Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Seit undenklichen Zeiten ist es für die Leute des Somontano ausgemachte Sache, daß Trasmoz Residenz und Treffpunkt der mächtigsten Hexen der ganzen Gegend ist. Die dortige Burg gilt, ebenso wie die sagenumwobenen Gefilde von Barahona und das berüchtigte Tal von Zugarramurdi, als Konventikel erster Ordnung, als klassischer Ort für die großen nächtlichen Zusammenkünfte der Besenreiterinnen, der hellbauchigen Kröten und der ganzen bunten Dienerschar des Ziegenbocks, ihres abgöttisch verehrten Gebieters.
Über die Gründung dieser Burg, deren gewaltige Ruinen, deren dunkle zinnengekrönte Türme, düstere Höfe und tiefe Verliese in der Tat einen Schauplatz abgeben, der solcher teuflischen Persönlichkeiten würdig ist, gibt es eine sehr alte Sage, die noch aus der Zeit der Mauren stammt – also aus einer Epoche, die für das Landvolk dasselbe bedeutet wie für uns das vorgeschichtliche Zeitalter der Mythen und Märchen ...
Es geschah eines Tages, daß der Heidenkönig in die Nähe des heutigen Trasmoz kam und dort zu seiner Verwunderung einen Berg sah, der dank seiner Höhe, seiner steilen Hänge und senkrechten Felswände schon von Natur aus zu einem festen, uneinnehmbaren Stützpunkt wie geschaffen schien ... und ein solcher Stützpunkt unweit der Reichsgrenzen würde natürlich von großem Nutzen fein. Er wandte sich daher an sein Gefolge und sagte, auf den Gipfel zeigend:
»Ich wünschte sehr, ich hätte dort eine Burg!«
Ein alter Bettler, der, auf seinen Wanderstab gestützt und einen ärmlichen Quersack über der Schulter, zufällig dort vorüberkam, hörte dies Wort des Königs. Er beeilte sich an ihn heranzutreten. Auf die Gefahr hin, von dem königlichen Gefolge niedergerannt zu werden, griff er dem Pferd des Herrschers in die Zügel und sprach diese Worte:
»Ich will mich verpflichten, Euch schon morgen die goldenen Schlüssel der Burg ins Schloß zu bringen, wenn Ihr mich zum Burgvogt auf Lebenszeit ernennt!«
Der König und seine Begleiter brachen in helles Gelächter über den närrischen Vorschlag des Bettlers aus. Dann warf ihm der Fürst eine Silbermünze zu und erwiderte scherzend:
»Da, nehmt das Geldstück und kauft Euch ein paar Zwiebeln und ein Stückchen Brot zum Frühstück, Herr Burgvogt von der rascherbauten Festung von Trasmoz! Aber laßt uns in Frieden und haltet uns nicht auf!«
Sanft schob er ihn beiseite, drückte dem Roß die Sporen in die Weichen und stob davon, gefolgt von seinen Hauptleuten, deren mit Goldarabesken ausgelegte Rüstungen im Takte klirrten und unter den weißen flatternden Burnussen hervorleuchteten.
Der Bettler hatte sich unterdessen gebückt, um das Geldstück aufzunehmen. Die Reiter waren kaum noch zu sehen vor den Staubwolken, die die Pferde aufwirbelten; als sie einen Augenblick haltmachten, rief ihnen der Bettler nach: »Also bestätigt Ihr mich als Burgvogt?«
»Gewiß!« antwortete der König aus der Ferne, kurz bevor er um eine Wegkrümmung biegen wollte. »Aber unter der Bedingung, daß du mir die Burg in dieser Nacht noch aufbaust und mir morgen nach Tarazona die Schlüssel bringst!«
Der Bettler war mit der Antwort des Königs zufrieden. Als Zeichen der Ergebung küßte er die Münze, die er vom Boden aufgehoben hatte, und nachdem er sie in einem Zipfel des ehemals weißen Lappens eingeknotet hatte, der ihm als Turban diente, nahm er langsam seinen Weg nach dem Dörfchen Trasmoz wieder auf.
Trasmoz bestand damals aus fünfzehn bis zwanzig elenden, schmutzigen Baracken, in denen eine Anzahl Hirten hausten, die ihr Vieh an die Hänge des Moncayo zur Weide trieben. Und Schritt für Schritt, um hier nicht zu fallen und da nicht zu stolpern, wie jemand wandert, dem die zwiefache Last des Alters und eines langen Marsches den Rücken beugt, gelangte der Bettler endlich ins Dorf.
Wie ihm der König empfohlen hatte, kaufte er sich ein Stück altes Brot und drei oder vier schöne weiße, saftige Zwiebeln, und setzte sich damit ans Ufer eines Baches, nahe der Stelle, wo die Dorfbewohner ihre täglichen Waschungen vorzunehmen pflegten. Und nachdem er es sich bequem gemacht hatte, begann er sein kärgliches Mahl mit einem solchen Appetit einzunehmen und seine mageren Kinnladen, an denen ein paar dünne weiße Barthaare herabhingen, mit solcher Geschwindigkeit zu bewegen, daß es wirklich den Anschein hatte, als ob er den ganzen lieben langen Tag noch nicht einen Bissen gegessen hätte. Und das wollte nicht wenig besagen, denn die Sonne stand schon dicht über den Berggipfeln, um bald dahinter zu versinken.
Als nun der alte Bettler am Bachrand saß und mit solcher Lust seine bescheidene Mahlzeit hielt, kam einer der einheimischen Hirten ans Wasser. Er machte, nach Osten gewandt, die vorgeschriebenen Verbeugungen, und begann nach dieser Verrichtung Gesicht und Hände zu waschen, wobei er fortwährend Abendgebete murmelte. Nach und nach kamen noch mehr Hirten, etwa fünf oder sechs, und als alle diese mit ihren Gebetsübungen fertig waren und sich abgetrocknet hatten, rief der Alte sie zu sich und sprach zu ihnen:
»Ich habe zu meiner Freude gesehen, daß ihr gute Muselmänner seid ... Weder der Gedanke an euer Tagewerk noch die Ermüdung eures Berufes vermögen euch von den frommen Übungen abzuhalten, die der Prophet den Gläubigen geboten hat. Der wahre Moslem wird früher oder später seinen Lohn empfangen. Die einen ernten ihn schon auf Erden, die andern erst im Paradiese. Aber es gibt auch welche, die hier wie dort belohnt werden – und zu diesen gehört ihr!«
Die Hirten hatten während der ganzen Rede auch nicht einen Augenblick ihre Augen von dem Alten abgewandt. Auch sie hielten ihn natürlich für einen Bettler, da sie ja seine zerlumpte Kleidung und sein schlichtes Mahl sahen. Als er nun schwieg, schauten sie sich einander verständnislos an; sie begriffen nicht, worauf jene Worte hinzielten – wenn es etwa nicht die Einleitung zu einer Bitte um Almosen sein sollte ... Aber zu ihrer großen Verwunderung fuhr der Alte fort:
»Ich bin aus fernem Lande gekommen, um zur Bewachung und zur Bedeckung einer mächtigen Burg treues Gesinde zu dingen. Überall hab ich mich an den Brunnenrand gesetzt, in den Moscheen der großen Städte, wo im Schatten der Palmen das Wasser aus schönen Porphyrbecken hervorsprudelt, und so hab ich nach und nach viele Männer ihre Waschungen vornehmen sehen. Die einen taten es aus bloßer Reinlichkeit, andere, weil es alle zu tun pflegten oder auch, um ihre gedankenlose Frömmigkeit zur Schau zu stellen. Seit ich jedoch hier in dieser Einsamkeit euch gesehen habe, fern von allen Blicken der Welt, einzig vor dem Angesicht dessen, der über das Tun der Sterblichen wacht, – seit ich gesehen habe, wie ihr unsere Riten wahrt, aus dem alleinigen Antrieb eures Pflichtbewußtseins heraus, habe ich zu mir gesagt: – Diese Männer hier sind treu in ihrem Glauben; sie werden im Dienste dieselbe Treue beweisen! – Und darum sollt ihr von heute ab nicht mehr bei Unwetter und Kälte in den Bergen herumstreifen, um euch ein Stück schwarzes Brot zu verdienen. In der prächtigen Festung, von der ich euch sagte, werdet ihr Nahrung in Hülle und Fülle finden und ein behagliches Leben führen können. – Du, mein Freund, sollst der Wächter im Turm sein, sollst auf die Signale der Streifwachen in den Bergen achten, in jedem Augenblick bereit, in der Nacht das Feuer auflodern zu lassen, damit es weithin leuchte wie der flammende Helmbusch der Engel! – Du wirst das Fallgatter und die Zugbrücke bewachen! – Du hast alle drei Stunden eine Runde um die Türme zu machen, zwischen Zingeln und Schildmauer! – Dich betraue ich mit den Stallungen! – Unter deiner Verwaltung werden die Lagerschuppen mit den Kriegsmaterialien stehen! – Und du als letzter übernimmst die Aufsicht über die Vorratskammern!«
Die Hirten wußten vor Überraschung und Verwunderung nicht, was sie von ihrem neuen Gönner, den ihnen der Zufall beschert hatte, denken sollten. Obwohl sein armseliges Äußere in keiner Weise mit seinen großmütigen Angeboten im Einklang stand, war einer doch schon halb überzeugt und fragte den Alten:
»Aber wo ist denn die Burg? Ich für mein Teil möchte Euer Anerbieten gern annehmen, und ich glaube, hier ist keiner, der nicht ebenso dächte wie ich – vorausgesetzt, daß sie nicht allzuweit von hier liegt ... Denn wie jedermann lieben auch wir das Fleckchen Erde, wo wir zur Welt gekommen sind, und wir sind nun mal daran gewöhnt, zwischen diesen Felsen zu leben ...«
»Seid darum unbesorgt!« erwiderte der Alte gelassen. »Sie liegt in nächster Nähe von hier ... Wenn die Sonne hinter den Gipfeln des Moncayo versinkt, fällt der Schatten der Burg auf euer Dörfchen.«
»Das kann wohl nicht gut sein!« versetzte da der Hirte. »Denn hier herum gibt es weder Burg noch Festung, und den ersten Schatten, der unser Dorf einhüllt, wirft derselbe Berg, an dessen Hang es gelegen ist ...
»Und just auf diesem Berge liegt auch die Burg! Denn dort sind die Steine, und wo die Steine sind, ist auch die Burg ... so wie das Huhn ursprünglich im Ei steckt und die Ähre im Weizenkorn,« beharrte der sonderbare Mensch. Und waren die Hirten bisher noch im unklaren über ihn gewesen, so zweifelten sie jetzt nicht länger, daß es bei ihm nicht ganz richtig sei ...
»Und du bist wohl der Vogt dieser berühmten Burg?« rief einer der Hirten unter dem Gelächter seiner Gefährten. »Denn wie die Burg, so der Vogt!«
»Gewiß bin ich das,« antwortete der Alte mit der gleichen Ruhe, seine Zuhörer eigenartig anlächelnd. »Haltet ihr mich eines so ehrenwerten Amtes etwa nicht für würdig?«
»Aber gewiß doch!« platzten alle heraus. »Seht, schon ist die Sonne hinter die Berge gesunken und der Schatten Eurer Burg hüllt schon gnädig unsere armseligen Hütten ein ... O mächtiger und gefürchteter Burgvogt auf der unsichtbaren Festung von Trasmoz! Wenn Euer Gnaden Wert darauf legen, unter Dach zu kommen, so können wir Euch ein wenig Stroh im Schafstall anbieten. Wenn Ihr es aber vorziehen solltet, im Freien zu nächtigen, so möge Euch Allah in heilige Obhut nehmen, der Prophet Euch sein Wohlwollen schenken und die Engel der Nacht mit ihren flammenden Schwertern um Euch Wache halten!«
Diese Worte, in komischer Feierlichkeit herausgebracht, begleiteten sie mit tiefergebenen Bücklingen. Und laut lachend über das schnurrige Abenteuer schlugen die Hirten den Weg zum Dorf ein. –
Unser guter Freund ließ sich indessen in keiner Weise dadurch beirren. Er verspeiste in größter Gemächlichkeit den Rest seiner Mahlzeit, schöpfte in der hohlen Hand etwas von dem reinen klaren Wasser des Baches, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und schüttelte die Brotkrumen von seinem Rock. Darauf warf er den Quersack wieder über die Schulter, und, auf seinen Knotenstock gestützt, machte er sich wieder auf den Weg, indem er dieselbe Richtung einschlug, in der seine zukünftigen Dienstleute abgezogen waren.
Kalt und dunkel kam die Nacht heraufgedämmert. Auf dem hohen Kamm des Moncayo zogen sich lange bleifarbene Wolkenstreifen von Klippe zu Klippe, die, bislang von den Sonnenstrahlen gebändigt, wie auf ihren Untergang gewartet hatten, um sich langsam hervorzuwälzen gleich scheußlichen Meerungeheuern, die sich schwerfällig über den öden Strand saugen ... Der weite Horizont, der über den Bergen sichtbar war, wurde blaß und blässer und spielte am Westhimmel vom Rötlichen ins Violette, während im Osten der Mond aufstieg, groß und glänzend wie der Schild eines Kriegers. Und überall am Himmelsgewölbe blinkten die Sterne auf, einer nach dem andern, mattglänzend neben dem hellen Nachtgestirn.
Der gute Alte schien die Gegend ausgezeichnet zu kennen. Er wußte genau, welche Pfade er zu wählen hatte, um recht bald das Ziel seiner Wanderung zu erreichen. Er ließ das Dorf links liegen, stieg nicht ohne Mühe zwischen den gewaltigen Felsblöcken und dem dichten Steineichengestrüpp aufwärts, mit dem auch jetzt noch die zerklüftete Bergleite bedeckt ist, und gelangte endlich auf den Gipfel.
Schon lag das Land in völliger Finsternis. Der Mond hing schon oben am Himmel, hin und wieder durch dunkle Wolken hindurchblinkend.
An einem so einsamen Orte, bei dem Grabesschweigen der Natur und angesichts der phantastisch gekrümmten Linien des Moncayo, dessen schneebedeckte Spitzen weißen gigantischen Wellen eines versteinerten Meeres glichen, hätte sich jeder andere gefürchtet, – hätte sich gehütet, durch eine Wildnis zu streifen, in die sich selbst mitten am Tage die Hirten kaum wagten. Wie man aber wohl schon vermutet haben mag (und wer es nicht vermutet hat, wird es bald erfahren ), war der arme Bettler ein Hexenmeister von großer Macht und nicht geringem Ansehen. Nicht zufrieden, den Grat des Berges erstiegen zu haben, erkletterte er noch die höchste Felsspitze, und von diesem luftigen Sitz aus hielt er Umschau nach allen Seiten, mit derselben Ruhe und Sicherheit wie ein Adler, dessen Nest am Rande des Felsens hängt und der furchtlos in die Tiefe hinabsieht.
Nachdem sich der Alte einen Augenblick von den Anstrengungen erholt hatte, zog er aus dem Quersack ein höchst seltsam geformtes Instrument, ein altes, zernagtes dickes Buch und einen kurzen, schon halb abgebrannten, grünlichen Kerzenstumpf hervor. Mit seinen mageren knochigen Fingern begann er das eine Ende des Instrumentes, das aus Metall zu sein schien und wie eine Laterne aussah, kräftig zu reiben, was ein schwaches, bläulich zitterndes Leuchten hervorrief. Schließlich schoß eine Flamme heraus, die brennen blieb. An dieser Flamme entzündete er den grünen Kerzenstumpf. Hierauf setzte er sich eine Brille mit gewaltig großen, kreisrunden Gläsern auf die Nase und begann bei dem schwachen Kerzenschein in dem Buch zu blättern, das er zu seiner größeren Bequemlichkeit vor sich auf den Felsen gelegt hatte. Das Buch war voller Figuren und geheimnisvoller Zeichen, voll arabischer, chaldäischer und syrischer Lettern, die mit blauer, schwarzer, roter und violetter Tinte geschrieben waren, während der Schwarzkünstler ein Blatt nach dem andern umschlug, murmelte er allerlei unverständliche Worte zwischen den Zähnen. Von Zeit zu Zeit unterbrach er seine Lektüre und deklamierte in einem eigenartig düsteren Sington immer eine ganz bestimmte Zauberformel, wobei er mit den Füßen den Takt stampfte und mit der einen freien Hand in der Luft herumfuhr, als ob er Zuhörer vor sich hätte.
Nachdem der erste Teil der Beschwörung beendet war und er alle Geister der Luft und der Erde, des Feuers und des Wassers nacheinander angerufen hatte, wurden ringsumher seltsame Laute hörbar – wie Rauschen von unzähligen Flügeln – und ein Flüstern und Raunen, als ob viele Leute leis miteinander sprächen ...
Wenn sich an stürmischen Herbsttagen am Horizont die Wolken türmen und mit Sturzregen drohen, geschieht es oft, daß mit ganz ähnlichem Geräusch Scharen von Kranichen vorüberziehen, am Himmel ein dunkles Dreieck bildend. Was aber hierbei so sehr in Erstaunen setzte, war, daß niemand und nichts zu sehen war – selbst dann nicht, wenn man das Flügelschlagen in nächster Nähe verspürte, wenn der Zugwind die Blätter der Bäume bewegte und das Flüstern und Murmeln immer deutlicher wurde! Alles schien nur Einbildung oder Traum zu sein.
Der Zauberer spähte nach allen Richtungen, wie um diejenigen zu beobachten, die nur ihm allein sichtbar waren. Und zweifellos zufrieden mit dem Erfolg seiner Arbeit, wandte er sich wieder der unterbrochenen Lektüre zu. Sobald er aber wieder mit zittriger, krächzender und etwas näselnder Stimme die dunklen Worte des Buches vorlas, versank alles ringsumher in tiefes Schweigen. Augenscheinlich hing die ganze Erde, hingen die Sterne und alle Geister der Nacht an den Lippen des Magiers.
Bald sprach er weiche Worte in süßem, bittendem Tonfall, bald hatte seine Stimme einen rauhen, energischen und kurzen Klang, wie die eines Befehlenden. Und so las er und las bis zur letzten Zeile des letzten Blattes. Da aber entstand ein Murmeln in dem unsichtbaren Auditorium, ähnlich dem Stimmengewirr der gläubigen Christenheit in den Kirchen, wenn der Priester ein Gebet gesprochen und alle in tausend verschiedenen Stimmlagen Amen antworten. Der Alte schlug das Buch zu, blies die grüne Kerze aus und nahm die Brille ab.
Schon während er seine Zauberformel hergebetet hatte, war er immer größer geworden und ins Gewaltige gewachsen und hatte sich mit übernatürlicher Kraft und Energie gefüllt. Nun stand er aufrecht auf der obersten Spitze des Felsens, von wo aus man meilenweit die Hänge des Moncayo überblicken konnte, mit all den Tälern und Felsen, Schluchten und Klüften. Dort stand er hocherhobenen Hauptes, mit weitausgestreckten Armen, den einen gen Osten, den andern gen Westen, und rief mit schallender Stimme, an die unzähligen Scharen unsichtbarer und geheimnisvoller Wesen gerichtet, an alle, die kraft der Beschwörung seinem Willen unterworfen waren und seiner Befehle harrten:
»Geister der Wasser und Geister der Lüfte, die ihr die Felsen zu höhlen versteht und die gewaltigsten Bäume zu fällen: – macht euch ans Werk und seid mir gehorsam!«
Zuerst leise, wie wenn eine Schar Tauben auffliegt ... dann stärker, wie wenn ein zerfetztes Segel gegen den Mast klatscht, vernahm man das Rauschen der Flügel, hörte man sie mit unglaublicher Schnelligkeit schlagen ... Und dieses Rauschen wurde stärker und immer stärker, bis es schließlich zu einem schrecklichen Geheul anschwoll, wie das eines entfesselten Sturms. Die nahen Sturzbäche sprangen und wandten sich in ihrem Bett, schäumend und aufschnellend wie eine wütende Schlange. Ein furchtbarer Sturm heulte in den Felsspalten, wirbelte Staubwolken auf und trockene Blätter und schüttelte die Kronen der Bäume, sie bis zum Boden hinabbeugend. Nichts Seltsameres und Schrecklicheres als dieses Unwetter, das auf einen kleinen Umkreis beschränkt blieb! Denn der Mond vollendete still und ruhig am Himmel seine Bahn, und die fernen, luftigen Gipfel des Gebirges kränzten sich mit heiter leuchtenden Dunstschleiern.
Die Felsen krachten, als ob sie bersten wollten und, von einer in ihnen verborgenen Kraft in tausend Stücke zersprengt, in die Luft zu fliegen drohten. Die dicksten Bäume ächzten und knackten, als sollten sie im nächsten Augenblick zersplittern, als ob sich alle ihre Fasern plötzlich lockern und die harte Rinde zersprengen würden.
Nachdem durch den Berg dreimal eine Erschütterung gegangen war, lockerte sich das Gestein und krachend fielen die Bäume um. Und sofort begannen Bäume und Steine wie wild in der Luft umherzuwirbeln, um wie ein dichter Regen an der Stelle niederzufallen, die der Magier vorher seinen dienstbaren Geistern bezeichnet hatte. Die stärksten Stämme und die ungeheuren Blöcke aus Granit und dunklem Schiefer, obwohl sie aufs Geratewohl in die Luft geschleudert worden waren, legten sich in wunderbarer Ordnung aufeinander und bildeten einen hohen Wall, eine Art Damm, den die Wasser des Gießbachs noch weiter vervollständigten, indem sie Sand, kleine Steine und Kalk aus ihrem Flußbett herbeischleppten und die Schlitze und Fugen mit unzerstörbarem Mörtel füllten.
»Das Werk schreitet vorwärts! Hurtig, hurtig!« murmelte der Alte, »Wir müssen jeden Augenblick nützen. Die Nacht ist kurz, bald wird der Hahn krähen und den Tag verkünden.«
Hiermit beugte er sich an den Rand eines tiefen Spalts, der bei der Erschütterung des Gebirges entstanden war, und als ob dort unten Wesen verborgen wären, an die er sich richtete, rief er hinein:
»Ihr Geister der Erde und Geister des Feuers, die ihr die Erzlager im Erdinnern kennt und auf unterirdischen Wegen zu den großen glühenden Lavamassen Zugang habt: – macht euch ans Werk und führt meine Befehle aus!«
Kaum war das letzte Wort der Beschwörung verhallt, als man ein dumpfes, langes Rollen wie fernes Donnern vernahm. Und dies Rollen wurde stärker und immer stärker und steigerte sich zu einem Gepolter, als ob ein Reitertrupp im Galopp über die hölzerne Brücke einer Festung sprengte. Dann scholl es wie Getrappel von Pferdehufen, wie Ächzen der Bohlen, Knirschen der Ketten, Klirren und Klappern der Rüstungen, Lanzen und Schilde. Und als der Lärm gewaltiger wurde, brach aus den Felsspalten ein Sprühen und Leuchten wie von einem angefachten Schmiedefeuer, und aus allen Schluchten des Berges tönte in Hall und Widerhall das Dröhnen von Tausenden von Hämmern, die mit einem fürchterlichen Geprassel auf die Ambosse niedersausten: es waren die Gnomen, die das Erz bearbeiteten, eiserne Pforten, Fallgatter, Waffen und all das Werkzeug schmiedeten, das zur Sicherheit und zur Vervollständigung der zukünftigen Festung unerläßlich war. Das war ein unbeschreibliches Lärmen und Tosen, eine schaurige Entfesselung aller Gewalten! Hier heulte der Sturm, Felsblöcke abreißend, die sich mit Gepolter auf der Spitze des Berges aufhäuften; dort brüllte der Sturzbach, brachen krachend die Bäume zusammen ... und dazu das unaufhörliche Dröhnen der Hämmer, die abwechselnd auf die Ambosse niederfielen und den Takt zu jener Teufelssinfonie abgaben ...
Die Einwohner des Dorfes waren bei dem ohrenbetäubenden Höllenlärm natürlich erwacht, wagten aber nicht einmal, den Kopf durchs Fensterloch zu stecken, um die Ursache des seltsamen Erdbebens zu erforschen. Einige waren so von Furcht geschlagen, daß sie glaubten, die Stunde des Weltuntergangs sei nahe. Sie erwarteten jeden Augenblick, daß der Tod kommen würde, eingehüllt in ein zerfetztes Schweißtuch und auf einem gelben Rosse, wie ihn der Prophet in seinen Offenbarungen schildert, um seine Herrschaft auf Erden anzutreten.
Dies dauerte bis kurz vor Tagesanbruch. Als der erste Dorfhahn sein Gefieder schüttelte und den nahen Tag mit seinem weithin gellenden Gesang begrüßte, war der ganze Spuk vorüber. – –
Um dieselbe Zeit hatte auch der König ausgeschlafen, da er wohl von Natur aus Frühaufsteher war ... oder auch weil ihm das Schlafgemach ungewohnt vorkam (was ja alles im Bereich der Möglichkeit liegt). Er befand sich nämlich auf dem Rückweg nach seiner Residenz, den er in kleinen Tagesreisen zurücklegte, und hatte diese Nacht in Tarazona geschlafen. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett, so behende, wie nur er es konnte, und nachdem er sich abwechselnd von einem Bein aufs andere gestellt hatte, wie es die Kraniche in seinen Gärten tun, ging er hinab in den Schloßpark, um zu lustwandeln.
Noch war nicht eine Stunde vergangen, daß er aufs Geratewohl durch die verschlungenen Wege des Parkes streifte, in Begleitung eines seiner Hauptleute, mit dem er so freundschaftlich plauderte, wie nur ein König, der überdies noch ein Maure war, zu plaudern imstande ist –: als der schnellste seiner Grenzwächter, schweiß- und staubbedeckt, auf ihn zugerannt kam und nach geziemender Begrüßung zu ihm sagte:
»O Fürst der Gläubigen, nahe der kastilischen Grenze hat sich etwas ganz Außergewöhnliches zugetragen! Auf dem Berge von Trasmoz, wo sich noch gestern nichts anderes als Felsblöcke und Dorngestrüpp befand, haben wir bei Tagesanbruch eine Burg entdeckt – eine Burg, so hoch, so groß, so stark gebaut, wie es keine zweite in Euren sämtlichen Staaten gibt. Anfangs trauten wir gar nicht unseren Augen; wir glaubten, daß vielleicht der Nebel, der um die Höhen braute, uns dieses Trugbild vortäuschte. Aber dann ging die Sonne auf, der Nebel zerstreute sich, und das Schloß stand noch immer da, gigantisch, düster und drohend, die ganze Umgegend mit seinem gewaltig hohen Bergfried beherrschend.«
Die Botschaft hören und sich des Bettlers mit dem Quersack erinnern, war für den König ein und dieselbe Sache; und diese beiden Gedanken miteinander verbinden und einen finster fragenden Blick den beiden zuwerfen, die neben ihm standen, nahm auch nicht viel Zeit in Anspruch. Zweifellos hatte seine maurische Hoheit einen seiner Emire, der das Gespräch mit dem Bettler mit angehört hatte, in Verdacht, daß sich dieser mit ihm einen Scherz erlaubt hätte, wie es in den Annalen der muselmanischen Etikette nicht seinesgleichen gab. Er spielte mit dem Knauf seines Krummsäbels in einer so eigenartigen Weise, wie er es nur zu tun pflegte, wenn er sich vor Wut kaum noch halten konnte, und rief mit schlechtverhehltem Ärger:
»Geschwind mein schnellstes Pferd, und auf nach Trasmoz! Bei meinem Bart und dem des Propheten – wenn die Botschaft der Grenzwächter ein Märchen ist, so lasse ich an derselben Stelle, wo die Burg stehen soll, einen Schandpfahl errichten ... für die, die das Märchen erfunden haben!«
Also sprach der König, und schon ein paar Minuten darauf ritt er, nein, er flog gen Trasmoz, von seinen Hauptleuten gefolgt.
Bevor man, von Tarazona kommend, das sogenannte Somontano erreicht – ein welliges Hügelland, allmählich aufsteigend bis an den Fuß der Gebirgskette, die von dem Moncayo, dem gigantischen, von Schnee und Wolken gekrönten Könige dieser Berge, beherrscht wird – wehrt eine große Anhöhe den Blick ins Land, solange man nicht ihren Grat erstiegen hat. Der König war beinahe schon auf der Höhe angelangt, die heute unter dem Namen der Tiezmaspitze bekannt ist, als er zu seinem großen Erstaunen und zu der Verwunderung seines ganzen Gefolges den Alten mit dem Quersack herabkommen sah – in demselben schäbigen und geflickten Rock wie am Tage vorher, mit demselben zerfetzten und schmutzigen Turban und dem gleichen kräftigen Knotenstock, der ihm als Stütze diente. Der König blieb vor dem Alten stehen. Dieser warf sich sogleich auf die Knie und entnahm, ohne dem Fürsten Zeit zu einer Frage zu lassen, dem Quersack ein purpurfarbenes Tuch, aus dem er zwei goldene Schlüssel von erlesener, ganz wunderbarer Arbeit auswickelte. Und indem er die Schlüssel seinem Gebieter überreichte, sprach er:
»O König! Ich habe mein Wort gehalten; jetzt trifft es Euch, mir die Gnade zu erweisen, daß auch Ihr Euer Versprechen erfüllt!«
»Aber ist denn das mit der Burg wirklich kein Märchen?« fragte der König argwöhnisch und sah bald auf die prachtvollen Schlüssel, die durch ihren Goldgehalt wie durch die unfaßbare feine Arbeit schon an und für sich einen Schatz aufwogen, bald auf den Alten, bei dessen erbärmlichem Anblick in seinem Herzen schon wieder das Verlangen rege wurde, ihn mit einem Almosen zu unterstützen.
»Bemüht Euch einige Schritte weiter, und Ihr werdet sie liegen sehen!« antwortete der neue Burgvogt (denn als solcher muß er wohl von jetzt ab gelten, da er ja sein Versprechen erfüllt hatte und das Wort eines Königs dagegen gesetzt worden war ... und zum mindesten in solchen Geschichten hat ein Königswort noch den Ruf des Unverbrüchlichen!).
Der Fürst ritt einige Schritte weiter. Er kam auf den Gipfel der Tiezmaspitze, und wirklich tauchte die Burg von Trasmoz vor seinen Augen auf – nicht so, wie sie heute aussieht, sondern wie sie in grauen Zeiten war, mit ihren fünf gigantischen Türmen, ihrem schlanken Bergfried, ihren tiefen Verliesen, ihren starken, eisenbeschlagenen Toren, ihrer Zugbrücke und den von spitzen Zinnen gekrönten Mauern ...