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Doktor Vollrats Haus lag am Abhang über dem antiken Solvafluß, der, tief unter dem schönen Höhenhause, unsagbar einsam, lange noch hinter großen Mühlen, durch breite und versumpfte Auen in die Mur hineinging. Ganz stauestill, so daß an den Ufern die Reiher fischten, zwischen den Bäumen, die tief und urig das Wasser überhingen, als blaue Juwelen die Eisvögel und die Fischlein blitzten, die sie aus der reich silbrig wimmelnden Flut herausgerissen. Manchmal waren Barben, Schleien oder Weißfische beinahe zu kleineren Heringszügen gedrängt. Das Wasser goldig dunkel, in der Sonne wie mittelhelles Schildpatt, schwer radioaktiv. Denn die Solva oder Suiba der Alten hatte den gleichen Ruhm verdient wie der Mäandros. Sie geht, mit unermeßlich viel Windungen und Schlängelwegen, mehr als das Dreifache einer normalen Lauflänge dahin und empfängt so Sonne über Sonne. Am Grunde liegen die Steintrümmer der altrömischen Flavia Solva, insofern sie vom salzburgischen Hoch- und Domstift, das diese Gegend durch Karl den Großen erhalten hatte, der Konservierung unwürdig befunden worden waren. Bacchantenzüge mit Liebesgebärden, daß die Schlange des Paradieses sich davor verkrochen hätte! Und jenseits liegt, unsäglich stille, ein Dorf auf und neben der römischen Stätte. Das Forum, das Amphitheater sind noch erkennbar. Die vielen Tumuli des Friedhofes sind eingeebnet, die Funde ruhen in Museen, die Gegend ist immer noch schauerlich fremd und schön, wie die Via Appia. Uralte Fischerhäuser an der Mur; Netze, Schilfwildnis, der kreisende Fischadler in den Lüften. Und von den Hügeln herunter, an beinahe senkrecht scheinendem Korallenabsturz, der südsteirische Buchenwald, der seine Kronen bis ans Vollratsche Anwesen heranschlug. Von dort kamen die gespenstischen Nachttiere dieser Gegenden, die Glires, lemurenhaft in Dachkammer und Keller herzu und spielten in nächtlicher Herbstnähe beim Sturm Kegelschieben und Alle Neune, so polterten sie droben.
Oder sie weinten wie arme Seelen. Winselten, fauchten, schmatzten Obst. Alles bloß in der Nacht, der ihre großen, schwarzgläsernen Handschuhknopfaugen entsprechen. Silbergraue, kleine Eichhörnchen sind es, mit behaarten Schweifen, immer langsam kletternd, immer an Wänden und Dachsparren hängend, immer wieder hinaus in den Buchenwald, ihre unentbehrliche Heimat. Fällt der urslawische Buchenwald, dann stirbt die Buchelmaus, die Billmaus, auch dahin.
Bloß in den großen Rüstern von altadligen Parks lebt sie noch, einsam und traumhaft und abgesetzt und pensioniert, weiter. Ein kleiner, armer Serenissimus, der bloß in Sturmnächten unruhig und lebhaft wird, um sein Schlafloch zu erreichen, wo er dann, König im Berge, von ehemaligen großen Tagen träumt, da es noch ein großes Siebenschläfervolk gab und die Römer die besten Stücke in eigenen Gliralien mästeten.
»All das so sonderbar«, sagte Theo, als sie vor dem Hause standen, das einen richtigen altsteirischen Vorbau hatte; ein kleiner Portikus auf zwei antiken Säulen, unter dem der Kellereingang war. Zehn Stufen führten zur offenen Halle empor, die zugleich Hauses Eingang war, und um deren Säulen und griechischen Tempelgiebel sich, hundertfältig und blau und grün durchblitzt, die wuchernde Rebe schlang.
Schattig, kühl, ein wenig höher, also winddurchweht und dennoch mildluftig war es hier, so daß die Weinflaschen, die Hilde brachte, alsbald bläulich perlend anliefen.
Das junge, weibliche Apothekersubjekt kannte Hilde noch nicht und reichte ihr freundlich die Hand hin. Hilde gefiel allen. Fünfzehn Jahre war sie nunmehr in unausweichbarer Treue und Liebe bei dem alten Mann, um dessen graues Haupt eine unausgeglichene, eine unfaßbare Verleumdung webt, die ihn, fern von der Hochstatt seiner Wissenschaft, zum Bauern werden ließ. Sie allein war ihm verblieben von aller Welt, obwohl er ihr Vater hätte sein können. Sie hing an ihm, wie es nur ein Weib kann; ergreifend still und zufrieden teilte sie mit ihm Entbehrung und Arbeit; ihre Schönheit trug sie, weit abseits von Gesellschaft und verstehenden Augen, bloß für ihn ruhig einem Verblühen entgegen, mit dem es aber heute noch seine gute Zeit zu haben schien. Sogar der Provisor, der gänzlich erfüllt war von dem Bilde seiner einzigsten Tilla, er sah sie gerne an. Die alten Herren aber waren durch ihre schwebende, kommende, gehende und immer sorgende Nähe bald wie in Rebensonnenschein gestellt, bald wie in Weinlaubschatten wohlig gekühlt und eingeduckt.
»Ich habe ein Gefühl,« begann Solvanus, der Philosoph und Philologe, »daß die Zeit naherückt, wo man dir Gerechtigkeit und Rehabilitation widerfahren lassen wird. Wir haben eine Regierung, der es Freude machen könnte, altes Unrecht aufzudecken und zu sühnen. Der junge Gast hier geht nach Wien ins Unterrichtsministerium; er soll deine alte Sache dort aus den Akten vorsuchen. Er ist mit dem Minister befreundet, und alles, was man in Wien wahrhaft und gerechtermaßen erreichen kann, geht durch neuen Kursus. Erzähl' uns einmal genau, wie du gehandelt hast, daß man dich so verleumden, kaltstellen und ein Dritteljahrhundert lang an Ruf und Beruf so furchtbar schädigen gekonnt.«
»Das ist einfach. Ich war Kehlkopfspezialist und durch innern Eingriff geübt, das Messer des Chirurgen völlig zu entbehren. Da wird in eine Vorlesung über Chirurgie eine alte Frau gebracht, ihrer Stimme war sie beraubt. Wir nahmen, einer nach dem andern, den Spiegel ans Auge. Ich sehe einen Polypen; nicht grade gestielt, aber auch nicht muldenförmig und flach aufsitzend. Er wäre mit der Drahtschlinge abzudrehen gewesen. Aber der hochgebietende Professor für Chirurgie wollte seinen Hörern einen Kehlkopfschnitt zeigen. Damals war die Tracheotomie noch ein Eingriff auf Leben und Tod, müßt ihr wissen. Und selbst im Falle das Leben aushielt, war dauernde Stimmlosigkeit zu befürchten, wie das ja nachher wirklich gekommen ist.
Ich gehe unmerklich zum Professor und erbiete mich mit leiser Stimme, die alte Frau durch einen ganz einfachen inneren Eingriff zu retten. Er braust laut empor. Ich, kaum erst einmal Dozent geworden, wolle ihm Lehren geben?
Die Studenten horchen auf. Jetzt war's ein öffentlicher Fall geworden. Ich antworte ruhig, daß ich nicht daran denke; ich wolle bloß eine Operation vermeiden, die mir hier unnötig, ja gefährlich, sicher aber schädigend erschiene. Ich hätte nur im Namen der Humanität ein bescheidenes Wort privaten Einwandes gewagt. Es tue mir leid, daß durch das heftige Wesen des Herrn Professors nunmehr Zeugen da wären.
›Wir kommen also zur Tracheotomie, meine Herren‹, ging der Professor über mich zur Tagesordnung über. ›Die Tracheotomie, meine Herren, ist – –‹
Und dann:
›Nun, Herr Dozent, Sie gehen?‹
›Ja.‹ Und nur ihm allein hörbar, sagte ich: ›Aber ein Verbrechen bleibt es dennoch.‹«
»Au, au, ach, wehe dir! Ausgesprochener Junggesell, keinen Schwiegervater zur Verteidigung! Und eine so ungeheure Verletzung der eingeschworenen Disziplin! Jetzt versteh' ich alles.«
»Man hat mir den Hörsaal ›aus Raummangel‹ entzogen. Und einen neuen bekam ich so lange nicht, bis die drei Jahre Frist für mein Dozententum um waren, das trotz meiner Proteste automatisch erlosch. Ich erfuhr durch Freunde, eine schwer gravierende Schandtat meinerseits hätte allgemeine Acht und Bannung meiner akademischen Person herbeigeführt. Ich fordere Untersuchung gegen unbekannte Verleumder. Man antwortet mir: ›Fordere eine Untersuchung gegen dich selber.‹ Ich sage: ›Nein, denn ich bin mir keines Grundes dazu bewußt.‹ Das Ministerium ist mit der Fakultät verschworen; ich weiß und erfahre nichts, als was man mir vertraulich angedeutet. Ich klage die Fakultät, ja die Ärztekammer, die Partei gegen mich nimmt, öffentlich an, um einen Verleumdungsprozeß gegen mich anzustrengen. Man steckt es ein – und schweigt. Jahrelang wiederhole ich diesen Anwurf. Man schweigt.«
»Natürlich. Je länger, je bockiger.«
Die kleine Apothekergehilfin hat dunkle Wangen bekommen. Sie ist voll Gerechtigkeitsgefühl. »Können Sie beschwören, Herr Doktor, daß auch nicht das geringste andere Verschulden durch Sie geschah?«
»Das kann ich unter Eid stellen.«
»Theo, du gehst nach Wien zum Minister. Wirst du?« – –
Theo schlug an sein Glas, ließ in freundlicher Ruhe die märchenschöne Gegend, das wunderbare Weingartenhaus, eine stille, schöne und treue künftige Frau Hochschulprofessor und den alten Märtyrer seines jungen Mutes hochleben. Für den sich die Jugend einsetzen werde! Die Jugend einer neuen, gerechteren Zeit. »Es werde hier Luft und Licht und Wahrheit! Hoch!«
Von diesem Augenblick an sagte Tilla, auch vor Hilde und Onkel Mappe und dem Weisheitskauze, zu Theo »du«.
Beinahe hätte man sie als Verlobte hochleben lassen.