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Es war eigentlich ganz gut berechnet, sagte er, daß wir heute nachmittag von dem Bataillon unterbrochen wurden, denn es ist eine Erzählung in zwei Teilen, und sie wurde gerade an der richtigen Stelle durchgeschnitten, – Nun kommen wir zu der Eule, die ich bereits erwähnt habe – aber die hatten Sie wahrscheinlich längst vergessen!
Sehen Sie, die Eule, die gehörte dem Jäger auf Borrevang, und sie hieß Petermann. Es war selbstverständlich ein richtiger Uhu, der benutzt wurde, um bei dem Frühlings- und Herbstzug Raubvögel und Krähen zu schießen, aber während die Rasse ja in der Regel so wild und boshaft ist, daß es zuweilen ein wahres Kunststück sein kann, die Lederschlinge mit der Kette daran um einen der Fänge zu befestigen, wenn man mit dem Tier hinaus will, so war Petermann so zahm und so zärtlich wie ein Hund. Wenn man nur seinen Namen nannte, legte er den Kopf auf die Seite und gurrte wie eine Turteltaube, und wenn er, was sehr oft geschah, die Schlinge abstreifte und auf einen der nächsten Bäume flog, so brauchte man ihn nur zu rufen, dann kam er gleich wieder und ließ sich gutwillig festmachen. Und wie prächtig anzusehen war er, wenn er auf seiner Krücke vor der Krähenhütte saß, während Raubvögel und Schwarzröcke um ihn her flogen! Dann rollte er wie rasend mit den Augen, sträubte sich und blies sich auf; dann wurde er doppelt so dick wie sonst! Die Schüsse, die ihm um die Ohren knallten, fochten ihn nicht im geringsten an, und wenn die Krähen ein wenig reichlich um ihn herfielen, sah er stolz auf sie nieder und glich einem siegreichen Feldherrn, der den Wahlplatz überschaut. – Ja, Petermann war ein seltenes Tier, und wir waren gute Freunde, er und ich.
Im Jahre nach meiner »Vision« am Schwanenteich war ich zur Osterzeit nach Borrevang gekommen – wir hatten in dem Jahr sehr früh Ostern – um Schnepfen zu schießen, aber da waren keine Schnepfen, und darum lieh ich mir eines Morgens Petermann und schoß Krähen für ihn, und damit amüsierten wir uns alle beide einen ganzen Vormittag ausgezeichnet.
Gerade als ich nach Hause zu Tisch gehen will, hat er sich jedoch frei gemacht und fliegt in eine der nächsten Buchen hinauf, Ich rufe »Petermann«, und er gurrt noch so freundschaftlich als Antwort, als ich aber unter die Buche komme, in der er sitzt, fliegt er wieder fünfzig Ellen weiter, und das tat er wieder und wieder.
Nun wissen Sie vielleicht, daß dort in der Gegend keine großen, zusammenhängenden Wälder sind, sondern meistens Brüche und kleine Holzungen, und Sie wissen vermutlich auch, daß dort ein Gut neben dem andern liegt, so daß man nur aus dem Revier des einen hinauskommt, um in das des andern hineinzukommen. Petermann flog, und ich folgte ihm, ohne eigentlich zu wissen, wo ich war, und so ging die Jagd wohl ein paar Stunden weiter, bis ich mich schließlich in einem ganz unbekannten Park stehen finde; ich war, ohne darauf zu achten, über den Zaun gekrochen, und oben in dem Wipfel einer Eiche hatte sich Petermann plaziert. – »Petermann« rief ich und Petermann antwortete freundlich, blieb aber ruhig sitzen. Ich rief wieder, ich rief viele Mal, aber das Ergebnis war beständig dasselbe.
Da höre ich plötzlich hinter mir eine Stimme – die helltönendste Stimme, die ich je in meinem Leben gehört habe – eine Stimme, die ebenfalls »Petermann« ruft, und im selben Augenblick schwebt der Strolch in langsamem Flug von der Eiche herab und setzt sich hübsch vor sie hin – Sie können wohl begreifen, daß es eine Dame war! – und gurrt ihr auf die einschmeichelndste Weise zu. – Der Stimme hatte Petermann nicht widerstehen können!
Ich begrüßte die junge Dame – sie mochte ungefähr zwanzig Jahre alt sein – stelle mich selbst vor und sagte, wie es zugegangen sei, daß ich unversehens auf fremdes Gebiet eingedrungen war –, aber ich glaube wohl, daß ich dabei ziemlich gestottert habe, denn nie im Leben, weder früher noch später, habe ich etwas so – ich möchte sagen – Prachtvolles, Harmonisches gesehen, wie sie. Ich weiß recht gut, daß Sie immer behaupten, daß die Dame, von der ich gerade rede, stets die schönste ist, aber diesmal ist es wirklich Ernst: Estrid Holme war das Holdeste, was meine Augen je geschaut haben, – hin und wieder einmal im Traum sehe ich noch deutlich ihr Gesicht, sonst aber, das wissen Sie ja, legt sich im Laufe der Jahre gleichsam ein Schleier über die äußere Erinnerung, und man kann sich die Züge nicht vergegenwärtigen, die man am liebsten sehen möchte; man kann alle Einzelheiten zeichnen, aber es wird kein Bild daraus.
Am deutlichsten entsinne ich mich ihrer Augen. Ich hatte wohl bisher immer daran gezweifelt, daß veilchenblaue Augen anderswo als in Gedichten existierten, aber jetzt bekam ich den Beweis dafür: ihre Augen waren veilchenblau, und tief und strahlend. – Nein, wenn sie einen ansah, pochte das Blut in allen Adern – und sie sah einen viel an, mich und alle anderen – unschuldig wie ein Kind sehen kann und doch bewußt, der eigenen Macht bewußt.
Sie lachte, als ich ihr von Petermann erzählte, lachte so, wie ich nur sie habe lachen hören – das war Musik, wissen Sie! – Und dann sagte sie, als sei es etwas ganz Selbstverständliches, daß ich nun doch wohl in Holmebo Einkehr halte – ich würde ihren Eltern herzlich willkommen sein. Ja, da fand ich denn auch gleich, daß dies das Natürlichste von der Welt sei, und ich blieb, und ehe eine halbe Stunde verstrichen war, hatte ihr Vater Petermann nach Borrevang hinübergeschickt und dem Boten den Auftrag erteilt, mein Pferd und meinen Ranzen zurückzubringen.
Das Ganze war wie ein Traum, aber im Laufe des Nachmittags fühlte ich mich vollständig zu Hause auf dem Gut, und es war, als ob Fräulein Estrid und ich uns schon lange gekannt hätten, – immer.
Es war eine merkwürdige Häuslichkeit hier in Holmebo. Der Gutsbesitzer und seine Frau hatten nur das einzige Kind und vergötterten es natürlich. – Estrid konnte tun und lassen, was sie wollte, konnte, ohne Bescheid zu sagen, fortbleiben und auf eigene Hand Gäste einladen; was sie auch tat, die Eltern bewunderten sie, und alle andern taten es auch. Alles kleidete sie, und es lag beständig gleichsam die Frische eines Bades über ihr. Und das Merkwürdigste war gewissermaßen, daß sie ihre souveräne Macht einzig und allein kraft ihrer Schönheit ausübte, der sich alle unwillkürlich beugten. – Aber ist es eigentlich so wunderbar, daß man sich ehrerbietig und demütig vor der Schönheit beugt? Ich weiß wohl, daß man zu sagen pflegt, Schönheit ist kein Verdienst, aber ist denn Genie ein Verdienst? Das Genie ist eine Gottesgabe, ganz so wie die Schönheit, und das Genie darf man verehren und bewundern – warum soll man da nicht auch einmal Erlaubnis haben, die Schönheit zu verehren – ich wenigstens bin der Ansicht – Ja, wenn ihre Schönheit von der gewöhnlichen Art gewesen wäre, eine ganz profane Schönheit – aber das war sie keineswegs. Man könnte förmlich ein besserer Mensch werden, wenn man sie nur ansah, man ertappte sich dabei, daß man lächelte, wenn sie einem nur einen Blick zuwarf, und selbst die Dienstboten lachten über das ganze Gesicht, wenn sie sie nur anredete.
Und allen, die in ihren Zauberkreis kamen, erging es so. Den ersten Abend, den ich in Holmebo zubrachte, waren da zwei oder drei jüngere Herren aus der Gegend zu Besuch, allesamt! Und sie sah sie alle gleich freundlich an und genoß in aller Unschuld das Entzücken, das sie erregte, genoß die Atmosphäre von Erotik, die sie umgab.
Ich brauche ja wohl nicht zu sagen, daß auch ich, noch ehe es Abend geworden war, in ihre Garde eingetreten war. Und als wir uns zur Ruhe begeben sollten, und sie meine Hand nahm, mich ansah und lächelnd sagte: »In den Märchen, da ist immer ein blauer Vogel, der voranfliegt und den Ritter zu der Prinzessin bringt; und es war ja auch ein fortgeflogener Vogel, der König Waldemar zu klein Tove führte, – aber Sie, armer Herr Leutnant, Sie haben sich mit einer Eule begnügen müssen und mit mir!« Ja, da war es um mich geschehen, vollständig um mich geschehen – »in die Montierungskammer abgeliefert«, wie mein alter Oberst zu sagen pflegte.
Wie in einem Champagnerrausch begab ich mich zu Bett und ich träumte nur von ihr – Estrid, Estrid! – Auch am Tage träumte ich. Ich war am nächsten Tage mit ihrem Vater auf Schnepfen aus, aber ich schoß auf eine fehl und ließ mich von einer andern bestechen. Und als ich dann nach Tisch mit ihr vor dem Kamin saß, ja, da wußte ich gar nicht, was ich sagen sollte; am liebsten hätte ich nur dagesessen und sie angesehen und ihr gelauscht – ohne eigentlich zu hören, was sie sagte. Hin und wieder konnte sie, und das war ja das Natürlichste von der Welt, ihren Arm auf meine Schulter lehnen, und da war es mir, als bekäme ich einen elektrischen Schlag, der mich durchzuckte und mich ganz warm machte – ein solches Gefühl habe ich einer andern Frau gegenüber nie gehabt. Aber ich selbst wagte nicht einmal, ihre Hand zu berühren – ich bin sonst in der Beziehung nie ängstlich gewesen! – und ich beneidete das dumme Kätzchen, das sich an ihrem Arm scheuern durfte, und an das sie alle ihre Liebkosungen verschwendete.
»Donnerstag ist hier eine jugendliche Gesellschaft mit Tanz,« sagte sie plötzlich, »und morgen kommt Kammerjunker Skarre – darauf können Sie sich freuen! Skarre ist mein Spielkamerad aus der Kinderzeit und mein bester Freund – der wird Ihnen gefallen!«
Als wenn ich mich auf eine jugendliche Gesellschaft freuen könnte und mir etwas daraus machte, zu sehen, wie ein anderer Mann in Holmebo angestiegen kam – obendrein, wenn er im voraus als ihr bester Freund angemeldet war! – Und dabei war er unverheiratet und Besitzer eines Ritterguts, – nein, und beide Eltern nickten bedeutungsvoll und verständnisvoll, als sein Name genannt wurde, ganz als ob alles klipp und klar sei! – Nun, die Eltern spielten im übrigen ihr gegenüber eine so untergeordnete Rolle, eine fast bescheidene Rolle – wie das alle taten – daß ich fest überzeugt bin, denjenigen, den sie ihnen als ihren Schwiegersohn vorstellte, den würden sie augenblicklich mit offenen Armen empfangen.
Am nächsten Tag kam dann der Kammerjunker.
Wir nahmen sofort gleichsam Maß voneinander, fühlten uns instinktmäßig als Nebenbuhler, aber es war unmöglich, ihn nicht gern zu haben: dazu hatte er etwas viel zu Anständiges, als daß er einem nicht hätte gefallen müssen. Der Typ eines Landjunkers bester Art. Er hatte den Krieg als Freiwilliger bei den reitenden Jägern mitgemacht und lebte nun für sein Gut und seine Jagd. Einen schönen Hund hatte er mitgebracht, auf den er nicht ohne Grund stolz war, und mit dem er auch sehr zärtlich war, und es rührte mich, als er mich am ersten Abend – unsere Zimmer lagen nebeneinander – um Erlaubnis bat, den Hund mit auf sein Zimmer nehmen zu dürfen, statt ihn im Stall einzuquartieren – mich konnte es ja nicht genieren.
Am nächsten Tag gingen wir zusammen auf Jagd – er schoß vorzüglich, und seine Lady machte ihre Sachen charmant.
Nach Tische saßen wir dann wie gewöhnlich vor dem Kamin, Estrid zwischen Skarre und mir. Und man plauderte: Der Gutsbesitzer erzählte eine Geschichte von dem alten Kammerherrn Rodsten und dem Bleidecker, die Sie gelegentlich hören sollen, und Skarre und ich tauschten Erinnerungen aus dem Krieg aus. Dann wollten wir, daß auch Estrid etwas erzählen sollte, aber sie lehnte es ab und sagte, ihre Mutter behaupte immer, daß eine junge Dame comme il faut nie etwas erlebt hätte, und die Mama nickte beifällig.
Da kam die Rede auf die jugendliche Gesellschaft, und buchstäblich im selben Augenblick baten Skarre und ich sie um den Tischtanz. Sie wissen, daß, wenn man verliebt ist, man in der Regel etwas ganz anderes sagt, als was man meint, oder auf alle Fälle eine ganze Menge darunter versteht – und es war denn auch ganz natürlich für sie und für uns, daß wir eigentlich alle beide etwas anderes und mehr mit dem Tischtanz meinten.
Sie sah ihn an und sie sah mich an – ich fand ja freilich, daß der Blick, den ich erhielt, der wärmste war – und dann sagte sie mit einem Lächeln, daß es ja sehr schwierig sei, eine Entscheidung in einer so wichtigen Sache zu treffen; wer von uns beiden würde wohl in Wirklichkeit am meisten darauf Wert legen, den Tischtanz mit ihr zu tanzen? Ja, Skarre behauptete natürlich, daß er das tun würde, und dasselbe tat ich, und dann schlug der Gutsbesitzer vor, daß wir losen sollten. Nein, das wollte Estrid nicht – kein Losen.
»Ja, dann stellen Sie uns eine Bedingung,« sagte ich, »und derjenige von uns, der sie zuerst erfüllt, bekommt den Tischtanz. Sollen wir z. B. alle beide die vier Meilen nach Aarhus reiten, und derjenige, der zuerst hierher nach Holmebo mit einer Rose zurückkommt, der ist der Glückliche?«
Ach, Rosen könnte sie genug aus dem Treibhaus bekommen, und dann müßte sie ja unsere angenehme Gesellschaft entbehren. – »Nein,« rief sie plötzlich aus, »nun sollen Sie einmal hören: ich habe eine Idee – ich kann wirklich auch etwas erzählen!« und dann erzählte sie.
Wie sie im vorvorigen Winter, als sie mit ihren Papa in Viborg zu einer silbernen Hochzeit gewesen sei, an einem schönen Novembermorgen von dort heimgefahren war. Der Vater hatte etwas mit einem Gutsbesitzer zu besprechen, dessen Gut an der großen Landstraße lag, und währenddessen war sie im Wagen sitzen geblieben. Aber es wurde ihr zu kalt, und sie stieg aus und ging eine Strecke weiter, nach Süden zu; dann wollte sie wieder einsteigen, wenn der Wagen sie einholte.
Mitten auf dem Wege sah sie indessen etwas glitzern, und als sie es aufnahm, war es eine Nadel mit einer kleinen, geballten Hand aus einer Koralle geschnitten, die steckte sie dann in ihren Mantel, um sie, wenn sie im Ulkenborg-Krug Rast machten, dort abzuliefern, damit sie wieder in die rechten Hände käme.
Aber als sie dort angelangt waren, war da im Reisestall so ein wunderlicher alter Bursche gewesen, den sie Franz nannten, und kaum hatte der die Nadel gesehen, als er höchst interessiert fragte, woher die kleine Jungfer die habe, und als sie ihm das sagte, habe er geantwortet: »Nun, dann hat sie, die andere, sie weggeworfen.« Das solle sie auch nur tun, denn die Nadel bringe kein Glück – das habe auch schon der Spitzenhändler gesagt!« Ihr war, wie das ja erklärlich ist, ganz sonderbar bei der Rede geworden, und sie hätte dem Alten gern die Nadel gegeben, aber er wollte sie um keinen Preis haben, und so hätte sie sie dann behalten, einen weiteren Wert würde sie wohl schwerlich haben. – »Aber diese Nadel habe ich im vorigen Sommer verloren. Sehen Sie, wenn nun einer von den beiden Herren mir übermorgen, ehe der Ball beginnt, die Nadel wiederbringt, so soll er den Tischtanz haben!«
Und damit sah sie uns beide wieder an, erst den einen, dann den andern – zuletzt mich – und sagte uns Gutenacht.
Sie können ja begreifen, daß mir, als ich die Nadel und den Ulkenborger Krug und den alten Franz nennen hörte, zumute ward, als höre ich ein Märchen, und als es dann herauskam, daß sie sie verloren hatte – sie also war es, die ich im Schwanenteich gesehen hatte! – und daß sie nun das Zurückbringen der Nadel als Bedingung stellte – ja, da hätte ich aufspringen und mein Glück in die Welt hinausjubeln können. Denn, das fühlte ich, es lag so viel Ernst in dieser übermütigen Mädchenlaune, daß sie wirklich denjenigen von uns, der diese scheinbar unmögliche Bedingung erfüllte, als den Mann betrachten würde, den die Vorsehung der Liebe für sie bestimmt hatte.
Ich lief auf mein Zimmer hinauf und nahm die Nadel, die ich immer mit mir führte, aus dem Kissen, in das ich sie hineingesteckt hatte, sagte Skarre, der ganz stumm geworden war, Gutenacht und begab mich zu Bett.
Schlafen konnte ich aber nicht, ich träumte im wachen Zustand. Eben noch war der Gast da drinnen neben mir derjenige gewesen, der alle Chancen hatte; jetzt aber war ich im Besitz des Amuletts, das die Gitterpforte zu dem Reich des Glücks erschloß. Und ich sah hinein in das gelobte Land, und ich ertappte mich dabei, daß ich mitten in der Nacht da lag und den »tapferen Landsoldaten« pfiff – das tue ich noch zuweilen, wenn ich so recht glücklich bin.
Der nächste Tag war lang, das können Sie mir glauben! Es ist ja viel schwerer, seine Freude zu verbergen, als seinen Kummer, und mehr als einmal war ich im Begriff, auf mein Zimmer zu laufen, die Nadel zu holen und sie ihr zu übergeben – namentlich, da es mir so schien, als wenn Estrid mich noch ermunternder ansähe als bisher, und gleichsam mein Glück teile, oder doch auf alle Fälle ahne. Sie hatte ja indessen einen bestimmten Termin gesetzt – den folgenden Tag – und der Termin mußte natürlich innegehalten werden.
Als Skarre und ich an jenem Nachmittag aus dem Wald kamen, stand Estrid auf der Freitreppe und kam uns entgegen; ihr Kätzchen spielte unten in dem Kies, Lady beschnüffelte das Kätzchen, und das Kätzchen schlug ihr seine scharfe Kralle in die Schnauze; das faßte Lady verkehrt auf, und – Haps! da lag das Kätzchen mit geknicktem Rücken, mausetot.
Das sah ja schrecklich aus, und Astrid geriet einen Augenblick ganz außer sich. »Ach, pfui, pfui!« rief sie aus. »Meine arme kleine Mies! – Sie sollten lieber Ihren alten Köter totschießen, Skarre, als daß Sie ihn frei herumlaufen und Unheil anrichten lassen!«
Das sagte sie natürlich nur in einem Augenblick der Erregtheit und bereute es gleich hinterher. Sie war auch später am Abend doppelt liebenswürdig gegen Skarre, aber er, der Ärmste, war ganz untröstlich und sagte kaum ein Wort.
Nachdem wir uns zur Ruhe begeben hatten, lag ich noch lange im Bett und philosophierte – das soll man nun niemals tun! Liebte ich denn Estrid auch wirklich – so, daß es für ein ganzes, langes Leben vorhielt – und welche Zukunft hatte ich, der arme Leutnant ihr zu bieten, die daran gewohnt war, daß ihr jeder Wunsch erfüllt wurde? Und wenn ich ihr nun am nächsten Tag die Nadel überbrachte, dann – ja, was dann? Dann war die Entscheidung getroffen, das stand fest!
Ich wurde in meinen Gedanken durch Skarre gestört, der die Türe seines Zimmers nach dem Gang öffnete, und da ich dachte, daß er vielleicht keine Streichhölzer habe, ging ich zu ihm hinein. Nein, ihm fehlte nichts, sagte er, er wollte nur mit dem Hund hinaus, der plötzlich unruhig geworden war.
Nun, ich dachte nicht weiter darüber nach, aber nach einer Weile hörte ich in einiger Entfernung einen Schuß, und als Skarre zurückkam, war er ganz bleich und hatte keinen Hund bei sich.
»Wo ist Lady?« fragte ich.
Er zögerte einen Augenblick mit der Antwort, dann sagte er: »Ich habe sie draußen in den Tannen erschossen – sie soll nicht noch mehr Unheil anrichten!« Und damit ging er in sein Zimmer.
Aber sehen Sie, der Schuß, der veränderte mein ganzes Lebenslos – und das einer andern –. Denn ich fragte mich selbst: Hättest du, wenn du an Skarres Stelle gewesen wärst, deinen Hund erschossen – so einen Hund wie Lady – und darauf mußte ich nein antworten, das hätte ich nicht getan. Und dann sagte ich zu mir selbst: Der, der das tun kann, den hat der Flügelschlag des großen Eros angerührt, und er verdient Estrid mehr als du.
So ging ich denn mit der Nadel in der Hand zu Skarre hinein, sagte, daß ich zufällig in ihren Besitz gelangt sei, und daß er sie am nächsten Tag an Estrid geben solle.
Er sah mich ganz verwirrt an und platzte dann damit heraus: »aber Sie selbst, Leutnant Riis, wollen Sie denn nicht –?« Da antwortete ich, so ruhig ich konnte, mir sei eingefallen, daß ich mir wohl den einen Fuß vertreten habe, folglich könne ich doch nicht tanzen, und würde morgen kein Vergnügen von dem Tischtanz haben.
Ob er das glaubte, weiß ich nicht. Gott weiß, was er eigentlich geglaubt hat, aber er dankte mir tausendmal und drückte mir die Hand, als wolle er sie nie wieder loslassen.
Und dann ging ich in mein Zimmer hinüber und legte mich schlafen. – Ob ich traurig war? Ja, können Sie mir das sagen? Ich habe mich ja immer um die großen Entscheidungen des Lebens herumgedrückt und habe mich nie leichter gefühlt, als wenn ich etwas Ernstes bis zum nächsten Tag habe hinausschieben können, oder wenn ich ganz davon weggeritten bin, und ich weiß nicht, ob ich nicht in jener Nacht etwas Ähnliches empfunden habe.
Am nächsten Tage aber kam der Rückschlag.
Ich stand da und duckte mich wie ein angeschossener Hase, als Estrid im Laufe des Vormittags im Eßzimmer auf mich zukam – es war sonst niemand da.
Sie sah mich nicht an, sondern sagte ruhig und tonlose »Ja, nun habe ich Skarre den Tischtanz versprochen, und wenn er um mehr bittet – was er wohl tun wird – so bekommt er auch das, – Er hat mir ja die Nadel gebracht.«
»Ja, ich weiß es,« erwiderte ich.
»Er hat mit auch gesagt, daß er sie von Ihnen bekommen hat,« fuhr sie fort.
Ich nickte.
»Ich wußte übrigens, daß Sie die Nadel hatten,« fügte sie hinzu.
» Das wußten Sie?«
»Ja, ich hatte sie auf einem Kissen in Ihrem Zimmer stecken sehen – die Tür nach dem Gang hinaus stand offen, als ich vorüberging.«
»Das wußten Sie!« rief ich aus. – »Haben Sie deswegen die Bedingung gestellt –«
Sie sah auf, lächelte trübe und erwiderte: »Vielleicht! Aber sie können es ja eine Laune nennen – eine Laune war es auch, die mich veranlaßte, an jenem Tag, als ich wegen Mamas plötzlicher Erkrankung Luisenhöhe vor dem Ball verlassen mußte – am Schwanenteich die Nadel wegzuwerfen – das war ja der Ball, auf dem wir beide hatten zusammen tanzen sollen!«
»Wissen Sie denn, daß ich –«
»Ich weiß alles,« erwiderte sie und errötete. – »Ja, Sie haben ein Amulett in Ihrer Hand gehalten,« fügte sie in einem leichten Ton hinzu, »eins von der Art, die nach dem Volksglauben Menschenschicksale miteinander verknüpfen können – aber Sie haben es weggegeben. Das darf man wohl eigentlich nicht – doch geschehen ist geschehen. Jetzt liegt die Nadel auf dem Grunde des Holmeboer Sees – die Nadel bringt kein Glück, wie der alte Franz sagte!«
Wir standen beide einen Augenblick schweigend da, dann begann ich: »Estrid, Fräulein Estrid – Sie müssen und sollen mich hören! Als Skarre über Nacht seinen Hund erschoß, nur weil Sie das in Ihrer Erregung verlangt hatten, da sagte ich zu mir selber, wenn Sie das von mir gefordert hätten, so würde ich nicht –«
»Aber das hätte ich auch niemals von Ihnen verlangt!« erwiderte sie und sah mich zum erstenmal an diesem Tage freundlich an.
Ich ergriff ihre Hand, sie ließ sie mir und sagte: »Ich höre, daß Sie uns schon heute im Laufe des Tages verlassen wollen – dann will ich Ihnen gleich Lebewohl sagen!«
Ich versuchte, ihr die Hand zu küssen, aber sie entzog sie mir, besann sich dann einen Augenblick und gab mir einen langen, langen Kuß – den ersten und den letzten.
Damit verließ sie das Zimmer, und eine halbe Stunde darauf ritt ich meiner Garnisonstadt zu.
Einige Monate später hat Estrid Skarre geheiratet, und ist, so viel ich weiß, glücklich geworden. Ich habe sie nie wiedergesehen. Nach ein paar Jahren sollte ich während der Manöverübungen auf Skarres Gut in Quartier liegen, aber ich tauschte mit dem Auditeur und wurde beim Tierarzt eine Meile weiter nördlich einquartiert.
– Ja, das ist meine einzige ordentliche Liebesgeschichte – außerordentliche habe ich ja noch eine Menge aufzuweisen! – Ich sage Ihnen nicht, wer sie war oder wo es war; die Orts- und Personennamen, die ich angegeben habe, sind nicht die richtigen, aber Estrid hieß sie – und für mich hat es immer nur eine Estrid in dieser Welt gegeben – hoffentlich begegnen wir uns in der nächsten!
Der Hauptmann saß einen Augenblick da, ohne etwas zu sagen; als er seine Pfeife wieder angezündet hatte, fuhr er fort:
Ja, das war aus meiner Jugendzeit, aus meinen Leutnantstagen – großer Gott, wie weit die zurückliegen! Und doch wird es mir so schwer, mich alt zu fühlen, schwer zu verstehen, daß mein Wipfel schon dürr ist, so wie der der alten Eiche da draußen – ja, freilich, alt bin ich jetzt.
Aber wissen Sie, warum ich heute nachmittag da oben auf dem Wier-Hügel plötzlich so stumm wurde und Grillen fing? – Das will ich Ihnen sagen: als der junge Leutnant, der Adjutant, auf der Landstraße auf uns zugesprengt kam, da war es mir, als käme meine eigene Jugend dort gleichsam auf mich zugestürzt und brächte mir einen letzten Gruß, aber als er dann zurückritt, und der Wald sich hinter ihm schloß, ja, Sie verstehen: der Wald, der hat sich ja auch hinter meiner Jugend geschlossen – und wenn die wiederkehrt, ja, das geschieht erst jenseits des Dickichts, – dort, wo ich mit der »großen Armee« vereint werde.
Ein Jahr später war ich in der ersten Hälfte des Juli nach dem Waldhäuschen gekommen, kurz vor Eröffnung der Entenjagd. Da machte mir der Hauptmann eines Tages den Vorschlag – in Ermangelung von Besserem – nach der Boder Mühle zum Fischen zu gehen, und das wollte ich natürlich gern. Wir sammelten die Fischgerätschaften zusammen und fuhren nach Tisch in der Richtung auf die Mühle zu – die eine gute Meile ostwärts lag.
Es war ein schöner Weg, bald über offenes Terrain, bald durch Wald und Gestrüpp. Das Wetter war gut, warm und sonnig, aber es wehte ein wenig, und hin und wieder zogen große Wolken an dem blauen Sommerhimmel hin, so daß bald das eine, bald das andere Feld, bald eine Kirche und bald eine Ziegelei beleuchtet wurden, während das übrige im Schatten lag – das verlieh dem Bild Abwechselung und Charakter.
Dann bogen wir in den Tibäker Wald ein, in den tiefen Hohlweg hinein, wo sich die Grasdecke zu beiden Seiten liebkosend um den Rand des dunkelgelben Sandabhanges mit den entblößten Baumwurzeln schmiegte, und wo eine Natter träge in einer Wagenspur lag und sich sonnte.
Wieder hinaus auf das freie Land, zwischen dunkle Heidehöhen hinein, einen steilen Hügel hinauf, dann lag die Mühle vor uns. Zu beiden Seiten des gewundenen Bachs unten im Tal ausgedehnte Wiesen, auf denen das Heu in Schobern stand, dunkle Erlen hie und da – eine echt jütische Landschaft.
Bei dem Müller, der neben der Mühle noch eine Art einfacher Schankwirtschaft betrieb, wurde der Hauptmann natürlich, wie überall, wohin er kam, mit offenen Armen empfangen; ich mußte die unvermeidlichen Fragen, wer ich sei und woher ich komme, beantworten. Wir tranken ein Glas kalter, fetter Buttermilch und begaben uns dann auf den Fischfang.
Der Hauptmann war ein großer Fliegenfischer, und es war mir immer ein Vergnügen, die Sicherheit zu sehen, mit der er es verstand, die Fliege gerade an der Stelle der Wasserfläche spielen zu lassen, wo er wollte; abgelernt habe ich ihm die Kunst aber nie, ich mußte mich deswegen hübsch damit begnügen, auf mehr primitive Weise Hechte mit einem Rotauge als Köder zu angeln – Rotaugen waren da in Unmengen in dem tiefen Schleusenwasser vor dem hinteren Loch.
Während der Hauptmann nun an dem Ufer des Baches auf- und niederwanderte und mit seiner Fliegenangel mit derselben Leichtigkeit hantierte, mit der ein herrschaftlicher Kutscher die Peitsche über dem Viergespann schwingt, ließ ich mich unter einem blühenden Hollunderbusch nieder und warf meine Angel an einer der breitesten Stellen des Bachs aus.
Schön war es da, wo ich saß. Im Hintergrund hatte ich die schwarzen Heidehügel mit den Schafwegen, und vor mir mitten im Bach lag eine langgestreckte Röhrichtinsel, an deren Rand die rosaroten Ähren des Weidekrauts blühten. Die Mücken tanzten über dem langsam hinströmenden Wasser, und hin und wieder schnellte ein Fisch auf, aber es biß keiner.
Man kann sich schließlich halb blind an so einem roten Floß starren, das sich leise auf- und niederwiegt, ohne unterzugehen, und die Wärme – es war allmählich ganz windstill geworden – und der Duft des frischen Heus und der eigentümliche, Übelkeit erregende, starke Geruch der Hollunderblüten machten mich allmählich ganz schläfrig – schließlich schlief ich auch ein.
Ich erwachte davon, daß der Hauptmann über mich gebeugt stand und mich förmlich schütteln mußte, um mich wach zu bekommen, und es währte dann ein paar Augenblicke, ehe ich mich recht besinnen konnte, und den Schlaf aus den Augen rieb.
»Siebenschläfer!« sagte der Hauptmann, »Was haben Sie ausgerichtet – Nichts! Aber sehen Sie, was ich bekommen habe: fünf prächtige Lachsforellen – sind die nicht wunderschön mit den roten Flecken auf dem hellen Silbergrund! Rot auf Silber: echt heraldisch! Da, die Lachsforelle gehört auch zu dem Adel unter den Fischen! – Es kann ganz amüsant sein, hin und wieder einmal so einen alten boshaften Hecht zu fangen, der den Angelhaken mit herunterschluckt, so daß er schließlich ganz unten im Magen des Tieres sitzt, aber im Grunde ist das ein ordinärer Sport – ein Bauernsport – nicht wahr? – Nun, wir sind ja nicht allesamt Fliegenfischer, glücklicherweise!« fügte er hinzu und setzte sich neben mich nieder.
»Aber jetzt will ich hier sitzen bleiben und mal sehen, ob ich Ihnen nicht Glück bringen kann,« fuhr er fort. »Ich bin auch ganz warm geworden von dem auf und nieder schreiten, und wir haben Lachsforellen genug für das Abendbrot – mehr als wir essen!«
Der Hauptmann zündete seine Pfeife an und befand sich offenbar ausgezeichnet. – »Na, Sie haben wohl einen ordentlichen Schlaf gemacht!« fuhr er fort. »Ja, ein Wunder ist es auch nicht: Heu und Hollunder im Verein können wohl bewirken, daß ein Mann ins Gras beißt! – Kennen Sie übrigens etwas Entzückenderes als den Duft des Heues – ich nicht! Aber er ist stark – es gibt ja auch etwas, was Heufieber heißt – und man soll ganz wie verzaubert werden, wenn man eine Nacht in einem frischen Heuschober geschlafen hat. Das habe ich nun freilich nie ausprobiert, aber ich entsinne mich noch, daß ich als Knabe einen alten Knecht, der bei meinem Oheim in Lögum diente, erzählen hörte, daß einer halb rappelig geworden sei, weil er zur Mahdzeit auf der Wiese geschlafen habe: »Die Heukönigin habe ihn angehaucht!« – Das ist eigentlich ganz bezeichnend, nicht wahr? – Und von blühendem Hollunder will ich nun gar nicht reden –
Er duftet stark, er schläfert uns ein,
Wie die Blüt' des Jasmin am weißen Strauch,
So feurig wie alter, goldiger Wein
Erregt und betäubt er uns auch –
das habe ich oft verspürt!«
Und der Hauptmann saß eine Weile da und sah vor sich hin, ohne etwas zu sagen, verfiel in Sinnen und pfiff dann ein paarmal, leise aber deutlich, eine Melodie, die ich nicht kannte; eine einfache, in die Ohren fallende Melodie mit einem wunderlich fremdartigen Klang.
»Was pfeifen Sie da?« fragte ich.
»Ja, was das war? – Das war ja diese Melodie!« und er summte die Melodie noch einmal vor sich hin.
» Die wäre beinahe die Zutrittskarte für Schloß und Gold und alle irdischen Herrlichkeiten gewesen – nicht für mich, sondern für eine andere – wenn alles so gegangen wäre, wie es hätte gehen können. Ja, die Geschichte sollen Sie hören!«
Sehen Sie, die Melodie – nein, ich will nicht mit der Melodie beginnen – ich will mit dem Hollunder beginnen.
Hollunder und Wassermühlen, die gehören für mich zusammen, und ich weiß nicht weshalb, aber das Land des Hollunders und das Land der Wassermühlen, das ist für mich das südöstliche Jütland geworden.
Sie wissen vielleicht, daß ich von 54 bis 56 in Fredericia in Garnison lag. Es gibt ja viele Menschen, die finden, daß Fredericia eine langweilige Stadt ist, und es gibt auch Menschen, die sie heutzutage nur als eine große Eisenbahnstation betrachten. Aber das ist Unrecht: Fredericia ist eine herrliche Stadt – das sind nun übrigens alle jütischen Garnisonstädte, jede auf ihre Art.
Selbst im tiefsten Frieden hat sie den Charakter einer Festung; die Wälle schließen sich um die endlosen, gleichartig aussehenden Straßen, die sich im rechten Winkel schneiden, und die Stadt macht einen Eindruck, als sei sie gebaut, um da hineinzuwachsen, so wie ein Winterüberzieher für ein Kind. Überall Erinnerungen, Erinnerungen, in denen die Stadt lebt, und von denen sie lebt: Hier rückte diese Brigade in der Nacht zwischen dem 5ten und 6ten Juli aus, dort war das Hauptquartier, da steht ein Monument und da ist das Kriegergrab.
Haben Sie wohl beachtet, daß das, worüber die alten Soldaten aus dem dreijährigen Kriege am liebsten reden und wo hinein sie sich am liebsten zurückdenken, die Schlacht bei Fredericia ist? Mir geht es ebenso, und Sie können mir glauben, ich sandte Karl Horten viele Gedanken nach, sowohl wenn ich an dem großen Massengrab vorüber ging, in dem er ruht, als wenn ich in die Prinzessinnenstraße kam, wo er seinen »Schwanengesang« dichtete! – Daß ich mich doch nie wieder der Worte und der Melodie habe entsinnen können! Die Melodie, die ich vorhin pfiff, die habe ich nicht vergessen, aber seine, deren ich mich doch so gerne erinnern wollte! Nur einmal – im Traum – ist sie mir seither erklungen – das werde ich Ihnen bei Gelegenheit erzählen.
Aber ich wollte ja von Fredericia erzählen. – Gibt es etwas Prachtvolleres als die Aussicht oben von der Bastion Dänemark, wo jetzt Lundings Monument aus hartem Granit gehauen steht, so wie es sich für den unbeugsamen Kommandanten geziemt! Die Aussicht gen Norden über das flache Schlachtfeld und den Strand und die Schluchten, Äbelö am Horizont, Fünen mit Wald und Abhängen und Meer unter uns – das Meer mit Grün und Blau! Grün und Blau, die Farben stehen großartig zusammen, aber es hat lange gewährt, bis man das gelernt hat – man ist ebenso bange vor dieser Zusammenstellung gewesen wie vor den parallelen Quinten in der Musik! – Und bis nach dem Trelder Wald hinüber kann man sehen – kennen Sie den? – Nicht? Das ist schade, denn es ist einer der eigentümlichsten Wälder in Dänemark. Ein Bauernwald ist es, Eichen und Buchen, Haselstauden, Birken und Erlen, alles wächst, wie es will, ohne Spur von forstmännischer Kultur und mit Dornen- und Himbeergestrüpp auf dem Boden. Es ist sozusagen kein Weg oder Steg da drinnen, und Bäume wachsen und Bäume sterben, ganz wie im Urwald. Hier können die seltensten Vögel brüten, und die seltensten Pflanzen blühen, ohne daß irgend jemand es ahnt, bis eines schönen Tages einer kommt, der etwas findet und seinen Fund zu schätzen weiß. Das ist nun übrigens genau so wie mit der Melodie: die lag auch verborgen und unerkannt da, bis sie eines Tages – aber davon später.
Ja, Fredericia war eine schöne Garnisonstadt, und die ganze Gegend war großartig. Und dann hatte man außerdem ringsumher die vielen Erinnerungen an die Spanier aus dem Anfang des Jahrhunderts – die Spanier haben mich nun immer interessiert, es müssen prächtige Leute gewesen sein. Und die Spanierinnen sind auch gewiß prächtig, ich kenne sie aber leider nicht. Ist es nicht eigentlich wunderbar, daß man sich die Spanierinnen immer als leichtsinnige Koketten vorstellt, die nur für Stelldichein und Serenaden leben und mit dem Dolch im Strumpfband herumgehen? Warum in aller Welt denkt man niemals an die Frauen, die Modelle zu Murillos Madonnen gewesen sind, an die mit den großen frommen Augen, und an die vielen, die ins Kloster gehen und für die Sünden anderer beten – denen sollte man auch einen Gedanken schenken, nicht wahr?
Nun, was die sichtbaren Erinnerungen an die Spanier in Jütland betrifft, so war da ja nicht nur das abgebrannte Koldinger Schloß, sondern man trifft ja auch noch häufig auf dem Lande bald einen Burschen, bald ein Mädchen mit kohlschwarzem Haar und blitzenden, dunklen Augen, bei denen die spanische Abstammung nicht zu verkennen ist, – Krieg bringt ja immer neues Blut in die Bevölkerung! Und im übrigen nicht nur in bezug auf Menschen, auch in bezug auf die Pferde, wenigstens konnte man zu Anfang der fünfziger Jahre, wenn man überhaupt Blick dafür hatte, manch ein Pferd sehen, das ganz deutlich mit denen verwandt war, die die Spanier bei ihrer Abreise hatten hier lassen müssen, und ich selbst ritt in jenen Jahren eine prächtige Stute, die, daran zweifle ich nicht, spanisches Blut in sich hatte – ich nannte sie denn auch »Isabella«. Fromm und gehorsam war sie in der Regel – ein Kind hätte sie reiten können – hin und wieder aber konnte sich das andalusische Blut in ihr regen: dann bäumte sie sich und blähte die Nüstern, und wenn sie hin und wieder einmal wieherte, klang es wie die Trompete vor einer Attacke – ja, Isabella war ein seltenes Tier!
Was nun im übrigen den Aufenthalt der Spanier in Jütland betrifft, so war man auch ein paar Jahre, ehe ich nach Fredericia kam, in direkter Weise daran erinnert worden. Es kam nämlich von der spanischen Gesandtschaft in Kopenhagen eine Anfrage an den spanischen Konsul dort nach einer gewissen »Mariquita« in »Molino« in Südjütland, und daraus entstand dann natürlich sofort das Gerücht, daß ein spanischer Grande – weniger konnte es nicht tun! – im Jahre 1809 eine Liebschaft mit einem jütischen Mädchen gehabt, und ihr nun sein Schloß und seine Dublonen hinterlassen habe. Man suchte und man redete, und die Leute in der Umgegend hätten gern ihren ehrenwerten Müttern oder Großmüttern ein Verhältnis angelogen, wenn ihnen das zu der spanischen Erbschaft hätte verhelfen können, aber es meldete sich keine Mariquita, und da war ja auch kein Dorf und kein Gehöft, das »Molino« hieß. So verzog die Goldwolke, die über der Gegend geschwebt hatte, wieder, und niemand dachte mehr an den spanischen Granden.
An einem Julitag im Jahre 54 wandelte mich die Lust an, zu angeln. Ich hatte gehört, daß ein paar Meilen weiter westlich ein guter Lachsforellen-Bach sein sollte, und daß ich mein Pferd in der Hinger Mühle unterstellen und auch vom Müller Erlaubnis bekommen könne, so viel zu angeln, wie ich wollte, und so ritt ich denn um die Mittagszeit aus, natürlich auf meiner Isabella.
Ich kam an die Mühle – die Landstraße ging mitten über den Mühlenhof – und ich trabte, über die Brücke auf den Hof hinauf – Sie wissen, ich trabe immer über eine Brücke, des Hufschlages halber. Die Tauben flogen erschreckt auf den Dachfirst, der Kettenhund schlug an, und der Müller trat in die Tür des einstöckigen Hauses – das ganze war, wie es sein sollte.
Müller – das heißt Wassermüller – sind ja überall dieselben: rundlich und gastfrei, mehr oder weniger mehlbepudert und immer in Hemdsärmeln. So war auch Müller Kruse in Hinge, und als ich für Isabella gesorgt und Erlaubnis bekommen hatte, im Mühlenteich und am Bach entlang zu angeln, half keine Einwendung: ich mußte erst eine Tasse Kaffee trinken, ehe ich mich auf den Fischfang begab.
So kam ich denn ins Haus und machte die Bekanntschaft der Frau – auch eine prächtige Frau – das sind nun die meisten Müllerfrauen, und dann saßen wir eine Viertelstunde da und plauderten.
Da fallen meine Augen auf die Wand, und dort erblicke ich eine Guitarre. Ich fragte natürlich, wer in der Mühle auf dem Instrument spiele, aber der Müller sagte, das tue niemand. – wie die denn hierher gekommen sei? – Ja, die sei wohl vor fünfzig Jahren von einem Spanier hier in der Mühle vergessen worden. – »Wenigstens sagt das Tante – die unverheiratete Tante meiner Frau,« fuhr der Müller fort. »Sie ist hier im Hause geboren und wohnt jetzt bei uns, und sie entsinnt sich noch der Einzelheiten aus jener Zeit.«
Ich sah mir die Guitarre an! Die ganze Form zeugte davon, daß sie spanischen Ursprungs war, und zum Überfluß stand der Name des Fabrikanten und »Madrid« deutlich auf einem Zettel inwendig geschrieben. Das interessierte mich natürlich, und namentlich freute ich mich auf die Aussicht, die erwähnte »Tante« zu treffen, die mir eine Menge von den Spaniern erzählen sollte. Aber als ich das zu dem Müller sagte, schüttelte er und auch seine Frau den Kopf. – Nein, mit Tante sei leider nicht mehr so zu reden; sie sei menschenscheu – meist allen Fremden gegenüber – und ganz ordentlich im Kopf könne man sie auch wohl nicht mehr nennen. – »Es können ganze Wochen vergehen, in denen sie ihren Mund nicht aufmacht,« sagte der Müller, »und die einzige, mit der sie eigentlich sprechen mag, das ist unsere Tochter Inger; aber der ist sie auch fast eine Mutter gewesen, und noch heutigen Tages wacht sie über sie, als sei sie noch ein ganz kleines Kind.«
Ich fragte ihn nach der Tochter. Ja, sie hätten nur das eine Kind, lautete die Antwort, und zwischen sechzehn und siebzehn Jahren sei sie. Wenn ich vom Angeln zurückkäme, würde ich sie wohl beim Abendbrot sehen, sie sei nur nach dem benachbarten Dorf gegangen, wie sie zu tun pflege, um sich nach Hans – Hans Nielsen – umzusehen.
»Der ist sozusagen ihr Bräutigam,« fügte der Müller erklärend hinzu. – »Das kannst du doch nicht sagen,« warf die Frau ein. »sie sind doch noch gar nicht verlobt!« – Nein, das waren sie ja eigentlich noch nicht, räumte der Mann ein, denn sie wären noch so jung, aber sie hätten sich doch schon lieb gehabt, seit sie noch Rinder waren, und es würde wohl zu einer Heirat führen. – »Denn Inger ist so riell und so honnett,« fügte er hinzu, »und der, an den sie einmal denkt, den behält sie lieb. Ader Mutter hat natürlich Recht, eigentlich verlobt sind sie ja noch nicht. – Er hat gewiß auch noch nie einen Kuß von ihr gekriegt, das glaube ich ganz gewiß!«
Im selben Augenblick tat sich die Tür nach der Küche langsam und lautlos auf, und in der Öffnung erschien eine ein wenig krumm gebeugte Frau zwischen 60 und 70 Jahren, ganz weißhaarig aber mit deutlichen Spuren ehemaliger Schönheit. Ich erhaschte nur einen flüchtigen Schimmer von ihr, denn in demselben Augenblick, wo sie mich entdeckte, stieß sie einen unwillkürlichen Schrei aus, warf mir einen scheuen, bangen Blick zu und verschwand ebenso lautlos, wie sie gekommen war. – »Ja, das war die arme Tante,« sagte die Frau, »Nun wagt sie sich nicht mehr aus ihrer Kammer, so lange der Herr Leutnant in der Mühle ist.«
Es war ja ein trauriger Anblick, diese Erscheinung des alten, geistesschwachen Mädchens, und mir wurde ganz melancholisch zu Mute – bei solchen Gelegenheiten werde ich immer melancholisch – aber als ich erst mit meiner Fliegenangel an den Mühlenteich gekommen war, und als die erste Forelle zappelnd im Gras lag, da vergaß ich bald, was sich zugetragen hatte, und ich dachte an nichts weiter als an meine Angelei.
Gegen Abend, als die Schwalben schon niedrig über dem Wasser flogen, um die schwirrenden Mücken zu haschen, begann ich, an den Aufbruch zu denken, und ich stand gerade unter einem mächtigen alten Hollunder, der an der einen Seite des Mühlenbachs eine natürliche Laube bildete und nahm meine Angelrute auseinander, als hinter mir ein Gesang ertönte – die Melodie, die sie vorhin hörten.
Es war eine Frau offenbar – eine ganz junge Frau, die sang, und eine hellklingendere Stimme habe ich niemals gehört. Sie war dünn, wenn Sie wollen, aber wunderbar rein, glockenrein, wie man zu sagen pflegt – und es war auch, als ob die Stimme, gleich einer unsichtbaren Glocke, hoch oben in der Luft, an einem unsichtbaren, dünnen Faden hing, der jeden Augenblick zerreißen konnte – aber er zerriß nicht. Und namentlich fiel mir bei dem Gesang auf, daß trotz des zarten Stimmenklanges etwas – ja, wie soll ich es nennen – etwas wie eine Fanfare in der Melodie lag – Trommeln, Pfeifen und Oboen in weiter, weiter Ferne. Ja, ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, aber Sie haben die Melodie ja selbst gehört.
Ich guckte unter dem Hollunderbusch hervor und sah eine Strecke über mir ein ganz junges Mädchen den Weg entlang gehen; sie war es, die sang. Sie war klein und fein gebaut, aber vollkommen entwickelt. Das Haar war schwarz, schwarz mit einem rauchblauen Schimmer, Sie wissen ja, – die Augen waren dunkel und die Füße klein – klein und mit hohem Spann – das sehe ich immer gleich. Und wie sie auf ihren Füßen ging, und wie sie sich hielt, vollkommene Grandezza, sage ich Ihnen.
»Spanisches Blut,« sagte ich gleich zu mir selbst, »die Haltung, ganz wie die Isabellas! Wo die in aller Welt wohl hingehören mag – das muß ich doch von dem Müller erfahren!« und dann sammelte ich meine Angelgerätschaften zusammen und kehrte nach der Mühle zurück.
Ich wollte eben die Müllersleute ausfragen, als sich die Stubentür auftat, und meine Spanierin hereinkam. Sie machte einen graziösen Knicks und sagte mit echt jütischem Tonfall: »Guten Abend.«
Das war ja an und für sich ungeheuer natürlich, was hätte sie auch sonst sagen sollen, aber Sie wissen nicht, wie sonderbar es trotzdem klang, daß sie überhaupt jütisch konnte, daß sie nicht spanisch sprach, daß sie nicht mindestens ein paar Kastagnetten in der Hand hatte und einen schwarzen Spitzenschal über dem Kopf trug, das war nicht zu verstehen!
»Ja, das ist unsere Tochter Inger,« sagte der Müller und sah sie liebevoll an.
Inger! Sie hätte natürlich Ines oder Juanita oder dergleichen heißen müssen – aber Inger – Inger Kruse – vollkommen unmöglich!
Nun, sie setzte sich zu uns, und ich sah sie genau an. – Nein, wie entzückend war sie doch! Die Augen groß, dunkel und ernst, und die Stirn – sie war von des lieben Gottes Hand so schön gewölbt, daß man sich nicht andere, als reine, schöne Gedanken dahinter vorstellen konnte! Und die Hände, klein und fein – ich habe nun einmal eine Schwäche für schöne Hände! Die Intelligenz und die Schönheit, die in einer Frauenhand liegen kann – nicht wahr, die läßt sich mit nichts anderem vergleichen! Und eine schöne Hand darf man auch immer küssen – glücklicherweise! Aber schöne Hände sind leider selten! Es gibt viel mehr Münder als Hände – viel mehr! Haben sie die Erfahrung auch gemacht? – Nicht? Das ist doch sonderbar! – Nun, ich saß da und sah. und sah mich ganz fröhlich, und dann gingen wir zum Abendbrot hinein.
Nett und reinlich war die Anrichtung: Ein schneeweißes Tischtuch und feines Porzellan, das offenbar nur meinetwegen auf den Tisch kam – in Wassermühlen ist es ja immer reinlich. Aber es war ganz eigentümliches Porzellan: blaugrüner Grund mit bunten, phantastischen Blumen – mir war, als hätte ich es schon früher irgendwo gesehen.
»Ja, Sie sehen die Teller an,« sagte der Müller. »Die habe ich vergangenes Jahr oben in Kjärvig auf der Auktion von diesem Seeräuber gekauft, der da draußen auf der Landzunge wohnte!«
Kjärvig! Ja, natürlich, das war dasselbe Geschirr, von dem ich an jenem denkwürdigen Abend gegessen hatte, und nun war es hier in der Mühle gestrandet – wie die Welt doch klein ist! Und ich dachte an das unsichtbare Malaienmädchen und an das rote Räucherkerzchen, und es war, als könne ich noch den sonderbar betäubenden Geruch spüren.
So fragte ich denn den Müller, ob er sonst irgend etwas von dem Kapitän gehört habe, und dann erzählte er, was er wußte.
Man habe im vorigen Herbst ein paar Tage lang den Kapitän nicht aus dem Haus herauskommen sehen, man habe an das Tor gepocht – niemand habe geantwortet, nur eine Katze habe geheult, und dann – dann wurde der Dorfschulze geholt.
Das Tor und die Tür wurden erbrochen und man fand den Kapitän tot in seinem Bett liegen. In der einen Hand war eine Ritze wie von einem scharfen Instrument – es lag auch so ein wunderlich geflammtes Messer an der Erde, und der ganze Arm war angeschwollen und schwarz – der Totenschein des Kreisarztes lautete auf Blutvergiftung.
Aber die Tochter – »oder was sie sonst war« – die hatte niemand gesehen. Einige behaupteten, sie sei zu nächtlicher Zeit an Bord eines fremden Schiffes gegangen, das eine Strecke von der herabhängenden Weide entfernt vor Anker gelegen habe, und dies Gerücht wurde gewissermaßen dadurch bestätigt daß ein Boot aus dem Dorf vermißt wurde; man fand es später nordwärts an Land getrieben.
Andere dagegen wollen wissen, sie sei nach Süden zu, am Strande entlang entflohen, aber hier vor der grünen Schlucht sei sie in den Triebsand geraten, der sich über ihr geschlossen habe. Diese Erklärung konnte vielleicht darin einen Anhalt finden, daß ein Fischer in der Nacht – gerade um die Zeit, wo man annehmen mußte, daß der Kapitän gestorben war – einen wunderlich verzweifelten Schrei unten am Kjärviger Sand gehört hatte, der weder von einer Eule noch von einem Nachtraben kam; und ein Hirtenjunge wollte am nächsten Morgen ein buntes Tuch in dem sickernden Wasser da draußen haben treiben sehen. Etwas bestimmtes darüber hatte man aber niemals erfahren. –
Sicher war nur, daß seither kein Pferd zu bewegen gewesen war, sich dem Kjärviger Sand mehr als in der Entfernung eines Büchsenschusses zu nähern; der Müller hatte das selbst mit seiner eigenen Stute erlebt, und die war doch von einem Knecht geritten, der bei den Husaren gestanden hatte.
Die Erzählung des Müllers interessierte mich natürlich in hohem Maße, obgleich sie eigentlich eine Erklärung in bezug auf das höchst Sonderbare gab, was mir in jener Nacht zugestoßen war, und mir wurde ganz unheimlich zu Mute, als ich mich nun hinterher der Worte des Kapitäns erinnerte, daß die beiden, die Teil an dem Mord des Spitzenhändlers im Ulkenborger Krug gehabt hatten, an »Blei oder Stahl« sterben, daß sie nicht von »einem Himmelbett aus ins Jenseits hinübergehen würden«. – War der Kapitän selbst einer von jenen gewesen, und hatte ihn nun sein Schicksal ereilt, und wartete dasselbe Schicksal auf den andern, der »nach Süden zu« lebte, und dessen Stimme ich in jener Nacht im Krug gehört hatte?
Recht lange Zeit sollte ich jedoch nicht zum Nachdenken haben, denn wir standen vom Tische auf, und jetzt erst fiel mir ein, daß ich mein Fliegenbuch unten am Bach vergessen habe. Ich hatte es aus der Hand gelegt, als ich die Angelrute auseinander nahm. Inger erbot sich sogleich, es zu holen und fragte, wo es liege. Da, auf der Bank unter dem Hollunderbaum.
Als sie das hörte, sah sie den Vater verlegen an und schlug die Augen nieder, – die großen, schönen Augen.
Da, es sei allerdings eine unbequeme Stelle, wo ich es vergessen habe, denn dahin dürfe Inger nicht kommen – das heißt, die Tante wolle ihr nicht erlauben, dahin zu gehen, so lange der Hollunder blühte. – »Das ist eine der kleinen Sonderbarkeiten der Tante,« fügte er hinzu; »es ist so eine Art Aberglaube, aber da es niemand schadet, kann man sich ja gern nach ihr richten. Ich will den Knecht hinschicken, daß er das Buch holt.«
Ich saß eine Weile da und grübelte darüber nach, wie ich es anfangen sollte, dann aber machte ich kurzen Prozeß und fragte Inger ganz offen, was für ein Lied es gewesen sei, das sie vorhin ans dem Heimweg gesungen habe. – Da, das sei ein Lied, das die Tante sie gelehrt habe, als sie noch klein war, aber die Tante könne es gar nicht mehr leiden, daß sie es sänge: die Melodie sei so schön für sie, aber von den Worten könne sie sich nur des Anfangs erinnern.
»Ellinor und der Soldat
Nun du bist unora –«
Und darin war ja eigentlich auch gar kein Sinn – was sollte »unora« bedeuten?
Ja, der Müller wußte das natürlich nicht, aber es war ja wahrscheinlich so ein altes Lied oder ein Reim, der von einem Mädchen handelte, das einen Soldaten an sich gelockt hatte, meinte er, und die Tante sähe es nicht gern, wenn über dergleichen mehr als notwendig geredet oder gesungen werde – und das möchte ja auch das Klügste sein.
»Aber tun Sie mir doch den Gefallen und singen Sie es mir noch einmal vor,« sagte ich zu Inger, »nur noch ein einziges Mal!«
Und dann sang sie wieder die kleine Melodie, ebenso rein wie vorher, und ich sah indessen auf ihre Hände und wünschte nur, daß ich hätte sehen können, wie sie sich zur Gitarre begleitete; dazu hätten sich die Hände wohl geeignet!
Endlich verabschiedete ich mich, sprach meinen Dank aus und schwang mich in den Sattel und auf dem Rückweg pfiff ich »Ellinor und der Soldat« zur großen Freude für Isabella – sie war sehr musikalisch!