten.
Der neue Tag wühlte schon mit feurigen Händen in der matten Dämmerung. In dem Zeitungsgebäude brannten noch die elektrischen Lampen, aber sie waren kalte und eisige Sonnen am Rande des Nichts. Schill hatte ein Fenster aufgestoßen. Die blauen Tabakswolken wurden von unsichtbaren Fäusten aus dem Zimmer gerissen. Kühle, erquickende Luft strömte in den überhitzten Raum.
Der Lärm der einbrechenden Soldaten füllte alle Korridore. Eisenbeschlagene Stiefel klapperten auf den Treppen. Neue Schritte näherten sich dem Zimmer, in dem die Freunde saßen. Die Tür öffnete sich. Der Hauptmann Kries kam mit einigen Soldaten.
»Hände hoch!« befahl er laut, »Hände hoch, meine Herren. Sie sind verhaftet. Folgen Sie mir.«
»Wir weichen nur der brutalen Gewalt,« antwortete Lewitzki. »Und einmal kommt die Zeit, das weiß ich, da werden wir ›Hände hoch!‹ kommandieren.«
»Aber jetzt noch kommandiere ich,« sagte der Hauptmann und wandte sich an die andern: »Sind Sie fertig, meine Herren? Ja, dann vorwärts, bitte.«
Die Gefangenen setzten sich in Bewegung. Als sie auf den Korridor kamen, wurden sie von den Soldaten fluchend empfangen. Als ein ganz junger Bengel aber nach Lewitzki mit dem Kolben stieß, brüllte der Hauptmann: »Unteroffizier, den Mann abführen!« Der Mann wurde abgeführt. Kein Gewehrkolben wurde gegen die Gefangenen mehr erhoben. Bald war die Straße erreicht. Die Barrikade im Torweg lag zerbrochen im grellen Licht einer Bogenlampe. Das Blut des Erschossenen konnte auch von dem grellsten Licht nicht ausgelöscht werden.
Auf der Straße stand ein Auto.
Der Leutnant Klemm eilte herbei.
»Ich führe die Gefangenen in die Kaserne, Leutnant,« sagte Kries. »Sie übernehmen das Kommando. Neue Posten ausstellen. Die Arbeiter,« und er zeigte auf die letzten zehn Mann, die aus dem Tor traten, »die Arbeiter passieren lassen. Sie haften dafür, daß sich niemand an ihnen vergreift.«
»Zu Befehl, Herr Hauptmann!« antwortete der Leutnant mit unbeweglichem Gesicht.
»Einsteigen, meine Herren!« wandte sich Kries an die Gefangenen.
Sie stiegen ein. Der Hauptmann entließ den Chauffeur und setzte sich selbst an die Steuerung. Die Hupe schrie in den Morgen hinein, der Motor begann zu hämmern, der Wagen sauste durch die verlassene Straße hinunter nach dem Park, der wie eine Mauer zwischen Tag und Dämmerung stand.
Langsam wachte die Stadt auf. Der Schlaf hatte ihre Fieber gestillt. Ja, jetzt war der Generalstreik da, die letzten Züge ratterten in den Bahnhof, die ersten Arbeiter marschierten nach der Innenstadt. Im Volkshaus brannten noch die Lampen. In der Nacht hatte die Streikleitung beschlossen, am frühen Morgen die eingeschlossenen Arbeiter zu entsetzen. Verstummt waren alle Fabriken, keine Sirene schrie, kein Schwungrad brauste, keine Maschine donnerte und blitzte. Auf der Straße patrouillierten Soldaten. Der Major von Schmidt hatte sich doch noch den Berliner Generalen zur Verfügung gestellt.
Am Bahnhof, der wie ein lebloses Wrack an der Hauptstraße lag, wurde das Auto zum erstenmal angehalten. Kries zeigte seine Papiere und durfte passieren. Am Rande der Stadt aber machte eine neue Patrouille Schwierigkeiten und wollte nicht weiterfahren lassen. Ein Feldwebel sprang aufs Trittbrett, da stieß ihn Kries vom Wagen herunter, gab Vollgas und raste davon. Einige Schüsse krachten hinter den Flüchtlingen her.
Dem Doktor Schill wurde der Hut vom Kopfe heruntergeschossen.
In einer Stunde war das Ziel, eine kleine Stadt, erreicht. »Jetzt sind wir in Sicherheit,« sagte der Hauptmann Kries. »Die Generale in Berlin sind geflohen. Das ist das Neueste. Der Herr von Schmidt wird große Augen machen! Ich rate im Augenblick nicht zu Berlin. Euer kleiner Putsch wird im Meer des Vergessens untergehen. Schade, Herr Lewitzki, ja? daß sich die Welt nicht um eure besetzte Zeitung gedreht hat ... Einverstanden mit Herrn Lamprecht?«
»Einverstanden,« antwortete Bessemer. »Und wir hoffen, daß auch Sie mal in einer Mausefalle stecken, Herr Hauptmann, und wir eine Tür aufmachen können. Im übrigen sind wir für einige Ruhetage.«
»Dann ist es ja gut,« sagte Kries und lenkte den Wagen weiter, und bald war das große Gut Seehausen, das dem ehemaligen Major Lamprecht gehörte, erreicht. Es lag an einem kleinen See, der matt durch den Morgen schimmerte.
Der Herr Lamprecht war ein Freund vom Hauptmann Kries und hatte den Krieg an der Front mitgemacht. Zwanzig Monate lag er vorn in Dreck und Feuer und war bald fertig. Er war nicht nur deshalb fertig, weil ihm eine Granate das rechte Bein zerschmetterte, lange vorher schon waren ihm alle Illusionen zerschmettert worden. Im brüllenden Geschützkampf und vielleicht noch mehr in den einsamen Nächten, in denen das silberne Mondlicht wie Regen zur Erde fällt, zerrissen ihm die Vorhänge eines lügenhaften Tempels, in dem geschäftige Macher von Glanz und Gloria des Vaterlandes predigten und bei ihrem pathetischen Geschwätz schon die Gewinne aus den neu eroberten Gebieten oder aus den Kriegslieferungen mit verdrehten Augen berechneten.
In jenen Nächten saßen Lamprecht und Kries oft zusammen und begründeten ihre Freundschaft. Als Lamprecht verwundet war, übernahm Kries das Bataillon und führte es durch den Blutsumpf der Schlachten in den Waffenstillstand und Frieden hinein, in den Frieden, der weiter nichts war als ein verlängerter Krieg mit neuen Fronten. Der Hauptmann nahm den Abschied und lebte seit jener Zeit ein beschauliches Leben auf der komischen und heldenhaften Bühne, auf der sich das Dasein abspielt. Er machte große Reisen, und auf einer Reise hatte er auch Bessemer kennengelernt. Auch Lamprecht hatte genug Weltgeschichte mitgemacht. Jetzt ließ er die Felder wachsen, das Vieh groß werden und die Ernten reifen. Zu diesem Mann also brachte Kries die Männer der einen Nacht. Er stellte sie seinem Freunde vor, erzählte die Verschwörung des Herrn Korff, der Napoleon auf eigene Faust spielen wollte und auch für die alte Regierung war. Er blieb nicht mehr lange. Er wollte in die Stadt zurück und Nina Rschewskaja einen Guten Morgen wünschen.
»Herr Hauptmann,« sagte Bessemer zum Abschied, »als ich vor Jahr und Tag Ihre Bekanntschaft machte, ahnte ich nicht, daß sich unsre flüchtige Begegnung so glücklich gestalten würde. Überlegen Sie, mit einigen Gedichten fing es an, die ich aufsagte. Aber Sie waren damals gegen Verse ...«
»Ja, aber ich war immer für die Ballade des Lebens. Und ihr grünen Jungens dichtet trotz allem Unfug an diesem gewaltigen Lied eine herrliche Strophe,« antwortete Kries.
Er verabschiedete sich.
Sein Wagen rollte den breiten Fahrweg hinab und schoß durch den jungen Tag mit vierzig Pferdekräften dahin.