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Erstes Buch.
Im gärenden Frankreich

Manchmal hebt das Schicksal beide Hände voll aus der Fülle der Dinge dieser Erde und wirft ihren ganzen Inhalt in ein einzig Menschenherz, als ob es prüfen wollte, wieviel es an Glück ertrage – oder an Leiden.

So geschah es einem kleinen, deutschen Menschenkinde einmal, das freilich vorherbestimmt schien zu ungewöhnlichem Erlebnis. Denn Jakob Auberger wollte, in der großen Zeit der Enzyklopädisten, in Paris und dabei noch an bänglichster und größter Stelle, Philosoph werden. Philosoph: das tiefste und höchste, was ein Mensch zu werden vermag. Und dies unter den widrigsten Hindernissen obendrein. Denn erstens war er ein hübscher Junge, wußte sich gut zu geben und war überall beliebt. Schon das verführt zum Weltkinde; und daß er noch so jung war, trotz all seinem Talent, das war ein zweites, gewaltiges Hindernis. Das größte aber war dieses: Er war Musikant.

Geiger, liebe Mitfühlende! Hat jemals ein Mensch einen Geiger erlebt, der Philosoph zu werden vermocht hätte? Konnte er's, dann war er sicherlich kein Geiger. War er Geiger, dann ward er nie ein Philosoph. Aber manchmal stellen sich Menschen, die es leicht hätten, schön zu leben, die verrücktesten Themata zur Lösung obenhinauf und folgen ihnen dann, in einer »Fuga«, die nur ihnen selber Spaß macht.

Jakob Auberger sagte es sich selber, daß er, im Vollbesitze der Musik, als erlesener Lieblingsjünger des Ritters Gluck, als Geigenlehrer des kleinen Dauphins von Frankreich und als ein oft scheu und merkwürdig aus den Augen der entzückenden, jungen Maria Antoinette von der Seite her angesehener, guter Junge übergenug an reichem Leben und Zukunft beigemessen erhalten hätte. Die Musik allein schon ist ja die Sprache Gottes auf Erden; sicherer, als der Heilige Vater zu Rom der Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein vermag. Wer sie gänzlich erfaßt, durchdenkt und durchbetet, der hat alles, wozu uns dies kurze Eintagsfliegendasein gegeben ist, dessen Wert und Wesen allein darin besteht: »Zur Besinnung zu gelangen.«

Dieses »Zur-Besinnung-Gelangen« kann in einem ozeangroßen Künstlergefühl bestehen, das, ohne straff und eiskalt zu denken, in einem enormen Akkord von Allkampf, Allelend, Allglück und Allösung die erhabene Mathematik der Gestirne im kleinsten Insekt und seinem Schicksal wiedererkennt, sich selber mit dreinwirft und selig mit allem fühlt, leidet, liebt, untergeht. Und dennoch sich bewahrt weiß im Schoße einer herzverzückenden Untilgbarkeit, Ewigkeit und Gesetzmäßigkeit.

Soviel über den richtigen Musikanten, wie bald danach Beethoven einer war, wie der Ritter Gluck aus kleinen Seelenanfängen sich und seine Kunst emporrang, und wohin später Wagner wollte. Aber noch war Beethoven ein ringender, täppischer Droleriekamerad, wie ihn Auberger noch in den Rheinlanden kennengelernt hatte (vierzehn Jahre mochte der junge, aber schon festangestellte Organist des Erzbischofs damals zählen), und an Erhabenheit und Erlösung des Menschen in der Kunst dachte damals sogar Haydn, die fromme Seele, noch nicht, sondern diente devot jeglichem großen Herrn, statt Führergedanken zu hegen.

Aber es lag in der Zeit, daß man einem unwürdig gewordenen höheren Stande zu zeigen hatte, daß in den niederen Zimmern die hohen Gedanken zu wachsen begännen.

Solche Zeiten, da ein neuer Stand sich der Idee bemächtigt, sind immer die heiligsten der Menschheit gewesen. Nicht die Revolutionen, die ihnen folgen, erhöhen und erlösen. Die Erlösung ist verwirkt, wenn sie in banale Erfüllung herunterstampft. Sie ist schön und heilig nur im Werden, wie das Jahr in der Zeit, da jeder Baum vor Liebe zittert, duftet, blüht und Tränen fallen läßt. Abfallende Blüten sind Abschiedsbriefe der Liebe. Reife ist Urteilsprechung.

Nun aber denke man sich all dies in ein einzig junges Menschenherz geworfen und, stammelnd, halb erfaßt: Mai! Jugend, Schönheit, Kunst, erhabenes Wollen – und dazu die ganz unsinnige und ebendeshalb so berückende Liebe zu einer feinen, gänzlich schönen und (einer jungen Phantasie) nicht einmal gar so weltfern erscheinenden Königin, die zumindest ein bißchen kokettiert, wenn ihr beschränkter Mann auf Jagd ausritt, um dann zu notieren: »Heute 368 Kreaturen getötet.«

Zu Pfingsten nun ist in Frankreich der Rehbock längst rot ausgefärbt (Schonzeiten gab es damals überhaupt nur in der Willkür der Herren), und schnell nach der Morgenmesse war der höchste Edelmann Frankreichs auf Massenmord ausgeritten.

Marie Antoinette war allein; allein, hoch und fern, wie der Hahn auf dem Kirchturm, und ebenso verlassen von allen Artgenossen wie er. Der Adel hatte sie wieder einmal gesellschaftlich geächtet, weil sie ihm auf Drängen des Volkes ein paar Privilegien entrissen hatte. Niemand war zu ihrem Lever gekommen. Nichts hatte sie, als ihr Clavecin, ihren kleinen Dauphin, und (wer weiß noch, auf wielange), ihr stillgewordenes Versailles mit seinem großen Park.

So hatte sie eine Toilette anbefohlen, die eher ländlich, ja theater-schäferhaft zu nennen war, und kam in den ersten Vormittagsstunden herunter zu ihrem Knaben, der, gehorsam und bescheiden, schon neben seinem Lehrer stand, welcher den fünfjährigen Geiger noch lange nicht aus der »ersten bis dritten« Lage hinauszuquälen gedachte. Denn sehr dauerte ihn das gefügige und unstarke Königskind. Aber in die blasse, junge Seele versuchte der junge Mensch die gewaltig einströmende und alldurchdringende Lehre der Natur zu legen: Eine Frömmigkeit, die alle Priesterschaften und Religionen überdauern wird und aushält, selbst mitten im Banne eines Bekenntnisses.

Leise trat die berückende Königin ein, deren zartgeschwungene, wie mit einem Japanpinsel gezogene und schöne Augenbrauen eine von Geist durchmodellierte Stirn unterbauten, über der die ganze Majestät der Haartour damaliger Zeiten das reizend belebte Antlitz phantastisch erhöhte.

Beinahe wie eine unmerklich an den Fäden der Mode gezogene, wiewohl königlich bewegte Drahtpuppe kam sie daher: Unwirklich.

»Sprechen Sie nur weiter, lieber Auberger,« sagte die Königin (die trotz ihrer Wiener Bewußtheit den Namen, wie jede Französin, »Ohberschee« aussprach). »So höre ich Sie am liebsten. Mein Kind soll wissen, daß die Harmonie schon da war, ehe sie in das Instrument getragen wurde. Was haben Sie für heute in Ihrem Lehrplan vor?«

Und sie stand – die Drähte ruhten.

»Es ist Pfingsttag, Majestät,« sagte Jakob, dem das tiefe Blut aus gepreßtem Herzen hinauf und in die Wangen gefahren war. »Ich möchte mit Seiner Hoheit, dem Dauphin, in den Garten, in den kleinen Kammergarten, Majestät, wo jetzt alle späten Apfelbäume noch zartrosenrot blühen und so duften, daß seine Hoheit davon genötigt werden wird, sehr tief, reichlich und langsam zu atmen; Hoheit atmet stets zu bange, zu gedrückt. Hoheit soll es lernen, lustvoll und in tiefen Zügen zu atmen.«

Maria Antoinette nickte ernster und nachdenklicher, als sie sonst jemand zuzunicken gewöhnt war, und ein Puppenseufzer war mit dabei.

»Ja, mein lieber Auberger, man atmet schwer bei uns. Sehr schwer. Ich möchte meinen Knaben bei einem Hirten bewahrt wissen. Aber da Sie ja da sind, ist es beinahe dasselbe. Ich werde mit euch beiden gehen. Ich hab' heut nichts zu tun und bin frei.«

So geschah das Wunderbare, daß die neunundzwanzigjährige Königin neben dem Musiker beinahe allein in ein so unermeßliches Blühen und Duften hinausschritt, daß beide bald völlig eingehüllt waren in die Feier der Heidengötter.

Auf einmal schien das Marionettenhafte verweht, und eine Seele war da.

Die Königin sagte ganz leise dies einfache: »Die Apfelbäume, wie duften sie nur? Wie wilde Heckenrosen? Wie säuerlicher, leichter Landwein? Wie Honig? Nein: alles das zusammen ist es.«

Daß eine hoch und teuer frisierte Königin so zu empfinden vermochte, das ging dem jungen Menschen stark ins Herz. Dazu lenkte sie beharrlich ihren Weg in die kleinen Beetgäßchen des Privatgartens dorthin ein, wo der alte Schloßgärtner alles nur für sich selber, seine Kinder und seine Enkel gepflanzt hatte, wo Aloe und Kaktus zwar auch auf ihr Wunder warteten, wo aber Salat und Spargel hochschoß, wo die Bohnen sich vor verspäteten Frösten fürchteten und die Artischocken klassische, korinthische Kapitäle bildeten, was die Königin sogleich vermerkte.

»Da sind wir von den Göttern weggekommen, und die Natur zeigt uns den Urgedanken der Krönung alter Tempelsäulen. Wie lieb ist es hier. Wie so völlig kleines Bürgertum, vielleicht sogar Philosophentum bedeutet dies Gärtlein. Vielleicht ist dies alles, was der Mensch ersehnen und erreichen sollte: Nicht, Auberger?«

»Dies und nie etwas andres sage ich ja dem Dauphin, so oft als schicklich ist,« erwiderte der junge Lehrer sehr glücklich und ebenso leise.

»Da, und diese Tulpen! Draußen, wo sie zu Hunderten stehen, bemerkte ich sie im Grunde so wenig wie einzelne Edelleute in großer, glänzender Versammlung. Hier stehen ihrer kaum dreißig; jede anders, jede wie ein zufällig, aber hübsch Geborner. Und jetzt redet das zu mir, was mir sonst fern sein muß.«

Diese Worte gingen dem jungen Menschen so arg ins Blut, daß ihm in den Knien alle Kraft mühsam wurde, und im Atmen ebenso.

»Ich wollte sehr,« fuhr die Königin fort, »daß die Lehre von der Wanderung und Läuterung der menschlichen Seele, wie sie ehedem das beste Heidentum erfunden hat, wahr wäre. Dann bliebe mir Trost und Hoffnung, einmal bescheiden fernzustehen von Pracht, Hoffart, Zwang und Lüge, zu stehen wie hier bei diesen Tulpen. In diesem Dufte der Apfelblüten und neben einem schlichten Menschen, der seinen innern Reichtum mir dann nicht vorenthielte; ›wenn ich ein Mädchen aus dem Volke wäre‹.«

»Philosoph! Um Gottes willen, bleib' nur jetzt Philosoph,« betete der junge Musiker zu seinem wild emporfahrenden Herzen, das schon einen Vulkanausbruch von Glück und Selbstbewußtsein vorhatte und kaum mehr hinunterzuzwängen war. Die Königin sah den stillen Lehrer ihres Sohnes von der Seite an, wartete, lächelte dann. Sie wußte genug. Die Adern an seinem Halse arbeiteten wie flüchtende Aale; die Hände bebten ihm. Es freute sie, daß er sich so sehr zu fassen wußte. Es freute sie, daß dieser Junge der Lehrer ihres Sohnes war; es freute sie, daß sie so heldenmütig verschwiegen angebetet wurde. Und da auch ihr das Blühen und Heidnischsein um sie herum bis ans Herz drang, sprach sie nur noch sanfter und mädchenhafter. (Wie es eben ihre kleine Stimme erlaubte, über die man bei Hofe spöttelte, daß sie so hübsch und gering wäre wie ihre Majestät selber.) Kommandoton hatte sie keinen, auch nicht am Clavecin neben Meister Gluck. Immer war diese Stimme bescheiden, sanft, klein und lieblich: »Ein köstlich Ding an Frauen,« hätte der alte König Lear gesagt.

Und eben diese Stimme warf die stärksten Männer dahin.

»Philosoph! Um Gottes willen, jetzt nur Philosoph bleiben!«

»Ach,« sagte er, nachdem er sich gesammelt hatte: »Das Allerschönste auf Erden ist Ihrer Majestät eben nicht gegönnt, ebenso wie die wunderbarste aller Geschichten, die je einem König widerfuhr, ihm selber nie Wahrheit und Erleben werden durfte.«

»Was ist das für eine Geschichte?« frug Antoinette neugierig. »Und kann sie hier vor meinem Kinde erzählt werden?«

»Der Dauphin selber wird sie Eurer Majestät erzählen,« sagte Jakob Auberger, indem er seinen Schüler mit einem zärtlichen Blick aufmunterte, den der Mann für das Kind einer geliebten Frau immer findet, auch wenn es das eines ihm sehr fremden Mannes wäre.

Und der noch nicht sechsjährige Knabe begann, gar nicht ohne Gefühl und nur wenig leiernd:

»Es war einmal ein persischer Großkönig. Der hatte gehört, daß Kaiser Cyrus in seiner Jugend Hirte in den Bergen gewesen wäre. Und als er einmal einen sehr aufgeweckten Jüngling oben bei den Felsenschafen fand, nahm er ihn mit sich in seine Residenz, ließ ihn von den weisesten Männern erziehen und machte ihn zuletzt zu seinem Großwesir, so gut war der junge Mann gediehen.

Da aber kam der Neid der bisher Bevorzugten.« Der Knabe hielt inne und sah seine Mutter an, ob er so etwas überhaupt sagen dürfte. Die aber nickte ihm aufmunternd zu.

»Da kam der Neid der bevorzugten Kaste, die bisher allein das Wesiramt als das ihre angesehen hatte, und hing sich an die wunderliche Tatsache, daß der Ratgeber des Großkönigs sich täglich in einem Turmzimmer stundenlang verbarg. Dieses Zimmer aber war mit schweren Gittern, Schlössern und Riegeln verwahrt, wie eine richtige Schatzkammer. Und man erzählte sich, darin lägen alle Reichtümer, die sich der Wesir zusammengestohlen hätte.«

»Das ist ein unakademisches Wort, ein taktloses Wort, Louis,« tadelte die Königin. »Du mußt sagen: Alle Reichtümer, die der Wesir sich selber angeeignet hatte, statt sie den Bedürftigen zu lassen.«

Jakob Auberger wurde rot. Manchmal nämlich übte er sich mit einer gewissen Vorliebe in den Jargons des Montmartre und noch dunklerer Gegenden, und davon hatte der kleine Prinz sich irgendwann etwas gemerkt.

Aber der Kleine fuhr fort:

»Argwöhnisch gemacht, begehrte eines Tages der mißtrauisch und alt gewordene König der Könige, zu sehen, was sein Vertrauter sogar vor ihm ängstlich verberge. Und ungern befolgte der Wesir das Gebot, seinen Herrn in den Turm zu führen und ihm, hoch droben, das geheime Gelaß zu öffnen, von dem so fabelnde Nachrede ging. Als aber der König die Riegel geöffnet hatte und in die Stube sah, von der man bis in die Jugendheimat des Wesirs hinauszublicken vermochte, da gewahrte er nichts andres, als vier kahle Wände, an denen ein Hirtenkleid, eine Hirtentasche, eine Bergflöte und ein Schäferstab hingen. Der Wesir aber sagte:

»Deine Ratgeber haben dir recht berichtet, o Herr der Zeit. Dies sind meine Kleider aus den Tagen meines größten Glückes und sie sind all meine Reichtümer, die ich gesammelt habe und von denen ich mich nicht trennen kann. Laß sie mir, o Herr, und laß mich in ihnen wieder in meine Berge ziehen, um jenes Leben zu führen, das ich nicht zu vergessen vermag im Reichtum deines Hofes.«

Der Kleine richtete seine mattblauen Augen auf die Mutter und sah mit Verwunderung, daß diese feucht waren. Da wagte er es und drängte sich eng an die Königin, als wollte er sie wegen irgendeines Schicksals trösten, das ihr widerfahren wäre.

»Hat die Geschichte damit ein Ende?« fragte die Königin, die ihre Bewegung gar nicht verhehlen wollte – jetzt an dieser Stelle und zu solcher stillen, reichen Stunde.

»Nein,« sagte der Knabe. »Der Wesir mußte jetzt erst recht wieder bei seinem Kalifen bleiben, der ihn bis an seinen Tod nicht von sich ließ und zu seinem Schwiegersohn machte. Monsieur Auberger! Ist er dann nach dessen Tode der König oder Kaiser von Persien geworden?«

»Das wollen wir doch nicht hoffen,« sagte Jakob melancholisch. »Solche Menschen sollten ja doch zuletzt, nachdem sie allen treu gedient, sich selber gehören dürfen? Und ihrer Heimat und deren armen Menschen; nicht?«

»Ich wünschte sehr, daß uns diese Art Lehrer und Ratgeber nicht auch das noch antäte und uns ebenso verließe wie der Adel,« sagte die Königin mit einigem leisen Nachdruck. »Wir sind von allen verlassen, Monsieur Auberger; und wenn der Graf Mirabeau stürbe und mein kleiner Jakob Auberger zurück in mein Wien heimkehrte, ich wüßte nicht, wohin mich wenden.«

Auberger kniete einen Augenblick nieder und küßte der Königin die Hand. »Ihre Majestät weiß, daß ich gänzlich ihr gehöre,« sagte er einfach und erhob sich mit einer Fassung, die der Königin so sehr gefiel, daß sie ihr beinahe schon mißfiel.

»Sie sind mein Freund, Jakob, daß Sie es wissen, und ich bin Ihre Freundin. Aber jetzt kehren wir zu den großen Alleen und den Marmorgöttern zurück, die alle so streng in Reih und Glied stehen. Ach, Jakob, sie waren einst so bunt, da und dorthin in die Herzen der Menschen zerstreut, ausgelassen und frei! Die Götter!«

»Wir von heute glauben halb und halb auch an sie. Warum nur, Jakob?«

»Weil jeder Gott, der von vielen geglaubt wird, in Wahrheit lebt,« sagte der junge Mensch geheimnisvoll. »Majestät! Die Entdeckung der Leydenerflasche ist eine der größten Preisgaben Gottes zur Festigung der Religion!«

»Auberger!? Wie sagen Sie? Elektrizität und Religion?! Wollen Sie Paradoxe produzieren?«

»Aber nein, Majestät! Eben in dieser Zeit der Wissenschaft und des durch Herrn van Voltaire bis zur Weltherrschaft getriebenen Skeptizismus sendet uns die Gottheit selber einen Wink zur Lösung ihres Rätsels. Wenn ich zwei Leydenerflaschen vor mir habe, sagen wir eine gläubige, also geladene, und eine ungläubige, also ungeladene, und ich lasse den Funken der geladenen vom positiven Kopf zum negativen Stannumbelag überspringen, so lebt augenblicklich die tote, die leere, die ungeladene Flasche. Und aus ihrem Belag von Zinnfolie springt, wie heiratssüchtig, ein Gegenfunke zum Polknauf hinzu. Es ist, als ob Mädchen die Verlobungsanzeige einer ihrer Freundinnen erhielten. Sie sind dann augenblicklich bereit, den ersten Bewerber anzuhören, der ihnen bisher nur halb gefiel.«

»Das ist hübsch, was Sie da sagen,« erwiderte die Königin nachdenklich. »Aber was hat das mit der Religion zu tun?«

»Die Gottheit, also die Naturkraft, die alles belebt, zeigt uns in diesem kleinen Experiment, daß sie überall da ist und nur wartet. Daß sie nicht einmal durch ihr Gegenteil, Gleichgültigkeit, Unglaube, innere Leerheit umzubringen sei! Daß es nur darauf ankommt, sich mit ihrer Kraft zu laden, um sie selber zu sein. Ja, daß der bloße Wille sogar das Nichts zwingt, ein Bekenntnis abzulegen, teilzuhaben, wenn auch im entgegengesetzten Weg!«

»Sie sind also durch diesen Gedanken aus einem Freigeist wieder ein guter Katholik geworden?« fragte die Königin.

»Das nicht. Ich habe, eben aus Religion, gar kein Bekenntnis. Aber ich weiß, daß es an mir liegt, die Gottheit zu beleben. Zu versorgen mit Nahrung; die Dürstende zu laben und weiter zu erhalten. Das ist eine sehr schöne Aufgabe, Majestät.«

»Widmen Sie sich ihr, lieber, kleiner Landsmann. Sie sind für einen fröhlichen Wiener ein erstaunlicher Mensch.« Und die Königin sah ihn unter ihren aufwieglerisch hübschen, feinen, hochgezogenen Augenbrauen belustigt und dennoch ein wenig liebevoll an, wenn nicht gar ein wenig verliebt. Dann wandte sie sich zu jener nächsten Göttin, zu jener, die stets zu einer ganz vertrackten Verlegenheit der Götter und Menschen gediehen war, und die, so ging die Sage von Versailles, nach einem Bildchen gefertigt war, das Ludwig XV. bei François Boucher bestellt hatte, um jene entzückende Gestalt für immer zu erhalten, die das schönste Mädchen in seinem Hirschpark mit fünfzehn Jahren ihm dargeboten hatte.

»Eine fünfzehnjährige Venus!« sagte Maria Antoinette gedankenvoll. »Mich hat man in diesem Alter verheiratet.«

»Kleopatra schenkte in diesem Alter dem Cäsar ihren Cäsarion.«

Maria Antoinette brach jählings ihren Aufenthalt vor der verrucht lieben Göttin ab, sah, wie Jakob Auberger sichtlich ungern von dem brennenden Platz fortging, und sagte jetzt spielerisch und leicht:

»Die Götter! Man liebt sie (um mit Ihrer Sprache zu reden); man belebt sie neu, um emphatisch und sogar halb gläubig zu ihnen zu beten; weil man ihre Skandalgeschichten kennt – und selber welche vorhat. Ach, lieber Freund, mit Ihrer Leydenerflasche. Warum nutzen unsre Priester nicht jede neue Entdeckung der Wissenschaft so aus, wie Sie? Die Religion würde sich damit stets neu und geistvoll erhalten.«

Auberger merkte, daß die Königin müde war, ernst zu sprechen. Sie liebte nur mehr zu scherzen und Gedanken als Spielbälle zu verwerfen, ohne ihnen viel nachzulaufen.

Auch sagte sie klagend:

»Wie lange, und es wird dunkel sein, und wir haben dann keine Gesellschaft! Der König kommt nicht vor Nacht zurück. Und wenn schon? … Man hat uns einen geheimen Krieg erklärt, weil wir einige, den Adel und die Geistlichkeit weniger als uns selber treffende Sparmaßregeln eingeführt haben. Ach, Auberger! Wir haben ein wundervolles Brillantenhalsband zurückweisen gemußt, weil es uns zu teuer war. Die Genossenschaft der Juweliere hat es uns angeboten, und es war schwer, nein zu sagen! Dazu noch das allerverdrießlichste: Trotzdem wir selber sparsam werden, oder vielleicht eben deshalb, kommt man nicht mehr zu meiner abendlichen Kartenpartie. Alle alten und häßlichen Damen haben heute abend ihre Partie, nur die Königin sitzt allein. Und alle Götter hier im Parke werden wieder zu Stein und können ihr nicht helfen. Spielen Sie Ekarté, Lansquenet, Mariage, Pikett?«

»Nichts von alledem,« antwortete Jakob traurig. »Ich habe es stets vermieden, Kartenblätter zu wechseln, wenn ich mit jemand Gedanken wechseln konnte. Und, war niemand dafür zu haben, so waren die Gedanken meiner Einsamkeit doppelt reich.«

»Ja, ja,« sagte Maria Antoinette mit ein wenig Ironie, aber nicht ohne neidvolle Schwermut zu spielen: »Die Hirtenflöte – droben in den fernen Bergen.«

Und sie nickte diesem Jakob Auberger, der nicht einmal zum Kartenspiel zu gebrauchen war, leicht zu, nahm selber den Dauphin an die Hand und schritt jene herrschaftliche und geheiligte Treppe zum Schloß empor, die nur für Empfänge bereitstand, und auf der sich der arme, kleine Wiener Musikant niemals (und schon gar nicht allein neben der Königin) zu zeigen wagen durfte.


Abendlich werdend rauschte der Park. Die vielen Kerzen der Kastanien standen grell im gelber werdenden Sonnenlicht; auch sie begannen im anschauernden Winde die ersten Scheidebriefchen fallen zu lassen, ebenso wie die letzten Spätapfelbäume im Kammergarten des alten René Rolisse, des Großvaters über Park und Küchenpflanzen, über Tulpen und Kakteen und Blaukohl und Artischocke.

Jetzt hörte der junge Musiker, daß droben die Königin am Clavecin saß. Sie studierte, probierte. Irgendein Lied entstand da. Was für eines? Er hörte, wie sie einen Text zu singen versuchte: mit ihrer hübschen Kleinmädchenstimme versuchte, die als gar nicht königlich empfunden wurde von den Kennern, und die so sehr alle geheimen Liebhaber der reizenden und so sehr verschrienen Österreicherin entzückte. Modulierend suchte sie eine Melodie, sodann eine Begleitung zu den Anfangsworten eines Chansons, den Jakob vor ihr am Fenster liegen sah, zu dem sie stets wieder trat, darin blätterte, zurückkam an ihr Klavier und abermals Melodie und Begleitung begann zu den Worten:

» Qu'est ce qu'il sera, mon pauvre Jacques?«

» Qu'est ce qu'il sera? Qu'est ce qu'il ira?«

Er dachte schaudernd an ein Lied, das er in den Kneipen singen gehört hatte! Ein Lied, das Haß und Hoffnungen der Enterbten, bis zum Bersten voll, enthielt. Ein Lied, das die Frage Maria Antoinettes mit den Worten erwiderte:

» Ça ira …«

Dann sah er, wie die zarte Gestalt der Königin jetzt im Kerzenschein noch einmal, wie fröstelnd, am Fenster erschien, abermals, beinahe puppenhaft klein und fern, ein Fichu um die reizenden Schultern zog, und sah, wie die feinen Händchen selber das Fenster schlossen. Gedämpfter, aber immer erfüllter erklang jetzt am Klavier die Arie aus dem Munde der Königin:

»Was wird werden, mein armer Jakob? Was wird gehn?«

Bis in die Nacht stand der junge Mensch im blütenschweren Garten – ein Herz, so voll, wie der Park von Flieder, Jasmin, Kastanie und letztem Apfelduft. Er wartete, immerzu und nimmersatt, auf jenen stets wiederholten Versuch der reizenden, hohen, fernen Frau dort droben, die sich in ihrer Einsamkeit und Desperation damit plagte, im Stile ihres Meisters Gluck zu komponieren.

Immer nur, ohne je eine Antwort zu finden, dieselbe Frage, die ihm selber im Herzen brannte:

»Ach, was wird sein, mein armer Jakob? Wie soll das gehn?«

Man muß nur denken, was damals eine Königin bedeutete: Gottheit, Mittelpunkt, Sonne. Und wenn eine Königin nur seufzte, so war das ergreifender, als wenn das schönste Kind stürbe. Und wenn eine Königin mit einem jungen Musiker allein und beinahe geheim unter Blüten wandelte, so war das dermaßen unerträglich, daß dem guten Jungen zumute war wie einem Tiefseefisch, der ans Licht gehoben wurde. Geblendet nicht nur, nein: vor Überfülle des Ereignisses zum Zerspringen geladen, taumelte er an der unerklärlichen Leine und Laune, die ihn hierher gehoben.

Auch er an einem Faden? Auch er Spielpuppe?


War es in der Richtung gegen Versailles, war es Batignolles, wo er in seinem Glücksrausch hingeraten war? Er wußte es nicht, so lange Zeit suchte er instinktiv die Einsamkeit und die Natur, die allein stets aufnahmebereit und groß genug für sein immens gewordenes Lebensgefühl waren und die ihn von den feinen Spinnfäden freimachten.


Etwas von diesem Gefühl blieb aber doch so lange, bis die alten Kameraden ihn am Arme faßten und zurückzogen. Er war bisher allen als offen Ohr und offen Herz unentbehrlich gewesen. Er hörte gern vom amerikanischen Freiheitskampf und der unbeugsamen Bürgerlichkeit dort drüben erzählen, die jetzt bald auch hierzulande den Tisch fegen würde. Er stand dem eitelsten Sänger und sogar dem trinkfesten Bläser Le Care gern und geduldig mit Bewunderung zur Seite – kurz, jeder brauchte ihn. Dazu war sein Witz gegen Leute, die man fortwünschte, ebenso begehrt. Noch war es unvergessen, wie er nach dem beispiellosen Erfolg seines Abgottes Gluck dessen Gegner Piccini einmal in fröhlicher Runde gesagt hatte: »Ich an Ihrer Stelle, Maestro Piccini, wissen Sie, was ich geworden wäre?«

»Nun?«

»Komponist.«

Aber während die andern lachten, träumte er schon wieder.

Da warf der Strom der Freunde den jungen Menschen, dem es schon beinahe unmöglich war, sein übervolles Herz zu wahren, eines Tages am Saum der einfachen Holztische beim »Flinken Kaninchen« ab. Dieses Gasthaus, aus dem später eine vielbesuchte Vergnügungsstätte werden sollte, hatte damals seinen Namen bloß deshalb erhalten, weil die ewig hungernden Studenten und Künstler in wenigen Minuten, ja oft nur in Sekunden ihr Kaninchenragout vorgesetzt erhielten, das meist schon in der vorhergehenden Nacht zubereitet worden war, damit es Übernächtige und Marktleute frühmorgens schon recht schnell und frisch erhielten, zusammen mit einer Bouillabaisse, die Herz, Magen und Leber aufrührte und so belebte, daß sie Tote zu erwecken imstande gewesen wäre. Sogar Herren von Adel kamen manchmal in grauer Dämmerung abends und noch lieber morgens hierher, um ihren Katzenjammer wegzaubern zu lassen vom anerkannten Curry und Cayennepfeffer des Wirtes und dem geistigen Brennapparat der dort soeben aufwachenden Künstler, die stets innerhalb einer halben Stunde ihren gestrigen Witz und Humor wiedergefunden hatten. All dies im Herbst oder kühlen Frühling bei Ratafia, im Sommer bei Wein; und stets bei jenem Cayenneragout und jener Zwiebel-Knoblauchsuppe, die wie Höllensünde heiß und schön durch die Adern lief, so daß sie aufglühten.

So billig das tägliche Leben dort war, so wenig auch war das Ansehen der übermütigen, herrschenden Stände dort wert im Munde der jungen Revolutionäre. Kaum daß man den König schonte – oder ihm gutmütig vor seinem Ende den letzten Beichtvater in ganz Frankreich bewilligte, den die Königin ohnedies nicht brauchte: die Metze!

Die völlig Gutmütigen wollten sie als Dogenpaar nach Venedig abschaffen.

Solche Dinge mußte der junge, geheim Verliebte mit anhören und durfte sich nicht verraten! Es war unerträglich und es war dennoch süß, von der blonden, puppenzarten, doch hohen Frau so reden zu hören, als ob es einem frischen und kecken Jungen durchaus möglich wäre, sich ihrer, sogar von jenen Gesellen zugestandenen, jungen Schönheit zu bemächtigen.

»Der schöne Rohan, der Erzbischof von Straßburg, hat sie ja doch besessen. Oh! Die Königin hat der Lamothe und der Dirne, der Oliva, welche dem Kardinal statt ihrer zugeführt worden sein soll, fürs Gestäuptwerden ein schönes Douceur gegeben, ehe beide verschwanden – um zu schweigen.«

»Das ist unmöglich,« fuhr da der junge Jakob zum erstenmal auf. »Ich bin oft bei ihr! (Ich werde euch nicht verraten.) Aber beleidigen lasse ich sie nicht; sie, die ich kenne und die ihr nicht kennt, ja gar nicht kennen wollt

»Oho, also auch du kennst sie? Und willst sie ›erkennen?‹ Schaut mir den feschen, jungen Österreicher an!«

Der arme Jakob nahm seinen dreieckigen Hut und stürmte davon, daß ihm der Zopf hinterherflog, während die Zechgesellen ihm gröhlend nachlachten und ihm frechlich und laut alles Glück wünschten bei ihr.

»Bei ihr …«

Er hörte noch die dröhnende Stimme des gewaltigen Kontrafagottisten Le Care, der nach einem Hieb auf den Holztisch ausrief: »Na …, aber, Jungens! Glaubt ihr, hat er sie schon besessen?«

Dann trug seine Scham, seine Wut und seine Seligkeit den armen Jakob in die nahen Parks und Wälder, und immer wieder dachte er daran, daß diese Gamins da ein Glück, an das er nicht im Traum zu denken wagte, für durchaus möglich hielten.

Diese verlästerte, holdeste, stets wie in Fesseln lebende Frau, neben ihrem unmöglichen, hochmütigen, dicken Schlossermeister von König, der nichts andres konnte, als Eisendreherei betreiben, zu Pferde arme Tiere tothetzen und mit rasch hinzugereichten Doppelgewehren Rebhühner schießen. Noch entsann er sich des Erschauerns der Königin neben dem robusten, ja stumpfsinnigen Manne, als dem das Modell zur Hinrichtungsmaschine des Arztes Guillotin vorgelegt wurde.

»Dieser Doktor«, sagte der König-Mechaniker, »kennt das Gesetz nicht, wonach ein stichartiger Schnitt schneller und tiefer eindringt als ein breitgeführter Hieb. Er hatte das Fallbeil nach Art einer Zimmermannsaxt geradlinig in der Schnittfläche konstruiert, da die Schneide doch schräg zum Hals des Delinquenten herabfallen sollte. Hat er kein Schustermesser gesehen? Keinen Papierschneider? Das macht man so.«

Und mit einem Strich hatte der kundige Mechaniker der Fallklinge der ersten Guillotine die richtige Schräge so gegeben, wie sie jahrhundertelang bleiben und sich bewähren sollte.

Jakob hatte damals einen Blick nach den träumerisch blauen Augen der Königin geworfen, die deutlich erschauerte, seinen Schüler, den Dauphin, an sich geschmiegt, den der König besucht hatte. So deutlich war dieses Vibrieren, daß Jakob das wundervolle Zittern der kleinen, jungen Brust und ihr Heben und Senken unterm dünnen Seidenkleide sah …, und das leise Rütteln der mädchenhaften Schultern, die so weiß und bloß waren.

Dann vergaß er jene eigentümliche Szene, an die er erst später aufs furchtbarste erinnert wurde. Er dachte bloß mehr an jene bebenden, kleinen, festen Mädchenfrüchte, die so schön waren, daß ein Goldschmied sich den Gipsabguß vom Leibarzt der Königin verschaffte, um einen goldenen Becher über sie abzugießen, aus dem Kardinal Rohan, täglich und nimmersatt, trank.

Solche Dinge erzählte man sich über Maria Antoinette. Solch eine Frau liebte er; unvernünftig, jung, toll, hoffnungslos hoffend!

Soweit war er längst Kind seiner emporbegehrenden Zeit geworden, daß er nicht jenes angeerbte Leibeigenengefühl im Blute hatte, das sogar einem Haydn unausrottbar in den demütigen Gliedern saß. Sogar Gluck, ein Kind aus kleinem Forstbereitershause, zwang sich den Titel » Cavaliere«, den ihm der Papst verliehen hatte, auf, wie eine Art Panzer gegen das Gefühl eines sonst minderwertigen Standes. So sehr war jahrhundertelang der Armut zu ihrem Unglück und dem Druck, den man ihr auflegte, noch obendrein das Gefühl der niedrigen Kaste ins Gemüt gepreßt worden.

Da war aber Beaumarchais gekommen – mit seiner »Hochzeit des Figaro«. Und ein befreiendes Gelächter erhob sich in allen insgeheim revoltierenden, stolzen, jungen und junggebliebenen Herzen über die »gnädigen Herren, deren einziges Verdienst darin bestünde, daß sie sich die Mühe gegeben hätten, geboren zu werden«. Es entstanden (das ganze große Frankreich mit seiner Millionenstadt hatte bis dahin nur ein Blättchen gehabt, das zweimal in der Woche erschien!) neben dieser kriecherischen »Gazette de France« der »Moniteur«, »La Liberté«, und die brachten die aufregenden Nachrichten vom unbeugsamen Trotz der Virginier, der Kentuckier, der neuen, freien Staaten dort überm Meer, die nur Bürger duldeten, und – wenn »ER« in London auch nur das geringste dagegen hätte – auch keinen König. Und damit hallo! und » go ahead!«

Zudem kannte Jakob Auberger in Bonn einen jungen, prachtvollen Kerl von Musikanten, einen kleinen Menschen, namens van Beethoven, der verkehrte beständig in Adelsgesellschaft. Aber der sagte nie etwa: »Herr Baron,« sondern stets nur »lieber Baron,« oder gar nur: »Sie, Baron?!« Und damit schüchterte er sogar große Herren ein.

König und Königin waren nur mehr Drahtpuppen, deren Halt mit der Geduld riß, die man noch mit ihnen hatte.

Zudem war Maria Antoinette verhaßt; weit verhaßter als der unselige, fünfzehnte Louis, dessen leichte Verwundung durch Damiens noch Stürme der Entrüstung in ganz Frankreich aufrauschen gemacht hatte: » Le bien aimé«, der Vielgeliebte, hieß er noch dazu. Und nur ein kleines Spottliedchen protestierte gegen den offiziellen Titel:

» Le bien aimé de l'almanac
n'est pas le bien aimé de France;

il met tout dans le même sac –
et la justice est la finance.
«

Das waren noch unschädliche Elmsfeuerchen, schwache, ferne Zeichen elektrischer Spannungen gewesen gegen den sprühenden Haß des Volkes auf diese Königin, von der man es, trotz ihrer scheinbaren Modepuppenhaftigkeit, ja dennoch ahnte, daß sie die einzige geborne, zum Herrschen geborne, wahre Aristokratin am ganzen Hofe war. Nicht nur das – sondern vielleicht der einzige Mann in dieser liebedienernden, stellenerbettelnden, unnütz skandalierenden, witzelnden und das Mark des Volkes aussaugenden und sinnlos verprassenden Gesellschaft, deren Drähte zerrissen – durch ein Volk, das keine neuen zu führen wußte …

Dieser Haß dichtete dem Mädchen, das die Königin sonst im Grunde stets geblieben war, und als das sie Jakob eher mitleidswert, klein und hilfsbedürftig erschien, Dinge an, so ungeheuerlich in der pervers-sadistischen Erfindungslust, daß er sie um ihrer Unschuld willen nur noch mehr liebte. Ihm war so das Wunderbare geworden, sogar einer Königin gegenüber jenes stolze Stück Beschützernatur zu fühlen, das dem echten Manne niemals fehlt und das ihn hier doppelt hoch erhob.

Er ahnte, daß die Dinge ihn einmal hoch über dieses Stückchen entzückender Puppe heben könnten.

Scharen dienender und gebeugter Kreaturen, sie selbst als Mittelpunkt all dieser tiefen Verbeugungen, sah sie sich allein, und wußte es gar nicht anders. Konnte gar nicht anders denken; selbst dann noch, als es »Madame Veto«, wie man den hübschen, kleinen Trotzkopf längst nannte, endlich einmal in Versailles beinah' ans Leben gegangen war.

Damals hatte sich der kleine Auberger vor sie geworfen. Damals aber auch hatte er zu der brüllenden Rotte in solch entsetzlichem Argot, nein, Jargon gesprochen, daß die Königin über den Ton ihres Retters beinahe noch mehr bestürzt war, als über die Drohungen des aufgereizten Pöbels.

Ihr erstes Wort war damals gewesen:

»Nein, Ohberschee!? Es ist entsetzlich, wie Sie mit diesen Menschen vor meinen Ohren zu sprechen gewußt haben!«

»Anders würden sie mich nicht verstanden haben, Majestät. So nahmen sie mich für einen der ihrigen. Wer Feinden bis ins Lager nachkommen will, der muß erst völlig ihre Sprache lernen!«

»Ich verbitte sie mir, vor meinen Ohren, in alle Zukunft. Ja, mein kleiner Freund! Ja? Ich werde vierzehn Tage Zeit brauchen, um Ihren ganz abscheulichen Vorstadtjargon überhaupt mühsam zu vergessen. Ich ersuche Sie, in dieser Zeit weder das Clavecin noch die Geige in meiner Gegenwart zu berühren, damit ihr bezaubernder Ton mich nicht daran erinnere, was für Töne Ihrem Munde entfahren sind. Bitte, gehen Sie bis dahin in die Schule unsres guten Geschmacks und eines reinen Französisch.«

Dies war ihre Antwort für die Rettung ihres Lebens gewesen. Er mochte gar nicht daran denken; und niemals schilderte er auch dem besten Freunde jene Szene, wo er Held zu sein geglaubt hatte und ausgescholten worden war wie ein schmieriger Gassenjunge, der etwa Madame mit kotigen Fingern berührt hätte, um sie aus der Sündflut zu ziehen. Darum werden auch wir über die Einzelheiten dieser grauenhaften ersten Szene der Revolution wenig berichten. Vorderhand: Auberger schien in Ungnade gefallen, in derselben Minute, in der sich sein Herz vor Stolz und ingrimmigem Rechtsgefühl emporbäumte.

Nur manchmal, wenn er im Orchester die ihm jetzt übertragene Bratsche spielte und der Zufall ihm hier, wie es einmal bei Mozart geschah, dennoch eine führende Stelle übertragen hatte, da heftete die Königin unter ihren zärtlich schmalen und dunkeln Augenbrauen ihre wunderbar blauen Augen lange und tief auf ihn, bis er die seinen senken mußte, damit kein neuer Skandal entstünde, an dem ja doch wieder er schuld gewesen wäre.

Sein Herz brannte ärger als jemals. Er wurde, vor Liebe und Unfähigkeit, diese Frau zu retten, ja, auch nur warnen zu können, so hilflos, daß er mager und blaß wurde, so sehr, daß Marie Antoinette, welche die Ursache als Frau erriet und von ihr geschmeichelt war, ihn wieder zu Gnaden in den Unterricht der Musik und einiger Wissenschaftsfächer (»außer den Sprachen!«) beim Dauphin einsetzte. Er hätte sich für diese Frau zerreißen lassen, so, wie ihr es damals, ohne jenen entsetzlichen Jargon in Versailles beinahe widerfahren wäre. Ja, er wünschte beinahe, daß dies bald geschähe, damit er an seiner unsinnigen Liebe nicht ersticke und verdürste.

Einmal fiel ihm, auf einer verlassenen sonnigen Bank, heißgebrannt und einsam, ein Band Petrarca in die Hand.

Er öffnete ihn, verwundert, daß jemand im Park von Versailles Italienisch läse. Er schlug nun zufällig jene Stelle auf, in welcher der Dichter zu Laura sagt: »Ich möchte dieses Brennen, dieses Bangen nur darum noch ein Weilchen überleben, um die Zeit gekommen zu sehen, da sich deine blonden Haare mit weißen Fäden durchziehen und deine glatte Stirn die Inschriftlinien des Alters trägt.«

Sinnend stand er da. Alles um ihn drehte sich ins Düstere, wie sich die Erde vom Tag zu Nacht dreht. Da stand sie ja; die Mahnung an ihn, der Philosoph werden wollte! Da stand ja die einzige, bittere Möglichkeit seines Trostes, der diesem waghalsigen Herzen geboten wurde, wie der Schwamm voll Myrrhen und Galle …

Er hörte kaum die leichten, schnellen Schritte im Kies, welche offenbar die Ankunft einer Hofdame verrieten, die sich ihr Buch offensichtlich zurückzuholen gekommen war. Der breite Schatten eines Florentinerhutes fiel plötzlich auf die schaurige Herbststelle im Buch, auf den todesnahen Wunsch des Liebenden: »Ich möchte dieses Zagen, dieses Bangen nur deshalb noch ein Weilchen überleben …«

»Geben Sie her, Auberger.«

Unter dem hellen, halbsonnigen, halbschattigen Hut, dessen Reflex all ihre Züge undeutlich und weich, ja unendlich zärtlich machte, standen die verwunderten, hochgezogenen Augenbrauen der Königin, wie mit einem feinsten Pinsel schwarz über blaueste Frauenaugen hingetuscht. Das Antlitz Marie Antoinettens neigte sich tiefer über das ihm genommene Buch. Sie las. Sie errötete. Legte das Buch weg – und sah ihn jetzt so angstvoll, so hilflos traurig beinahe an, daß ihm das Herz klamm wurde.

»Sie!? Sie wünschten dies ebenso?! Sie?«

»Ich habe es eben gelesen und konnte mir noch keinen Eindruck darüber klarlegen.«

»Aber Eindruck hat es Ihnen gemacht, Auberger!?«

»Es ist das so bitter traurig: Es blieb dem Dichter kein andrer Wunsch.«

»Und es ist also auch der Ihre – mon pauvre Jacques?«

(Die Anfangszeilen ihres Liedes damals in der Nacht!)

»Gott bewahre mich, das zu erleben,« sagte er ehrlich erschrocken. »Mit meiner eigenen Jugend möchte ich Majestät aushelfen dürfen – gegen die Jahre!«

»Ach, Sie hätten mich damals töten lassen sollen, Jacques. Lieber eine tote, aber schöne und junge Königin, als ein gekröntes, dickes, altes Weib, das auf seinem Erfolg sitzt, wie die Kröte auf dem Edelstein.«

Und sehr schnell ging sie hinweg. Auberger merkte, daß sie ihr Tüchlein ans Gesicht hielt. Vielleicht sogar an die Augen. Das Buch hatte sie ihm als Hinterlassenschaft vor die Füße fallen gelassen. Und er? Er hob es auf und las noch einmal:

»Ich möchte dieses Zagen, dieses Bangen,
Nur darum noch ein Weilchen überleben …«
»Graues Haar …«

Ach, beliebte die Herzkönigin nur deshalb stets ihr schönes seideblondes Mädchenhaar, das zärtlich weiche, so gern mit weißem Puder zu bestäuben? Und doch, wie apfelblütenhaft sah das Gesichtchen darunter hervor! Graue Haare und Marie Antoinette? Wirklich: eher zerriß die ewig neidische Meute, das Volk sie, die nur geliebt oder nur gehaßt werden konnte, ob so vieler siegreicher Schönheit …

Einmal (die Königin hatte sich wieder einmal als » Madame Veto« bewiesen und dem » Tiers état« einige, zu schnell und zu vorlaut begehrte Rechte hinausgeschoben), einmal stand sie, die alle Augenblicke einer anderen Schicht Frankreichs Verhaßte und als Fremde Abgelehnte, wieder in Gnade beim Adel, welcher ihr irgendein kleines Fest bereitete, dessen Motiv sehr hübsch war: »Die Zeitalter auf dem Lande.«

Marie Antoinette wurde in einem reizenden Singspielchen vorgestellt, bei dem sie, in Schönbrunn bei Wien, einmal als Mädchen mitgesungen hatte, und zwar in einer der drei Hauptrollen. Denn andre und mehr gab es in dem Operchen nicht, das damals der junge Mozart für Marie Theresiens kleines Haustheater geschrieben hatte.

»Auf dem Lande«, das war für den Pariser Adel nämlich auch Schönbrunn. Mit den Kulissen des Schlosses, dessen Höhe damals noch von keiner Gloriette gekrönt war, führte man das Bild der jungen, noch gar nicht dem Dauphin versprochenen, ahnungslosen und kindlichen Erzherzogin vor – und mit größtem Geschick hatten die Herren vom Adel ein fünfzehnjähriges Kind, Nichte und Ziehtochter des Fagottisten, ausfindig gemacht, das ja, aus Musikantenblut, Theater, Gesang und Kulisse gründlich kannte, wenngleich der trink-, aber auch ehrenfeste Hoboist die Tugend seiner kleinen Marion sehr energisch zu schützen wußte. Erst vor kurzem hatte ein Chevalier de Seingalt für den Versuch gröblich gebüßt, die Kleine bei Gelegenheit der Proben unehrbar zu berühren; Proben, zu denen man in Künstlerkreisen ihn als Italiener und Fachmann zu Hilfe gebeten hatte. Das sprach sich herum. Aber – wie stets – die gut verteidigte Kleine wurde eben wegen der Gefahr, mit der sie zu erobern war, schon vor jener Zeit interessant, in welcher sie sonst die Augen der jungen und sogar der älteren Herren vom Adel auf sich gezogen hätte. Jetzt bemerkte man mit Staunen, wie ähnlich sie der jungen Dauphine sah, welche, fünfzehnjährig, nach Frankreich gebracht worden war, um ihr entzückendes Körperchen einem temperamentlosen, ihren sprühenden Geist einem anregungslosen Manne zur Verfügung zu stellen.

Die kleine Marion Le Care war damals bald so sehr der Mittelpunkt aller Geselligkeit, daß sogar der etwas träge König, der sich seiner Jugendtage und seiner Verlobung entsann, – daß sogar der sie väterlich küßte. Und nach ihr Antoinette. Nach ihr alle Hofdamen. Den Herren ward dies verboten; außer dem Herzog von Orléans, dem man eine kleine Freiheit nicht abschlagen konnte.

So kostbar wurde das Püppchen behandelt, das eine ebenso kleine, eine dünnere Stimme noch besaß als die Königin selber; wiewohl eine ebenso hübsche Stimme wie ihr erhabenes Vorbild.

Jacques spielte damals in der Hofkapelle wieder die erste Geige und sah das beinahe drollig hübsche und puppenhaft zurechtgeputzte Schäferkind, genau en miniature der Königin nachgeahmt, mit Überraschung an.

Wirklich. Sie war die Drahtpuppe der Politik! War jene Marie Antoinette, Erzherzogin von Österreich; Puppe wie jene! Hilflos, rührend, schön, mit einem kleinen Stimmchen, mit viel Erziehung und Grazie begabt. Beides Österreicherinnen, wie der neugierig nachfragende Jacques bald vom Fagottisten Le Care selber erfuhr.

Nun, Marie Antoinette war kein Püppchen geblieben!

Ihre kleinen Hände zogen sogar fest, wenn schon nicht glücklich, an den Zügeln der Staatskarosse, und dies war nicht die Schuld ihrer Festigkeit, sondern der hilflosen Fremdheit des Dauphins und späteren Königs, der sehr wenig zum Herrscher erzogen oder geboren worden war. Er fühlte sich nur wohl in der Ruhe als Schlosseramateur, in der Bewegung als Jäger. Er saß leidlich zu Pferde, wenn es eine Parforcejagd galt. Er schoß noch ein wenig leidlicher, als er zu reiten vermochte. Damit glaubte er, alles getan zu haben, was einen König zierte.

Marie Antoinette aber spielte Karten, spielte Theater, spielte Musik, spielte mit Herzen; alles wohl mit weit mehr Talent und Temperament als ihr Gatte.

Aber sie spielte auch mit Frankreichs Geschick.

Wenn auch in ihr der große Ton des Heroischen schon versteckt lag, der ihr so gar nicht angelernt worden war, der, nur in letzter Stunde, aus geheiligt sich wissendem Blute nach oben rang, um eine ganze Nation zu beschämen, die sie verlästert hatte, und sich an ihr als unwissendem, aber niemals schlechtem Weibe entsetzlich gerächt und vergriffen hatte, noch spielte sie.

Jacques, der als Österreicher gegen gehässige Voreingenommenheit geschützt war, liebte die Königin schon als Mann, wie jeder Mann eine Frau liebt, die er gern beschützen möchte.

Er, der arme kleine Musikant; er begann auch, aus Mitleid zu lieben.

Ah, wir müssen hier noch einmal bei jenem Abend verweilen, bei dem die kleine Marion Le Care die Bastienne gespielt und gesungen hatte.

Denn auch für sie war ungemeines Mitleid in der Seele des fremden Musikers aufgestiegen.

Königin-Kind und Kind-Schäferin. Diese Kleine, als Abbild der kindlichen Dauphine von ehedem, das wurde in ihm zu einem. An beiden erkannte er, wie sehr sie, die eine als Königin der Vergänglichkeit, die andre als Beherrscherin eines einzigen Vergnügungsabends, einander ähnlich waren.

Marion – Marie Antoinette: – Beides Marionetten.

Beide benützt; beide gezogen und angelernt; – und verloren, wie alles Angelernte, sobald die große Stunde der Tragik an sie herankam, wenn nicht der wilde, rettende Katzensprung der großen Natur, des übergewaltigen Blutes, über alle Schulung hinwegzusetzen vermag!

Aber er? Liebte er nicht über alle Grenzen und jedes vernünftige Maß hinaus, aufgewühlt heute mehr als jemals, im Kind die kleine, mißbrauchte Erzherzogin von ehemals?

Worein war er so verliebt? In das plappernd eingelernte, reizende Nachbild? In die ebenso gezogene und vielleicht kaum erst jetzt erwachende Königin? In diese hübsche Mädchengestalt, welche erst jetzt zu schwerer Besinnlichkeit, Angst und Trauer zu erwachen bestimmt war?

Das kleine Mädchen, die große Königin … Beide ahnungslos. Und er, der Kenner der Großen, wie der Beherrscher des übelsten Pariser Vorstadtjargons, der Sprache seiner Feinde – er sah.

Er sah erschreckend deutlich. Sah alle Sünde der Vergangenheit, welche kein König jemals sieht, er wäre denn Genie, also Rebell. – Sah die sich zur Faust, ja zur Henkerhand spannende und ballende Zukunft.

So kam es, daß er die Königin liebte wie etwas, was unendlich hilfs-, ja rettungsbedürftig wäre. Wie etwas, auf das man heruntersieht. Ein Ding – toll, hochheilig und tieflächerlich!

Narrenphantasie!

Dieser heutige Abend. Sein Wagnis in revolutionärer Phantasie, Marion und Marie Antoinette als eins zu empfinden: »Skurril, n'est ce pas?«

Ein kleiner Geiger, der zwei Puppen sieht. Eine, die dem eben vielleicht entwachsen wird. Eine zweite, die kaum jemals die Fäden der Welt zerreißen würde.

Aber das Wunderlichste war dies: Mit ihm selber wurde auch gespielt.

Von allen Möglichkeiten seines zumeist nur durch Phantasie und Einbildung so bunten und abenteuerlichen Lebens war es eine der herzerregendsten, eine wundervolle, gefährdete Königin zu lieben und sich von ihr wiedergeliebt zu glauben; so, daß nur anerzogener Stolz, Angst vor Skandal, und Fremdheit der Kasten gegeneinander sie hinderte, dem Liebenden Mädchen und Weib zu werden. Zudem war damals eine Zeit, da man mit der Liebe tändelte wie mit blumenbestickten Bändern, die man als Zügel lenkfroh flattern ließ und dennoch niemals so anstrengte, daß sie zerrissen. Man zog sie nicht zurück – und man ließ sie nicht willenlos aus der Hand; man freute sich eines Spieles.

Ach: damals war ja das ganze Leben noch ein einziges, frohes Spiel in Blumen und Bändern, wenn man es nur in den bevorzugten Ständen zu genießen die Ehre hatte, wie der immerhin aus gutem Hause stammende und gebildete, schlagfertige junge Wiener Künstler.

Es wäre alles entzückend gewesen, wenn Jakob Auberger dies lose, leise, geheimtuende und gefährlich scheinende Spiel der Blicke, des Stimmtimbres, hochgezogener Augenbrauen und Fremdscheinens mit der ganzen Leichtigkeit und Köstlichkeit eines Franzosen zu genießen vermocht hätte. Aber sein deutsches Herz war zu schwer; sein Blut zu dick, zu ehrlich und seine südliche Art dennoch zu heißblütig, zu phantasievoll, als daß er »auf alles oder nichts hin« zu spielen gewagt hätte – was ein Unsinn war.

Marie Antoinette freute sich, daß der gute, arme Junge ihr so hemmungslos verfallen war und dennoch so viel Geschick und österreichischen Takt bewies, seine ganz erstaunliche Frechheit im Hoffen, nur sie, sie allein und sonst niemanden – weder bei Hof noch in der königlichen Musikkapelle die Kollegen – merken zu lassen. Nicht einmal der schwache, kleine Dauphin wußte ihrer manchmal dennoch behutsam aufsteigenden Neugier auch nur ein unvorsichtiges Wörtchen, eine Frage, ja sogar keinen Ausruf ehrlicher Verehrung zu berichten.

So konnte das schon eine Weile weitergehen; von der einen Seite vergnügt und siegeseitel, von der andern verhohlen glühend; wenn's eben nur immer verhohlen blieb.

Da war aber einmal eine Stunde, in der seine allzusehr aufgesparte Jugend vulkanisch auf- und herausbegehrte. Und der Zufall, die sinnlich spielende Verwegenheit der Tochter Franz von Lothringens und ihre niemals erfüllte Zärtlichkeit steigerten diese Stunde gar zu hoch.

Das geschah so:

Abermals hatte der Adel der Königin gezürnt, weil sie seine schamlosesten Privilegien in einer freien Stunde mit Necker durchkritisiert und gestutzt hatte, während der König einige vierhundert Tiere tötete. Sie mußte abends, was ihr völlig unerträglich war, allein in ihrem Zimmer bleiben. Sie hatte keine Skandalgeschichten anzuhören bekommen, nichts zu lachen und nicht einmal etwas zu weinen gehabt. Die Karten sahen sie höhnisch an und sagten ihr, daß nur völlig hohe Herrschaften, die ihr eigenes Königreich in sich selber besäßen, sich ihrer Tyrannei zu entziehen wüßten. Sie aber hätte den zweiten, dritten, vierten um seine Gegenwart zu bitten und wär's ein ungefüger Bauer! Sie fühlte sich ein wenig erniedrigt durch diesen Gedanken. Sie wandte sich, aus einem Rest von Trotz, nachdem sie den jungen Dauphin besucht hatte und Jacques dort flüchtig lächelnd angesehen, an ihr Clavecin, wo sie aufgeschlagene Verse und einige Noten von sich selber vorfand; Noten von vorlängst … Noten, welche ihr einen Pfingstabend in Erinnerung brachten, da sie eines schwachen Augenblicks Länge unter drängend großem Blumenblühen, im kleinen Kammergarten eines alten Angestellten, und neben einem jungen Künstlerphilosophen beinahe etwas gewesen war wie eine verliebte Frau aus kleinem Stande; halb glücklich und dennoch erschrocken über sich selber.

Sie blätterte, sie las. Und gleich danach saß sie am zirpenden Flügel und versuchte jenes kecke Lied, das irgendein Student vom Montmartre geschrieben hatte und das ihr eben damals zupasse gekommen war, neuerdings in Töne zu setzen. Siehe da? Heute gelang es. Ja, es wurde wirklich hübsch. So hübsch, daß ihre Wangen vor Vergnügen und Stolz glühten.

Draußen aber geschah dieses: Es kam leise der arme Verliebte vorbei. Er mußte, stockenden Schrittes, anhören, was seine Königin drinnen sang, unwirklich wie in einem Puppenspielchen.

»Ach, was wird sein, mein armer Jacques;
Ach, wie soll das gehn?
Werd' ich jemals dein kleines Vorstadtmädchen
sein dürfen,
Und du
Mein König?
Traum: Lebst du je?
Ach, was wird sein, mein armer Jacques!
Ach, was wird gehn?
Geht es an, daß eine Königin liebt, geht das
Lied vom hübschen Tambour heute noch an?
Weit wäre der Weg; unglücklich, oder ganz unmöglich –
Mein armer Jakob.
Ach, wie soll das gehn?«

Sie sang es. Sie selber hatte die Melodie erfunden. Und wirklich, sie sang den Text. Das riß ihm das Herz heraus. Und frevelhaftes Begehren hinauf. Den Text, den sie selber sich ausgesucht: » Mon pauvre Jacques.« Er wußte wohl noch, daß es Raserei war, unerträgliche Raserei, dies, im vollen Bewußtsein der Gefahr hier zu horchen und dies zu hören? Hier selber gemeint zu sein und nicht mucken zu dürfen, dies drängte sein südlich ungestümes Jugendblut so schrecklich zum Herzen, daß er vor der Tür der Königin ohnmächtig niedersank; nur mit einem kleinen dumpfen Laut des Gleitens, den die Königin allein hören konnte und sonst niemand.

Und das war noch das einzige Glück in der endlos elenden, aber wunderbaren Liebe des hochgemuten Musikanten Jakob Auberger.

Die Tür der Königin ging auf. Licht strömte über seinen dahingesunkenen Körper.

Die Tür der Königin blieb offen. Sie sah sich um. Allein – sie und er.

Aber ihre zum Schlafengehen gelösten blonden Haare fielen erschrocken über den leblosen Kopf des guten Jungen.

»Selbstmord?«

Ihr Ohr war an seinem Mund; sie fühlte seinen Atem, beruhigte sich, neigte sich dann noch einmal über ihn und wußte bald, daß ihr Duft und ihre Nähe ihn langsam erweckten. Da ließ ihr der österreichische Leichtsinn keine Ruhe: Sie konnte diesen lieben Jungen nur jetzt, jetzt gleich küssen, – und sonst niemals wieder.

Und dann tat sie es. Sie wagte es sogar noch ein zweitesmal.

Sie blieb mit ihren Mädchenlippen als sündigende Frau auf seinem stärker atmenden Mund ein wenig liegen. Und dann, der dritte Kuß war so, daß er Sterbende erwecken gekonnt hätte.

Jakob Auberger griff aber träumend erst dann um sich, als sich die Tür der geliebten Frau schon sacht geschlossen und der gewissens-angstvolle Schlüssel sich, beinahe unhörbar, zweimal hinter ihr herumgedreht hatte.

Und dennoch glaubte er diesen Schlüssel zu hören.

Und dennoch glaubte er den Duft ihrer Haare noch einzuatmen.

Und dennoch glaubte er, daß seine, mit einer Segensberührung voll Verruchtheit geweihten und beglückten Lippen noch brannten; vom frevelhaften Kuß seines Mädchens. Seiner halb gestehenden Königin, der Sängerin von vorher. Von vor einem Jahre? Taumelnd, und unendlich sachte und langsam erhob er sich. Er wischte leise mit dem Körper die dunklen Wände hinan; die Treppe hinauf zu seiner Mansarde. Dort versuchte er, zu sich selber zu gelangen.

»Ach, was wird sein, mein armer Jacques?«

»Ach, wie soll das gehen?«

Und dieses freche, tobende Ça ira seiner Kneipen!

Kaum jemals klaffte eine Wunde so hoffnungslos weit. Kaum jemals schien ein Abstand in diesem Leben so weit und dennoch so nahe.

»Wäre nur die Revolution schon groß! Schaurig groß! Machte sie nur endlich alle gleich! Damit ich diese leichte Gestalt auf meinen Armen einfach wegtrüge aus aller Gefahr in meine Mansarde!«

Das Herz tobte ihm. In seinem Blut war ein gepreßtes Kochen.

Und kein Ventil? Kein Ventil! …

» Mon pauvre Jacques!«


Am andern Tage aber kam die Königin morgens ins Zimmer, aus dem die kläglichen Geigenversuche des kleinen Dauphins ihr verrieten, Jakob Auberger wäre wieder obenauf und gesund. Er wagte es und blickte ihr forschend, ernst und beinahe heiß in die Augen, welche sie mit größter Zufälligkeit zur Seite wandte, indem sie sagte:

»Es wird Hochsommer, lieber Auberger. Sie haben das Glück, diese Zeit, da wir fortwährend nahe an der Hauptstadt unsern Pflichten nachzukommen haben, auf den Schlössern unsrer liebsten Freunde zubringen zu dürfen. Ich leihe meine kleine Hauskapelle aus, lieber Herr Auberger. Und mit ihr, obwohl nicht ohne Bedauern, auch Sie. Ach! Sie kommen zu Menschen, welche sich trotz der Merklichkeit ihrer Sorgen mit der größten Lebhaftigkeit und Liebenswürdigkeit für alle zu ruinieren wissen, welche ihnen Vergnügen bereiten. Wir, wir dürfen das nicht mehr. Wir müssen sparen. Aber da ich Sie nur an hochmusikalische Familien wie die Nevers, Lamballes, Chartres und so weiter ausleihe, so werden Sie ein Leben voll Freude und Gewinn führen. Fahren Sie nicht auf, mein kleiner Freund. Ich meine nicht die selbstverständlichen Emolumente, die Sie, als sparsamer Philosoph, ja doch trotzdem zu schätzen wissen müssen. Ich meine Ihren Gewinn als Weltmann. Als Begnadeter, dem immerhin noch jener letzte Schliff willkommen sein wird, dessen er bedarf, damit seine Majestät Sie dereinst in den Adelstand versetzen könnte. Könnte! Verstehen Sie, mein Freund? Denn hier entscheiden letzten Endes Allüren; und mindestens solche, durch die man in der großen Welt nicht anders auffällt, als durch das natürliche Talent, sein Talent bescheiden zu verbergen. Durch die Geschicklichkeit, mit der man in allen andern Dingen unauffällig zu sein hat, außer in dem einen, gegen jedermann liebenswürdig zu sein. Seien Sie glücklich – und frei. Wir, der König und ich, wir haben viel, viel Arbeit unterdes. Sie lächeln, Auberger?«

»Majestät! Da ich dem Dauphin einige Abschiedsworte zu sagen die Pflicht habe (Sire, der König, befahl es mir selber), so muß ich Seiner Hoheit, meinem erlauchten Schüler, zugleich mit Ihnen antworten: Eh bien, Ihre Majestät! Mein Dauphin: glücklich und frei sein, das trifft nur bei Adel und Geistlichkeit zu. Und obwohl ich nicht das Recht habe, Ihnen unangenehme Minuten zu verursachen, so möchte ich doch das Glück haben, Ihnen eine nachdenkliche Minute bereitet zu haben, welche Ihnen, mein Dauphin, einstmals vielleicht mehr Glück einträgt, als jetzt Unbehagen. Sie sind über Ihre Jahre hinaus zum Denken fähig. Darum sage ich dies: Die französische Nation, also etwa ein Viertel von hundert Millionen Menschen, ist nicht glücklich. Sie ist sehr viel unglücklicher, als jener arme Pöbel Roms zur Lebenszeit Christi, dem die damalige Regierungskunst doch Brot und Vergnügen schuf, während letzteres hier nur den Privilegierten, ersteres nur von Tag zu Tag verschafft werden kann, insolange als man aus Gonesse noch überhaupt Brot in die Provinzen zu versenden weiß.«

»Ah! Was sagen Sie? Ich, die Königin, würde dem Volke, wenn ihm auch nur einen Tag das Brot oder das Getreide aus Gonesse fehlen sollte, aus meiner Privatschatulle das Geld für Kuchen bezahlen!«

»Majestät vergißt in ihrer erschreckend selbstlosen Großmut, daß auch Kuchen nur Mehl ist. Und daß es eines verhängnisvollen Tages in Gonesse wie in ganz Frankreich an Mehl fehlen könnte. Dann …«

»Dann werden wir Sie wieder um Rat fragen. Jetzt haben wir daran zu arbeiten, solche Bedenken, wie Sie sie, dankenswerterweise, den Mut haben, auf den Teppich zu bringen, unmöglich zu machen. Ja, mein junger Freund! Während Sie dem Vergnügen dienen und es vielleicht sogar selbst genießen, werden wir arbeiten. Schon wieder ein Lächeln?«

»Louis XV. arbeitete nur eine Stunde im Tag. Louis XVI. arbeitet das Dreifache. Es ist wahr, Majestät. Aber schon vor anderthalbtausend Jahren arbeitete man siebzehn Stunden des Tages; denn: › Septem horas‹, sagte der Lateiner, gebe ich dem, welchem seine Geschäfte Zeit lassen, zum Schlafen; sonst nur sechse. Ein Mann, der Frankreich dienen wollte, müßte heute zwei Drittel des Tages dem Volke widmen. Majestät, das darf ich, der entlassene und in Ungnade Gefallene, ja nun wohl sagen, ohne daß Ihre Majestät glauben würden, Ärger spräche aus mir. Bloß ehrliche Sorge, Majestät, ist es.«

Die Königin richtete sich auf, und ihre blauen Augen wurden einen Augenblick unzärtlich und unfrauenhaft scharf. (Er dachte bei sich »theresianisch«.) Dann sagte sie:

»Da dies alles, was Sie da soeben sagten, nach Befehl des Königs, dem Dauphin, Ihrem Schüler galt, habe ich nichts darauf zu erwidern. Ja, ich werde sogar Ihre Wahrheit dem König, dem Sie seine einzige, notwendige Leibesübung, die Jagd, zu mißgönnen scheinen, mein Herr Demagog, mitteilen. Ohne ihn zu verletzen, und so, daß ich Sie vollkommen schone. Soviel ist mir ein offenes Wort schon wert, Auberger; obwohl ich mich wundere, wie gerade ein Musikus der Welt Mißvergnügen bereiten will, statt sein schönes Anrecht allein zu gebrauchen, ihr das edelste aller Vergnügen, die Sprache der Harmonie Gottes und seiner Sphären, zu bieten. Damit sollten Sie doch zufrieden sein. Und nun adieu, mein Freund. Ja; da Sie weggehen, bedenken Sie, daß jene Herrschaften dort, obwohl sie selber ›Figaros Hochzeit‹ auf ihren Liebhaberbühnen spielen, Wahrheit nur aus ihrem eigenen Munde vertragen! Verstanden, mein junger Freund? Sie werden dort keine Königin mit deutschem Gewissen mehr finden. Nochmals adieu. Und schön' Dank!«


Auberger packte seine wenigen Dinge ein, die er, zur äußersten Notdurft und trotz seiner Philosophie, für die große Welt bedurfte, in der er nun sommersüber umherziehen sollte, um seine verwegene Liebe zu vergessen.

Es waren damals immerhin drei Koffer mit verschiedenfarbigen Fracks, Hemden, Blonden, Jabots, Pantalons und Culottes, Strümpfen aus Seide oder mindestens feinem Batistzwirn, Reisestiefel, Salonschuhe mit Schnallen, ein paar von Herrschaften geschenkt erhaltene goldene Dosen, Ringe und Uhren, und aller sonstige, reiche Kram damaliger Zeit, die nur dem Vergnügen und der Geselligkeit angehörte und die Einsamkeit gleichbedeutend mit Brutalität betrachtete. Zuunterst aber, auf dem Grunde des Koffers, lag eine phrygische Mütze mit amerikanischer Kokarde, eine Schärpe mit den Farben des freien Amerika – und ein langer Pantalon; ein wahres Scheusal der Mode, welche aber damals mit der großen Zeit der beginnenden, bewußten Häßlichkeit hervorgeholt wurden: als Kostüm, ja sogar als Schutzmittel – gegen das Erschlagenwerden.

Er kannte die Zeit und ihren Gewitterwind. Er – der jetzt eben so ehrlich gewarnt hatte, und dem geantwortet worden war: »Kuchen.«

»Blind, blind!«

Auf dem Landgut der reizenden Lamballe ging es blind glücklich und wirklich so her, daß alle Herrschaften der Meinung waren, hier wäre die längst ersehnte Freiheit und Gleichheit aller nur durch die Grazie und mädchenhafte Güte einer jungen Frau allein schon hergestellt. Und zwar vorbildlich!

Kein Kavalier dort verschloß seine Rede, nicht einmal sein Herz den Künstlern! Und wäre er noch so groß gewesen, und wäre er einer der ersten gewesen.

»Geht doch stets nur der Geist mit der Zeit!«

Kein Kavalier rings um die Lamballe behandelte die Künstler anders, denn als Menschen, wie er selber – wenn schon ihre Ausdrücke nur gesiebt, poliert, aber mit vergnügter Nutzanwendung abends im intimen Kreise wiedergegeben werden konnten. Dazu waren diese Künstler zu zwei Drittel Franzosen, und diese hatten wunderbare Manieren; dann teilten sich noch Italiener und Österreicher in gleichem Prozentsatz des letzten Drittels in die Instrumente. Es war drollig, zu sehen, wie die romanisch gleichwertigen Brüder einander wenig ausstehen konnten, während die Österreicher, allerdings begünstigt durch den starken keltoromanischen Schuß Blut in ihnen, bei beiden Teilen gleich beliebt waren und das Züngel an der Waage in allen Künstlerintriguen machten. Denn in ihrer behaglichen Philosophie, die jeden Lebensaugenblick stets dahin zu wenden wußte, daß er vorerst zu genießen wäre, ehe man sich überhaupt über ihn zu ärgern begänne, in ihrer Art, jedes noch so gefährlich geplatzte Faß zuerst einmal, ruhig zusehend, auslaufen zu lassen und abzuwarten, ob was Trinkbares dabei herauskäme, waren sie den beiden andern leidenschaftlichen und sich stets unglücklich fühlenden Nationen überlegen. Diogenes, Anakreon und Epikur hätten ihre Freude an ihnen gehabt.

Sogar ein sogenannter Nordländer schickte sich in die österreichische Weisheit.

» Le Care.« Marions Oheim.

Dieser eine von jenseits der Donau war ein Graslitzer aus dem Erzgebirge; der Stadt, in der die billigen Musikinstrumente für die ganze Erde gemacht wurden und werden. Er war Fagottkünstler, und als solcher mit jener prachtvoll beleibten Süffisance ausgerüstet, die ihnen und den Bläsern des Baßflügelhorns eignet.

Sein Gemüt war nie aus der ewigen Tagundnachtgleiche zu bringen, die seinem Wesen eigen war, während die Österreicher von südlich der Donau doch stets in jener leise gereizten, aber schönen Wespenbeweglichkeit dahinlebten, die dies glückliche Volk zwar hat, die es aber selten zum Stechen gebraucht.

Es bleibt ein Wespennest. Aber ein idyllisches.

Le Care war es gewesen, der das »Flinke Kaninchen« entdeckt hatte. Dies wieder hatte sich die Liebe von ganz Paris (auch seiner gefährlichsten Elemente) gesichert durch die Bouillabaisse, jene Zwiebel-Knoblauch-Suppe, die, nach Marseiller Tradition, Christus gebraucht hatte, um Lazarus erst zu desinfizieren und dann zum Leben zu erwecken. Dort waren die Österreicher bald heimisch wie Franzosen. Sie hatten die französische Sitte, andre niemals ins Gesicht hinein, aber dennoch stets so zu loben, daß sie es von fern gut hören könnten oder doch später erführen. Sie zerstritten sich mit den Kollegen stets nur um heiterer Anregung willen, die zuerst wie Aufregung aussah und mit befreiendem Gelächter schloß. Sie waren munter mit aller Welt, aber sie schimpften mit den erbittertsten Revolutionären in so urwüchsigen Schmähworten, daß alles lachen mußte. Ihnen war der Herzog von Orléans »ein in die Vertikale gestellter Mäusedreck«. Da drohte einer, den andern »durch ein Kanalgitter zu sieben«. Da gebrauchte man ein soeben in die Literatur eingeführtes Wort Götzens von Berlichingen unerschöpflich, in stets neuen, aber immer galanten Variationen.

Deutlich zu unterscheiden von den Donausüdländern durch die erhabenere, aber auch wuchtigere, nördliche Gravität, war der Fagottbläser aus Graslitz im Erzgebirge: August Lekar …, das r am Ende wurde jedoch auf tschechisch anders ausgesprochen. Und das war mit ein Grund, daß er nach Frankreich gegangen war. Denn hier war er » Monsieur Le Care«.

Ah, dieser » Le Care«! Marions Onkel! Ehrlich: so ehrlich! Diese Art Ehrlichkeit war so sehr besonders nordisch, daß die Lamballe sogar, so gern sie lachte, sich mit diesem mächtigen und wohlbeleibten Mann nur stets zagend in die damals moderne Fraternité einließ. Denn einst hatte der genaue Kenner seines Instruments (übrigens ein genialer Konstrukteur) sein Fagott um mehrere Klappen bereichert. Er belebte die Oboen ebenso und komponierte etwas damals außerordentlich Reiches: ein Bläseroktett für drei Fagotte darin, in dem auch der zierlichen Manier jener Zeit durch Triller und Beißerchen ( mordentes) aufs geschmackvollste Rechnung getragen war, obwohl meist der hanebüchene Humor des Fagotts die Herren belustigte. Le Care führte dieses Stück zu Ehren der Lamballe, der Larochfoucaults und andrer Damen und Herren mit größtem Beifall auf.

Die gnädige Herzogin von Lamballe, die etwas von Instrumentierung verstand, stürzte sich nach dem erfolgreichen Schluß mit vielen Herren und Damen begeistert auf den großen, tüchtigen Bläser aus Graslitz im Erzgebirge. Sie versicherte ihn ihrer entzücktesten Freundschaft, ja seiner Unentbehrlichkeit allenthalben bis ans andre Ende der Erde!

»Aber, sagen Sie: Bringen denn Sie und Ihre zwei andern Fagottisten diese sonderbar komisch und tief grunzenden Figuren Ihrer Instrumente mit dem Munde hervor!?«

»Durchlaucht! Für mich kann ich einstehen … Und von den zwei andern will ich es hoffen.«

Unter unauslöschlich schweigsamem Gelächter der Herren entfernte sich eiligst die ganze hoch- und weißfrisierte Damengesellschaft, damit sich in den Fensternischen des Nachbarsalons jede der Damen (von ihrem vertrauten Herrn) mit der Pointe des derben Musikerwitzes vertraut machen konnte.

Ach! Man lachte bis in die späte Nacht hinein, ehe man es den Freunden nach Paris schrieb, wo man über dergleichen stets eine Woche zu lachen gewohnt war.

Dieser starke Fagottist nun hatte merkwürdigerweise und aus der Sonderbarkeit der Laune des Kontrastes heraus Jakob Auberger zu seinem Liebling, ja Schützling erkoren. Er ging, wie ein Tambourmajor vor den Flauti und Pfeifen, stets neben » pauvre Jacques«, wie auch er ihn aus irgendeinem Instinkt des Starken und Selbstbewußten heraus zu nennen beliebte.

Unterm Schutze seiner mächtigen Faust konnte sich Jakob sogar nachts in die entlegensten Herbergen der (damals noch nicht so sehr mondänen) Rue de la Cannebière in Marseille bewegen, wohin sie gegen Spätsommer weiterverliehen worden waren und wo besonders im Hafenviertel längst nicht mehr der heitere Hauch allgemeinen, beinahe sinnlos anmutenden Frohsinns Herzen und Köpfe umnebelte wie nahe an Paris und Versailles.

Es könnte sogar geschehen sein, daß das Marseiller Lied damals von einem gewissen Rouget de l'Isle schon komponiert, aber nur für Freunde freigegeben war. In Marseille lag die Flotte, welche die Truppen aus Amerika, dem freien, dem durch Kampf unabhängig gewordenen, ein- und zurückgeschifft hatte. Diese Menschen wußten mehr als die »Gazette de France«.

Diese Menschen sahen schweigend und abwartend dem allgemeinen Leichtsinn, der Prasserei, der Sittenlosigkeit und dem Unglauben, ja der Verurteilung ihres Standes auf der Bühne zu, welche bei den Privilegierten fröhliche Mode geworden waren.

Spielte doch dort ein erlauchtes Kollegium von Richtern selber das ihren Stand, ihre dienerhafte Abhängigkeit vom Adel, ihre Dummheit und Geilheit verhöhnende Theaterstück des Beaumarchais! Jene »Hochzeit des Figaro« spielten Richter. Aber durch Mozarts Musik versöhnlich gestaltet, hatte das Stück sogar bei der Königin Einlaß gefunden. Jenes Stück, das nicht erst den Auftakt, nein, schon die Revolution selber bedeutete. Der ganze Adel außer der stupiden Junkerschaft des Landes (die zu ihrem Glück, nie was andres zur Behauptung ihres auffällig gewordenen Lebens kannte als Trotz und Gewalt), der ganze Adel verurteilte sich selbst. Aber er schob die Vollziehung dieses Urteils hinaus.

Es wetterleuchtete.

Jacques empfand es mit der feineren Seele des niemals rachsüchtigen Wieners! Er erschrak ob der Gier zur Revanche, ja zur Vendetta, der Blutrache, bei diesen Galliern. Da und dort fand ein Gamin, ein kecker Junge, bloß ein einzig Wort für die sorglose Verachtung, die der sich sicher dünkende Adel immer noch für das in Bettelarmut gehaltene Volk zu zeigen wagte.

Jacques saß einmal neben dem Hautboisten zur Tafelmusik in einem ungeheuren Zelt bei einem Diner, das ein Prinz von Geblüt im heißen Spätsommer dieses wetterleuchtenden Jahres dem ganzen Adel der Provence gab. Wirklich, es speisen an einer Tafel von hundert Gedecken ebensoviele hohe Herren. – Der Hauch, der von den zur Bedienung kommandierten Grenadieren ausging, er war aber von der sommerlichen Schwüle des Südlandes so stark gesteigert, daß seine Hoheit und Durchlaucht es für angemessen fanden, ein wenig laut zu sagen:

»Parbleu: Diese Leute riechen für ein Diner ein wenig zu stark nach Socken!«

»Das kommt davon, daß Ihr uns keine gebt,« war die Antwort eines der Soldaten.

Ein schrecklicher erster Flügelschlag der Revolution lähmte die Kehlen der ganzen erlauchten Sozietät.

Schweigen hier … Jener Geruch dort. – Die Farce des Schreckens war gemischt – bis zum nahen Blutgeruch.

Der Prinz ließ sich später jenen Mann durch seinen Obersten vorstellen.

Es hätte ihn schon erschrecken sollen, daß ein Bursche von einigen zwanzig Jahren diesen Oberst machte: Erkauftes Patent!

Nur durch diesen Umstand gelang es dem Frechen, ungestraft das Zimmer des Prinzen, der sich schlecht unterstützt wußte, zu verlassen. »Sie: Hoche heißen Sie? Gut, was berechtigte Sie zur Freiheit, mit der Sie in solcher Stunde eine solche Antwort zu geben wagten?«

»Hoheit! Zuerst Ihre eigene Freiheit, mit der Sie selber ein locker sitzendes Wort hervorgelockt haben. Sodann aber der Umstand, daß ich – Pulver gerochen habe, Hoheit, Pulver, sogar an der Seite der freien Milizen Amerikas geschossen. Unter Rochambeau. Jawohl, Hoheit. Dort waren unter den Freiwilligen Leute, die sich hier die Daumen abgehackt hätten, um nicht Soldaten zu werden. Über Nacht waren sie dazu bereit, ihr Leben freiwillig herzugeben, Hoheit.«

Und der Prinz? Nun: Er war geistvoll genug, zu erwidern:

»Ich beneide Sie: Gehen Sie. Ein Präsent wage ich Leuten Ihrer Art nicht anzubieten. Wenn ich Ihnen jedoch irgendwie als Mann von Glück anders dienlich zu sein vermag, ich bitte Sie, hierin auf mich zu zählen.«

Hoche hat nie etwas vom Prinzen verlangt.

Dieser aber war einer von jenen, die nachher guillotiniert wurden.

So wenig vermochte tatenlose Selbsterkenntnis.

Soviel vermochte ein einziges freies Wort.

Abends saß der Fagottist Le Care beim nachdenklich gewordenen Jakob Auberger mit jenem Grenadier Hoche zusammen in einer kleinen Wirtschaft der Rue Cannebière, bei der teuflisch starken, heilsamen und wohlschmeckenden Bouillabaisse und einem Glase südlichen Landweines.

Hoche mußte erzählen. Erzählen von den langen, unglaubhaft kleinlochigen Büchsen der Kentuckier, die dennoch den Büffel, Grizzlibären, den Elch, den Indianer und den Engländer im Knall dahinwarfen. Erzählen mußte er von den freiwilligen Schützen, die so arm waren, daß sie sich kaum das Blei zu diesen winzigen Kugeln zu kaufen vermochten, welche aus jenen langen Büchsenläufen geschossen wurden, und die dennoch von einer unersättlichen Lust besessen waren, Hunderte, ja Tausende dieser Kugeln zu verschießen. »Hundert zum Nutzen, tausend zur Übung; zu scheinbarem Spaß. Das graue Eichhorn, dessen kleiner Balg nur wenige Centimes, ihnen aber immerhin eine Kugel wert war, verletzte man nicht. Man schoß unter seinem schwachen Körper die Borke des Baumes durch, auf dem es saß, und betäubte es damit. Man zielte und traf nie anders, als in das Auge des Bibers, um den Balg zu schonen. Und hatte man wirklich einmal genügend Blei, so putzte man des Nachts Lichter mit den Kugeln. Stümper war der, welcher das Licht selber ausschoß. Der Docht durfte bloß so weit gekürzt werden, daß das Licht klein und niedrig weiterbrannte. Und so schoß der Grenzer oft auf die zwanzigmal so zahlreichen Soldatenkarrees. Aus Deckung hinter Bäumen. Jeder für sich. Alle aber eine Legion lachender, sicherer, siegesgewisser Teufel, deren Flucht selbst bei unglücklichem Ausgang keine Niederlage war, die, vernichtend durch Verfolgung, zur Auflösung geführt hatte, sondern eine Affäre, deren Ausgang die Gefangenen augenblicklich zu Genossen und Mitkämpfern machte.«

So erzählte der Grenadier Hoche.

Mit innerem Grauen hörte Auberger die Folgerungen mit an, welche jene stolzen und im Innersten mehr als freien, zu Regentennaturen gewordenen Soldaten, Sergeanten und Wachtmeister aus ihren Erfahrungen »dort drüben« bei Rochambeau zogen.

Pichegru etwa:

» Tiens, camarade! Du glaubst, die armseligen Truppen, die man mit Unrecht königliche nennt (denn sie sind jene eines Bettlerkönigs), würden uns niederzuhalten versuchen, wenn wir revoltieren? Weißt du nicht, daß sechzigtausend Deserteure um Paris lungern? Daß sie darauf lauern, sich, anstatt in die Reihen des Heeres zurückzukehren, an die Spitze der entfesselten Markthallenkanaille zu stellen, um sie anzuführen? Weißt du nicht, daß statt zehn Rekruten, die sich heute die Vorderzähne ausbrechen oder die Daumen abhacken, um nur nicht mehr diesen blinden Puppen des Adels, dem König und der Königin zu dienen, hundert Freiwillige in jedem mäßigen Orte bereit sein würden, sich für die Freiheit füsilieren zu lassen? Und fühlst du nicht, daß statt dieser armen, hungernden, armselig gekleideten, auf faulem Stroh schlafenden Soldaten, Kerle wie wir einer gegen hundert wert sind? Ja, daß sie selig sein werden, zu uns überlaufen zu dürfen, die ihnen sechs Franken im Tag leichthin bieten dürfen? Denn der Franken wird dann nichts mehr wert sein … Na, gut: spiel auf, armer Teufel von Geiger der Königin! Oder besser: erzähl' uns, wie sie sich als deine Geliebte benommen hat!«

Fuhr dann Auberger heißrot empor und wollte er die in ihrem innersten Wesen so mädchenhafte Königin verteidigen, er wäre erschlagen worden, wenn der Fagottist nicht ein paar der ärgsten Hitzköpfe mit je einer gewaltigen Faust in die Höhe gehoben und ihre Schädel dermaßen gegeneinander geschmettert hätte, daß beide betäubt zu Boden taumelten. Das erregte dann allgemeinen Jubel. Das verstanden alle! Das versöhnte augenblicklich.

Pichegru einmal:

»Und, enfin: Sind diese Musikanten, die hier herum verliehen werden, nicht wie Mietpferde, sind sie denn nicht die ärmsten Spottbilder der Tyrannei? Gewiß: Wäre die Stunde da, sie spielten die neuen Lieblingslieder: › Allons, enfants de la patrie‹, und die Carmagnole, das › Ça ira‹. Sie spielten sie selber gern. Ja; verzückt, hinreißend, und hingerissen würden sie uns das alles spielen!«

Und ein andrer erzählte ihnen wieder: »Ihr gehört zu uns.«

» N'est-ce pas? Trink, camarade! Morgen kommt ihr alle aufs Gut des Marquis de Marnesia mit. Ja? Wir wollen dort einem Herrchen, das jetzt den Volksbeglücker spielen möchte, wo es zu spät ist, zeigen, ob wir ihn noch brauchen!«

Jener Herr v. Marnesia war, zum Deputierten gewählt, ebenso wie alle die Motten des Lichtes von Versailles, seit Jahren dort im Strahlenglanz des Glückes, der Anmut, des süßen, reizenden Müßigganges geblieben. Man fühlte nur an seinen milderen Rechnungen, daß er das Volk vertrat; besser, als jene Junker, die sich das ihre mit der Hetzpeitsche eintrieben, war er wirklich!

Er tat viel für seinen Bezirk. Aber gerade einen solchen vornehmen Almosenier mochten sie alle nicht mehr. Alles fühlte: Der ist kein Seigneur, der sich selber aufgibt! Hier ist ein Schwächling. Hier ist ein Furchtsamer. Und Furcht, ja Schrecken ist es, was wir in Paris brauchen.

Also wurde der jetzt kranke Herr vom Lande wieder gewaltsam weg- und dorthin zurückgejagt, wo zuletzt einer am andern ersticken sollte. War er so gern und so lange freiwillig in Paris, so soll er es jetzt, ebenso wie der König, pflichtgemäß und ungern sein.

Mitten in die Tafelmusik der insgeheim vorbereiteten und jetzt flüchtenden Musikanten fuhren damals die Steinwürfe der Verschwörer gegen den feinfühlenden Herrn de Marnesia.

»Aber, meine Kinder! Was habe gerade ich euch getan? Ich, der mehr Herz für euch hatte, als zehn andre Gutsherren?«

»Gerade dies ist es: Nichts hast du getan! Gerade du, der du ein Herz fühltest und zu bequem warst, es ›Wahrheit, Wahrheit‹ schreien zu lassen! Ein Instrument des freien Volkes hättest du sein sollen und wurdest mit zum Nutznießer der Huren von Versailles. Ja, ja, mein Guter! Zurück mit dir nach Paris, wo du dich so gern und so ausgiebig erholtest, daß du jetzt bei uns Erholung suchen mußt! Zurück und tue deine Pflicht! Du wirst sie nötig haben: deine Revenuen als Deputierter. Denn hinter dir flammt dein Gutshof auf!«

So war der erste aller Vertriebenen gerade ein guter, gerechter und mitleidiger, aber furchtsamer Mensch. Und gerade über solch einen fällt der Wolfsinstinkt der Meute zuerst her. Hier kann man anpacken.

Die Herren mit der Hetzpeitsche sahen zu und hatten Ruhe.

Nach der überstürzten und erzwungenen Abreise des Herrn de Marnesia nach Paris aber gab es in seinem Schlosse, und nur in diesem, keine unerbrochene Tür mehr; keinen verschlossenen Schrank, gar kein ganzes Bild und keine Seiden- oder Maroquintapete mehr. Es gab keinen umfriedeten Park mehr, und all sein Wild war in wenigen Wochen ausgerottet.

Und mit welchem Vergnügen wurde dies überall zu sehr gehegte, allzu zahlreich und allzu zärtlich behütete Wild gemetzelt! Ebenso, wie später seine Beschützer. Durfte man es bisher ja doch nur mit Steinwürfen und Stöcken von den Feldern fernhalten, die es die ganzen Nächte hindurch verwüstete, während der Bauer, todmüde von der Anstrengung seiner harten Tagesarbeit, unausgeschlafen dem Morgen begegnete.

»Da kommt der Adel,« hieß es, wenn ein Rudel Rotwild angetrollt war, und, verhoffend und wie hochmütig und unentschlossen zugleich, stehenblieb.

Zuerst vor allem büßte das arme Tier seine Glanzzeit, seinen Schutz durch die vornehmen Herren. Dann kamen die furchtsameren und gerechteren der Aristokratie daran. Wirkliche Bestien unter ihr aber genossen eine verständnis- und achtungsvolle Schonung, solange sie die Hetzpeitsche mit Überlegenheit und innerer Sicherheit zu schwingen wußten. Manch einem von solcher Art begegnete patriarchalische Neigung ob seiner erquickend rohen Kraft. Und nur gerade er wurde später nicht guillotiniert …


Dies alles erlebte der kleine, arme Jakob, der so gern Philosoph geworden wäre. Er erlebte es »in jenen glücklichen Stunden auf dem Lande, bei Schäfern, Kuhgeläute, Friede und schuldloser, reingebliebener Natur« – wie die Königin, ihn beneidend, gesagt hatte. So sah das Idyll in Wahrheit aus …

»O arme, unwissende, träumende, nachtwandlerische Königin, mit deinem zärtlichen Herzen, das so klein ist, wie deine Mädchenstimme, als du sangest: Mon pauvre Jacques! Wüßtest du, wie es hier überall aussieht! Könnt ich nur deine traumblauen, süßen Augen öffnen … Ja: Könnt ich nur …« Und resigniert setzte sich der Geiger aus Wien auf einen Feldstein gegenüber dem geplünderten, da und dort nach Brand rauchenden Schlosse eines Mannes, der ebenso wie sie dem Volke gern Kuchen verschafft hätte.

»Wahrlich, das war danach angetan, um Philosoph zu werden! Die Welt ist doch ein verdammt interessantes Studium; interessanterweise immer noch mehr verdammt als interessant.«

Er mußte, zu solchem Studium sogar gezwungen, dableiben.

Seine Kollegen und ihn, Herrn v. Marnesias Leihgäste, wollte man nämlich nicht fortlassen. Die ein wenig bacchantischen Feste, welche der Heldentat folgten, sollten durch Musik verschönt werden. Allgemein erwartete man von den versklavten und unzufriedenen Musikern, daß sie gern dem Volke dienten, das die Schmach ihres »Verliehenwerdens« gerächt hatte. So vermochte Jakob von der Tribüne aus, ohne gestört oder bedroht zu werden, über seine Geige oder den Taktstock hinweg das Treiben der Freigelassenen zu verfolgen und Vergleiche anzustellen, wie sie sich menschlicher ausgenommen hätten: Ehedem als dressierte Tiere oder jetzt als freie Bürger.

Und bei all der Demokratie und Kritik, die ihm als Wiener im Leibe saß, er begann jetzt schon den Kopf schmerzlich zu schütteln darüber, wie sie diese Freiheit auffaßten und gebrauchten. Er suchte Mittel und Wege, um bald aus diesem Arrondissement herauszugelangen.

Eine kleine, reisende italienische Opernstagione, die vor denselben Verhältnissen heimatwärts flüchtete, hätte ihn als Kapellmeister gern aufgenommen. Der Impresario sagte ihm » gratificazione in denaro e natura« zu, wenn er bei ihm einträte. Jakob, der endlich eine eigene Heerschar im Kampfe der Instrumente und Stimmen befehligen sollte und sich über die günstige Gelegenheit ungemein freute, an die südlich heitere Küste und in ein politisch sehr viel weniger erregtes, genügsames und fröhliches Volk zu kommen, fragte den Impresario, wieviel Instrumente er da wohl unter sich bekäme?

»Oh,« erwiderte der Italiener fröhlich, »wir haben manchmal bis zu vier Streicher und drei Bläser zusammengehabt, das Schlagwerk gar nicht zu rechnen, das wir in jedem Orte dazu rekrutieren! Aber so viel ist ja gar nicht notwendig! Die schönsten und obendrein ertragreichsten Abende sind immer jene, wo der Maestro allein am Clavicembalo sitzt! Denn da steckt er seinen Anteil für die ganze Kapelle ein – das einzige, was ich Ihnen an Geld zu bieten vermag. Ja …«

»Gerechter Gott,« rief Jakob. »Und, – aber ich will nicht voreilig sein – und die Gratificatione in natura?«

»Sie sind zweierlei Art. Erstens, Sie essen stets mit meiner Familie; und das bedeutet – so ziemlich mit der ganzen Truppe.«

»Und die andre Art der Honorierung in natura, mein lieber Padrone?«

Da zog ihn der Italiener, vorsichtig und verständnisvoll schmunzelnd, in eine Ecke. »Sehen Sie, liebster Maestro: Junge, schöne Künstler wie Sie legen zumeist neben Ruhm und Ehre, die Ihnen reichlich zufließen werden, Wert auf › bell' amore‹ – auf eine schöne Liebe. Und da kann ich Ihnen auf Ehrenwort anvertrauen, daß sowohl unsre Primadonna (schwarz und gut gerundet) als auch unsre Colombina und muntere Sängerin (blond und schlank) immer (oh, bei so hübschen Jungen wie Sie, verehrter Maestro, schon gar) sehr – sehr lieb zum Kapellmeister sind.«

Voll Genugtuung und Zuversicht wartete der Impresario den Erfolg dieses letzten und ausschlaggebenden Gage-Versprechens ab. Er war sehr enttäuscht, als Jakob Auberger lachend das ganze Geschäft ablehnte.

»Donnerwetter! Der Herr ist schwer zu befriedigen,« sagte er. »Haben Sie denn hier herum auch eine junge Königin oder Prinzessin zur Verfügung?«

Die dunkle Röte, welche die Wangen des Geigers bei diesen Worten bedeckte, verriet bloß seinen Zorn darüber, daß der Klatsch der Kollegen, die ihn bei Maria Antoinette in irgendeiner Art von Gunst wußten und diese Gunst nach ihrer Weise ausdeuteten, bis zum Italiener gedrungen sei. Dieser aber glaubte, ein unlösbares Geheimnis durchschaut zu haben, indem er, sich galant verbeugend, sagte: »Oh, ich errate! Signora Marnesia ist jung, sehr hübsch, zärtlich und so wenig grausam wie unsre beiden Sängerinnen. Ja, da kann unsereins die Bank nicht halten. Aber Sie müssen schleunig zurück nach Paris zu Ihrer Dame, mein Herr, ehe dort auf so heißem Boden ein andrer Ihren Platz eingenommen hat. Ich wünsche Ihnen aus vollem Herzen Glück dazu. Und – auch Gesundheit, Maestro!«

Ohne auf die ordinäre Anspielung der letzten Worte zu hören, kehrte Jakob dem Italiener den Rücken. Seine weit und fern gewordenen Augen suchten irgend etwas wie Landschaft und Reinheit der Natur: etwas, wie weite, schweigende Wälder, die aus Rebenhügeln aufstiegen, unendlich still, einsam und schön waren. Sie trafen aber nur den umgehauenen Park und die Trümmer des Schlosses, hinter denen der Axtschlag der Bauern die Wälder stürzte.

Zum erstenmal warf sich eine Flutwelle ungeheuren, heißen, deutschen Heimwehs gegen das hilflose Herz des jungen Wieners. Er dachte an die friedliche Donau mit ihren fernen Schifferrufen, er dachte an den Gesang der Winzer und der Rebengrillen im Abendschein der Weingärten. An deutsche Länder. An Haydns Ochsenmenuett, in der Vorstadt von fröhlichen Bürgern getanzt. An breite, übersonnte Hüte, unter denen geheimgehaltene Gesichtchen hervorguckten, so reizvoll wie das der jungen Königin, das in Paris als das der »Autrichienne« verhaßt und geschmäht war. Hätte er diese junge Königin nur wieder nach Hause flüchten, retten gekonnt – ehe es zu spät war!

Und in den Abend hinein träumte er, unermeßlich und endlos, die Worte hinein: Sievering, Grinzing, Neustift am Walde, Salmannsdorf, Heiligenstadt, Nußdorf, Dörfl am Kahlenberg …

Gerade hatten ihm die Augen voll Wasser gestanden, als der handfeste Fagottist ihn aus seiner Liebeskrankheit erweckte, von der Jakob selber nicht wußte, galt sie der ehemaligen kleinen Prinzessin aus Schönbrunn, galt sie den Wiener Mädchen allen oder galt sie jenen unermeßlich sanften Zähnereihchen von Weingartstecken, die so still in dem blaßblauen Herbstabendhimmel hineingestanden, dort, wo es ja auch im Volksmunde »Am Himmel« hieß.

»Was ist, Kamerad?«

»Du, Auberger, wir sind durch Eilboten nach Paris zurückbeordert worden. Die Königin scheint doch wieder Verwendung für uns zu haben. Oder sie will ihre Kapelle wenigstens dort auflösen, wo wir jeder gleich wieder anderswo unterkommen können.«

»Au weh! Wer weiß, ob wir unterkommen,« sagte Auberger nachdenklich.

»Au weh? Ah was! Grade die siegreiche Revolution wird nichts als tanzen und springen; wirst schon sehen! Uns braucht man jederzeit; zu Hochzeit und Tod. Mach dich reisefertig. Du! Na? An was denkst du denn fortwährend? Wach auf!«

»Ich möcht' nach Wien zurück. In unser liebes Wien, wo man nicht gleich brennt und plündert. Du: Könnt' ich nur unserm Kaiser Josef seine Schwester mit zurückbringen!«

»Der hat ohne sie Sorgen genug! Glaubst, daß der froh wäre, die Modepuppe frei aushalten zu dürfen, bis er noch einmal wen findet, der ihr Kuchen zu essen gibt? Aber ich will dir was sagen: Ich hab' da meine Nichte, die ihr so ähnlich sieht, daß sogar ihr die Lamothe Geld angetragen hat, wenn sie dem Kardinal Rohan bei einem Rendezvous die Rolle der Königin vorspielen wollt'. Die kleine Gans hat entrüstet abgelehnt, wo doch nur ein Mordspaß herausgekommen wäre!«

»Ja, mit Stäupung und Brandmarkung; wie es der Oliva ergangen ist.«

»Aber ich bitt' dich, der Kleinen hätt' man doch nichts getan: mit ihren fünfzehn Jahren damals!«

»Gott sei Dank, daß ihr das Kind nicht mißbraucht habt und daß ihr guter Engel sie beschützt hat,« erwiderte Auberger ehrlich erschrocken.

»Wir haben's ja auch nicht so angesehen, wie du. Wir haben dem schönen Rohan einfach einen Possen spielen gewollt, weil er uns entlassen hat. Und du; wir haben Hunger gelitten! Dazu hab' ich damals auch Geld gebraucht für ein neues, reicheres Fagott mit vier Klappen mehr; Erfinder sind immer im Mangel, mein Junge! Du Sparmeister kennst die Not nicht.«

»Alter, ich kenn' aber auch die Prasserei nicht; und nicht das viele Trinken. Die alten Philosophen haben ein paar Zwiebeln gegessen oder eine schwarze Suppe. Sie haben wenig und sauren Wein getrunken, den sie umsonst haben konnten. Sie haben einen Mantel ihr Leben lang getragen. Und nicht drei Staatsfräcke wie unsereins; oder gar zwölfe, wie die Maestri Gluck und Mozart! Man muß versuchen, es den alten Heiden nachzutun, die uns beschämen.«

»Hat einer von denen Musik gemacht? Sie haben die Menschen nicht einmal besser und gescheiter gemacht: Niemand, außer sich selber. Wir aber machen sie sorgenfrei, rühren oder wühlen sie auf, machen sie lachen und weinen, wie sie es brauchen. Du, ich denk', das ist Philosophie genug. Halt' über solche Sachen den Schnabel und langweil' niemand damit als dich selber oder meinetwegen unterhalt' dich damit. Der Welt aber haben wir Musik zu machen. Kommst mit nach Paris?«

»Ja? …«

»Vorderhand,« seufzte der arme Jakob.

Nun, gar so arm war der kluge Junge nicht. Wohl trieb ihn seine treue und ungeschickt verliebte Seele in die Nähe der mehr als je bedrohten Königin, für deren guten Geist er sich seit jener gegen jedermann verschwiegenen Szene in Versailles wahrhaftig hielt, da er sie gerettet, da sie ihm die Nase gerümpft. Aber er, der in der Schule Glucks großen Lebensernst und Solidität der Lebensführung, in jener des Papa Haydn sogar Sparsamkeit, wenn schon nicht dessen ängstliche Sparsamkeit und Raffsorge kennengelernt hatte, er dachte stets daran: Was ist, wenn die Revolution dir auch nur einen Finger bricht? Üb' dich im puren Dasein, wie es ein Chinese hat oder ein Diogenes. Dazu aber spar' doch noch ein paar Groschen, weil du ja dennoch ein Wiener bist, der ohne Wurst und Wein das Leben nicht recht mitmachen mag.


Da war er nun abermals in Paris.

Ein gänzlich andres Paris! Ja, wie sah es aus? Woher war dies grauenvolle, albhaft unheimliche Volk alles neu hervorgekommen, das ganz jäh geboren schien und da durch die Straßen, offenkundig drohend, wimmelte? Menschliche Ratten an Häßlichkeit, Abscheulichkeit und Schmutz, wie sie irgendein Ansteigen des Wassers aus unbekannten Kanaltiefen eines Tages zur Verzweiflung hervortreibt, denen Sonne nie gütig und froh geschienen. Geheime Journale, Hetzblättchen mit fürchterlichem Inhalt: Enthüllungen, Forderungen, lasen diese Menschen abends …

Aus Gonesse kam immer weniger Brot. Eines Tages würde es gänzlich ausbleiben. Sicherlich gerade dann, wenn der König wieder auf der Jagd war und die arme Königin allein der Wut und Sinnlosigkeit eines ganzen Volkes preisgegeben war. Und die Hetzblätter würden das Gehirn, das vor Sorge, Angst und Armut rasend gewordene Gehirn des Volkes allein ernähren, mit den Delirien der Phantasie des Hungers! Soviel ahnte Auberger trotz seiner Jugend. Soviel hatte er schon erkannt vom grausamen Leben, das so einfach ist, wenn es leidlich satt wird, das so raffiniert in der Lust, der Langeweile und ihrer Ausschweifung wirkt, wenn es übermütig vollgegessen ist, und das noch entsetzlicher ausschweifen kann, wenn es gierig und neidvoll geworden ist wie ein leerer Wolfsmagen.

»Was wird sein? Was geht da vor?« sagte sich Jakob eines Tages, als die Königin, schön, strahlend, gewählt und ahnungslos noch immer, ihm entgegentrat, um ihm mit schmollendem Lächeln zu verkünden, daß die Musikkapelle aufgelöst werden müsse. Aber er, Jakob, würde von Marie Antoinette mit besonderen Empfehlungen an Kaiser Josef II. nach Wien geschickt werden.

»Denn, was wird sein, mon pauvre Jacques? Was wird geschehen?«

Erschreckend entsann er sich, daß er da beinahe mit denselben Worten des Anfanges aus jenem schmachtenden Liedchen, jener süß-schwermütigen Liebeständelei angeredet wurde, das die Königin in der Pfingstnacht begonnen und später zu einem ihn namenlos aufregenden Ende fertigkomponiert hatte.

Auf solche Weise sollte sein Heimweh nach Wien gestillt werden? Einsam weggeschickt!

Nun ging er dennoch zum Fagottisten. Vielleicht war da Hilfe. Sollte er schon zu Josef II., konnte er da nicht die mädchenhafte Gestalt seiner Schwester mit sich wegretten nach Wien, während das Mädchen, das ihr so ähnlich sah, in der Nähe des Monarchen, vielleicht krank gesagt, wie vom Fieber verwirrt und unkenntlich, statt ihrer zurückbliebe?

Ja, ja: Er entsann sich der erstaunlichen, süßen Puppe!

Pläne …

Tolle Pläne eines jungen Phantasten und eines Verliebten, der, als wäre dies gar nicht so unmöglich, nur gleich in die Sterne hineingreift, um derer zweie auszuwechseln – erster und zehnter Größe.

Den Tag über, bis zum Abend der Einladung bei dem gutmütig zustimmenden Le Care, durchstreifte Auberger, stets an Wien erinnert und stets in neuem Heimweh, jene herrlichen Parks des daran so reichen Paris. Diese hellen, heiteren Gärten, diese unsagbar beruhigende und weisemachende Nähe der Natur, die Güte und Milde des Klimas lockte die Jugend und sogar das verbissene Alter in ihre segensvolle Ruhe. Wer unter alten Bäumen geht, in den strömt ein Teil der endlos schönen Ordnung ein, ihr Sieg über das Leben.

Immer wieder sagte sich seine deutsche Seele, daß es ja keine Unglücklichen geben könnte, solange diese herbstlich mahnende Wehmut der Linden, dieses silberne Wehen der Weißpappelblätter im Anhauch des Nordwestwindes in eine Seele dränge. Und diese gütige, späte, den jungen Wein süßmachende Sonne!

Dann wieder entsann er sich, wie groß Paris wäre. Gab es hier doch schon Tausende von Kindern, die niemals ein wogend Ährenfeld gesehen hatten; die, mit kranken Gliedern seit Geburt, in düsteren, feuchten Höhlen umherkrochen und nicht wußten, wofür sie so elendiglich und so trostlos lebten und leiden müßten. Paris war ja damals schon so groß, wie es Rom anderthalb Jahrhunderte später wurde. Und in seine Parks ließ man nur gutgekleidete Menschen hinein. Sonst aber war die ganze Umgebung strenge bewachtes und abgesperrtes Jagdgehege des Königs und seiner Müßiggänger, der großen Herren, die nichts andres zu tun hatten, als täglich morgens aufzuwarten und sich dazu zu drängen, ihm die Baumwolle zur Reinigung nach morgendlichem, als sehr wichtig vom Leibarzt untersuchten Stuhlgang zu reichen. Seide, gold-brillant-besetzte Ordenssterne, Spitzen hier, Karossen, welche täglich »à la offenes Grab« Kinder überfuhren, leiteten hinüber zu frechen Bedienten, erbarmungsloser Jägerei, kolbenstoßenden Garden. Und diese vermittelten den Übergang nach »dort«: zum elenden, oft maßlos elenden Volk, dessen Ärzte damals nur dem Vermögenden halfen, dessen Kinder trauriger und verkrümmter und häßlicher aussahen als die Kellerasseln, die, neben ihnen und wie sie, im feuchten, lichtlosen Mulm lebten.

Und die Natur um ihn war verstutzt, verkünstelt, vergewaltigt, wie die schon in Mieder gepreßten kleinen Brüste der vierzehnjährigen Mädchen. Sie alle, papageien- und affenhaft zugerichtet und abgerichtet. Ebenso wie die kleinen Messieurs, die schon Degen und Puderzopf zu tragen gezwungen wurden und niemals tollen durften.

Nirgends die mächtigen Baumkronen freier Eichen Schönbrunns, die sogleich nach den senkrechten und ebenfalls militärfronthaft erzwungenen Parterrewänden der Linden vor dem Schloß aufragten und frei im Sturm tosten und winkten! Nichts als gestutzter Taxus, geschnittene Buchen-, Ahorn- und Lindenwände, die höchstens im Herbst bunt wurden durch ihr verschieden gefärbtes Laub, wie eine geschliffene Marmortafel aus Mosaik. Dies war ihre einzige Freiheit, farbenreich in einer ebenen Fläche aufzuglühen.

Hätte man aber mit denselben Mühen und demselben Kostenaufwand ein Volk so exerziert, um Sonne und Schönheit zu haben und, wenn auch auf Kommando, Ordnung zu halten, es würde sich gefügt und getan haben wie jene Bäume. Daran aber dachte niemand.

Dennoch übten sogar diese gestutzten Baumkulissen schon wegen ihrer Höhe, ihres Alters und ihrer wunderbaren Ausatmung jene beruhigende Magie, welche alte Bäume stets für bedrängte Menschenherzen bereit haben. Es ist nicht bloß die Kühle, der Duft des Laubes und die beruhigende Nähe eines hundertjährigen und dennoch jung gebliebenen Siegers. Es sind wirklich Kraftströme, die man später einmal entdecken, wägen, messen, unterscheidend anmerken und in der Umgebung von Krankenhäusern wählerisch verteilend, benützen würde. Das fühlte das Naturkind gerade mitten in gekünstelter Zeit!

Damals entstand in dem guten Jungen zum erstenmal die wunderbare Zuversicht, daß man, um sich selber die große Seele zu erhalten, bloß mit tief teilnehmendem Herzen und hellen Sinnen, eine kluge, ja weise Flucht zur Natur zurück zu nehmen hätte. In der läge die Ewigkeit, die in den flüchtigen und spotthaft vergänglichen Angelegenheiten der Menschen, ihren Tagesmeinungen und Moden völlig unterginge.

Solche Gedanken durchrührten ihn heute so über alles Maß, daß er, durch die Bäume und ihren Reinheitsatem gestärkt, jetzt sehr schnell dem neuen Abenteuer entgegeneilte, das sich ihm für diesen Abend bot.

Die kleine, zweite Marie Antoinette sollte er näher kennenlernen; die hübsche Nichte des Fagottisten!

Sie, die der Königin so ähnlich gebildet war, daß Jakob Auberger voll verliebter Neugier fieberte. Und ein Weilchen hatte er vor ihrem Hause zu kämpfen gegen sein pochendes Herz: »Ihre Wohnung!«

Da war ein richtiges Alt-Pariser Haus am Fuße des Montmartre! Ein Haus von der traulichen Bauart, durch die der berühmt gewordene Baumeister Mansard die altgotischen Häuser der plötzlich unter Louis XIV. zur Großstadt gewordenen und räumlich nicht so schnell ausdehnbaren Stadt auf billige Art für doppelte Mieterzahl erhöht hatte durch ein oder zwei Stockwerke auf alle Häuser, denen er jene leichten, malerischen Schindeldächer aufgesetzt und sie rentabel gemacht hatte. Es waren dieselben Dächer, die heute noch als »französisch« oder als »Mansarddächer« bezeichnet werden. Da sah man oft von oben die Dachrinne des poetisch darunterliegenden Geschosses, grünsprießend von jungem Birkenanschuß und reizvollen Unkräutern, nebst Erbsen- und Bohnengerank und Gemüse. Dachrinnen, unter denen die Sperlinge leidenschaftlich gern und leidenschaftlich laut nisteten. Eine ganze grüne Welt in der Großstadt schon damals; obwohl fern von der Natur, dennoch zurückerobert durch sie. Das gegenüberliegende Mansardendach mit seinen zwei, ja drei Überteilungen und Absätzen war ebenso eine wahre Landschaft. Namentlich im Winter, bei Schnee! Der wellte eine Pagodenkonstruktion weich, in die nächste hinauf. Rote Vorhänge spähten, geheimnisvoll von innen erleuchtet, voll Phantasieträumen von sehnsüchtigen Mädchen oder Studenten, in der lavendelblauen Winterabendstunde nach dem Vis à vis. Gekicher und Gitarrenlaute kamen aus ihnen. Orangen dufteten herüber, und Punsch, Kaninchenragout und Brathering.

Man wußte auch hier zu leben.

Nicht zu leben war bloß auf der Gasse, in den erhitzten Cafés und Markthallen. Dort oben aber war Philosophie. Bukolische Genügsamkeit und ebenso paradiesisch scheinende Heiterkeit, wie der armen Königin und ihren Damen das ganze Bauerndasein von fern erschien.

Aus jenen Vorstädten der Halbbauern aber und ihren Kneipen mit rauhem, brüllendem, keltischem, unromanischem Jargon und voll Haß und Rachsucht, voll » ça ira« – in stille Gärten flüchtend kam Auberger hier in ein Idyll, das beinahe weihnachtlich und wie mitten ins schlesische Riesengebirge geboren anmutete.

Monsieur (oder Bürger » Ogüst Le Care«, in Graslitz August Lekarsch genannt) empfing Auberger ( ohberschee) schon auf der Treppe mit der ganzen imponierenden Wucht seiner Erscheinung. »Servus, Jakubitschek,« sagte er treuherzig und im reinsten Deutsch seiner Gegend. »Du kriegst Kiniglgulasch, pikfein, sag' ich dir. Sodann Kolaèi. Sodann guten Weijn! Und dabei schau dir mein Niècerl an; meine, augenblicklicherweise noch junge Nichte. Ob die als Marie Antoinette nicht brauchbare Statur machen könnt'. Wannst schon so ein Narr sein willst und ihre Majestät als Stubenmädl mit nach Österreich exportieren willst: Mehr is' eh nit wert.«

»Alsdann, komm herein, du. Aber knutsch mir das Mädel nit gleich ab, sag' ich dir. Na ja, Auberger, Jakubitschek. Ich weiß eh! So was Fesches bringst ja eh net zusammen: Ehrbar, ehrbar bist du! Grad so wie ich – aber aus anderm Anlaß. Ehrbar so wie ich alter Kerl.«

»Alsdann, gehn mers Madl anschaun.«

Die kleine Marion, die von ihrem Besuche zu unterrichten der phlegmatische Fagottist vergessen hatte, saß in der Fensternische, war aber zum Ausgehen bereit; denn sie sollte mit Freundinnen in einer kleinen Wirtschaft tanzen. Als Jakob eintrat, den sie nun heute gar nicht erwartet hatte und der ihr aus den Schilderungen »Le Cares« langweilig vorkam, blieb sie wie gebannt sitzen. Solch einen Jungen hatte sie doch nicht erwartet. Der schritt, jeden Muskel gebändigt, wie ein Soldat im zweiten Übungsjahr oder wie ein Tänzer herein. Alles an ihm federte, und blaue Augen blitzten sie an. Sie hatte schon ihr Fichu um, und das machte sie der Marie Antoinette nur um so ähnlicher. Schon damals trug in Paris jede allerliebste kleine Nähmamsell nach Möglichkeit nur die letzte Mode der Königin. Heute konnte man ja beide vergleichen: Mamsell – und Madame la reinevoilà.

Marion, die jetzt ins Siebzehnte ging, war zwar blond, hatte aber nicht die zärtlich blauen Augen der Königin, sondern braune. Aber die gleichen schwarzen, langen Kinderwimpern bedeckten diese Augen, wenn sie sich senkten, so dicht, lang und zart wie ein Trauerfächer. Sie gaben ihrem Wesen etwas schüchtern Rührendes und dennoch – »Abendverheißendes«, das sehr herausforderte.

Blitzgetroffen stand Jaköble gach im Zimmer. Er rührte sich eine Weile nicht, während das noch ahnungslose Mädchen ihn aufmerksam betrachtete und sich durch seine jähe Demut und Unbeholfenheit sehr geehrt fühlte. Sie wußte, daß man dem armen Jungen, dem » pauvre Jacques der Königin,« ein wenig zu helfen und ihm entgegenzukommen hätte. Sie stand auf und trat in der anmutigen Weise ihrer Zeit an ihn heran, indem sie ihm einen schönen Knicks machte und ihm in natürlicher und herzlicher Weise ihre hübsche, kleine Hand entgegenbot.

»Willkommen bei uns, Herr Auberger; und möchte es Ihnen hier gefallen.«

»So sagst du,« polterte der Fagottist, »und willst gleich wieder fort und tanzen gehen?«

»Darf ich mit?!« rief Auberger jäh.

»Nein,« sagte sie mit großer Freundlichkeit und Sanftheit. Und dann fügte sie mit einem jähen Entschluß hinzu: »Es duftet hier so gut, und ich habe solchen Hunger. Es ist genug da für dreie. Ich bleibe hier, und ich gehe nur bloß einen Sprung in die untere Etage, um der kleinen Mimi zu sagen, daß wir Besuch bekommen haben. Daß ich noch zu Hause bleibe, daß ich aber vielleicht später Herrn Auberger, Geigenlehrer beim Dauphin, mitzubringen die Ehre und das Vergnügen haben werde.«

Sie ging sogleich hinaus und hinunter, als fürchte sie das ungemeine Aufleuchten in den Augen des armen Jakob.

Der stand da, als wäre die Königin bisher eine Opernouvertüre gewesen. Als ginge jetzt der Vorhang erst auf, zu holdester Wirklichkeit des Verheißenen. Soviel tut größere Jugend.

»Jakubitschek! Steh nicht so dumm da; du hast ja keine Ahnung, daß du, wie die Franzosen hier sagen, bloß auf den Typus hereinfliegst. Marion sieht ihr ja ähnlich … Ah – sie ist aber jünger. Und sie ist noch glücklich. Die andre wird bald unglücklich sein; beide sind hilfsbedürftig, wie du es so gern hast – aber nur einer ist zu helfen. Na, mein großer Bub: › Qu'est-ce qu'ira?‹«

Dieses Wort fuhr Auberger hart ins Gedächtnis. Er war sehr verwirrt und ungewiß.

»Entscheide dich!«

Inzwischen kam Marion zurück. Sie setzte sich unbefangen an den Tisch, den der gravitätische Lekar inzwischen, in gesprächigem Wohlbehagen, selber soweit gedeckt hatte, daß ihr nichts mehr übrigblieb als unter Vorwürfen für den Onkel Teller, Eßbesteck und Servietten aufzulegen. Onkel hatte, als das ihm einzig wichtige, auch Flaschen und Gläser schon aufs schönste in Schlachtordnung gestellt.

»Kommen S', Herr Jakob, und setzens Ihnen herzu,« sagte das reizende Mädchen, das jetzt, wo es sich zu Hause fühlte, nicht mehr an Hochdeutsch oder Französisch, nicht mehr an den kleinen Ball und die große Welt da draußen dachte, sondern sich ganz im Lampenlichte der Heimat fühlte. Sie sprach, als erriete sie Jakobs Heimweh, ihren lange nicht gebrauchten und aus hübschem Frauenmunde so traulichen Wiener Dialekt.

Aber als man bei einer herrlichen Speise saß, begann sie zu Lekars Schreck: »Wir müssen das heute noch besprechen, das mit der Rettung unserer armen Königin … Ich bin zu allem bereit.«

»Mädel,« sagte der Fagottbläser, »weißt du wohl, daß du an Stelle der Königin zurückbleiben müßtest? Daß diese Kerle aus den Kanalrattenvierteln kommen werden, um die Königin zu zerreißen? Und, nachdem sie eben schon dabei sein wollen, eine Frau in Stücke zu reißen, es in ihrer Wut und Enttäuschung bei dir nur mit um so schrecklicherer Sicherheit ausführen werden?«

»Ich hätt' für diesen Fall ein doppelläufiges Terzerol bei mir und tät' net lang leiden. Aber Onkel! Ich glaub's net, daß ein Franzos' einem jungen Mädel was tut, das arm is. Und daß i arm bin, das weiß jeder im Viertel.«

»Sie werden glauben, du bist bestochen, also reich!«

»Warum soll ich mir selber jetzt schon Angst einreden lassen,« widersprach das von der Idee hypnotisierte Mädchen. »Das eine is für mich genug: die Königin is die Schwester von unserm Kaiser Josef.

»So arm is die Königin. So schutzlos, von ihrem Mann an bis in die letzte Vorstadtbude hinein verlassen und aufg'geben, daß wir drei dahier vielleicht die einzigen sind im ganzen großen Paris, die mit Lieb' an sie denken. Jakob, Sie haben ganz recht. Wir müssen das grundarme, einsame, verleumdete junge Frauerl zu ihrem Bruder bringen. Der wird schauen!«

Jakob aber antwortete fürs erste nicht. Der Ruf des Fagottisten oder, wie man damals sagte, Hautboisten war ihm doch wie Todesschreck durch alle Glieder gefahren: »Sie werden dich in Stücke reißen!«

Jetzt sagte er langsam: »Man muß das aber noch sehr gut überlegen, Mamsell Marion! Nur wenn die Königin wirklich leicht und gefahrlos zu retten ist, darf eine solche Mystifikation der Hofbedienten gewagt werden. Besteht aber nur ein Zweifel oder läßt es der König nicht zu, oder – was wahrscheinlich ist – besteht die Königin darauf: ›Nur mein Mann mit mir, oder ich bleibe bei ihm,‹ dann …«

»Dazu wäre die Schwester des Kaisers Josef, die Tochter der Theresia, fähig,« sagte Marion traurig.

»Aber dahin hat's ja gute Weile,« rief der dicke Musikant, der endlich fröhlich sein Nachtmahl und seinen Wein genießen wollte. »Schluß also jetzt mit Marie Antoinette! Schluß sogar mit'm Kaiser Josef, zu dem sie uns ja zurückschickt, und der uns, als Sparmeister, kaum den halben Gehalt geben wird, wie wir ihn hier gehabt haben!«

»Dafür leben wir in Wien aber auch um die Hälfte billiger!«

»Na – darauf stoßen wir an. Obwohl mir der sanftere Wein gegen den grünen und krensauren Österreicher sehr abgehen wird!«

Als die Gläser aneinanderklangen, sagte Jakob: »Dafür duftet unser Wein aber auch viel feiner.«

»Du trinkst mit d' Nasen, Schackerl; ich mit Gurgel.«

»Na, dann trink halt Bier; und jedesmal auf eine Halbe machst einen Schluck Zwetschkernen.«

»Hast recht, Schackerl. Auf Bier g'freu ich mich; besonders vom April bis Oktober ganz ausnehmenderweise.«

Damit war die eben erst dunkle Wolke über den Gemütern der drei österreichischen Frohnaturen wirklich auch schon zerstreut. Ein Abend wurde es, als säße man unter bunten Papierlaternen in einem Sommergarten von Grinzing.

Nicht ein Wort mehr von der Dräudüsterheit der Zeit fiel. Man hatte sie einfach vergessen. Vergessen sogar die reizende Königin, deren Ebenbild jetzt neben Jakob Auberger saß und die ferne Angebetete sehr stark ersetzte.

Wer aber jetzt trotz scheinbar fröhlichem Sichfügen nicht mehr nachgab, nicht mehr Ruhe gab, das war sonderbarerweise die magnetisierte kleine Marion.

War es die Königin, die sie spielen durfte? Dachte sie an Kaiser Josef?

An jenem Abend schien wohl nichts als die süße Heiterkeit des kleinen Mädels in ihr zu sein, das stolz war auf die Ähnlichkeit mit ihres Kaisers Josef Schwester. Am andern Tage aber schon hatte sie eine längst vorauserbetene und geplante Audienz bei ihrer Majestät, der Königin.

Sie legte der still und sehr nachdenklich gewordenen schönen Frau nicht nur ihren Plan vor; sie zerriß auch den Vorhang zwischen Versailles und der Gosse von Paris. Die kleine Marion drängte dringlich und mutig mit der Frage des armen Jakob: »Was wird sein? Was wird losgehen, wenn einmal nicht nur aus Gonesse das Brot ausbleibt, sondern in ganz Frankreich kein Brot mehr ist? Kennen Majestät die Hallenweiber?«

»Ich kenne sie kaum vom Rufe her, aber der ist schrecklich, meine liebe Marion. Überlegen wir also das, was Sie mir zu bieten das Herz haben. Ich also soll mit Jakob Auberger als Marion Le Care fliehen? Ich soll den König im Stiche lassen? Wäre das möglich für eine Königin? Auch wenn es Leben und Ehre gälte, die ja doch durch diese Flucht verloren wären? Wäre das nur möglich, unsern hilflosen und schwer beweglichen König im Stiche zu lassen? Beides für eine Tochter Marie Theresiens? Aber – ich sage noch nicht nein. Wenn es ginge, auf solche Weise, bloß für Stunden, eine falsche Fährte zu richten, so daß der König frei von dannen könnte, während seine Jäger ›Hourvari‹ blasen.«

»Ich sehe, daß es für mich hier kaum etwas zu tun geben soll!« rief das erregte Mädchen. »Eure Majestät sollten gerettet werden. Gut: Aber sie denkt an nichts als an die Rettung des Königs. Hat Ihre Majestät die Aufgabe, für einen Mann zu sorgen oder für Kinder? Und somit zum zweiten: Wem gilt hier die Rettung? Frankreich soll nicht nur König oder Königin – es soll vor allem die Königskinder für eine glücklichere Zukunft geschont haben.«

»Ah: Auberger und Sie wollten im andern Falle meine Kinder mitnehmen? Aber dann kann er sie ja nur in Gemeinschaft mit Ihnen mitbringen nach Wien! Sie gelten als die Ihren? … Ah! Vraiment: dazu wären Sie doch zu jung!«

Eine dunkle Röte schoß über Marions Wangen, als sie sagte: »Majestät, ich werde mich als früh verdorben ausgeben. Ich werde, viel zu jung, eine unnatürliche und verbrecherische Liebe gehabt haben. Das wird man mir bei den schrecklichen Menschen, mit denen es Jakob und ich zu tun haben würden, nur allzu leicht glauben!«

»Armes Kind,« sagte sinnend die Königin, ging ein wenig im Zimmer umher und blieb dann stehen, wie eben ein jäh überlegendes Weib. Nicht mehr so wie eine Königin.

»Gut. Denken wir das weiter; meine Kinder retten.«

»Hier ist eine Rolle zu spielen, die ebenso glaubhaft sein müßte wie vorher die meine als Marion. Sie werden mit Ihrem Jakob oft nur ein Bett zu teilen haben. Ah?«

Die Kleine war tiefrot geworden.

»An das …, an das, Majestät, hat sicher Herr Auberger noch gar nicht gedacht. Majestät, und erst ich? – Es ist ja schrecklich!«

»Sehen Sie, wie sonderbar ein Opfertier zurechtgeputzt werden muß, wenn die Götter es annehmen sollen? Gehen Sie jetzt: Le care, ma petite chérie. Und denken Sie noch ein Jahr lang über diese lieben, aber gefährlichen Dinge nach, bis Sie reifer und mutiger dazu geworden sind. Es ist ja keine besondere Eile not. Obwohl Monsieur Jacques kein Jahr …«

»Ein Jahr? Vielleicht ein Tag, Majestät!« rief Marion ängstlich und ohne die ein wenig eifersüchtige Schlußfolgerung der Königin zu verstehen.

»Nun, dann tragen Sie schon morgen das volle Risiko mit einem hübschen Jungen, der sogar mein Herz nicht gleichgültig ließ. Ach, es wird vielleicht für Sie sehr reizend. Aber besser, Sie lassen Ihre kleinen Hände aus dieser Intrige, aus der uns schon irgendein ganzer Mann erlösen wird. Mirabeau ist ja noch da … Adieu, meine kleine Nebenbuhlerin.«

Daß dieses letzte Wort wie ein süßer Giftpfeil ins Herz des Mädchens fahren würde, das ahnte die erfahrene Königin recht wohl.

Sie wußte jetzt, was sie sollte. Sie mußte, scheinbar nachgebend, den reizenden kleinen Auberger selber retten und damit loswerden, damit er sie nicht auch noch kompromittiere. In ihr steckte zudem das unwandelbare Bedürfnis ihrer Mutter, Heiraten zu stiften, Ehen zu kuppeln. War das nicht auch hübsch? Jakob bekäme so eine gute und dazu in jüngerem Datum gefertigte Kopie Marie Antoinettens!?

Sie klingelte. Sie ließ sich den armen, kleinen Jakob kommen, der beim Anblick der immerhin ernst blickenden und sehr veränderten, aber auch so noch schönen Königin erschrak. Und noch etwas: In ihrem Haar, das sie heute schwach gepudert trug, zogen sich da, bei der zurückgekämmten Tracht jener Tage, von der unendlich reizvollen Stirn, um die sie einen so schönen Ansatz machten, nicht ein paar schmale, graue Strähne empor in die Frisur?

»Ich möchte dieses Zagen, dieses Bangen,
Nur darum noch ein Weilchen überleben …«

Aber die Königin sprach, als ließe sie sich noch lang keine grauen Haare wachsen.

»Morgen haben wir ein ganz kleines, intimes Hofkonzert, lieber Jacques Auberger, und ich werde ein wenig dabei singen.

»Sie haben mich hierzu auf dem Klavier zu begleiten. Hier sind die Noten. Text habe ich nur ein Exemplar für mich. Aber die Kopie davon liegt morgen rechtzeitig vor Ihnen. Adieu, lieber Auberger.«

Schon im Korridor riß Jakob die Blätter auseinander, um zu sehen, was er da zu spielen hätte. Alle Glieder erstarrten ihm, als er schon am oberflächlich besehenen Notenbilde erkannte:

»Ach, was wird sein, mein armer Jakob!?
Ach, was wird gehn?«

Es war vielleicht der letzte, bis nah an Mitternacht vergnügte, ahnungslos scheinende intime Abend bei ihren Majestäten. Ludwig XVI. ritt damals noch alltäglich auf die Jagd, man wohnte noch nicht als Gefangener des Volkes in Paris. Dem Adel aber war vor den Forderungen jenes Volkes schwül geworden, und er blieb den Vergnügungen des Hofes nicht mehr herausfordernd fern, wenn man dort eine halbdemokratische Maßregel auf Mirabeaus Rat hin wagte. Stets nur eine halbe, denn niemals fiel es dem in Vorurteilen völlig eingesponnenen und überdies zaghaften König ein, etwa gar sich an die Spitze der Revolution zu stellen, ein Volksheer gegen den Adel aufzurufen und die Gleichheit der Stände als selbstverständliches Menschenrecht zu verkünden. Aber bloß diese Möglichkeit drängte den Adel wieder an den Hof. Und Marie Antoinette? Sie war einsam gewesen, also mutig geworden. Sie war klug, ließ sich an keinem Faden mehr ziehen. Selber erfaßte sie an jedem ihr dargebrachten Ratschlag dessen Nützlichkeit.

Aber unter einer reizenden Frauenstirn wohnen keine Umsturzgedanken.

Niemand wäre das Wagnis eingefallen, ihr zu sagen: »Majestät, jagen Sie das ganze privilegierte Müßiggängervolk auseinander.« Zu alledem wußte die trotzig gewordene Königin, daß man gerade aus ihren Händen die Freiheit nur mit Groll und größtem Mißtrauen entgegennehmen würde. Der König? Ja. Der gab sich wenigstens als kleinbürgerlicher Franzose sparsam und nüchtern. Die wunderbar coiffürte Frau aber, aus dem feindseligen deutschen Osten, mit ihrem kummerlos scheinenden Leichtsinn? Wer hätte der, nach den schauderhaften Nachreden, die der Herzog von Orléans mit all seinem Haß und mit ungeheurem Kostenaufwand über sie ins Volk gebracht hatte, ein wahres Herz, einen mutigen, redlichen Sinn und eine wirkliche Empörung gegen das Drohnenvolk zugetraut, das ihre Vergnügungen teilte!?

Heute aber war ihre sinnverwirrende Schmeichlerbande so recht wieder beisammen. Heute wollte sie ein wenig als Künstlerin glänzen. Da gab es bei geschicktem Lob als Entgelt neue Stellen zu erschmeicheln, neue Einkünfte entzückt zu erlächeln.

Die Königin als Sängerin, im intimsten Zirkel! Jakob, in ponceaurotem Frack, mit Knöpfen aus Amethyst – in Gold gefaßt. Er hatte sich's was kosten lassen, trotz seiner sonstigen Philosophie! Er wußte, was niemand wußte; daß er heute eine Königin zu einem Liebeslied zu begleiten hatte, das ihm selber galt. Einen nachdenklichen Blick warf der sehr blasse und im Innersten durchwühlte junge Mensch nach dem hoch- und feingestrichenen Haar der Königin, in dem er gestern weiße Fäden geahnt. Aber es war schneeweiß gepudert; es blühte, wie ein Dickicht von Kirschbäumen, die man aus der Ferne sähe.

Und ebenso fern schritt die schöne Königin neben ihm vorbei. Endlose Minuten dauerte es, bis sie ihn, mit völlig trockenem Blick, von oben herab und ohne ihr bestrickendes Lächeln zum Klavier hinwinkte: » Eh bien!«

»Ihre Majestät befehlen,« sagte er tonlos, ging hin, setzte sich – blätterte. Marie Antoinette sah ihm prüfend zu. Sie merkte seine an Ohnmacht grenzende Aufregung. Dann (kaum ein grausames Lächeln verbeißend) eine namenlose Verblüffung, als er den Text schnell noch einmal überlas. Sie sagte:

» Allons! Vite, vite!« Räusperte sich zum Singen.

Jakob legte die ein wenig bebenden Hände auf die Tasten und die Königin begann:

»Ach, was wird sein, mein armer Jakob?
Ach, was wird gehn?
Wird uns der Sommer Reben geben?
Wird der Winter keine Bäume befrieren?
Werden unsre Lämmer nicht vom Wolfe geholt werden
Und unsre Kränze nicht vom Boreas?
Mein Schäfer:
Ach, was wird gehn?«

Ein richtiger, ein wenig verspäteter und aus der Zeit gekommener Schäferliedtext! Dem armen Jakob zerstürzte in seinem Innern das enttäuschte Herz.

Aus war der Traum und zu nichts geworden. Aber keinem Herrn und keiner Dame vom Hofe fiel es auch nur im Traume ein, daran zu denken, daß zufällig ein armer Junge mit Namen Jacques vor der Königin am Clavecin saß und mit mühsamer Beherrschung taktvoll akkompagnierte, ohne am Schlusse, im losbrechenden Begeisterungssturm, auch nur ein gnädiges Kopfnicken der allerhöchsten Frau, der Angebeteten seines Herzens, zu erhalten.

Er stand neben dem Instrument wie eine ausgeblasene Kerze.

Man stürmte, man schwor, nicht schlafen, ja nicht sterben zu können, ehe man das reizend naive Schäferliedchen, mit den schweren Sorgen des Volkes von heute, nicht noch einmal gehört hätte. Umsonst, die Königin wollte nicht.

»Ich habe zuviel Sorgen,« sagte sie, »die beim Singen dieses Liedes neuerdings in mir erwachten. Ach, wenn einmal kein Brot mehr nach Paris käme! Würden dann aus den Schafen der Schäferin nicht Wölfe?«

»Aber Majestät, Majestät!« riefen die Adeligen beschwörend durcheinander.

Auberger horchte wie ins Ferne. Aus den Gassen schien jenes fürchterliche » Ça ira!« immer näherzukommen. Im Taktschritt von Deserteuren, Pikenmännern, Hallenweibern …

»Nicht wahr, Wölfe, Jacques Auberger?« fragte die Königin, so nebenhin über die Achsel zurück.

»Wölfe, Majestät,« sagte er ehrlich.

Da bildete sich ein Kreis des Entsetzens rings um ihn.

Die große Leere, die etwa ein Leprakranker erzeugt. Er war ein solcher geworden.

Er war in Ungnade. Mehr noch. Er hatte die einzige Sünde seiner Zeit begangen:

Er hatte die Wahrheit gesagt. Und dies noch ohne jeden Witz, ohne Takt, ohne Zuckerumhüllung.

»Deutscher Flegel.«

Er fühlte, es war höchste Zeit, geräuschlos dem Ausgange und der Nacht zuzustreben, die ihn fortab umhüllen sollte. Keine der Wachskerzen von Versailles leuchtete ihm jemals wieder.

Aber da flog ein Stein ins Zimmer gegen den großen Kristalluster.

Patsch! Krachklingelingelings!

Der Kronleuchter der erlauchten Gesellschaft war hin. Zerworfen durch jenen erstaunlich fremden Stein, der eben zu Boden fiel …

Ein zweiter Stein zertrümmerte aber bald das nebenan verschlossene Fenster, so daß das Geheul des Volkes, das jetzt drunten auf der Gasse anschwoll, freier hereindrang. Freier und noch zahlreicher werdend wie die Steine, welche jetzt fortwährend Luster und Spiegel zerschmetterten, so daß bald nur ein kleiner Teil der Kerzen mehr brannte und ein Rest der reflektierenden Gläser dem königlichen Prunk eine erschreckend schnelle und armselig gewordene Düsternis und Abenddämmerung bereitete.

Die Herrschaften flohen.

Die Herren retteten ihre Damen durch Gänge und Nebenzimmer hinaus.

Um die Königin, der doch dies alles galt, bekümmerte sich niemand im galantesten der Staaten. Sie selber stürzte, als wäre die beste Abwehr der Gefahr diese, sich ihr entgegenzuwerfen, instinktvoll zum Fenster, von dem der alleingebliebene Jacques sie wegriß, ehe sie, in der plötzlich entstandenen Düsterheit, vom rachetrunkenen Pöbelzug erkannt würde, der sich hier ein kleines Vorspiel, eine kleine Drohung, und nicht mehr erlaubt zu haben schien.

Marie Antoinette hatte nur wenige jener entsetzlichen Gesichter des Massenhasses erkannt, welcher die Facies humana ärger entstellt, als eine Affenhorde sie zu karikieren vermocht haben würde.

Kein Gespenst (es wäre denn jäh und einseitig sterbende, große Liebe) ist grauenhafter zu erleben als haßverzerrte, untertierte Menschenmeute.

Wölfe, Heuschreckenwolken, all dies ist vermehrte, übergewaltig gewordene Natur.

Erschreckend, ja; aber nur eines nicht: »Jenseitig,« zum Ekel, zur Furcht, zum Grauen des Todes die Angst, um seiner auf ewig verlorenen Seele willen.

Denn dies ist der furchtbarste Tod – dieser: Im Augenblick der Vernichtung des eigenen Ich verzweifeln zu müssen an allem, was übrigbleibt. An Menschenantlitz, Seele, Güte, Gott. Hier, auf der durch die Masse geschändeten Erde!

Es ist ein entsetzlicher Gram, vom Schafott aus in den häßlichen Jubel hinunterzusehen, in dem, ewig unerlöst, ja immer mehr verdammt, die Masse zurückbleibt.


Man mußte so holden Leichtsinn in der Seele haben wie die junge Königin, welche Jacques, der sie jetzt in Armen hielt, um sie zu schützen, zu sagen vermochte:

»Ich danke Ihnen, daß Sie mir diesen abscheulichen Anblick mehr als eine Sekunde zu sehen verwehrt haben. Ah – was ist der Mensch! Ah, was ist das da drunten, – fi donc!«

Und energisch entriß sie sich ihm und klingelte nach der Schweizergarde, die übrigens längst schon mit langschäftigen Piken drunten an die Arbeit ging.

Alpenfrisch und grob, in abscheulich schwitzendes Bestiengemenge hinein.

Aber die paar wackeren Kerle wären bald von zehnmal mehr Menschen überwältigt worden.

Auberger sah es. Er neigte sich weit aus dem einzigen, noch schwach erleuchteten Fenster. Er erkannte sofort: die Schweizer wären verloren, wenn man dort unten dies erkannte, wie hier oben er, Zahl gegen Zahl, Waffe gegen Waffe. Denn es gab drunten sehr viel mehr Piken, Messer und Sensen, als die paar Luzerner und Glarner führten, die den Angriff dennoch treulich unternommen hatten. Da schrie Auberger in einem grauenhaften Vorstadtjargon (den er längst aus Vorsicht erlernt hatte) hinunter zu der schrillenden, pfeifenden, quiekenden Rattenmajorität: in einer Sprache, die Marie Antoinette kaum im Spaße im erschreckenden »Ottakring draußen, Außenrand von Wien« erkannt haben würde.

Etwa so übersetzt:

»Burschoiii! Citojenes! Im Namen von darr Frääheit und darr Gläächheit! Brüaderln! Verhauts enk g'schwind! Oes seids verraten! Oes seids in a Patschen einigrutscht! Von derer andern Seiten durt kimmen dö Tristsappats! (» Tristes a patte,« traurige Fußhinker, nannte der Vorstadtspott die Scharwache von Paris.)

»Aufg'schaut, Brüaderln! Verhauts enk ins Gartengassel, drenten seids sicher. Tummelts enk!«

Die Wirkung dieser Worte war unwiderstehlich. Aus dem grauenhaften Traum wuchs in einem Augenblick die Nachtblume der Ruhe.

Wuchs die große, schwarze Einsamkeit und das ewige Flüstern der Bäume empor. Jakob, einig mit ihnen, atmete tief.

Auch auf die Königin war nur die Wirkung der Worte Aubergers gefallen.

»Nun haben Sie mich zum zweitenmal gerettet, Jacques,« sagte sie. »Einem Chevalier wäre dies nicht gelungen, vraiment: ich gebe es zu, und keiner hat es auch nur versucht. Muß aber dann alles, was Sie für mich tun, geschmacklos abscheulich und beleidigend fürs Ohr und fürs Gefühl sein? Ich danke Ihnen ja … Nur – es tut mir leid …«

»Gute Nacht, mon pauvre Jacques.«


Und noch einmal stand der gute Musikant allein. Er, der soeben die Königin von Frankreich, straflos und zu Nacht, in den Armen gehalten hatte, so daß ihm noch ihre warme Körperform durch die gespannten Muskeln in die Adern hineinbrannte.

Ganz allein gelassen stand er da.

Und er schämte sich, daß er diese Laute von sich gegeben hatte, die allein ein bedrohtes, geliebtes, erst jetzt vielleicht für immer verlorenes und doch schon so nahe gewesenes Weib gerettet hatten.

Auberger wußte, nun gäbe es für ihn nur zwei Dinge mehr: Erst seine Ersparnisse, die gerade und genau für ein Philosophendasein von der Art des Diogenes reichten, nach Wien vorausschicken, denn der Franken bot keine Zuversicht mehr. Das war das eine. Das zweite: seine Koffer packen. Es waren drei Koffer, an denen ihm zu jenen Zeiten sogar unweise viel gelegen war (wie jedem hübschen Jungen, und wäre der noch so sehr mit der Lehre des Altertums bekannt und befreundet worden).

Aber – drittens: Mußte er sich nicht wenigstens einen Abschied sichern, der ihm in Wien nicht schadete?

So wartete er, nachdem beinahe alles, was er besaß, längst per Bank und Eilpost über die Schweizer Grenze hinweg ihm vorausgeeilt war, mit wenigem auf den Abschied, den er schriftlich und demütig von seiner Herrin und Königin erbeten hatte.

Aber – lange, lange Zeit nichts! Sein Zimmer im Palaste blieb ihm. Seine Gage ging ihm wortlos weiter zu.

Zu tun hatte er gar nichts mehr. Und hoch und spät wurde der Sommer.

Und dann – ein maßlos Staunen. Er war zu Audienz bei der Königin befohlen worden, in ihrem Privatkabinett, »gleich nach dem Aufstehen und allein«.

Er eilte zur wunderbaren oder doch sonderbaren Frau. Noch nicht einmal die Coiffeurin war dagewesen, und Maria Antoinette trug ein sehr schönes Spitzenhäubchen über ihrem noch ungeordneten und erst bloß mit dem Pudermesser und dem Reibbeutel gereinigten Haar.

Sogar die Kammerzofe winkte die Königin hinaus, als Jakob in seinem blauen Frack, mit gelben Reisestiefeln eintrat. Denn die Königin hatte ihn augenblicklich herbefohlen, wie immer er auch aussähe »und ohne Kleiderwechsel«.

Allein mit ihr …

»Ei, sieh da, Monsieur Werther?« sagte sie nach einem kurzen und überraschten Blick. »Man ist also stets in Reisekleidern?«

»Es ist die Tracht unsrer jungen Leute, auch ohne Reise. Ich? Ich aber stehe schon sehr lange in Reisestiefeln – Majestät.«

»Ja, ja. Ich habe Sie warten lassen … Aber ich habe überlegt … Vielleicht kann Ihre Ergebenheit und jene unsrer reizenden, mir so ähnlichen Marion … ah, Pardon! Ich habe mit diesen Worten nicht mich selber mitgemeint …« Und sie lüftete die Spitzenhaube.

Leise graugewordenes Haar!

Jakob vermochte nicht, seine Bewegung zu verbergen.

Und es war eine Pause, während derer die sonst völlig gleich anmutige Königin in ihrem Gedächtnis etwas zu suchen schien, das sie dann endlich doch selber, ein wenig unsicher und stockend, begann:

»Nun, Jacques?«

»Ich möchte dieses Zagen, dieses Bangen
Nur darum noch ein Weilchen überleben,
Bis deine blonden Haare …?«

»Um Gottes willen, Majestät, nicht weiter! Ich bin noch viel unglücklicher als Majestät, der dieses sanftmelierte Haar entzückender anläßt, als die gepuderte Perücke!«

»Oh? – Wenn's bloß beim Ergrauen bliebe, mein lieber Auberger,« unterbrach ihn die Königin kurz. »Genug davon. Beherrschen Sie sich, wie ich es tue, die an Sie schon zu Ende gedacht hat. Sie werden mit Marion, sozusagen als Charlière d'essay, hier aus dem Schlosse, durch die Schweizergarden hinweg, fliehen. Sie werden sogar durch Paris hindurchfliehen mit Marion. Hier haben Sie einen Brief an meinen Bruder in Wien. Er ist so abgefaßt, daß er Sie, Jacques, nicht kompromittieren kann. Hier haben Sie eine Anweisung auf die Straße über Varennes. Dort warten Sie beide einen Tag – auf Nachricht. Diese Nachricht wird bestehen: Entweder in der Mitsendung Ihres Schülers, des kleinen Dauphins, der als Bauernjunge und als Ihr und Marions Kind, über die Grenze gelassen werden wird (denn der Paß enthält einen Lettre de cachet samt einem Ausweisungsbefehl des Königs, wegen Schändung eines Mädchens in ungesetzlichem Alter …)«

»Marion?«

»Marion, mein kleiner Geiger, die ist einverstanden, den Ruf auf sich zu laden. Sie wollte mir ein noch viel größeres Opfer bringen, mein armer Jacques. Ach, ich rate Ihnen, als alte Freundin, sich ihr ein wenig mehr zu widmen als mir, und sie gut zu beachten. Das Mädchen wäre mit tausend ihrer Art nicht zu vergleichen und nicht aufzuwiegen. Nur dieses haftet ihr an: sie wird vom Erfolg influenziert! Anders –, als Sie, Jacques. Genug davon. Sie kommen, den Grenzbehörden durch unsre Ungnade sympathisch geworden, nach Varennes, von wo Sie leicht entschlüpfen können. Ich will, daß es Varennes sei. Aus ganz besonderen Gründen. Nun: um dieses Nest zu überprüfen, ob –, aber genug davon. Hier ist Reisegeld. Tiens! Nehmen Sie und zieren Sie sich nicht. Es ist wichtig, für den Notfall auch eine Bestechungssumme bei sich zu haben. N'est-ce pas? Allons! mein Freund! Kommt nun aber der kleine Dauphin am andern Tag nicht, so warten Sie um Himmels willen nicht noch den dritten ab! Denn irgend etwas wird uns dann gezwungen haben, unsre Disposition völlig umzustellen. Sie haben dann bloß die Pflicht, diesen wichtigen Brief da meinem Bruder Josef zu übergeben: Hören Sie doch! Sie haben sich damit sowohl das Reisegeld als auch die längst für Sie vorbereitete Anstellung in der Hof- und Kirchenkapelle der kaiserlichen Burg verdient. Seien Sie aber nur ja nicht berauscht von dem Gedanken. Mein Bruder ist noch sehr viel sparsamer als der König! Werden auch Sie es. Und jetzt adieu, mon petit et cher ami.«

Die Königin ließ die Lippen Aubergers, wirklich lang und scheinbar gern, auf ihrer dargebotenen Hand ruhen und seufzte wie ein Mädchen. Dann richtete sie sich auf und verabschiedete ihn als Herrin.

Nur dann, als er fort durch die Tapetentür getreten war, seufzte sie abermals. Aber so leise, daß er es nicht mehr hörte: und ebenso singend, wie lange vordem, in einer jungen, jungen Pfingstnacht:

»Ach, was wird sein, mein armer Jakob?
Ach, was wird gehn?«


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