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Schlachten mit Chlorazetophenol, Diphenylaminchlorasin und Dichloräthylsulfid
Die obigen Bezeichnungen werden im kommenden Kriege ebenso populär sein wie »Schützengraben«, »U-Boot«, »Dicke Berta« und »Tank« im vergangenen. Für die zungenbrecherischen chemischen Vokabeln werden gefällige Abkürzungen in wenigen Tagen aufgekommen sein. Und diese, im Laufe einiger Stunden zu nie geahnter Aktualität beförderten Ausdrücke werden an Popularität den Wortschatz aller Frontberichte von 1914 bis 1918 überbieten.
Unmittelbar betreffen sie einen jeden. Der kommende Krieg wird eine geisterhafte Front haben. Eine Front, die gespenstisch bald über diese, bald über jene Metropole, in ihre Straßen und vor jede ihrer Haustüren vorgerückt wird. Dazu wird dieser Krieg, der Gaskrieg aus den Lüften, in nie gekanntem Sinne dieses Wortes, ein wahrhaft »atemraubender« Hasard sein. Denn seine schärfste strategische Eigenart liegt darin: bloßer und radikalster Angriffskrieg zu sein. Gegen die Gasangriffe aus der Luft gibt es keine zulängliche Gegenwehr. Selbst die privaten Schutzmaßregeln, die Gasmasken, versagen in den meisten Fällen. Das Tempo der kommenden kriegerischen Auseinandersetzung wird demnach durch das Bestreben diktiert werden, nicht sowohl sich zu verteidigen, als die vom Gegner verursachten Schrecken durch ein Zehnfaches von Schrecken zu überbieten. Daher ist es belanglos, wenn wohlmeinendere unter den Theoretikern uns das »humane« Tränengas in Aussicht stellen, ja, womöglich für den Gaskrieg Stimmung zu machen suchen, indem sie ihn dem Luftkrieg mit Explosivstoffen gegenüberstellen. Schärfer sehen andere, indem sie für den Gasangriff von vornherein dasjenige Motiv in den Vordergrund stellen, dessen wachsende Bedeutung bereits der vorige Krieg gelehrt hat: letzter Zweck der Aktionen des Flugzeuggeschwaders soll die Vernichtung des feindlichen Willens zum Widerstände sein. Durch einige wenige »raids« soll die Bevölkerung der feindlichen Zentren mit besinnungslosem Entsetzen derart erfüllt werden, daß jeder Appell an die Organisation der Abwehr versagt. Der Schrecken soll sich der Psychose nähern.
Ein Bild, das nichts von Wellsschen und Jules Verneschen Utopien an sich hat: In den Straßen Berlins verbreitet sich bei schönem, strahlendem Frühlingswetter ein Geruch wie von Veilchen. Das dauert einige Minuten lang. Danach wird die Luft erstickend. «Wem es nicht gelingt, aus ihrem Bereich zu entkommen, der wird in wenigen weiteren Minuten nichts mehr erkennen können, sein Gesicht, momentan, verlieren. Und glückt ihm weiterhin keine Flucht oder nimmt ihn kein Abtransport auf, so muß er ersticken. Das alles kann eines Tages eintreten, ohne daß in der Luft irgendein Flugzeug sichtbar, das Surren irgendeines Propellers vernehmbar wäre. Bei unverändert klarem Himmel und blendender Sonne. Aber unsichtbar und unhörbar, 5000 Meter hoch, steht ein Fluggeschwader, das Chlorazetophenol herabtropfen läßt, Tränengas, das »humanste« der neuen Mittel, das, wie bekannt, in den Gasangriffen des letzten Krieges bereits eine Rolle gespielt hat.
Kein zuverlässiges Mittel macht der Geschwader Wahrnehmung möglich, die in einer Höhe von 5 bis 6 Kilometern über der Erdoberfläche sich aufhalten. Zumindest öffentlich ist keins bekannt. Die gedämpfte Ouvertüre, die seit Jahren in den chemischen und technischen Laboratorien sich abspielt, dringt ja nur mit vereinzelten Mißtönen an die Ohren der Öffentlichkeit. Ab und zu erfährt man Dinge, wie die Erfindung eines empfindlichen Fernhörers, der das Surren der Propeller auf große Entfernungen hin registriert. Und einige Monate später dann wieder die Erfindung eines lautlosen Flugzeuges.
Einige Tatsachen, die der amerikanische Kriegskorrespondent William G. Shepherd in der »Liberty« über die »Anwendbarkeit« des französischen Flugparks im Kriege gibt, sind illustrativ.
Frankreich besitzt heute mindestens 2500 Flugzeuge im aktiven Friedensdienst; weitere sind in Reserve. Die Gesamttonnage der französischen Luftkräfte beträgt je nach der Flughöhe 600 bis 3000 Tonnen. Shepherd setzt London. Londons Zentrum mit dem Sitz aller lebenswichtigen Institute des britischen Imperiums bedeckt vier englische Quadratmeilen. Diese erfordern, um auf mehrere Monate hinaus unbewohnbar zu werden, 120 Tonnen Dichloräthylsulfid, Senfgas. Da zu gleicher Zeit über diesem Territorium maximal 250 Flieger – in ein und derselben Luftschicht natürlich – sich aufhalten können, jeder davon mindestens 500 Pfund mit sich führt und dieses Geschwader eine Tonne pro Minute abwirft, so steht – immer nach Shepherds Ansatz – das Herz des britischen Weltreichs nach zwei Stunden still.
An dergleichen Darstellungen ist das Bedenkliche, daß die menschliche Phantasie ihnen nachzukommen sich weigert und gerade das Ungeheure des drohenden Schicksals für die Denkfaulheit ein Vorwand wird. Deren Einrede kommt immer darauf hinaus, daß ein solcher Krieg entweder überhaupt »unmöglich« oder von verschwindend kurzer Dauer sein müßte. In Wahrheit wäre dieser Krieg nur dann im Handumdrehen beendet, wenn die jeweilige Basis der Flugzeuggeschwader den Streitenden bekannt wäre. Das ist nicht der Fall. Diese Basis nämlich braucht keineswegs auf dem Lande zu liegen. Irgendwo im Ozean können die Flugzeuge von den Mutterschiffen, die in den Gewässern des Weltmeeres unausgesetzt ihren Standort wechseln, sich erheben.
Wie sehen jene Giftgase aus, deren Gebrauch die Verabschiedung aller menschlichen Regungen voraussetzt? Bis heute kennen wir siebzehn; unter ihnen sind das Senfgas und das Lewisit die wichtigsten. Gegen beide geben Gasmasken keinen Schutz. Senfgas frißt das Fleisch und führt da, wo es nicht unmittelbar tödlich wirkt, Verbrennungen herbei, deren Heilung drei Monate beansprucht. Monatelang bleibt es an Gegenständen, die einmal mit ihm in Berührung gekommen sind, virulent. In den Regionen, die unter einem Senfgasangriff jemals gelegen haben, kann noch nach Monaten jeder Schritt auf dem Erdboden, jede Türklinke und jedes Brotmesser den Tod bringen. Senfgas macht wie viele andere giftige Gase alle Lebensmittel ungenießbar und vergiftet das Wasser. Die Strategen stellen sich die Verwendung dieses Mittels so vor: Gewisse taktisch wichtige Bezirke sind mit Wällen von Senfgas oder etwa von Diphenylaminchlorasin zu umgeben. Innerhalb dieser Wälle geht alles zugrunde, durch sie kann nichts eindringen. So lassen sich Häuser, Städte, Landschaften derart präparieren, daß monatelang weder animalisches noch pflanzliches Leben in ihnen aufkommen kann. Es erübrigt sich, zu bemerken, daß die Unterscheidung zwischen ziviler und kampftätiger Bevölkerung im Gaskriege fortfällt, damit aber eines der stärksten Fundamente des Völkerrechts. Das »Lewisit« ist ein Arsengift, dringt sofort ins Blut, tötet unwiderruflich, blitzartig alles Getroffene. Monatelang sind alle von schweren Gasangriffen betroffenen Bezirke durch Leichen verpestet. Schutz gibt es in solchen Gebieten natürlich nicht: Keller und Unterstände, die vor Explosivbomben allenfalls schützen, bringen bei Gasangriffen den sicheren Tod, weil das schwere Gas in die Tiefe sinkt.
Nun hat bekanntlich das Zentralkomitee des Völkerbundes eine »Kommission zum Studium des chemischen und bakteriologischen Krieges« eingesetzt. Dieser Kommission gehörten internationale Autoritäten an. Ihr Bericht hat nicht die gebührende Beachtung gefunden. Noch immer behaupten sich in der großen Politik Rüstungs- bzw. Abrüstungsprobleme, deren Belang vor den Tatsachen der chemischen Vorkehrungen in Nichts zerstiebt. Die Beharrlichkeit, mit der bei der Ausführung des Versailler Vertrages durch Deutschland lächerliche Militärrequisiten beanstandet wurden, hat nicht allein ihre unangenehme, sondern vor allem ihre höchst gefährliche Seite. Denn sie lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit vom einzig aktuellen Problem des internationalen Militarismus ab.
66 rue Lepic befindet sich im fünften Stock ein schmaler Bühnenraum und ein Saal, der auf gestaffelten Holzbänken 300 Personen faßt. Mehr als 500 waren erschienen, um einem Abend des »Assaut« beizuwohnen. Unstreitig lohnend die Gruppierung des Publikums. Der Raum, in dem es verstaut war, gehört Mme. Lara, ehemaliger Sozietärin der Comédie Française. Sie hat dem (altgoldnen) Glanz dieses Institutes entsagt, um ihre Arbeitskraft diesem jungen kommunistisch organisierten Theaterunternehmen zuzuwenden: alles, was sonst bezahlten Hilfskräften obliegt – Dekoration, Maschinerie, Beleuchtung – wird von den Gruppenteilnehmern selber gestellt und versorgt. Man gab einen Sketch des Belgiers Closson, vorher das »Armoire à glace« von Aragon (textlich bekannt aus des Autors »Libertinage«). Im Zwischenakt machte man die Bekanntschaft der Mme. Lara selbst. Tolstoischer Observanz; mit strengen Zügen. Sie erlegte den Gästen Stillschweigen auf, einem Publikum, das man geladen hatte, ohne Wert darauf legen zu wollen. Der puritanische Aufbau des Ganzen, die drakonische Plazierung der Anwesenden hätten Strengeres erwarten lassen. Herr Closson widmet für diesmal sich Vorgängen, die im Vorraum eines Aborts sich abspielen. Es fehlt nicht an liebevoller Ausmalung des lokalen Details; im übrigen würde es nicht einmal für »Grand-Guignol« hinreichen. Denn die Schicksale der fünf Franken, die im Lauf der verschiedenen Konstellationen, wie sie an solchen Orten eintreten, in der Schürze der diensttuenden Wartefrau sich einfinden, um endlich einem »louis« in die Hände zu fallen, sind ganz uninteressant: kümmerlicher Märchenstoff eines perversen Andersen. Mit solchen Spätlingen der großbürgerlichen Varietébühne beglaubigt ein antikapitalistisches, emanzipiertes Theaterwesen sich schlecht. Des geschätzten surrealistischen Champions Aragon »Spiegelschrank« kommt – nicht minder verspätet – von Maeterlinck her. Im Spiegelschrank steht ein Mann: der Liebhaber. Oder steht er nicht drin? ... Der Gatte steht auf jeden Fall davor wie die Kuh (vielmehr der Hornochse) vorm neuen Tor. Soll er den Schrank einfach aufmachen? Aber wo wird er denn ... Also: greuliche Symbolwürgerei mit »Nachbarin« in Schwarz und allem durch und durch verstaubten Inventar aus dem Jugendstil des Jahrhundertanfangs. – In der Grande Maison de Blanc rehabilitiert sich Mme. Lara mit hübschen Kostümentwürfen zu dem neuen Film »Nana«. An welcher Stelle ihre Autoren das tun, wüßten wir nicht anzugeben.
Zur Ausstellung James Ensor bei Barbazanges, Paris
Jemand hat all sein Lebtag im Elternhause gewohnt. Das steht in Ostende. Es ist kein Bauernhaus und keine Villa, sondern ein Bau, der unten zu Verkaufszwecken eingerichtet, Bazar ist und oben die Wohnräume hat, wo dieser Mann haust.
Ein Freund von mir hat ihn im Krieg besucht. Er kam durch eine niedrige Galerie, in der es finsterer und finsterer wurde. Das war der Laden. »Andenken an Ostende« füllen ihn. Seesterne, präparierte Tiefseefische, Muscheln, Flaschen, in die man Schiffchen eingesiegelt hat, Tintenwischer in Form von Seerobben, Briefbeschwerer mit dem Kasino in einer Glaskugel und Federhalter, in denen durch ein Loch am obern Ende die Mole von Ostende zu sehen ist. Vor allem aber Masken, Masken, Masken. (Den magischen Charakter solcher Galerien hat Strindberg in den »Drangsalen des Lotsen« festgehalten.) Am Ende liegt die Treppe, die zu dem Erben heraufführt. Sein Zimmer hängt von oben bis unten voll mit Bildern.
Wie werden die aussehen, wenn er sie selber gemalt hat? Denn er ist Maler. Es ist die Behausung von Ensor. Von diesen Bildern, die als Darstellung seiner eigenen Umgebung das so schon unentrinnbare Milieu an seinen Zimmerwänden gräßlich verdoppeln, gibt die Gesamtausstellung einen Begriff, die jetzt bei Barbazanges, rue du Faubourg St. Honoré, veranstaltet und offiziell patronisiert wird.
Das œuvre geht über eine Periode von annähernd fünfzig Jahren. Um die Jahrhundertwende zeigt es einen Bruch. Die Masken erscheinen. Vordem, seit 1880, malt er: das bürgerliche Interieur, Schnee, Kinder bei der Toilette, Stilleben, auf denen etwa Fische schon maskenhaft werden. Durch dicht verhangene Fenster bricht ein schwaches Licht ins Innere der chaotischen, mit Möbeln überfüllten Zimmer, in welchen wir wie in den Eingeweiden eines Reptils als Kinder oft am Ersticken waren. Diese Bilder sind teilweise von vollendeter Schönheit. Bis dann der Wahnsinn langsam Figur verliert und Gestalten erscheinen läßt. Die Paßhöhe zwischen den Ländern seiner Vision ist ein Bild »Le meuble hanté«. Ein Kind sitzt, ganz en face, vor einem aufgeschlagenen Buche an dem viel zu hohen Tisch. Daneben die häuslich beschäftigte Mutter. Aus dem Plafond, aus einem riesigen Büfett, unterm Tische hervor tauchen Masken. Das Kind starrt sprachlos, weitgeöffneten Auges, vor sich hin – nicht auf die Masken, die sein Blick ringsum erweckt, auch wenn es sie nicht sieht. Noch ist hier alles düster, in stumpfen Farben. Das Bild gleicht einer geisterhaften Intarsie.
Um 1900 hellt sich die Palette zu den schrillsten Tönen auf. Es kommen große explizite Schildereien, deren methodischer Wahnwitz an einen Wiertz denken macht: ein Selbstporträt, der Kopf des Künstlers, in einem unmöglichen rosa Wallensteinhut, von Maskenhäuptern in dichtem Kreise umstellt. Die Wohnung ist auf diesen neuen Bildern ganz verändert, von grellem Tageslichte erfüllt, in welchem Totenköpfe, Kobolde, Clowns hinter Masken aus allen Ecken hervorsehen und Tiere Schwanz und Schnabel durch die Dielen klemmen, als läge unter Ensors Zimmer (denn er hat kein Atelier) geradeswegs die Hölle von Hans Baldung Grien oder Hieronymus Bosch. Seine Palette aber desavouiert die Schattenwelt dieser verkrochenen Gebilde. Sie zieht das Licht der Sommersonne, reflektiert von einem unbewegten Meeresspiegel in eine Stube herab, wo der Greis es neben Mumien sich heimisch gemacht hat.
Man muß an die süddeutschen Stifte des Vormärz denken, um von den nüchternen Räumen der École Normale einen Begriff zu bekommen. Napoleon gründete dies Institut für eine Elite, um ihr bei aller Freiheit ihrer Studien die materielle Unabhängigkeit zu sichern. An dieser Schule ist 1911 Norbert von Hellingrath, der frühverstorbene unvergessene Editor Hölderlins, deutscher Lektor gewesen, auch sonst an ihr dem Deutschen sein Platz gesichert. Ihr eben jetzt verstorbener Bibliothekar Lucien Herr, Übersetzer des Goethe-Schiller-Briefwechsels, ist einer der besten Kenner der deutschen Geistesbewegung gewesen. Ein großer Teil des wissenschaftlichen Frankreich ist aus dieser Schule hervorgegangen. Pasteur, Taine, Fustel de Coulanges und viele andere sind in die Ehrentafeln eines »Festsaals« eingezeichnet. Die goldene Gravierung darauf ist der einzige Schmuck des kleinen, finstern, niedrigen Raumes. Darin nimmt Valéry auf eine halbe Stunde das Podium ein.
Langsam, sehr unauffällig geht er drauf zu. An diesem Körper baute ein architektonischer Wille, seine Gebärde steht zu der des Tänzers wie der Klang seiner Verse zu der der Musik, und Eleganz gibt der Erscheinung tausend geometrische Facetten. Sogleich frappiert und fasziniert ein Widerspruch: so glänzend dieses durchgebildete und strenge Antlitz, der seelenvolle Wuchs der alternden Gestalt zur Wirkung auf die Menschen ausgestattet ist, so sehr versagen sich ihr Blick und Stimme. Der Blick ist scharf wie eines Jägers, zielt aber, chthonisch abgeleitet, schräg nach unten und innen. Die Stimme klingend, genau, doch vernehmbar nur in Komplexen. Sie fordert, um gehört zu werden, Divination wie ein Text, um verstanden zu werden. Nicht einmal legt sie Ruhm, Alter, Wissen in die Waagschale, um auf die 60 oder 70 jungen Leute »richtunggebend« zu wirken. Valéry, dem, was Kanonisches vom »Dichter« heute noch in Kraft bleibt, eines sehr späten Tages wie von selber zufiel, hat niemals durch die »Stellungnahme« zu den Angelegenheiten seines Volkes, durch eine Führergeste darum geworben. Er tut es – einer der »Unsterblichen«, der er seit kurzem ist – auch heute nicht. Und so präzis er selber sich vom Symbolismus abzugrenzen sucht – Mallarmés Strenge, wenn nicht dessen Kühnheit lebt in ihm fort. Darum ist auch der kritische Unterton so bedeutsam, der hin und wieder durchbricht, wenn er aus Erinnerung an die große Zeit des Symbolismus erzählt.
Vor 40 Jahren hieß die große Präokkupation von ihnen allen: Musik. Buchstäblich zerschlagen (»littéralement écrasé«) verließ man jeden Sonntag das Concert Lamoureux in den Champs-Elysées, wenn man die großen Ouvertüren Wagners hatte über sich ergehen lassen. Was können jemals wir zustandebringen, das daneben aufkommt? so klang die große Tannhäuserbesprechung Baudelaires in einem jüngeren Dichtergeschlecht verzweifelt nach. Musik hat Töne, Tonleiter und Tonart: sie kann bauen. Was ist dagegen in der Dichtung Konstruktion? Fast immer simples Umspielen des logischen Aufbaus. Die Symbolisten suchen sprachphonetisch die Konstruktion von Symphonien nachzubilden. Und nachdem Mallarmé die Meisterwerke dieses Stils gelungen sind, geht er einen Schritt weiter. Er zieht die Schrift zur Konkurrenz mit der Musik heran. Dann führt er eines Tages Valéry als ersten vor das Manuskript des »Coup de dés«. »Sehn Sie es an und sagen Sie, ob ich verrückt bin!« (Man kennt dies Buch aus der posthumen Edition von 1914. Ein Quartband von wenigen Seiten. Scheinbar regellos, in sehr beträchtlichen Abständen, sind Worte in wechselnden Schrifttypen über die Blätter verteilt.) Mallarmé, dessen strenge Versenkung mitten in der kristallinischen Konstruktion seines gewiß traditionalistischen Schrifttums das Wahrbild des Kommenden sah, hat hier zum erstenmal (als reiner Dichter) die graphische Spannung des Inserates ins Schriftbild verarbeitet. So schlug die absolute Poesie im Extrem ins scheinbare Gegenteil um, was für den Moderantisten sie widerlegt, für den Denker sie nur bestätigt. Für Valéry vielleicht dennoch nicht ganz: »Der Finger kann wohl durch die Flamme streichen, aber nicht in ihr wohnen.«
Ohne Zweifel ist Meyerhold Rußlands bedeutendster Regisseur. Aber er ist eine unglückliche Natur. Dazu ist er mit einer neuen Einstudierung des »Revisor« in eine unglückliche Situation geraten. Es stehen ihm nun einige harte Wochen bevor. Eine der letzten literarischen Direktiven der russischen Partei hieß: Eroberung der Klassiker. Die Hauptwerke der russischen Literatur sind dem Prestige des neuen Rußland einerseits, der Bildung seiner Hunderttausenden von neuen Lesern andererseits dienstbar zu machen. An erster Stelle steht hier selbstverständlich deren Auswertung durch das Theater. Es gibt in Rußland aber nur eine verschwindende Anzahl auch für Europa »klassischer« Stücke. Wer eins von ihnen herausgreift, setzt auf eine Karte sehr viel. Als Meyerhold vor einem Jahre »Wald« (Ljess) von Ostrowsky wagte, hat er gewonnen. Dies Jahr hat er mit dem »Revisor« verloren. Sehr bedeutend war auch hier seine Leistung als Regisseur. Aber trotz einer radikalen Umarbeitung hat er das Stück nicht für die proletarische Bühne erobert. Im Gegenteil: man hat in diesem Hause wohl nichts gesehen, was (Kürzungen vorausgesetzt) in den Theaterchen des Kurfürstendamm mit größerer Aussicht auf Erfolg gespielt werden könnte. Auch das Format der Szene war dem angepaßt. Auf der schiefen Ebene eines Mahagoniaufsatzes schiebt ein lebendes Bildchen nach dem anderen sich herein. Selbstverständlich (für Moskau ist das nämlich selbstverständlich) ist das ganze Ameublement materialecht und stilsicher. Jedes kleinste Stückchen des Fundus schreit nach seiner Museumsvitrine. Unerhört der Luxus, den er mit Menschenmaterial sich leistet. Dicht zusammengepfercht steht alles, was auftritt, auf einem Fleckchen. Diese Massierung auf der schiefen Ebene bringt in der Tat den Eindruck zeitgenössischer Stiche hervor. Das alles machte diese Leistung problematisch genug. Durch die Umarbeitung wurde sie es noch mehr. Nicht daß der russische Dramaturg den lähmenden Respekt vor jedem schwarz auf weiß fixierten Dichterwort in den Knochen hätte, der in. Westeuropa noch häufig ist. Was die dramaturgische Leistung zu Fall brachte, ist nicht das Faktum: Umarbeitung, sondern wie sie ausfiel. Sie hat das berühmte Gogolsche Lachen aus dem »Revisor« verjagt. Bobschinsky und Dobschinsky sind nicht komische Figuren, sondern der doppelgesichtige Alb eines bösen Traumes, die Hauptfiguren nicht die Gogolschen Karikaturen sondern Orchester einer verfrühten Gespenstersonate. So oder anders haben Partei und Presse Meyerholds Arbeit verworfen. Um sie zu legitimieren (aber wohl auch, um seine Freunde um sich zu sammeln), beraumte Meyerhold im eigenen Hause eine Disputation ein. Der überraschende Verlauf des Abends war: wenige sprachen gegen den »Revisor«, unter ihnen kein einziger zündend, und dennoch siegten seine Gegner auf der ganzen Linie. Nicht Lunatscharsky, nicht Majakowsky, nicht Belyj konnten ihn retten. Das verdankt Meyerhold seinem unglücklichen Temperament. Spannend war, die Anstalten zu verfolgen, mit denen Freunde einem unrettbar in den aufgewühlten Wogen der Volksstimmung Versinkenden beispringen wollten. Es ging dabei nicht nur um den »Revisor«. Man wollte einen hochnotierten Namen, wie Meyerholds, nicht der Baisse preisgeben. Die Leitung lag in sehr geschickten Händen. Und das Durchschnittsniveau des russischen Redners ist so hoch, daß auch in vierstündiger Debatte im ganzen auf einen schlechten Redner ein guter kommt. Von allen ist Majakowsky der beste. Im richtigen Moment nimmt er das Publikum in die Hand, gibt ihm auf eine Viertelstunde das Schauspiel eines Rowdy-Intelligenzlers, der sich aus Lust am bloßen Streit mit ihm herumschlägt und dabei noch versteht, ganz unverbindlich zu bleiben. In diesem Stil: »Allerdings, die beste Rolle hat er seiner Frau gegeben. Protektionswirtschaft?! – Aber wenn er sie nur geheiratet hat, weil sie eine gute Schauspielerin ist!!« Und meisterhaft vierschrötig nimmt er seinen Platz am grünen Rednertisch wieder ein. – Andrej Belyj, der berühmte Verfasser von »Petersburg« und von »Moskau«. Ihn sollte man in unseren literarhistorischen Seminarien zeigen: der romantische Dekadent in Samtjacket und Binde wie bei Gavarni. Man würde ihn im ganzen heutigen Paris nicht mehr auftreiben. Hier, auf der revolutionärsten Bühne Moskaus, tänzelt er, »der ewige Leser Gogols«, eine verflossene Gavotte. Hände, die 1850 eine Opiumpfeife stopften, breiten sich hier beschwörend vorm Publikum aus. Dann der »Mann aus dem Volke«. Kurze Hosen, Manchesterjoppe, Reitstiefel, Baß. »Wo ist der Gogol für die Arbeiter, der Gogol für Bauern? Es lohnte nicht, ihn für die Bourgeoisie zum zweiten Male zu entdecken.« Gegen zwölf ruft man stürmisch nach Meyerhold. Der Beifall bei seinem Auftreten sagt ihm, daß hier noch viel zu gewinnen ist. Aber in weniger als zehn Minuten hat er jeden Kontakt mit der Masse verloren. Stichwort für die Opposition: »Moskau hat seine gelbe Presse.« Meyerhold deckt »Motive« auf: geheime Konspirationen, Racheakte. Vom Rang her, wo die Jugend, Komsomolzen, sitzen, kommen die ersten Pfiffe: »Dawolno« (genug). Viele stehen auf, viele gehen. Umsonst greift er nach dem roten Dossier und versucht, sachlich zu werden. Ein Viertel des Saales ist leer, als er aufhört. Man schickt ihm, um den schlechten Eindruck zu verwischen, noch ein paar Redner nach. Aber der Kampf ist entschieden. Nun wird der »Streit um den Revisor« den Instanzenweg gehen. Die Journalisten Moskaus haben an die Partei appelliert. Es gibt von nun an eine Front gegen Meyerhold.
Marseille ist das strahlende gewürfelte Wappen, das die Provence dem Mittelmeer entgegenhält. Hinter ihr liegt die alte Landschaft der Troubadoure und der Félibres. Bei Aix beginnt sie – steckt schon mitten drinnen in diesem Irrgarten bemooster Steinfontänen. Wasserzauber zieht sich durch die ganze Provence. Nirgends ist seine Inkarnation so unwiderstehlich wie im Jardin des Fontaines zu Nîmes. Arles ist die Schallmaske der provençalischen Fama. Von hier ging mit dem Ruhme Mistrals ihr erneuerter Name aus. All dem ist man in Marseille weit entrückt. Die Brandung eines Lebens, das hier durch Jahrhunderte, pausenlos wie das ozeanische, anschlägt, macht die griechische Landschaft um Aix vergessen. Wie immer stimmt das Hafenbild am Mittelmeer zur Muße, doch nicht zu träumender und dichtender, sondern zu selig dumpfer Betrachtung. Begreiflich, daß man hier wenig Buchläden findet. Wenige werden sie suchen – und dann vielleicht um einen Band der Marseillaiser »galéjades« zu kaufen, denkwürdiger Dicta des Marius und anderer Typen vom vieux port. Oder jemand kommt auf Eugene Montfort und nimmt mit irgendeinem seiner Romane (etwa der immer noch unübersetzten schönen »Belle Enfant ou l'Amour à quarante ans«) ein Bild dieser strahlenden Stadt in sich auf. Dies alles aber zeichnet nur Marseille und prägt es nicht. Darum bewirbt, in dem erneuerten Bewußtsein ihrer Leiter von diesem Hafen als dem größten Frankreichs, als eines europäischen Umschlagplatzes (wo selbst die neue Kathedrale bei der Mole von außen eher als einem Gotteshause einem Bahnhof ähnelt) sich eine neue Zeitschrift – die »Cahiers du Sud«. Eine alte Zeitschrift. Denn neu ist nur der Name und die Richtung. Im Jahre 1914, als sie anfing zu erscheinen, hieß sie »Fortunio« und heut wie damals ist Jean Ballard, der mit der Zeitschrift selber groß geworden ist, ihr Herausgeber. Er sagt mir: »Wir sind jetzt auf dem Wege zur großen Revue. Wir arbeiten nicht gegen Paris, sondern im Einvernehmen mit den Kameraden dort, doch unabhängig von dem modischen Betrieb der Hauptstadt. Wir lieben unsere Stadt mit Leidenschaft, aber wir pflegen nicht das Provençalische als solches. Uns geht es darum, für die wirtschaftliche Signatur der Stadt den Ausdruck in dem geistigen Bezirk zu finden. Die Formen dieses Ausdrucks können nicht von uns, den Eingesessenen, ganz allein geschaffen werden. Marseille ist eine höchst europäische Stadt. Europa wird an seinem Geistesbilde mitarbeiten, wie es das seit Jahrhunderten an seinem topographischen getan hat.« Und nun schlägt er die Hefte auf, in denen deutsche und englische, italienische und spanische Namen häufig den Ehrenplatz an erster Stelle haben. Nicht immer allbekannte Namen – denn ein Unternehmungsgeist, der gegen die Pariser Saturiertheit angenehm sich abhebt, hält nach dem »inédit« der Namen und Gedanken Ausschau. Und wie gewissenhaft dabei, bis in das Technische, verfahren wird, ersah ich aus der mustergültigen (und dabei anonymen) Übertragung von Ernst Blochs bedeutendem Versuche »Über das noch nicht bewußte Wissen«, mit dem das Augustheft eröffnet wurde. Alsbald erschien darauf der Essay auszugsweise in den »Nouvelles littéraires«, und so könnte denn eines Tages vielleicht der Name eines deutschen Philosophen sich von Marseille bis nach Berlin herumgesprochen haben. Im gleichen Sinne und weitab von binnenländischem Snobismus halten sich Referate über fremdes Schrifttum. Dicht neben seiner Rezension des Brechtschen »Baal« bespricht Marcel Brion die neuesten Reclambände. Und in Gemeinschaft mit Sauvage vom Pariser »Intransigeant« eröffnet er in den »Cahiers du Sud« eine Umfrage an die Leser im Ausland. »Wie stehen Sie zu den bisherigen Übertragungen von Werken Ihrer Muttersprache ins Französische? Und welche Werke wären, Ihrer Meinung nach, zu übertragen?« Von alledem war unter uns die Rede, während dicht neben uns der eine Korrektur las, ein anderer Briefe tippte und ein dritter, vierter, fünfter mit Fragen oder Manuskripten zur Redaktionssitzung kamen, deren Zeuge ich dergestalt wurde. So lernte ich den Stab des Leiters kennen: den Romancier Gabriel d'Aubarède, Pierre Humbourg, dessen große Studie über Giraudoux jetzt in allen Pariser Buchläden liegt, Bourguet und manchen anderen. Dies alles in dem hohen schönen Zimmer Jean Ballards, in das ich über düstere Treppen mich nicht leicht gefunden hatte. Ein Haus im alten Hafenviertel, 10 Quai du Canal: ein steinern eingerahmtes Stückchen Mittelmeer spiegelt die Fenster der Redaktion.
Exposition »Kiki« in Sliwinskis »Sacre du Printemps«
In der geheimnisvoll benannten rue du Cherche-Midi gibt es den Kunstsalon des »Sacre du Printemps«. Das sind die beiden bedeutungsvollen Namen, aus denen wir das mythographische Faktum einer »Exposition Kiki« zu konstruieren haben. Als Malerin hat Kiki ihren nom de guerre ein wenig gelüftet, wie ein Visier. Denn ihre unbarmherzigen Kriege führt sie ja auf andern Fronten. Die Kunst ist ihr pays de retraite, die Paletten sind ihre Champs-Elysées, die vom Mons Parnassus viel weiter abliegen, als irgendein moderner Strabo zu messen vermöchte. Kiki hat also ihr Visier gelüftet: beherzt und kalt stoßen die Silben Alice Prin wie Blitze aus ihren geübten Augen darunter hervor. Hier aber im sakralen Tempel des Printemps, dem angenehmen Gegenbild des schnöden Warenhaus-Printemps vom andern Ufer, läßt Alice Prin ihr Haupt in den Schoß der Musen sinken, und ihre Bilder liegen umher wie Beinschienen, Schild und Brustharnisch einer Aphrodite, in denen die Welt mit den süßesten Farben sich spiegelt. In ihnen tut sich ein Arkadien ohne »Dome« und »Rotonde« auf, eine gottlose und bedürfnislose Erde: »Kuh zwischen zwei Frauen«, »Die Kühe«, »Der Gärtner und seine Frau«, »Pferdchen« und »Kinder mit den Bananen«. Ich weiß nicht, wie zu diesen Spiegelbildern die böotischen Kenner der Malerei stehen. Vielleicht hat mancher schon auf ihren Wangen Vorstudien zu den rosigen Wolkenformationen zu sehen bekommen, welche ihn heftiger als die im Hintergrund der Bilder passionierten. Aber die Maler und deren Kenner stehen zu ihrer Kollegin. Ein Bild hat Pascin selber sich gesichert, welcher auf diesem rustikal besiedelten Parnaß so etwas wie ein Hirtengott der Malerinnen sein muß. – Der Katalog enthält eine legendäre Vie de Kiki, die Robert Desnos dem vortrefflichen Man Ray gewidmet hat, dem Photographen, der Dada aufnahm (»Bitte, recht freundlich«) und in die etwas erschlafften Züge den Surrealismus hineinretouchierte.
Man hat soeben in Paris eine Gesellschaft zur Förderung der französisch-russischen Kultur begründet. Sie könnte, wenn sie sich günstig entwickelt, für Frankreich das werden, was der Verein der Freunde des neuen Rußland für uns ist: ein sehr nützliches Informationsinstitut. Aber man wird mit Schwierigkeiten rechnen müssen. Es ist nicht zu vergessen, daß in Frankreich die kulturelle Krise bei weitem nicht so fortgeschritten ist wie bei uns. Die Problematik in der Situation des Intellektuellen, aus der heraus er selbst sein Existenzrecht in Frage stellt, während zu gleicher Zeit die Gesellschaft ihm die Existenzmittel verweigert, ist in Frankreich so gut wie unbekannt. Es geht den Künstlern und Literaten vielleicht nicht besser als ihren deutschen Kollegen, aber ihr Prestige ist unangetastet. Mit einem Wort: sie kennen den Schwebezustand. In Deutschland aber wird bald keiner mehr bestehen können, es sei denn, seine Stellungnahme sei weithin sichtbar. Und während in der jungen deutschen Generation die Scheidung zwischen Kultur und Konservativismus aller Orten eine sehr reinliche ist, hat kürzlich die aufsehenerregende »Défense de l'Occident« von Henri Massis gezeigt, daß es in Frankreich immer noch einen Kulturkonservativismus von Niveau gibt. Die neue russisch-französische Gesellschaft ist selbstverständlich unpolitisch eingestellt. Es wird sich zeigen, ob sie unter diesem Titel das harmlose Mühlespiel der internationalen Kulturbeziehungen pflegt oder das eminent politische Faktum einer Bekanntschaft mit den intellektuellen Fragestellungen Rußlands verwirklichen will und kann. En attendant war es taktisch sehr richtig, die Leitung der konstituierenden Versammlung Georges Duhamel anzuvertrauen, der eben von seiner Reise in Rußland zurückkommt, als Freund von Barbusse genügend Attachen im linken Lager besitzt und doch dem Kommunismus persönlich fernsteht. Man hätte seine Sache gar nicht besser machen können, als dieser entschiedene, wortkarge Mann mit seinem klangvollen Organ und dem gefältelten Gesicht eines badischen Theologiestudenten. Am Vorstandstische links von ihm Frau Kamenewa, rechts die alte Frau Curie. Unter den Anwesenden Frau Seifulina, Wladimir Majakowski, Ilja Ehrenburg. In kurzem war ein vorbereitendes Komitee bestimmt, in dem eine Anzahl der besten Namen aus der französischen Intelligenz zu finden sind. Charles Vildrac, Luc Durtain, Jean-Richard Bloch, Albert Gleizes unter vielen anderen. Inmitten der Debatten dieses Abends aber kam ein Augenblick, der ungeachtet der Gegenwart so vieler Führer der revolutionären Dichtung durchaus den Manen des dix-huitième siècle gewidmet war. Frau Curie hatte gesprochen, und zwar so leise, daß sie von keinem in dem achtungsvollen, schweigenden Auditorium war verstanden worden. Nach ihr nahm Duhamel selber das Wort. Und nun auf einmal kam, was er sagte, ebenfalls so leise heraus, daß auch er im Saale unhörbar blieb. Wenn spätere Sitzungen dieser Gesellschaft russischen Geist so sinnfällig machen, wie diese erste den französischen, dann wird sie ihre Aufgabe erfüllen.
Interview mit Georges Valois
I
Patriotismus! Sozialismus! Katholizismus! Das sind die drei Grundpfeiler, auf denen Georges Valois den Fascismus aufgebaut hat.
II
Fascismus bedeutet also in Frankreich – das lehrt ja ein Blick auf den mittleren Pfeiler – nicht ganz genau dasselbe wie in Italien (ganz abgesehen davon, daß er sehr viel weniger bedeutet). Valois selber hat im italienischen Fascismus einen militärisch aristokratischen und einen demokratisch produktiven Flügel unterschieden, und während er dem Unterredner einräumt, es sei der erste, der in Italien die Führung hat, wünscht er die nationale Erneuerung von Frankreich auf dem zweiten zu gründen. Im »Nouveau Siècle« – so heißt die Wochenzeitung, die unter der Redaktion von Jaques Arthuys von ihm herausgegeben wird – kann man sogar lesen, die Formel des neuen Staates zu finden sei der italienischen Diktatur ebensowenig gelungen wie der russischen. Anfänglich haben die nachbarlichen Relationen zwischen französischen und italienischen Schwarzhemden weniger Vorbehalte gekannt, und man weiß nicht, im Gefolge von welchen Umständen das ideologische Revirement erfolgte, das heute dem französischen Fascismus sein beklemmend harmloses Ansehen gibt. Immer wird man berücksichtigen, daß der italienische Fascismus in einer Epoche der aktuellen Klassenkämpfe entstanden ist, während die Bewegung um Valois nicht aktiv einer militanten Partei, sondern literarisch und kritisch dem Parlament gegenübersteht.
III
Bei alldem bleibt eines ganz sicher: diesseits und jenseits der ligurischen Alpen reklamiert sich der Fascismus vom Kriege. (Und wenn er sich auf diese Ebene einmal begibt, dann dürfte der von Valois immerhin besser als Mussolinis placiert sein.) Die »minorités agissantes« – eine Übersetzung des Wortes Miliz, in der das Französische seinen ganzen Esprit hat aufbieten müssen – sind in Valois' Sinne die Sieger der Marneschlacht; ihre Gesinnung, Forderung und Haltung sollen im revolutionären Staate maßgebend sein. Valois aber erklärt, nicht nur auf 1918, sondern auf 1792 zu fußen. (Ein sehr gebirgiger Sockel wie uns scheint, auf dem man ohne akrobatische Kunst schwer das Gleichgewicht halten kann.) Wie dem nun sei, der Fascismus erklärt, die letzte, die »phase ouvrière« der großen Revolution zu eröffnen. Die Menschenrechte wollen im Angesicht der großen Wirtschaftsmächte, der Trusts und der Konzerne, noch einmal proklamiert sein.
IV
Hier also klingt die süße Weise an, die vor bald einem Jahrzehnt zum Einzug der unfreiwilligen Gäste in Versailles gespielt ward und verklungen schien wie ein Gassenhauer. Und es gibt auch jenseits des Rheins noch Leute, denen sie sehr auf die Nerven geht. Das sind – zu schweigen von den Kommunisten – die Partisanen der »Action française«. Die von Léon Daudet und Charles Maurras geleitete Partei der Royalisten. Deren Erbitterung ist um so größer, als der sie heute spielt, vor wenigen Jahren noch einer von den ihren gewesen ist. Valois hat eine kurvenreiche politische Bahn beschrieben. Als Schüler von Sorel, dem großen, wahrhaft bedeutenden Theoretiker des Syndikalismus, ist er vom Sozialismus ausgegangen, der, nach der letzten europäischen Erfahrung zu schließen, für Fascistenführer die beste Pflanzschule ist. Unter dem Einfluß Sorels hat Valois sich mit sozialökonomischen Studien befaßt und ist gelegentlich einer ersten Revision seiner politischen Überzeugung als Spezialist für wirtschaftliche Fragen in die Redaktion der »Action française« eingetreten. Das war für ihn nur eine Etappe. Mit seinem Ausscheiden begann zwischen beiden Lagern, dem royalistischen und dem fascistischen, eine beispiellose Polemik, die nun nach mehr als einjähriger Dauer durch einen Prozeß zugunsten der »Faisceau« liquidiert worden ist. Da in Frankreich aber der Raum für Sekten schmal ist, werden die Gegner auch nach dieser Auseinandersetzung um jeden Zoll eines politischen Terrains, das abseits von den großen Schlachtfeldern gelegen ist, zu ringen haben. Und einem Publikum, das wie kaum ein anderes sich auf politischen Witz versteht, ist sein Spektakel noch auf lange hinaus gesichert.
V
Valois empfängt mich in seinem Salon Louis XVI im ersten Stock eines vornehmen Hauses im Panthéon. Es war, als ich ihn sprach, noch früh am Tage, so kam ich dazu, seiner Erledigung der Bureaugeschäfte beizuwohnen. Die Tugend des politischen Menschen, ein jedes Wort auf seinen Eindruck, jede Bewegung auf die Wirkung zu berechnen, besitzt der künftige Diktator in hohem Grade. Ein Diener, der ihm die Papiere zureicht, steht in seinem Rücken.
Und so, gestand ich mir, unterzeichnet nur einer, dem das Regieren zur zweiten Natur ward, wenn es nicht seine erste gewesen ist.
VI
Ich placiere meine Fragen nach Valois' Stellung zur Diktatur, denn hier erwartete ich den Schwerpunkt unseres Gespräches zu finden. Aber Valois ist ein Diplomat. Jene Nachprüfung der politischen Fundamente, in denen sich der Fascismus Valois' mit dem Mussolinis auseinandersetzte, ist dem Prestige des Diktaturbegriffs nicht zugute gekommen. Valois akzeptiert nur mit Vorbehalt Diktatur. Manchmal hat man den Eindruck, daß er weniger sich als seinen Hörern schmeichelt, sie umgehen zu können. Den reservierten Gedankengängen, die man nicht ohne langes Suchen im »Nouveau Siècle«, nicht ohne zu insistieren von Valois selbst zu hören bekommt, entnehmen wir, er sei sich der Gefahr dieses Regimentes bewußt: das Risiko, daß der Diktator die Kontrolle über sich selbst und seine Positionen verliert. Hier weist mein Unterredner einleuchtend darauf hin, die erbliche Monarchie, die nur in Ausnahmefällen bedeutende Männer an ihren leitenden Spitzen sieht, sei weniger prekär als Diktatur, deren Macht in den Händen des Stärksten liegt. Kurz: Diktatur ist Übergangserscheinung. Wozu? Zu einer revolutionären Staatsform; die Valois als international, als die einzige will gelten lassen, die den wirtschaftlichen Gewalten der Plutokratie gewachsen sei. Das Revolutionäre seiner Ziele unterstreicht er. Aber über die Technik des fascistischen Aufstandes etwas zu erfahren, ist schwierig. Und was zumal die Diktatur betrifft, so kann man über deren Apparat und Struktur nach Ansicht dieses Spezialisten prinzipiell nichts äußern.
VII
Im übrigen scheint Valois selbst sich weit von der exakten Theorie des Massenstreiks, mit der vor 20 Jahren sein Lehrer Sorel in jenen »Réflexions sur la violence« so blendend hervortrat, entfernt zu haben. Immerhin will auch er die Umwälzung als Massenbewegung. Und nun spielt auch bei ihm der Trick der unblutigen Revolutionen seine Rolle. Alle großen Umwälzungen der Nachkriegszeit sind als unblutige Revolutionen im Augenblick ihres Ausbruches proklamiert worden. Aber einige Wochen oder Monate später haben die Völker, welche ihre Schulden an dem Umsturz nicht bar haben zahlen wollen, mit Zins und Zinseszinsen sie begleichen müssen.
VIII
Während ich solchen Überlegungen im stillen nachhänge, fällt mein Blick auf einen Revolver, welchen mein Unterredner vor sich auf seinem Schreibtisch liegen hat. Das veranlaßt mich, ohne Exkurse mich um ein Resumée der Unterhaltung zu bemühen.
IX
Der neue Fascismus hat es gern, seine Bewegung mit dem Bolschewismus konfrontiert zu sehen, als dessen feindlichen Zwillingsbruder er sich bezeichnet. Auf diesen naheliegenden Gegenstand, den Bolschewismus, hatte ich die Rede nicht zu bringen gewagt. In Rußland macht man mit dem Vergleich dieser beiden Formen der Diktatur keine gute Erfahrung. Und in der Tat kann sie den kritischen Betrachter nicht allzu viel lehren. Denn auf dem Grund der Leninschen Lehre ruht nicht die Konzeption der Diktatur (die freilich, wo sie auftaucht, erheblich schärfer als der Fascismus umrissen scheint), sondern es ist bekanntlich der Klassenbegriff, auf dem der politische Bau des Marxismus fundiert ist. Für den Fascismus besteht die Klassenfrage letzten Endes genau so wenig wie für irgendeine der vielen anderen bourgeoisen Reform- oder Reaktionsströmungen. Valois' Staatsideal ist ein Zweikammersystem: aus direkten Wahlen soll sowohl die eigentlich gesetzgebende als auch eine repräsentative Versammlung hervorgehen. (Und wie immer, so ist es vielleicht auch hier Aufgabe der Diktatur, diese Wahlen zu machen.) Die Formel lautet: nicht Meinungen, sondern staatsbürgerliche Funktionen sollen vertreten werden. So zwar, daß beispielsweise Familienoberhäuptern das aktive Wahlrecht nach Maßgabe der Kinderzahl sich vergrößert. In einer entschlossenen Polemik gegen den überwundenen Parlamentarismus liegen die zeitgemäßen aktiven Elemente dieser Bewegung. Sie verbinden sich mit einem mystischen Zuge, einem mystischen Einschlag in das neue Wirken: Verwandlung der Rutenbündel in Bündel von Kräften. Aber die Schneiden der beiden Beile »Furcht« und »Gehorsam« stechen nur desto blanker hervor.
Frau Colette steht am Sekretär und erledigt Briefe. Es ist 6 Uhr nachmittag im Juni, aber im Zimmer brennen die Lampen. Draußen regnet es seit dem frühen Morgen, und ohnehin fällt durch die niedrigen Fenster nur wenig Licht. Ich suche mir auf dem bunten Divan in Nachbarschaft ihres Hündchens Platz. Für mein Anliegen hat Frau Colette zunächst nur einen erstaunten Blick. Über »die Frau« sich zu äußern – das scheint ihr nicht besonders am Herzen zu liegen. Aber ich präzisiere. Ich versichere sie meines Respekts und meiner Sympathie für jenen Kampf auf verlorenem Posten, den sie gegen die Herrschaft – die öffentliche, offizielle Rolle der Frau im Leben der modernen Gesellschaft führt. Und ich versichere sie im Vorhinein der eingeschränkten diplomatischen Bedeutung meiner Einwürfe. Dem scheint sie zu trauen und sie hat Recht. Sie entwickelt ihre Gedanken wie ein Sammler, der seine Bestände schon allzugut kennt, mit Liebe, aber mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ein Stück nach dem anderen hervorholt, ohne von der Bewunderung und Freude des Besuchers noch Neues, Überraschendes zu erwarten. Ihre großen energischen Blicke läßt sie geschickt wie Lichter auf das massive Kristall ihrer Einfälle gleiten, und was sie sagt, gewinnt ein ungemeines Leben unter diesen Blicken. Sie spricht gar nicht nervös, sondern ebenso sicher wie schnell, ebenso entschieden wie deutlich. Und was sie sagt, ist nicht der Koketterie entsprungen, sondern die ungebrochene Äußerungsform ihrer geraden, entschlossenen, derben Erscheinung. Die liebt sie denn auch ins Licht zu setzen. Sie hat im Laufe des Gesprächs Gelegenheit zu betonen, daß das Alter weiblicher Gefühlsverwirrungen und physischer und psychischer Störungen hinter ihr liegt. Aber sie hat diesen Bedingungen Rechnung getragen. Sie ist ganz und gar nicht geneigt, die Sprache des weiblichen Körpers von Forderungen und Programmen sich übertäuben zu lassen. Sie sagt sehr drastisch: »Ich selber habe in meiner Bekanntschaft genug harmonische, gesunde, hochgebildete, kluge Frauen, die ganz genau so gut imstande wären wie ein Mann, in einer Kommission oder Jury zu sitzen. Nur haben sie, eine jede – und ich versichere Sie: normale Frauen von der besten Veranlagung – im Monat zwei, drei Tage, an denen sie überreizt, unbeherrscht, unberechenbar sind. Die öffentlichen Angelegenheiten gehen aber an diesen Tagen weiter ihren Gang, nicht wahr? Es werden Abstimmungen fällig sein und Beschlüsse gefaßt werden müssen.« Hier unterbricht sich Frau Colette, um mit einem schwer definierbaren Ausdruck mich ins Auge zu fassen; wartet, als wolle sie mir eine kleine Frist zur Änderung dieser Verhältnisse geben und schließt, entmutigt durch mein Schweigen: »Was meinen Sie. Ich weiß nicht. Sollte man solange ...?« Sie sieht mir an, ich habe nicht die Absicht, eine solche Geschäftsordnung zu befürworten.
»Aber ich unterhalte Sie hiervon vielleicht schon zu lange – obwohl ich denke, gerade von den einfachsten, verkanntesten Sachen soll man sehr klar sprechen. Ich will Ihnen eine Erfahrung anvertrauen. Ich weiß nicht, ob Sie mir zustimmen werden. Aber es ist eine Bemerkung, die ich sehr oft im Leben machen konnte. Die Frauen erklären, sie täten nur und sie wollten nur tun, was die Männer machen. Sie beanspruchten kein Vorrecht für sich und sie bestünden nur auf gleichem Recht für alle. Aber sehen Sie doch näher zu. Warum erregt es immer noch ein gewisses Aufsehen, wenn die Frau in der Öffentlichkeit raucht? weil sie es eben auffallend tut; und weil sie, wenn der Mann aus einer langen Spitze raucht, eine doppelt so lange hervorholt. Wenn sie die Beine übereinanderschlägt, so wird sie es nicht tun wie Sie eben (ich habe keine Zeit mehr, meine Haltung zu verbessern), sondern sie macht es auf diese Art (und hier schlägt Frau Colette mit derart resolutem Schwung die Knie übereinander, daß der Rock nicht viel mehr zu sagen hat). Wenn sie sich ihre Haare schneiden lassen, so tragen sie sie kürzer als Sie das Ihre. (Es wird aus diesen Worten aber niemand schließen wollen, daß nicht auch die Sprechende selbst einen Bubikopf trägt. Man kann sich ihr kluges, scharfgeprägtes Gesicht schwer unter einem Haarknoten denken.) Und nun nehmen Sie dazu die Parole von heute. Wenn es mit Fasten und Gymnastik so weiter geht, so sind die Frauen in zwanzig Jahren flach wie die Bretter geworden. Aber man hat ihnen mit Gewalt an jeder Art von Mannstum Geschmack beigebracht, und am meisten am Machtwillen. Man wird mit alledem das Brutale in ihrer Natur bis zum äußersten treiben. Wenn ihre Passionen einmal geweckt sind, so kennt die Frau nicht nur als Gattin und Mutter, sondern auch als Verschwörerin und Intrigantin keine Grenzen mehr. Das ist ihre Größe. Aus dieser Größe aber macht sich die Gesellschaft ein Instrument der Vernichtung.«
»Ich verstehe Ihre Art, die Dinge zu sehen. Ich teile sie. Aber wir müssen uns beide darüber Rechenschaft geben, daß die Entwicklung eine Richtung genommen hat, die solchen Wertungen ins Gesicht schlägt. Wo sehen Sie ein Mittel, sie aufzuhalten?«
»Ich sehe keins. Aber ich bin kein politischer Mensch, und ich glaube, ich sagte Ihnen das schon. Die weiten Perspektiven und Programme und die großen Schlußharmonien und Apotheosen sind Dinge, die ich gern anderen Leuten überlasse. Wollen Sie wissen, was ich aus meiner Ehe mit einem Manne der Politik gelernt habe? (Frau Colette war mit Henry de Jouvenel, einem namhaften Publizisten und Politiker, verheiratet.) Gewiß, nicht sogleich gelernt, aber im Laufe der Zeit: die Frau eines Politikers muß das genaue Gegenteil von einer Frau sein, die Politik macht. Damals habe ich die Dinge aus der Nähe gesehen. Ich habe die politische Bürokratie, die fürchterlichste aller Bürokratien, kennen gelernt. Die Frauen sind – gottseidank – allem Bürokratischen gegenüber eine sprengende anarchische Kraft. Es ist ein absurder Nonsens, die Frau, die einzige Energie, die der Bürokratie gewachsen ist, die ihr Grenzen setzt, in diesen Organismus selber einzustellen. Nehmen Sie sie aus dieser tauben unfruchtbaren Ordnung heraus; und wenn Sie Frauenherrschaft wollen, so machen Sie sie zur Königin – geben Sie ihr das berühmte royaume secret, das sie nicht aus dem Thronsaal, sondern aus dem Beigemach regiert. Es ist das einzige, das die Frau je gewollt hat und in dem sie leisten wird, was kein Mann leistet.«
Ich glaube den Augenblick gekommen, von neuem den advocatus diaboli zu machen. Und ohne in die Akten der Gegenseite zu tief mich einzulassen, werfe ich einiges über die »Not der Zeit«, »soziale Lage der Frau«, »die wirtschaftlichen Notwendigkeiten«, »die Frauenberufe«, »Stenotypistin« in die Debatte. Da läutet aber das Telefon, und meine Partnerin hat nur noch eben Zeit, mein letztes Wort aufzugreifen: »La sténodactylo – eh bien, monsieur, vous allez me trouver atroce – mais permettez-moi de vous le dire: la sténodactylo, c'est un fléau public« ...
»Da wir eben von Jury sprachen: Ich denke, Frauen könnten in einer Jury nur mit tiefer Abneigung Platz nehmen. Ich sitze Gott sei Dank nur in einer einzigen. Es ist die, die den Prix de la Renaissance zu vergeben hat.
Ich habe das früher einmal annehmen müssen... Ich versichere Sie aber, noch heute ist Abstimmen für mich jedesmal, als wenn ich jemanden zu köpfen hätte.«
Ich frage Frau Colette nach der Sowjet-Gesandtin in Mexiko, Frau Kollontay. Ich erwähne ihre »Wege der Liebe«, die in Deutschland so sehr beachtet worden sind und über die man in Rußland so wenig respektvolle Worte hören kann. Ich spreche von der Bagatellisierung der Liebe, die man in Frankreich noch nicht entdeckt hat, und führe dieses modische, aber etwas schreiend gekleidete Wort in den Salon der Frau Colette ein. »Ganz einverstanden« (»Je le veux bien«), meint die Dame des Hauses. »Dann sagen Sie mir aber bitte nur dies eine: Wenn man die Dinge dritten oder vierten Ranges, also die Liebe, wie Sie das täglich in der Zeitung lesen können, mit Gift und Revolverschüssen ins Reine bringt, dann frage ich wirklich, welche Methoden bei der Erledigung von Staatsgeschäften, von Angelegenheiten ersten Ranges zu verwenden sind?«
Die Zeit eines Interviews ist längst überschritten. Mit den Blicken messe ich im Hinausgehen die niedrigen Stuben von schmalem, altmodischen Ausmaß. »Wie lange wohnen Sie schon hier, gnädige Frau?« »Fünf Monate. Das hier – nicht wahr? – ist altes Palais Royal. Die Zimmer sind so winzig, daß ich, um mir ein Arbeitszimmer zu verschaffen, eine Zwischenwand habe fortnehmen lassen. Sie waren früher für die Damen des Palais Royal belegt. On y a ri'en fait que l'amour.« Ich aber könnte diese sehr kluge, sehr gerade, sehr französische Künstlerin mir nirgends richtiger untergebracht denken, als in diesem zentralsten, verstecktesten Winkel der Altstadt, der im Regenwetter verwittert und einsam schweigt, ähnlich den vielen ausgedienten Tier- und Menschenkreaturen, die Colette so wahr und so bitter zu schildern gewußt hat.
Gespräch mit Benjamin Crémieux
Wenn die École Normale Supérieure für einige Generationen französischer Literatur die Pflanzschule war, so ist seit etwa zehn Jahren der Quai d'Orsay mit seinen Dépendancen ihr Hauptquartier. Claudel, ehemaliger Botschafter in Tokio, hat jetzt die Vertretung Frankreichs in Washington; Paul Morand bereist als Diplomat den fernen Osten; Giraudoux sitzt zurzeit als Vorsitzender des französisch-türkischen Ausgleichskomitees in Paris, und in den Räumen des Pariser Außenministeriums selbst vertritt zurzeit Martin Maurice die Gilde der Romanciers, Crémieux die Avantgarde der literarischen Kritik.
Crémieux kam – und das ist besonders erfrischend – nicht als »professional« der deutsch-französischen Verständigung. Zwar liest er das Deutsche fließend, und es hat, wie er uns erzählt, nur wenig gefehlt, daß er vor Jahren der Germanistik statt der italienischen Philologie sich zugewandt hätte. Indessen ist er der ausgezeichnete Übersetzer von Pirandello, der große Kenner des italienischen Schrifttums geworden, der unter anderm zuerst von allen zusammen mit Joyce und Larbaud sich für Italo Svevo eingesetzt hat. Diesen Svevo hat man den italienischen Proust genannt. Ich weiß nicht, ob dies oder eine andere Wendung der Punkt war, an dem wir zuerst auf Proust zu sprechen kamen. Wir wissen jetzt, meint er mit deutlicher Anspielung auf die »Recherche du temps perdu«, zur Genüge, was der Mensch nicht ist. Nun wollen wir wissen, was er ist. Aber er muß konstruiert werden. Nicht im klassischen Sinn, nicht wie, wenn auch begabt, Radiguet es versuchte, sondern im Sinne neuer zyklischer, synchronistischer, filmhafter Kompositionen. Hier nennt mein Unterredner nur ungern Namen, denn es sind jüngste, wenn auch früh erprobte Talente: André Chamson, Jean Prévost, Gabriel Marcel. Ich: »Und wenn ich jetzt unversehens, summarisch mit der Frage an Sie herantrete: Wen, hinge es von Ihnen ab, würden Sie aus der Reihe der jüngeren Autoren sozusagen d'urgence (mit Extrapost) übersetzen lassen?« Diese Frage gefällt meinem Partner gar nicht. Und ich erinnere mich gerade noch rechtzeitig, vor kurzem in einer interessanten Umfrage der »Cahiers du Sud« seinen reservierten, besonnenen Gedankengängen über das Übersetzen im allgemeinen begegnet zu sein. Heute erklärt er mir: »Erstens scheint mir in jener übermäßigen Geschäftigkeit des Übersetzens etwas Krampfhaftes, Unfruchtbares zu liegen. Gerade mein Aufenthalt in Berlin hat mir Licht darüber gegeben, wieviel von unserer neuesten Dichtung im Deutschen schon vorliegt. Davon zu schweigen, daß ich viel öfter, als ich erwartet hatte, Leser fand, die auf die deutsche Übersetzung nicht zu warten brauchen. Zweitens sollten wir unbedingt in jeder Sprache eine Literatur, die durchaus für den inneren Konsum geschaffen ist, von der exportfähigen unterscheiden. Ein gutes Buch kommt, selbst in guter Übersetzung, kaum zur Geltung, wenn es in einer Serie von Übertragungen minderwertiger oder unübersetzbarer Werke erscheint. Und drittens bin ich keineswegs ein Freund der philologischen, archaischen Treue der Übersetzung.« Hier spricht Crémieux sehr hübsch von den fiançailles, der Verlobungszeit –, die jedes große Werk mit einer fremden Sprache verleben müsse, ehe es zur dauernden, endgültigen Verbindung kommt. Endlich, und um mit der drastischen Sprache berühmter, klingender Namen zu schließen, stelle ich meinen freundlichen Unterredner wie folgt: »Welches ist der französischste Autor unter den Deutschen?« »Der französischste unter den Deutschen – das muß der geistvollste, geschliffenste sein.« Da nennt er Kerr. Kerr französisch herauszugeben ist eines seiner nächsten Projekte. Am Morgen nach unserer Unterredung hat Crémieux uns, Berlin, verlassen. Er schätzt die Stadt mit freundlichem Optimismus, hängt an ihrer Zukunft und erwartet, sie wiederzusehen, wenn der blendende, steinerne Gürtel um das waldige Herz des Tiergartens seine nächste, die amerikanische Physiognomie tragen wird, die Crémieux schon mit Freuden im Werden sieht.
Gespräch mit dem Dichter
Es war einer der ersten Kritiker Frankreichs, der mir, als ich vor wenigen Wochen ihn sprach, auf meine Frage: »Wer unter den großen Franzosen erscheint Ihnen seiner Gestalt, seinem Werk nach uns am verwandtesten?« die Antwort gab: »André Gide.« Ich will nicht leugnen, daß ich sie, wenn nicht erwartet, so erhofft hatte. Vermeiden wir aber ein naheliegendes Mißverständnis: Wenn Gide, der Mann, der Denker, in gewissen Zügen eine unleugbare Verwandtschaft mit dem deutschen Ingenium hat, so heißt das nicht, er käme, als Künstler, den Deutschen entgegen, mache es seinen deutschen Lesern leicht. Ihnen nicht und nicht seinen Landsleuten.
Das Paris, dem er entstammt, ist nicht das der ungezählten Romanschreiber und des internationalen Komödienmarkts. Anlage und Familie binden ihn mehr als an diese Stadt an den Norden, die Normandie und vor allem den Protestantismus. Man muß ein Werk wie die »Porte étroite« lesen, um zu erkennen, mit welcher Liebe Gide diese Landschaft umfangen hält, und wie sehr die asketische Leidenschaft seiner jungen Heldin diese Landschaft in sich befaßt.
Ein moralistischer, reformatorischer Zug ist seinem Werk von Anfang an eigen gewesen; produktive und kritische Energie sind bei kaum einem Dichter enger aneinandergebunden gewesen als bei ihm. Und ob es vor dreißig Jahren der Protest des jungen Gide gegen den primitiven, unfruchtbaren Nationalismus Barrès' war, ob heute sein letzter Roman, die »Faux-Monnayeurs« eine schöpferische Korrektur der landläufigen Romanform aus dem Geiste der romantischen Reflexionsphilosophie vornimmt – in diesem Einen: vom Gegebenen, ob er es draußen oder in sich selber fand, nur immer abstoßen zu müssen, ist dieser Geist sich durchaus treu geblieben.
Wenn darin das Wesen dieses als Dichter wie als Moralisten gleich bedeutenden Autors liegt, so sind es zwei Große, die ihm den Weg zu sich selber gewiesen haben: Oscar Wilde und Nietzsche. Vielleicht hat der europäische Geist in seiner westlichen Gestalt im Gegensatz zu seinem östlichen Gesicht in Tolstoi und Dostojewski nie deutlicher als in dieser Dreiheit sich dargestellt. Wenn dennoch später, als der Dichter die Rede auf das bringt, was er dem deutschen Schrifttum zu verdanken hat, der Name Nietzsche nicht gefallen ist, so mag es sein, weil von Nietzsche reden für Gide in einem allzu intensiven, allzu verantwortlichen Sinne von sich selber handeln hieße. Denn der würde wenig von Gide erfaßt haben, der nicht wüßte, daß Nietzsches Gedanken ihm mehr waren als der Aufriß zu einer »Weltanschauung«. »Nietzsche«, so hat es Gide gelegentlich in einem Gespräch gesagt, »hat eine königliche Straße dort gebahnt, wo ich nur einen schmalen Pfad hätte anlegen können. Er hat mich nicht ›beeinflußt‹; er hat mir geholfen.«
Es ist Bescheidenheit, wenn von alledem heute kein Wort fällt. Bescheidenheit: diese Tugend hat zwei Gesichter. Es gibt die vorgegebene, die gedrückte, die gespielte des Kleinen und die erwärmende, gelassene, wahre des Großen. Sie strahlt überzeugend aus jeder Bewegung des Mannes. Man fühlt, er ist gewohnt im Hofstaat der Ideen sich zu bewegen. Von dorther, von dem Umgang mit Königinnen, die leise Intonation, das zögernde und doch gewichtige Spiel der Hände, der unauffällige, aufmerksame Blick seiner Augen. Und wenn er mir versichert, gemeinhin ein unbequemer Unterredner im Gespräch zu sein – scheu und wild zugleich – so weiß ich: für ihn bedeutet es Gefahr und Opfer zugleich, aus dem gewohnten, einsamen Daseinskreis, jenem Hofstaat, herauszutreten. Er zitiert mir das Wort Chamforts: »Hat jemand ein Meisterwerk zustande gebracht, so haben die Leute nichts Eiligeres zu tun, als ihm das nächste unmöglich zu machen.« Gide hat die Ehren und Würden des Ruhms so kräftig wie sonst keiner von sich abgeschüttelt. »Zwar heißt es«, sagt er, »bei Goethe, nur die Lumpe sind bescheiden, aber doch gab es«, so fährt er fort, »keinen Genius, der bescheidener gewesen wäre als er. Denn was will es heißen, im höchsten Alter noch die Geduld, die Unterordnung über sich gebracht zu haben, sich mit dem Persischen zu befassen. Ja, lesen selber war für diesen Mann, am Abend eines ungeheuren Werktags, schon Bescheidenheit.«
Es ging in Frankreich eine Zeitlang das Gerücht, Gide wolle die Wahlverwandtschaften übersetzen. Und da noch jüngst das Tagebuch seiner »Kongoreise« von der erneuerten Lektüre des Buches spricht, so werfe ich eine Frage danach ins Gespräch. »Nein«, erwidert Gide, »übersetzen ist mir jetzt ferner gerückt. Freilich, immer noch würde Goethe mich anziehen.« Hier ein leichtes für ihn charakteristisches Zögern. »Und gewiß in den Wahlverwandtschaften ist der ganze Goethe. Wenn ich aber jetzt überhaupt etwas übersetzen würde, dann wären es eher Prometheus, Stellen aus der Pandora oder entlegenere Prosaseiten, wie die Schrift über Winckelmann.«
Hier denke ich an Gides jüngst erschienene Übersetzung aus dem Deutschen, ein Kapitel des »Grünen Heinrich« von Gottfried Keller. Was mag den Dichter in dieser Richtung gerufen haben? Mir geht ein Wort von Gides verstorbenem Freunde Jacques Rivière durch den Kopf – das Wort von dem »Zaubergarten des Zögerns«, in welchem Gide auf Lebenszeit verweile. Diesen Garten hat auch Keller, der Dichter der gründlichen Hemmungen und leidenschaftlichen Vorbehalte, bewohnt, und so mag die Begegnung der beiden großen Prosaiker sich ergeben haben.
Aber es kommt nicht dazu, daß ich Gide selber darüber vernehmen könnte. Denn, mit einer plötzlichen Wendung der Unterhaltung: »Ich möchte Ihnen noch einige Worte über die Absicht meines Kommens sagen. Es geschah mit dem Vorhaben, eine conférence in Berlin zu halten. Und ihrer Vorbereitung wollte ich, in aller Ruhe und Zurückgezogenheit, die erste Woche meines Aufenthaltes widmen. Aber es kam ganz anders als ich vermutet hatte. Denn die Liebenswürdigkeit der Berliner, ihr zuvorkommendes Interesse für mich, erwiesen sich als so groß, daß die Muße, mit der ich gerechnet hatte, sich nicht einstellen wollte. Begegnungen und Gespräche füllten meine Zeit aus. Andererseits stand mein Entschluß fest, nicht anders als mit einer sehr durchdachten Rede hier zu erscheinen. Je voulais faire quelque chose de très bien. Und ich würde mich freuen, wenn Sie das bekannt gäben und hinzufügten, daß mein Vorsatz nicht aufgegeben, sondern nur seine Ausführung vertagt ist. Ich werde wiederkommen und werde meine conférence mitbringen. Sie wird vielleicht dann ein ganz anderes Thema haben, als es mir für diesmal vor Augen stand. Nur soviel: ich hatte nicht vor und plane auch ferner nicht, hier über französisches Schrifttum zu sprechen, wie es in letzter Zeit des öfteren geschehen ist. Immer wieder habe ich in Berliner Gesprächen erfahren können, wie gut bei Ihnen alle, die es angeht, darüber unterrichtet sind.
Ich gedachte von etwas ganz anderem zu sprechen. Ich wollte darlegen, was für mich als französischen Autor in Ihrer Literatur das Fruchtbarste, Förderlichste gewesen ist. Sie hätten von mir gehört, welche Rolle Goethe, Fichte, Schopenhauer in Frankreich und besonders für mich gespielt haben. Auch hätte ich die Gelegenheit ergriffen, von dem neuen intensiven Interesse, das deutsche Dinge jetzt bei uns finden, mit Ihnen zu reden. Ich darf, wenn ich den heutigen französischen Literaten gegen den der vorigen Generationen halte, das eine sagen: Er ist wißbegieriger geworden; sein Blickfeld ist im Begriff, sich über die kulturellen und sprachlichen Grenzen der Heimat hinaus zu weiten. Vergleichen Sie mit dieser Haltung das Wort von Barrès: ›Sprachen lernen! Wozu? Um dieselbe Dummheit auf drei oder vier verschiedene Arten zu sagen?‹ Bemerken Sie das Erstaunliche dieser Wendung? Barrès denkt überhaupt nur ans Reden; das Lesen einer fremden Sprache, das Eingehen in eine fremde Literatur zählen für ihn nicht. War es bei Barrès ein vorwiegend nationales Genügen, so war es um die gleiche Zeit bei Mallarmé ein Genügen an der geistigen Innenwelt, das jeden Blick ins Draußen, Reiselust und Sprachenkunde, zu etwas Seltenem machte. Führte nicht vielleicht die Philosophie des deutschen Idealismus ihre französischen Jünger zu dieser Haltung?«
Und Gide erzählt die reizende Anekdote, wie die Hegelsche Lehre durch Villiers de l'Isle-Adam in den Kreis um Mallarmé Eingang gefunden habe. Villiers nämlich kaufte als junger Mann eines Tages an einer Straßenecke eine Düte heißer Kartoffeln; die Düte aber war ein Bogen aus einer Übersetzung von Hegels Ästhetik. So und nicht auf dem offiziellen Weg über die Sorbonne und Victor Cousin soll der deutsche Idealismus zu den Symbolisten gekommen sein.
»Ne jamais profiter de l'élan acquis« – nie vom einmal erreichten Elan Gebrauch machen: das bekennt im »Journal des Faux-Monnayeurs« Gide als einen der Grundsätze seiner literarischen Technik. Aber es ist weit mehr als eine Regel seines Schreibens, es ist der Ausdruck einer Geisteshaltung, die jeder Frage begegnet, als sei sie die erste, die einzige einer Welt, die nur eben erst aus dem Nichts hervorgegangen ist. Und wenn der Dichter als repräsentativste Erscheinung des geistigen Frankreichs eines hoffentlich nahen Tages an deutsche Hörer sich wenden wird, wird er im Sinne solch neuen Beginnens, in einem Geist einsetzen, der nichts den Stimmungen und Konjunkturen der öffentlichen Meinung hüben und drüben dankt. Niemandem mehr als dem, der vor vielen Jahren geschrieben hat: »Wir erkennen nur das Werk als wertvoll an, das im tiefsten eine Offenbarung des Bodens und der Rasse ist, aus der es hervorging«, ist Völkergemeinschaft ein Ding, das nur in höchster, präzisester Ausprägung, freilich auch nur in strengster geistiger Läuterung der nationalen Charaktere sich bildet. Halbdunkel oder Verschwommenheit, wo immer es sei, sind ihm fremd: nicht umsonst hat sich Gide immer wieder als Fanatiker der Zeichnung, des scharfen Konturs bekannt.
In diesem Sinne werden wir ihn, den großen Franzosen, der seiner Physiognomie durch Arbeit, Leidenschaft und Mut die europäische Prägung zu geben vermocht hat, gespannt und freudig in Deutschland zurückerwarten.
Gespräch mit André Gide
Es ist schön, André Gide in seinem Hotelzimmer zu sprechen. Ich weiß, daß er ein Landhaus in Cuverville und eine Wohnung in Paris hat, und gewiß wäre der Eindruck unvergeßlich, ihm unter seinen Büchern an den Stätten zu begegnen, wo er Großes geplant und durchgeführt hat. Aber es wäre nicht dies: diesen großen Reisenden inmitten seiner gebündelten Habe, omnia sua secum portans, in wehrhafter Bereitschaft im hellen Vormittagslicht seines geräumigen Zimmers am Potsdamer Platz anzutreffen. Zugestanden: das Interview, eine Form, die Diplomaten, Finanziers, Filmleute sich geschaffen haben, ist auf den ersten Blick nicht die, in der ein Dichter, der differenzierteste unter den lebenden, sich zu erkennen gibt. Sieht man genauer zu, so steht es doch anders. Rede und Antwort artikulieren wie Schlaglicht das Gidesche Denken. Ich vergleiche es einem Fort: so unübersehbar im Aufbau, voller eingezogener Umwallungen und ausfallender Bastionen, vor allem so formstreng und so vollendet im Aufbau seiner dialektischen Zweckmäßigkeit.
So viel weiß auch der letzte Amateur, daß es gefährlich und mit Weiterungen verbunden ist, Aufnahmen in der Nähe von Forts zu machen. Papier und Bleistift mußten beiseite bleiben, und wenn die folgenden Worte authentisch sind, so danken sie es der Schärfe der leisen, begeisteten Stimme, von der sie kamen.
Kaum eine der Fragen, die mehr aus Routine denn aus Anteil in einem Interview gewöhnlich auftauchen, hatte ich Gide zu stellen. Denn wie er da vor mir auf einer Stufe seines Erkers saß, den Rücken gegen den Sitz eines Sessels gelehnt, einen braunen Foulard um den Hals und die Hände über den Teppich ausgreifend oder gesammelt ums Knie geschlungen, ist er sich selber Frager und Sprecher genug. Ab und zu fällt sein Blick aus der deutlichen Hornbrille auf mich, wenn eine der seltenen Fragen sein Interesse erregt hat. Sein Gesicht zu betrachten ist faszinierend, sei es auch nur, um dem wechselnden Spiel von Malice und Güte zu folgen, von denen man zu sagen versucht ist, daß beide die gleichen Falten bewohnen, geschwisterlich in seine Miene sich teilen. Und es sind nicht die schlechtesten Augenblicke, wenn die reine Freude an einer malitiösen Anekdote seine Züge erleuchtet.
Es gibt heute keinen europäischen Dichter, der den Ruhm, als er endlich, gegen Ende der Vierziger, kam, ungastlicher bei sich empfangen hätte. Keinen Franzosen, der gegen die Académie Française sich fester verschanzt hätte. Gide und D'Annunzio – man braucht die Namen nur nebeneinander zu stellen, um zu erkennen, was einer für und gegen den Ruhm vermag. »Wie setzen Sie sich mit dem Ihren auseinander?« Und nun erzählt Gide, wie wenig er ihn gesucht, wem er es dankte, daß er ihn dennoch eines Tages fand, und wie er sich dagegen zur Wehr setzt.
Bis 1914 war er der festen Überzeugung, er werde erst nach seinem Tode gelesen werden. Das war nicht Resignation, das war Vertrauen in den Bestand und die Kraft seines Werkes. »Mir sind, seit ich zu schreiben begann, Keats, Baudelaire, Rimbaud darin ein Vorbild gewesen, daß ich, wie sie, nur meinem Werk, nichts anderm, meinen Namen danken wollte.« Wenn ein Dichter einmal diesen Posten bezogen hat, dann ist es nichts Seltenes, daß ein Feind eingreift, Bileams Esel. Das war für Gide Henri Béraud, der Romancier. Er hat dem französischen Zeitungsleser so lange versichert, daß es nichts Dümmeres, Langweiligeres und Verderbteres als die Bücher von André Gide gäbe, bis die Leute schließlich aufmerksam wurden und fragten: Wer ist denn eigentlich dieser André Gide, den die anständigen Leute um keinen Preis lesen dürfen? Als einmal viele Jahre später Béraud in einem seiner Ausbrüche schrieb, zu allem andern sei dieser Gide auch noch undankbar gegen seine Wohltäter, da schickte der Dichter, um diesen herben Vorwurf zu entkräften, Béraud die schönste Schachtel Pihan-Schokolade. Dabei ein Kärtchen mit den Worten: »Non, non, je ne suis pas un ingrat.«
Was den Gegnern des frühen Gide am meisten wider den Strich ging, war die Erkenntnis, daß man im Ausland Gide beachtenswerter fand als sie selber. Das gibt, so dachten sie, einen ganz falschen Eindruck. Und in der Tat, vom Durchschnitt der Pariser Romanfabrikation hätten ihre eigenen Bücher einen richtigeren gegeben. Gide ist früh bei uns übertragen worden und bleibt seinen ersten Übersetzern, Rilke bis zu seinem Tode, Kassner und Blei noch heute, in Freundschaft verbunden. So stehen wir bei der aktuellen Frage der Übersetzung. Gide selbst ist als Übersetzer für Conrad eingetreten, hat als Übersetzer mit Shakespeare sich auseinandergesetzt. Von seiner meisterhaften Übertragung von Antonius und Cleopatra wußten wir. Nun ist vor kurzem Pitoëff, der Direktor des Theatre de l'Art, mit der Bitte an ihn herangetreten, den Hamlet zu übersetzen. »Monate hat mich der erste Akt gekostet. Als er fertig war, schrieb ich an Pitoëff: Ich kann nicht mehr, es nimmt mich zu sehr hin.« »Aber Sie werden den Akt publizieren?« »Vielleicht, ich weiß es nicht. Augenblicklich ist er verloren. Irgendwo unter meinen Papieren in Paris oder Cuverville. Ich bin so viel auf Reisen, ich kann nichts ordnen.« Nicht ohne Absicht lenkt er nun das Gespräch auf Proust. Er weiß um das deutsche Übersetzungsunternehmen, kennt auch die dunklen Blätter in dessen Geschichte. Desto freundlicher seine Hoffnung auf deren günstigen Ausgang. Und weil es eine Erfahrung ist, daß bei allen, die sich näher mit Proust befaßten, diese Beziehung einen phasenhaften Verlauf nahm, so wage ich die Frage nach der seinen. Sie macht von diesem Gesetz keine Ausnahme. Der junge Gide ist Zeuge der unvergessenen Zeit gewesen, da Proust, der blendende Causeur, in den Salons aufzutreten begann. »Ich habe ihn, wenn wir uns in Gesellschaft begegneten, für den rabiatesten Snob gehalten. Ich glaube, er wird mich nicht anders eingeschätzt haben. Keiner von beiden ahnte damals die nahe Freundschaft, die uns verbinden sollte.« Und als dann eines Tages der meterhohe Stoß von Heften auf dem Verlagsbureau der NRF eintraf, war zunächst alles fassungslos. Nicht gleich wagte sich Gide in diese Welt zu versenken. Als er es aber begonnen, da erlag er ihrer Faszination. Seitdem ist Proust ihm einer der größten unter allen Bahnbrechern dieser jüngsten Eroberung des Geistes: der Psychologie.
Auch dies Wort wieder eine Tür zu einer der unabsehbaren Galerien, in deren Fluchten sich der Blick, wenn man mit Gide spricht, beinah zu verlieren droht. Psychologie die Ursache vom Untergang des Theaters. Das psychologische Drama sein Tod. Psychologie der Bereich des Differenzierten, Isolierenden, Dekonzertierenden. Das Theater der Bereich der Einhelligkeit, der Verbundenheit, der Erfüllung. Liebe, Feindschaft, Treue, Eifersucht, Mut und Haß – dem Theater sind das alles Konstellationen, absehbare, vorgegebene Aufrisse, das Gegenteil von dem, was sie der Psychologie sind, deren Einsicht in der Liebe Haß, im Mut Feigheit entdeckt. »Le théatre c'est un terrain banal.«
Wir kommen auf Proust zurück. Gide entwirft die nun schon klassisch werdende Schilderung von diesem Krankenzimmer, diesem Kranken, der da im ständig verdunkelten Gemach, das, um Geräusche abzuhalten, ringsum mit Kork ausgelegt, – selbst seine Fensterläden waren mit Polstern gefüttert – nur selten Besucher sah, auf seinem Bette, ohne Unterlage, von Haufen vollgekritzelten Papiers umtürmt, schrieb, schrieb, noch seine Korrekturen, statt sie zu lesen, mit Zusätzen überdeckte »bien plus que Balzac« (noch mehr als Balzac). Bei aller Bewunderung aber spricht Gide es aus: »Ich habe mit seinen Menschen keinen Kontakt. Vanité, – das ist der Stoff, aus dem sie gemacht sind. Ich glaube, in Proust hat vieles gelegen, was er nicht zum Ausdruck gebracht hat, Knospen, die sich nie haben erschließen können. In seinem späteren Werk hat eine gewisse Ironie die Oberhand über das Moralische und Religiöse gewonnen, das in den frühen Schriften vernehmbar ist.« Auch scheint es, als erkenne der Dichter eine von Ironie bisweilen verhüllte Zweideutigkeit des Proustschen Wesens in einem Grundzug seiner Technik, seiner Komposition. »Man spricht von Proust dem großen Psychologen. Gewiß, er war es. Wenn man aber so oft darauf hinweist, wie kunstvoll er es verstünde, den Wandel seiner Hauptfiguren in der Folge ihres Lebens darzustellen, so übersieht man vielleicht das Eine: Jede seiner Figuren, bis zur kleinsten herab, ist nach einem Modell gearbeitet. Dieses Modell aber blieb nicht immer dasselbe. Für Charlus zum Beispiel waren es sicher zumindest zwei; dem Charlus der letzten Epoche hat ein ganz anderer zum Vorbild gedient als dem stolzen der ersten.« Gide spricht von Surimpression, von einem »fondu«. Wie im Film verwandelt sich eine Person allmählich in eine andere.
»Ich kam«, sagt Gide am Ende einer Pause, »um eine conférence zu halten. Doch das Berliner Leben hat mir nicht Ruhe zu dem gelassen, was ich eigentlich vorhatte. Ich komme wieder. Dann werde ich meine conférence mitbringen. Aber heute schon möchte ich Ihnen über mein Verhältnis zur deutschen Sprache einiges sagen. Nach langer, intensiver und ausschließlicher Beschäftigung mit dem Deutschen – sie fiel in die Jahre meiner Freundschaft mit Pierre Louys, und wir lasen zusammen den zweiten Faust – habe ich zehn Jahre lang die deutschen Dinge links liegen gelassen. Das Englische nahm all meine Aufmerksamkeit gefangen. Im vorigen Jahr nun, im Kongo, schlug ich endlich wieder ein deutsches Buch auf, es waren die Wahlverwandtschaften. Da machte ich eine merkwürdige Entdeckung. Mit dem Lesen ging es nach dieser zehnjährigen Pause nicht schlechter, sondern besser. Es ist« – hier insistiert Gide – »nicht die Verwandtschaft zwischen Deutsch und Englisch, was mir die Sache leichter werden ließ. Nein, eben dies, daß ich von meiner eigenen Muttersprache abgestoßen hatte, das gab mir den Elan, mich einer fremden zu bemächtigen. Beim Sprachenlernen ist nicht das Wichtigste, welche man erlernt; die eigene zu verlassen, das ist ausschlaggebend. Auch versteht man sie im Grunde erst dann.« Gide zitiert einen Satz aus der Reiseschilderung des Seefahrers Bougainville: »Als wir die Insel verließen, gaben wir ihr den Namen Ile du Salut.« Und daran schließt er nun den wunderbaren Satz: »Ce n'est qu'en quittant une chose que nous la nommons.« (Erst dem, wovon wir scheiden, geben wir einen Namen.)
»Wenn ich«, so fährt er fort, »die Generation, die mir folgte, in Einem beeinflußt habe, so darin, daß nun die Franzosen beginnen, für fremde Länder und fremde Sprachen ein Interesse zu zeigen, wo früher Gleichgültigkeit, Indolenz herrschte. Lesen Sie den »Voyage de Sparte« von Barrès, und Sie werden wissen, wie ich es meine. Was Barrès in Griechenland sieht, ist Frankreich, und wo er Frankreich nicht sieht, da will er nichts gesehen haben. So sind wir denn unversehens bei einem der Gideschen Lieblingsthemen: Barrès. Seine Kritik der »Déracinés« von Barrès, die nun schon dreißig Jahre zurückliegt, war mehr als eine scharfe Ablehnung dieses Epos der Bodenständigkeit. Sie war das meisterhafte Bekenntnis des Mannes, der saturierten Nationalismus nicht gelten läßt und das französische Volkstum nur da erkennt, wo es den Spannungsraum der europäischen Geschichte und der europäischen Völkerfamilien in sich beschließt.
»Die Entwurzelten« – Gide hat nur liebenswürdigen Spott für eine dichterische Metapher, die so ganz an der wahren Natur vorbeigeht. »Ich habe immer gesagt, es ist schade, daß Barrès die Botanik gegen sich hat. Als ob der Baum sich beschränke, nicht vielmehr mit allen Ästen triebhaft ins Weite, in den Luftraum hinaus greift. Es ist ein Unglück, wenn Dichter nicht den leisesten Begriff von Naturwissenschaft haben.« Vor mir sitzt der Mann, der einmal geschrieben hat: »Ich will es nur noch mit der Natur zu tun haben. Ein Gemüsewagen befördert mehr Wahrheit als die schönsten Perioden des Cicero.« Auch jetzt hält dieser Bilderkreis den Dichter fest. »Ich sprach vorhin von Proust, wieviele seiner Knospen unentwickelt blieben. Bei mir war es anders. Ich will, daß alles, was ich mitbekommen habe, an den Tag kommt, seine Form finde. Das hat vielleicht einen Nachteil gehabt. Mein Werk hat etwas vom Gebüsch, aus dem nicht leicht meine entscheidenden Züge sich herauslösen. Hierin gedulde ich mich. ›Je n'écris que pour être relu.‹ (Ich schreibe nur, um wiedergelesen zu werden.) Ich zähle auf die Zeit nach meinem Tode. Erst der Tod wird die Figur aus dem Werk heraustreiben. Dann wird dessen Einheit unverkennbar werden. Allerdings: Leicht habe ich sie mir nicht werden lassen. Ich weiß, es gibt Dichter, die von Anfang an nur immer enger sich zu beschränken trachten. Ein Mann wie Jules Renard ist nicht durch Entfaltung, sondern durch rücksichtsloseste Beschneidung seiner Triebe zu dem gekommen, was er darstellt. Und das ist nicht wenig. Kennen Sie seine Tagebücher? Eines der interessantesten Dokumente ... Aber so etwas kann bisweilen skurrile Züge annehmen. Mir geht es ganz anders. Ich weiß, wie quälend meine erste Begegnung mit Stendhals Büchern ausfiel, wie feindlich mich diese Welt zuerst ansprach. Gerade deshalb fühlte ich mich von ihr passioniert. Später habe ich viel von Stendhal gelernt.« Gide ist ein großer Lernender gewesen. Vielleicht hat, wenn man näher zusieht, gerade das vor fremdem Einfluß ihn weit entschiedener bewahrt, als störrische Verschlossenheit es vermocht hätte. »Beeinflußt« ist am meisten der Träge, während der Lernende früher oder später dazu gelangt, Dessen sich zu bemächtigen, was am fremden Schaffen ihm das Dienliche ist, um es als Technik seinem Werke einzugliedern. In diesem Sinne gibt es wenige Autoren, die mehr und hingegebener lernten als Gide. »Ich ging in jeder Richtung, die ich einmal einschlug, bis zum Äußersten, um sodann mit derselben Entschiedenheit der entgegengesetzten mich zuwenden Zu können.« Dies grundsätzliche Verneinen jeder goldenen Mitte, dieses Bekenntnis zu den Extremen, was ist es anderes als die Dialektik, nicht als Methode eines Intellekts, sondern als Lebensatem und Passion dieses Mannes. Gide will mir, wie es scheint, nicht widersprechen, wenn ich den Grund für alles Unverständnis und für manche Feindschaft, die ihm begegneten, hier vermute. »Es gilt«, erklärt er weiter, »vielen für ausgemacht, ich könne immer nur mich selber zeichnen, und wenn dann meine Bücher die verschiedenartigsten Figuren ins Spiel setzen, dann schließt ihr Scharfsinn: Wie charakterlos, schwankend und unzuverlässig muß der Verfasser sein.«
»Integrieren«, das ist Gides denkerische und darstellerische Leidenschaft. Das wachsende Interesse an ›Natur‹ – als Lebensrichtung der Reife bei vielen Großen bekannt – will bei ihm heißen: Die Welt ist auch in den Extremen noch ganz, noch gesund, noch Natur. Und was ihn diesen Extremen zutreibt, das ist nicht Neugier oder apologetischer Eifer sondern höchste dialektische Einsicht.
Man hat von diesem Manne sagen können, er sei der »poète des cas exceptionels«, der Dichter der Ausnahmefälle. Gide: »Bien entendu, so ist es. Aber warum? Wir stoßen Tag für Tag auf Verhaltungsweisen, auf Charaktere, die durch ihr bloßes Dasein unsere alten Normen außer Kurs setzen. Ein großer Teil unserer alltäglichsten wie unserer außerordentlichsten Entscheidungen entzieht sich der überkommenen sittlichen Wertung. Und weil dem so ist, tut es not, solche Fälle zunächst einmal aufzunehmen, genau, ohne Feigheit und ohne Zynismus.« Was immer Gide zum Studium dieser Dinge in Romanen wie den »Faux-Monnayeurs«, in Essays, in seiner bedeutenden Autobiographie »Si le grain ne meurt« geschrieben hat, seine Gegner würden es ihm vergeben, wäre darin nur der kleine Schuß von Zynismus, der die Snobs und die Spießer mit allem aussöhnt. Was ihnen auf die Nerven geht, ist nicht die »Unmoral«, sondern der Ernst. Der aber ist Gide unveräußerlich bei aller Malice seiner Konversation und aller souveränen Ironie, wie sie im »Prométhée mal enchaîné«, in den »Nourritures terrestres«, in den »Caves du Vatican« zum Durchbruch kommt. Er ist, wie Willy Haas es dieser Tage aussprach, der für den Augenblick letzte Franzose vom Schlage Pascals. In der Linie der französischen Moralisten, die mit La Bruyère, La Rochefoucauld, Vauvenargues sich fortsetzt, ist ihm keiner verwandter als eben Pascal. Ein Mann, den sie im 17. Jahrhundert, wenn es die oberflächliche klinische Terminologie unserer Zeit schon gekannt hätte, ganz gewiß einen »cas particulier«, einen Kranken, genannt haben würden. Gerade damit steht Gide wie Pascal in der Reihe der großen Erzieher Frankreichs. Für den eigenbrötelnden, eingezogenen, verkauzten Deutschen wird immer das Vorbild, die erzieherische Figur schlechthin, der sein, der in Gestalt oder Lehre den deutschen Typus, wie heute Hofmannsthal und Borchardt es versuchen, herausstellt. Den Franzosen aber, die, im Volkscharakter reich und vielfältig nach Stämmen geschieden, in ihren nationalen und literarischen Tugenden stärker, prekärer als sonst ein Volk standardisiert sind, ist der große Ausnahmefall, der moralisch durchleuchtete, höchste erzieherische Instanz. Der ist Gide. Dies Antlitz, in dem bisweilen der große Dichter mehr sich verbirgt als verrät, kehrt unablenkbar seine drohend gesammelte Front der moralischen Indifferenz und dem laxen Genügen entgegen.
Es ist im allerersten Augenblick, als betrete man ein Aquarium. An der Wand des großen verdunkelten Saales zieht es, von schmalen Gelenken durchbrochen, wie ein Band hinter Glas erleuchteten Wassers entlang. Das Farbenspiel der Tiefseefauna kann nicht brennender sein. Aber was sich hier zeigt, sind oberirdische, atmosphärische Wunder. An monderhellten Wassern spiegeln sich Serails, Nächte in verlassenen Parks tun sich auf. Man erkennt im Mondlicht das Schloß von Saint-Leu, in welchem man vor hundert Jahren den letzten Condé erhängt an einem Fenster aufgefunden hat. Irgendwo brennt hinter Gardinen noch Licht. Dazwischen fällt ein paarmal breit die Sonne ein: im lautren Strahle eines Sommermorgens sieht man in die Stanzen des Vatikan, wie sie den Nazarenern erschienen sein werden; unweit baut sich das ganze Baden-Baden auf, und wenn die Sonne nicht so blendend schiene, könnte man unter seinen Puppen vielleicht im Maßstab 1:10 000 Dostojewski auf der Kasino-Terrasse erkennen. Aber auch Kerzenlicht kommt zu Ehren. Wachslichter umstellen im dämmernden Dom als chapelle ardente den ermordeten Herzog von Berry; und Ampeln in den Seidenhimmeln einer Liebesinsel beschämen beinahe die rundliche Luna.
Es ist ein Experiment ohnegleichen auf die »mondbeglänzte Zaubernacht« der Romantik. Siegreich geht ihre edle Substanz aus jeder sinnreichen Prüfung hervor, der man ihren spezifischen Gehalt an Poesie hier unterwarf. Man denkt fast mit Erschrecken an die Gewalt, die sie in roherem, massiverem Zustand in den Zauberbildern der Jahrmärkte, in den Dioramen gehabt haben muß. Oder war diese Aquarellmalerei (auf einem Papier, das, beschabt und berieben, an manchen Stellen ausgeschnitten und unterlegt, endlich mit Wachs überzogen wurde, um die gewünschte Lichtdurchlässigkeit zu erhalten) nie volkstümlich, eine zu teure Technik? Man weiß davon nichts. Denn diese vierzig Transparente stehen völlig vereinzelt da. Man kennt nichts Ähnliches und hat, bis sie vor kurzem in einer Erbmasse sich fanden, selbst von den gegenwärtigen nichts gewußt. Es handelt sich um die Sammlung, die ein reicher Liebhaber – der Urgroßvater ihres jetzigen Besitzers – zusammenbrachte. Jedes Stück wurde eigens für ihn gefertigt. Näher oder ferner sollen große Künstler, wie Géricault, David, Boilly damit befaßt worden sein. Andere Sachverständige sind der Meinung, daß Daguerre, bevor er sein berühmtes Diorama schuf (das 1839, nach siebzehnjährigem Bestehen verbrannt ist), an diesen Tafeln mitgearbeitet hat.
Ob hier die größten Künstler beteiligt sind oder nicht, ist nur für jenen Amerikaner belangreich, der früher oder später die anderthalb Millionen Franken, um die die Kollektion zu haben ist, bezahlt. Denn diese Technik hat mit »Kunst« im strengen Sinne nichts zu tun – sie gehört zu den Künsten. Sie hat irgendwo ihre Stelle in jener vielleicht nur provisorisch ungeordneten Reihe, die von den Praktiken der Vision bis zu denen des elektrischen Fernsehens reicht. Im 19. Jahrhundert, als die Kinder das letzte Publikum der Magie waren, zogen sich diese Künste ins Spielerische zusammen. Ihre Intensität ist damit nicht geringer geworden. Wer sich die Zeit nimmt, vor dem Transparent des alten Bades Contrexeville zu verweilen, dem ist, als sei er oft und oft vor hundert Jahren diesen sonnigen Weg zwischen Pappeln entlanggekommen, habe die steinerne Mauer dabei gestreift – bescheidene magische Effekte zum Hausgebrauch, wie man sie sonst nur in seltenen Fällen, an chinesischen Specksteingruppen oder russischer Lackmalerei, erfährt.
Zur Spielzeugausstellung des Märkischen Museums
Das Märkische Museum in Berlin veranstaltet seit einigen «Wochen eine Spielzeugausstellung. Sie nimmt nur einen mittelgroßen Saal ein; man ersieht daraus, daß es nicht auf die Pracht- und Monstre-Erzeugnisse – die lebensgroßen Puppen für Fürstenkinder, umfängliche Eisenbahnen, riesige Schaukelpferde – abgesehen ist. Gezeigt werden sollte, erstens was das Berlin des 18. und 19. Jahrhunderts an Spielwaren eigener Prägung erzeugt hat, zweitens aber wie um diese Zeit ein gut versehener Spielzeugschrank in der Berliner Bürgerwohnung mag ausgesehen haben. Man hat daher besonderen Wert auf Stücke gelegt, die nachweislich bis heute sich im Besitz alteingesessener Familien erhalten haben. Bestände aus Sammlerhand stehen in zweiter Reihe.
Um aber zunächst das Besondere dieser Ausstellung mit einem Wort auszusprechen: sie trägt nicht nur Spielzeug im engeren Sinne, sondern sehr viel aus dem Grenzland dieses Gebietes zusammen. Wer weiß, wo sonst noch so schöne Gesellschaftsspiele, Baukasten, Weihnachtspyramiden, Guckkästen sich drängen, ganz zu schweigen von Büchern, Bilderbogen und Tafeln für den Anschauungsunterricht. All dies oft entlegene Detail stellt ein lebendigeres Gesamtbild, als eine systematischer gefügte Ausstellung es zu geben vermöchte. Und dieselbe glückliche Hand wie im Saal ist im Katalog zu spüren: kein totes Verzeichnis von Ausstellungsgegenständen, sondern ein zusammenhängender Text voll präziser Nachweise zu den einzelnen Stücken, aber auch mit genauen Angaben über Alter, Herstellung und Verbreitung ganzer Gruppen von Spielwaren.
Unter ihnen wird wohl der Zinnsoldat, seit Hampe vom Germanischen Museum eine Monographie über ihn herausgab, für die genauest durchforschte gelten müssen. Vor reizvollen Hintergründen – Prospekte aus Berliner Puppentheatern – sieht man sie, aber auch andere bürgerliche oder bukolische Zinnfigürchen zu genrehaften Szenen angeordnet. In Berlin kommt ihre Fabrikation erst spät auf; im achtzehnten Jahrhundert war es Sache der Eisenwarenhändler, die süddeutschen Fabrikate bei sich zu verlegen. Hieraus allein ließe sich entnehmen, daß der eigentliche Spielwarenhändler erst nach und nach am Ende einer Periode strengster kaufmännischer Spezialisierung auftritt.
Seine Vorläufer sind einerseits die Drechsler-, Eisen-, Papier- und Galanteriewarenverkäufer, anderseits die Hausierer in Städten und auf den Jahrmärkten. Ja, eine ganz besondere Art von Spielfiguren steht in einer Nische mit der Aufschrift »Konditorwaren«. Da gibt es die aus »Hoffmanns Erzählungen« heut noch bekannte Puppe von Tragant neben parodistischen Denkmalsmotiven aus Zucker und altmodischen Lebküchlerformen. Aus dem protestantischen Deutschland ist dergleichen verschwunden. Dagegen kann der aufmerksame Reisende in Frankreich, ja in den stilleren Arrondissements von Paris zwei Hauptfiguren dieser alten Zuckerbäckerei ausfindig machen: Wiegenkinder, die den älteren bei der Ankunft von jüngeren Geschwistern geschenkt wurden, und Firmelkinder, die auf blau oder rosa gefärbtem Zuckerkissen, in den Händen Kerze und Buch, ihre Devotion, bisweilen vor einem Betstuhl aus gleicher Masse, verrichten. Die verspielteste Variante dieser Gebilde aber scheint heute verloren zu sein: das waren flache Zuckerpuppen, auch Herzen oder dergleichen, die sich leicht der Länge nach teilen ließen und in der Mitte, wo die beiden Hälften zusammengebacken waren, auf einem Zettelchen mit buntem Bild einen Spruch enthielten. Ein unzerschnittener Bogen mit solcher Konditordichtung ist aufgestellt. Da heißt es:
»Meinen ganzen Wochenlohn
Hab mit dir vertanzt ich schon«
oder
»Hier du kleine Lose,
Nimm die Aprikose.«
Solche lapidaren Zweizeiler hießen »Devisen«, weil die Figur in ihre Hälfte geteilt sein wollte, um sie zum Vorschein zu bringen. So lautet denn ein Berliner Inserat aus dem Biedermeier: »Bei dem Conditor Zimmermann in der Königsstraße sind feine Zuckerbilder von allen Sorten, wie auch von andern Sorten Confecturen, nebst Devisen um civilen Preiß zu bekommen.«
Man trifft aber noch auf ganz andere Texte. Natkes großer Bade-Bassin-Theater-Salon, Palisadenstr. 76 affichiert: »Unterhaltung durch Laune und anständigen Witz sind von allbekannter Güte.« Julius Lindes mechanisches Marionettentheater lädt zu seinen neuesten Produktionen folgendermaßen ein: »Der geschundene Raubritter oder Liebe und Menschenfraß oder Gebratenes Menschenherz und Menschenhaut... Zum Schluß großes Metamorphosenkunstballett worin mehrere ganz nach dem Leben tanzende Figuren und Verwandlungen durch ihre niedlichen, kunstgerechten Bewegungen das Auge des Zuschauers angenehm überraschen werden. Zum Schluß wird der Wunderhund Pussel sich sehr auszeichnen.« Tiefer noch als Puppentheater führen ins Geheimnis der Spielwelt die Guckkästen und dann die Dioramen, Myrioramen, Panoramen ein, zu denen die Bilder meistens in Augsburg verfertigt wurden. »Das hat man gar nicht mehr«, hört man oft den Erwachsenen sagen, wenn er alter Spielsachen ansichtig wird. Meist scheint es nur ihm so, er ist gleichgültig gegen diese Dinge geworden, dem Kind dagegen fallen sie auf Schritt und Tritt ins Auge. Hier aber angesichts der panoramatischen Spiele ist er ganz ausnahmsweise im Recht. Sie sind Hervorbringungen des 19. Jahrhunderts, vergingen mit ihm und bleiben an seine seltsamsten Züge gebunden. Altes Spielzeug wird heute unter vielen Gesichtspunkten wichtig. Folklore, Psychoanalyse, Kunstgeschichte, Neuformung haben an ihm einen dankbaren Gegenstand. Aber nicht dies allein wird Ursache sein, daß der kleine Ausstellungsraum nie leer wird und neben Schulklassen viele Hunderte von Erwachsenen ihn in den letzten Wochen durchstreiften. Auch die erstaunlichen primitiven Stücke tun es nicht, die freilich dem Snob allein schon genügen müßten, diese Veranstaltung zu protegieren.
Das waren nicht nur Hampelmänner, Wollschäfchen, denen man ihre Herkunft aus ärmlichen von industrieller Normierung lange unabhängigen Heimindustrien ansieht, nicht nur die Neuruppiner Bilderbogen mit den berühmten grellfarbigen Szenen, sondern daneben, um nur eins zu nennen, Anschauungsbilder, die vor kurzem auf dem Dachboden einer märkischen Schule gefunden wurden. Sie stammen von einem gewissen Wilke, einem taubstummen Lehrer, und sind für taubstumme Kinder gemacht. Ihre Drastik ist so beklemmend, daß der Normale vor Schrecken über diese atmosphärenlose Welt beim Betrachten beinahe Gefahr liefe, auf ein paar Stunden Stimme und Gehörsinn einzubüßen. Da ist bemaltes Schnitzwerk, das Mitte des vorigen Jahrhunderts ein Schäfer in der Altmark gemacht hat. Die Typen sind bald dem profanen, bald dem biblischen Leben entnommen und sind in allen Fällen Mitteldinge zwischen Miniaturmodellen von Personen des Strindbergschen Totentanzes und leblosen Stoffwesen, die auf den Jahrmärkten, im Hintergrunde der Wutbuden thronend, hölzernen Bällen zum Ziele dienen.
Dies alles, wie gesagt, ist Anreiz für die Erwachsenen, doch nicht der einzige. Nicht der entscheidende. Man kennt das Bild der unterm Weihnachtsbaum versammelten Familie, der Vater ganz ins Spiel mit einer Eisenbahn vertieft, die er dem Sohne eben geschenkt hat, während das Kind weinend daneben steht. Wenn solcher Drang zum Spielen den Erwachsenen überkommt, ist das kein ungebrochener Rückfall ins Kindliche. Freilich bleibt Spielen immer Befreiung. Kinder schaffen, von einer Riesenwelt umgeben, spielend sich ihre angemessene kleine, der Mann aber, den das Wirkliche ausgangslos, drohend umstellt, nimmt ihr durch ihr verkleinertes Abbild den Schrecken. Die Bagatellisierung eines unerträglichen Daseins hat an dem wachsenden Interesse, dem Kinderspiel, Kinderbücher mit dem Ausgang des Krieges begegneten, einen starken Anteil gehabt.
Nicht alle neuen Antriebe, die damals der Spielzeugindustrie zukamen, sind ihr von Nutzen gewesen. Die zimperliche Silhouette von lackierten Holzfiguren, die in einer der Vitrinen unter soviel alten Erzeugnissen die Moderne repräsentieren, stechen nicht zu ihrem Vorteil ab, stellen mehr dar, was Erwachsene sich gern unter Spielzeug vorstellen, als was das Kind vom Spielzeug verlangt. Es sind Kuriosa. Hier sind sie zu Vergleichszwecken nützlich, in der Kinderstube taugen sie nichts.
Fesselnder sind die älteren Kuriositäten, unter ihnen eine Wachspuppe aus dem 18. Jahrhundert, die ganz und gar wie eine heutige Charakterpuppe wirkt. Aber die Vermutung dürfte zu Recht bestehen, die mir gesprächsweise der Museumsdirektor Stengel, zugleich der Organisator dieser Sonderschau, mitteilte: daß man nämlich das Wachsporträt eines Babys in ihr zu sehen habe. Es hat sehr lange gedauert, bis man inne geworden ist, geschweige denn die Puppe es darstellte, daß es in Kindern nicht um Männer oder Frauen in verkleinertem Maßstab sich handelt. Bekanntlich hat selbst die Kinderkleidung sich erst sehr spät von der Erwachsener emanzipiert. Das hat das 19. Jahrhundert gebracht. Es könnte manchmal scheinen, als ginge das unsrige noch einen Schritt weiter und wolle Kinder, weitentfernt, als kleine Männer oder Frauen sie anzusprechen, selbst als kleine Menschen nur mit Vorbehalt gelten lassen. Man stieß auf die grausame, die groteske, die grimmige Seite im Kinderleben. Während lammfromme Pädagogen immer noch Rousseauschen Träumen nachhängen, haben Schriftsteller wie Ringelnatz, Maler wie Klee das Despotische und Entmenschte an Kindern begriffen. Erdenfern und unverfroren sind Kinder. Nach all den Empfindsamkeiten eines wiedererstehenden Biedermeier ist Mynona mit seinem Vorschlag aus dem Jahre 1916 mehr als je im Recht: »Sollen aus Kindern einmal ganze Kerle werden, so darf man ihnen nichts Menschliches verbergen. Ihre Unschuld sorgt schon unwillkürlich für alle nötigen Schranken: und später, wenn diese Schranken sich allmählich erweitern, trifft das Neue auf vorbereitete Gemüter. Daß die Kleinchen über Alles lachen, auch über die Kehrseiten des Lebens, das ist geradezu die herrliche Ausdehnung der strahlenden Heiterkeit auch über alles sonst so schnöde von ihr Verlassene und nur dadurch so Triste ... Wundervoll gelingende kleine Bombenattentate mit entzweigehenden, leicht heilbaren Prinzen. Warenhäuser mit automatisch funktionierenden Brandstiftungen, Einbrüchen, Diebstählen. Auf vielerlei Weise ermordbare Opfer und die zu ihnen gehörigen Mörderpuppen mit allen einschlägigen Instrumenten ... Guillotine und Galgen möchten wenigstens meine Kleinen nicht mehr missen.«
Dergleichen darf man hier freilich nicht suchen. Aber es ist eines nicht zu vergessen: die nachhaltigste Korrektur des Spielzeugs vollziehen nie und nimmer die Erwachsenen, seien es Pädagogen, Fabrikanten, Literaten, sondern die Kinder selber im Spielen. Einmal verkramt, zerbrochen, repariert, wird auch die königlichste Puppe eine tüchtige proletarische Genossin in der kindlichen Spielkommune.
Karl Kraus liest Offenbach. Statt der Orchestermusik läßt er einen Klavierauszug spielen, statt des französischen Textes hat er die Übersetzung von Treumann vor sich, statt eines Korps kostümierter Akteure stellt er sich selber im Straßenanzug. Und von sich selber nur Kopf und Arme und Rumpf. Das andere verschwindet hinter dem Tischchen, dessen Decke wie bei dem »stummen Diener«, vor dem die Zauberer manipulieren, auf den Boden herabreicht. Was er so grenzenlos entblößt von allen Mitteln, so ganz und gar sich selbst und nichts als sich der Sache widmend darstellt, ist unvergeßlich, und nie wiederkehrend in höherem Sinne als vor sechzig Jahren die Uraufführung im Théâtre du Palais-Royal es sein konnte. Nicht, daß hier einer der beseeltesten Sprecher die Stimme, einer der unermüdlichsten Geber die Hand, einer der mutigsten Menschenbändiger den Blick an Offenbachs Werk gewandt hat, bringt das Wunder dieses Abends zustande, sondern der Mann, der sein Lebenswerk, die ganze Folge der »Fackel«, Pandämonium und Paradies, deren Völker sich paaren, in den Reigen der Offenbachschen Gestalten entbietet, der beglückt sich auftut und um sie schließt.
Was auf dem Podium vorgeht, steht also völlig jenseits der verbohrten Alternative von produktiver und reproduktiver Leistung, die nur die mehr oder weniger eitlen oder servilen Manöver der Virtuosen betrifft. Kraus ist als Vortragender so wenig »Virtuose« wie als Autor ein »Sprachbeherrscher«. Er bleibt in beiden Fällen identisch: der Interpret, der den Schurken ertappt, indem er zwischen zwei roten Umschlagseiten – wie oft nicht wortlos – ihn nachdruckt, der ein Werk wie Offenbachs feenhaft ausstattet, indem er es spricht. Aber er spricht ja in Wahrheit nicht Offenbach; er spricht aus ihm heraus. Und dann und wann nur fällt ein atemraubender, halb stumpfer, halb glänzender Kupplerblick in die Masse vor ihm, lädt sie zu der verwünschten Hochzeit mit den Larven, in denen sie sich selber nicht erkennt, und nimmt auch hier sich das schreckliche Vorrecht des Dämons: Zweideutigkeit.
Offenbachs Werk erlebt eine Todeskrisis. Es zieht sich zusammen, entledigt sich alles Überflüssigen, geht durch den gefährlichen Raum dieses Daseins hindurch, und kommt, gerettet, wirklicher als vordem, wieder zum Vorschein. Denn wo diese wetterwendische Stimme laut wird, fahren die Blitze der Lichtreklamen und der Donner der Métro durch das Paris der Omnibusse und Gasflammen. Und das Werk gibt ihm dies alles zurück. Denn auf Augenblicke verwandelt es sich in einen Vorhang, und mit den wilden Gebärden des Marktschreiers, die den ganzen Vortrag begleiten, reißt Karl Kraus diesen Vorhang beiseite und gibt den Blick in sein und unser aller Schreckenskabinett mit einmal frei, auf Schober und Bekessy und auf die Mitte, wo er für diesen Abend, dieser Stadt zu Ehren, auf einem hohen Podium Alfred Kerr zeigt.
Hier sprengt er von Rechts wegen, vorbedacht, seinen Abend, stellt anarchisch in eine Atempause die kurze Ansprache ein, die den eben verklungenen Refrain: »Ich bring aus jeder Stadt den Schuft heraus« für Berlin exemplifiziert. Und damit betrifft er den Hörer nicht anders als mit den Texten selbst, nämlich immer unerwartet, immer zerstörend, einschlagend in die vorbereitete »Stimmung«, an nie betroffenen Stellen unberechenbar ihn packend. Darin ist er einzig und allein dem Puppenspieler vergleichbar. Bei ihm, nicht im Habitus des Operettenstars, liegt der Ursprung seiner Mimik und seiner Geste. Denn die Seele der Marionetten ist in seine Hände gefahren.
Keine unter Offenbachs Operetten ist so sehr Operette wie das »Pariser Leben«, nichts im »Pariser Leben« ist so sehr Paris wie die Transparenz dieses unsinnigen Nachtlebens, durch welches nicht zwar die logischen, aber die moralischen Ordnungen deutlich hindurchscheinen. Freilich erscheinen sie hier nicht richtend; sie tun es als Einspruch und Ausflucht, als List und Begütigung, mit einem Worte: als Musik. Musik als Platzhalterin der moralischen Ordnung? Musik als Polizei einer Freudenwelt? Ja, das ist das Geheimnis des Glanzes der über die alten Pariser Tanzböden, über die »Grande Chaumière«, den »Bal Mabille«, die »Closerie des Lilas« mit dem Vortrag dieser Operette sich ausgießt. »Und die unnachahmliche Doppelzüngigkeit dieser Musik, alles zugleich mit dem positiven und dem negativen Vorzeichen zu sagen, das Idyll an die Parodie, den Spott an die Lyrik zu verraten; die Fülle zu allem erbötiger, Schmerz und Lust verbindender Tonfiguren – hier erscheint diese Gabe am reichsten und reinsten entfaltet.« Die Anarchie als einzig moralische, einzig menschenwürdige Weltverfassung wird zur wahren Musik dieser Operette. Die Stimme von Karl Kraus sagt diese innere Musik mehr als daß sie sie singt. Schneidend umpfeift sie die Grate des schwindelnden Blödsinns, erschütternd hallt sie aus dem Abgrund des Absurden wider und summt, wie der Wind im Kamin, in den Zeilen des Frascata ein Requiem auf die Generation unserer Großväter.
Es steht etwas auf dem Spiel, wenn ein Unternehmen mit achtzehn Waggons sich auf die Reise begibt. Nach mehr als neunjährigem Bestehen, vielen Gastspielreisen kreuz und quer durch ganz Rußland, hat nun Granowskis Theater seine erste internationale Tournee angetreten. Von Berlin geht es nach Frankfurt, dann nach Paris, weiter nach London oder Skandinavien, nach Amerika und dazwischen wieder hierher zurück. Denn hier soll das ganze Repertoire dieser Bühne sich zeigen. Und dazu reichen vier Wochen nicht aus, so klein es auch ist. Mit seinen zehn Stücken wird es sogar das kleinste auf allen Bühnen Europas sein, welche zählen. Warum das ist, weswegen das den Stolz des Leiters ausmacht, werde ich am Ende unserer Unterhaltung mir selbst beantworten können. Denn ich nehme die ganze Geschichte dieser Bühne, eines bitteren Ringens und eines erstaunlichen Sieges, nach Hause. Und als Draufgabe die Bestätigung einer alten Wahrheit: der Meistbeschäftigte hat die meiste Zeit. Zwei Stunden lang sah ich ihn, als Quartiermeister einer ganzen Armee von Anliegen, Besuche, Telephongespräche, Korrespondenzen so unterbringen, daß jedem sein Recht wurde, keines am andern sich stieß. Vielleicht, daß alle Leidenschaften dieses Mannes restlos in seinem Werke aufgehen. Oder woher nun sonst die Gelassenheit seiner Geste, die wohltuende Ironie seiner Stimme auch kommen mag, es ist eine bestrickende Vorstellung, daß der Abdruck dieser schlichten, anonymen Person im Material seiner Bühne jene Welt pathetischer und exzentrischer Gruppen ergab, die an die Grenze von dem rührt, was Sinne erfassen, Nerven ertragen können. Es geht auch heute von ihm die gewinnende Ruhe aus, die vor anderthalb Jahren in seiner Moskauer Wohnung mich festhielt. Doch hatte ich damals von seinen Inszenierungen noch nichts gesehen, und sein Interesse für die ersten Moskauer Impressionen des Gastes mag präziser gewesen sein, als meines für ein jiddisches Theater, das mir damals nur ein vager Begriff war. Danach geriet auch unsere Unterhaltung, als wir an der langen weißgedeckten Tafel vor dem Samowar, den Schüsseln mit Äpfeln und Kuchen saßen.
Was ich damals versäumte, verspreche ich mir durch verdoppelte Gewandtheit heut nachzuholen. Eine Bühne wie Granowskis, sage ich mir, ist nur aus dem geschichtlichen Zusammenhang des jiddischen Theaters überhaupt verständlich. Nichts angemessener, als Herrn Granowski nach seiner Stellung zum älteren jiddischen Theater, seinem Aufstieg in dessen Schule zu fragen. Gesagt, getan. Granowski: »Ich habe nie ein jiddisches Theater gesehen.« Ich: »Sie haben also zuerst an einer russischen Bühne gespielt?« Granowski: »Ich bin nie Schauspieler gewesen.« – So ist es: wie aufgeschlossen, vorurteilslos man meint, in solche Unterredung einzutreten, so ungeschickt fällt man denn doch mit schnellfertigen Phantasien, voreiligen Hypothesen zur Türe herein. Ich sehe, es ist besser, Granowski erzählen zu lassen.
»Mein Ensemble ist aus einer Schauspielschule hervorgegangen. Im Jahre 1919 forderte Grimberg, ein Kommissar unter Lunatscharski, mich auf, eine Schule für jiddische Schauspieler zu eröffnen. So bin ich an das Jiddische herangekommen. Nicht programmatisch, auch nicht als Akteur, sondern von Anfang an als Lehrer und Regisseur. Die Truppe, die sich bildete, hat natürlich nicht damals schon den scharf umrissenen Charakter gehabt, den sie heute besitzt. Vor allem hat sie ihr Gebiet: das satirisch-groteske Volksstück sozusagen in sich selbst erst entdecken müssen. Das erste Drama, das bei uns gegeben wurde, lag davon so weit ab wie nur möglich. Und dennoch war es keine Willkür, kein Zufall, und es handelte sich dabei um die gleichen gestaltenden Grundsätze, die es auch heute bestimmen. Es waren »Die Blinden« von Maeterlinck. Hier glaubte ich Wesen und Aufgabe meiner Regie am sinnfälligsten entwickeln zu können. Nämlich: Bewegung aus der Ruhe hervorgehen zu lassen, Ruhe, die statuarische Position, als das ursprünglich Gegebene anzusetzen, sie aber mit allen Energien so zu laden, daß jeder musikalische Umschlag der Stimmung das Höchstmaß ausdrucksvoller Bewegung aus ihr herausfahren läßt. Und das gleiche gilt für das Wort; denn was im mimischen Zusammenhange die Ruhe ist, ist im sprachlichen Zusammenhange das Schweigen. Wenn mich also an diesem Einakter etwas anzog, so war es sein Reichtum an statuarischen Momenten. Aber das Publikum, das natürlich von alledem nichts begriff und nichts wissen konnte, war fassungslos, gerade dieses Drama von einer jiddischen Truppe zu sehen und blieb, noch auf lange hinaus, ablehnend.«
Oft hat Granowski in den ersten Jahren vor zwei oder drei Zuschauern gespielt, und auch diese haben gepfiffen. Später, als das Theater sein gültiges Genre, seine Form längst gefunden hatte, war noch immer jede Premiere für die Parteigänger und Gegner die Gelegenheit, sich erbitterte Schlachten zu liefern. Die Presse hat in ihren maßgebenden Organen Granowski erst dann gestützt, als mit dem großen Erfolge der »Hexe« – dem ersten Stück, das es auf eine ununterbrochene Folge von 100 Aufführungen gebracht hat –, sein Sieg erklärt war. Das war der äußere Wendepunkt in der Geschichte dieser Bühne. Der innere aber lag um Jahre zurück. Es war die Aufführung der »Agenten« von Scholem Aleichem. Aus den Figurinen dieser Komödie haben sich unter Granowskis Händen im Laufe der Zeit alle die Typen herausgebildet, die heut das unwiderstehliche Geisterheer dieser Szene bilden. Hier erst wurde Granowski entscheidend deutlich, daß, wie er selbst es ausdrückt, nur auf dem Umweg über das Negative – über Satire und Groteske – zu den gültigen, lebendigen Formen der jiddischen Bühne sich vordringen ließ, will sagen, den einzigen, die vermögend sind, einer Masse sich einzuprägen und eine Masse sich zu gewinnen.
In neueren Debatten über Theater spielt das »Dynamische« bekanntlich eine große Rolle. Grund genug, den Begriff mit Vorsicht zu handhaben. Das scheint auch Granowskis Meinung zu sein. Jedenfalls tritt das skeptische, verschleiernde Lächeln, das immer in seinen Zügen auf der Lauer liegt, deutlicher heraus, als er in Erwiderung auf eine Frage bemerkt: »Und wo ist denn das russische Theater dynamisch? Ist es Ihnen so vorgekommen? Meyerhold ist doch etwas ganz anderes; will zumindest, wenn Sie ihn fragen, nicht menschliche Dynamik, sondern das kommende, im Rhythmus der Maschinen bewegte und handelnde Kollektivum. Und kann denn überhaupt der Slawe das Dynamische sich zum eigentlichen Element machen? Sein nächster Ausdruck ist das Zögern, das Hinziehen, das Schwellenlassen und das Verebben, nicht das Explosive, Unabsehbare, Jähe.« Wenn er mit diesen Worten gegen Meyerhold sich abzugrenzen scheint, so kommt ihm darum nicht weniger die Frage, die sich an dieser Stelle mir aufdrängt, bedenklich und schwierig vor. »Worin sehen Sie nun, Herr Granowski, was allen maßgebenden russischen Bühnen gemeinsam ist, und worin scheinen sie Ihnen spezifisch verschieden?« Es ist keine diplomatische Ausflucht, wenn der Gefragte mir mit dem Hinweis auf die innige Symbiose antwortet, in der die führenden. Moskauer Theater – Meyerholds, Tairoffs, Stanislawskis, sein eigenes – miteinander leben, sondern es ist der Ausdruck vom Leben und Reichtum einer Epoche, der die tägliche Arbeit und der öffentliche Anteil viel zu viel neue, bezwingende Gedanken zutragen, als daß von diesen Instituten irgendeines sich in der Abwandlung einer erschöpfenden Formel genugtun könnte.
Würde man aber Granowski ein letztes Wort zu alledem abdringen wollen, um zu erfahren, worin er die Spannkraft seiner Arbeit und die Dauer seines Werkes verbürgt sieht, so würde er sein pädagogisches Wirken an die entscheidende Stelle rücken: Dies Ensemble, das in fast zehnjähriger Arbeit geschaffen wurde, in Jahren aber, deren Arbeitstag 18 bis 20 Stunden hatte. Und es ist wohl nicht das allein; sind es doch auch die blutgetränkten, schrecklichen Jahre des russischen Umsturzes und des Wiederaufbaus, in die die starken Wurzeln dieser Pflanzschule hinabreichen. »Meine Schauspieler«, sagt Granowski, und sagt es zu ihrer Ehre, »würden an keinem anderen Theater ankommen. Sie müßten denn erst zwei Jahre lernen (oder verlernen). Zwischen uns bedarf es, um das ganze Gesicht eines Auftritts zu ändern, oft nur eines Winks, den ein Dritter vielleicht gar nicht bemerken würde. Käme heute ein anderer Regisseur, meine Schauspieler würden ihn nicht verstehen. Mich verstehen sie und wissen sich auch durch mich verstanden. In unserem Ensemble haben wir jeden einzelnen unter die Lupe genommen, haben ihn durch und durch studiert. Jede seiner Rollen ist eine Funktion seiner Stellung im Kollektiv, und beruht auf einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Stück.« (Daß dieses Stück den gegebenen Text nur als Schema, als Libretto behandelt, teilt Granowskis Theater mit allen führenden Bühnen Rußlands.) »Weil dem so ist, haben wir keine Emploi-Schauspieler. Darum können, ja müssen wir auch auf Stars verzichten. Darum sind wir aber auch nicht sklavisch an ein mehr oder weniger ›Talent‹ im einzelnen Schauspieler gebunden, können uns gestatten, neben der ursprünglichen Begabung die unbedingte Gewalt in Anschlag zu bringen, die das Ensemble auf den Einzelnen übt. Ich glaube, die durchschnittliche Begabung meiner Schauspieler ist geringer als die eines ersten Berliner Saison-Ensembles. Aber der Einzelne ist bei uns Mensch, ehe er Schauspieler ist. Wir ziehen ihn mit all seinen Kräften, nach seinem ganzen Wesen in unsere Arbeit hinein. Darum ist auch der Eintritt eines ›Neuen‹ ein so großes Ereignis.«
Daß diese außerordentliche Epoche, eines der reichsten Jahrzehnte in der Geschichte des Theaters, keinen ebenbürtigen Kritiker, ja nach seiner Meinung kaum einen begabten gefunden hat, das ist nach Granowskis Überzeugung der tiefste Schatten im gegenwärtigen russischen Theaterleben. Von den großen Rezensenten des zaristischen Rußland lebt der eine im Irrenhaus, der andere ist zu alt, um den heutigen Kämpfen folgen zu können. Deren Bild wird für die Nachwelt verloren sein. »Es sei denn«, wende ich ein, »daß wir von dem und jenem der Führer später einmal Memoiren erwarten dürfen.« Und über dieser Aussicht nehmen wir lächelnd Abschied.
Vor sieben Jahren hat Bragaglia in Rom sein Teatro degli Indipendenti gegründet. Dieses Theater ist in Italien die einzige Bühne, die aus der Umstellung des europäischen Bewußtseins in den Jahren 1918 bis 1920 die Konsequenzen gezogen hat. Mit ihr hat der Futurismus auf der Bühne Fuß gefaßt. Bragaglias Studio begann mit einem kleinen Ensemble von Studenten und Professoren und ist heute die maßgebende, als solche staatlich unterstützte, Bühne Italiens. Also auch bei Bragaglia die Emanzipation des Regisseurs vom Berufsschauspieler. Und das ist nicht die einzige Position, die er mit seinen führenden deutschen und russischen Kollegen gemein hat. Da ist vor allem das gesunde Mißtrauen gegen den Dichter, besser gesagt, den Textlieferanten der bürgerlichen Bühne. »Unser Theater«, erklärt mir Bragaglia, »befindet sich in ständiger Alarmbereitschaft, um der Invasion der Stückeschreiber sich zu erwehren. Der Grund für deren Attacken liegt nicht fern. Bei uns ist die Stellung der dramatischen Autoren so stark, daß sie auch bei einem Fiasko noch ihre Geschäfte machen: mit sieben Durchfällen pro Jahr können sie immer noch siebentausend Lire erzielen.« Bei dieser seiner skeptischen Einstellung zum dramatischen Dichter ist doppelt bemerkenswert, daß Bragaglia dennoch mit den Stücken, die er herausbringt, sich keinerlei Freiheiten nimmt, im Gegensatz zu jener russischen Praxis, die mehr und mehr auf die deutsche wirkt. Darum ist er doppelt auf literarisch und dramatisch wertvolle Arbeiten angewiesen. Um solche unter unserer neuesten Produktion ausfindig zu machen, ist Bragaglia hierhergekommen. Daß er sich dabei auch in den Theatern umgesehen hat, ist selbstverständlich. Beinahe ebenso selbstverständlich, daß sein Hauptinteresse von Piscator in Anspruch genommen wurde. »Eine Sackgasse, aber eine schöne«, wie er mir sagt. Bragaglias Einschränkungen beziehen sich auf Piscators politische Fundamente. »Er macht die Technik zum Mittel der Politik, während ich sie in die Dienste der Kunst stelle. Er zersetzt seine Texte durch die technischen Mittel, mit denen er sie zur Darstellung bringt, durchkreuzt sie gewissermaßen, während ich mich bemühe, den transparenten technischen Überbau über dem unverletzten Text zu errichten.« Bragaglia hat Filme gedreht, macht aber als Bühnenregisseur keinen Gebrauch vom Film. Dagegen hat er eine Anzahl höchst interessanter Neuerungen in die Bühneneinrichtung eingeführt. Abgesehen von komplizierten szenischen Dispositionen stammt von ihm der Gedanke der beweglichen Maske. Über das Gesicht des Schauspielers legt sich eine genau nach Maß verfertigte Kautschukhülle, in der das Mienenspiel sich lebendig ausprägt, der Schauspieler selbst aber von seinem empirischen Ich isoliert und in den höheren Wirkungsraum erhoben wird, den nur die Maske erschließt. Deutschland hat allen Grund, auf die Versuche dieses ernsten, fanatischen, bis ins Utopische sich selber treuen Künstlers aufmerksam zu sein. In der letzten Zeit sind Tieck, Büchner, Wedekind, Kaiser usw. über seine Bretter gegangen. Das deutsche Drama hat seit langem keinen besseren Sachwalter in Italieh gehabt.
Eine Chinoiserie aus dem alten Westen
May Wong – der Name klingt farbig gerändert, markig und leicht wie die winzigen Stäbchen es sind, die in einer Schale Tee sich zu mondvollen duftlosen Blüten entfalten. Meine Fragen waren das laue Bad, in dem die Schicksale, die er verschloß, ein weniges von sich preisgeben sollten. Wir bildeten, in diesem gastlichen Berliner Haus, eine kleine Gesellschaft, die um den niedrigen Tisch sich versammelt hatte, diesem Vorgang zu folgen. Aber wie es im Ju-Kia-Li heißt: »Unnützes Geplauder über die Angelegenheiten der Leute vereitelt wichtiges Beraten.« Erst kam einmal eine Weile lang nichts, und wir hatten Zeit, uns voneinander ein Bild zu machen: die menschen-erfahrene, lenkende Bewohnerin dieser Zimmer, die uns die letzten Stunden vor ihrer Abreise hatte schenken wollen (»Man begegnet einem Menschen, man bittet um einen Dienst; ist er einem gefällig, so wird man sein Freund«), der Romancier, der nachher May Wong gefragt hat, ob sie ihre Rollen vor einem Spiegel einübt, der Zeichner, der May Wong von links und die amerikanische Journalistin, die sie von rechts gezeichnet hat und Annes Schwester, die sie in Europa begleitet. Die beiden sind ganz allein von Amerika herübergekommen, und als sie auf dem Hamburger Bahnhof standen, blieb ihnen nichts übrig, als aufzuhorchen, in welcher der vielen Gruppen das Wort »Berlin« fiel und der zu folgen. So verlassen waren sie noch. Inzwischen ist das Gegenteil ihre Sorge geworden. May Wong steht, wie man weiß, im Mittelpunkt des großen Films, der jetzt unter Eichbergs Regie gedreht wird. Über diesen Film erfahren wir natürlich nur wenig. »Aber die Rolle«, sagt sie, »ist vollendet, ist Meine Rolle wie noch keine bisher.« Vollmoeller hat sie eigens für sie geschrieben. Und weil dem so ist, wird es viel Leid und Mißgeschick geben, denn sie liebt die traurigen Szenen. Ihr Weinen ist unter den Kollegen berühmt. Man fährt nach Neubabelsberg heraus, um es zu sehen. Nun errate ich schon, daß ihr ungetrübtes, heiteres Sichgeben nicht trügt, und daß, je inniger ihre Vorliebe für das Traurige, desto ausgeglichener und heiterer ihr Alltag ist. Ihre Schwester kann es bestätigen. Diesem braven, gesunden Mädchen, das bei allem Charme so ernst und kameradschaftlich blickt, als hätte ihr das Leben schon mehr als ein Geständnis gemacht, merkt man vom Filmstar nichts an.
»Ein volles Antlitz wie Frühlingswind,
Rundlich und friedlich gestimmt«
wie es im fünften Hauptstück des Dschung-Kuei heißt. Darum liebt sie es, ihre traurigen Szenen in reifen, gewichtigen Rollen zu haben. »Ich will nicht immer flappers spielen. Am liebsten Mütter. Schon einmal, mit fünfzehn Jahren, spielte ich eine Mutter. Warum nicht? Es gibt so viele Mütter, die jung sind.« Sie wird, so sage ich mir, von selber und desto lieber auf das kommen, was wir von ihr erfahren wollen, je geschickter ich abzulenken verstehe. »Studieren« – wie es so schön im »Götz« heißt, als sie Konversation machen wollen – »Studieren jetzt viele Deutsche von Adel zu Bologna?« Oder: »Lieben die Chinesen den Film? Gibt es chinesische Regisseure? Filmt man in China?« Gewiß filmt man. Natürlich lieben sie ihn. Gibt es irgendein Volk auf der Erde, das dem Film, in Liebe oder Angst, sich entziehen könnte? Nur haben sie in China leider zu spät begonnen, zumindest wenn man dem Eindruck von dem traut, was kürzlich als »erster chinesischer Film« in Paris gezeigt wurde. Die »Rose von Pu-Chui« ist eine Arbeit, in der die skrupellosesten amerikanischen Regiemethoden sich an jener unendlich subtilen Materie vergangen haben, die die mongolische Mimik für den Film darstellt. Nur ein Dilettant könnte wagen, das Unverwechselbare dieser Mimik und worin sie der Filmdarstellung entgegenkommt, in ein paar Schlagworten unterzubringen. Immerhin – mag es nun die Verhaltenheit, die Geschwindigkeit, der schnelle Umschlag ins Lächeln, die jähere Veränderung im Schrecken sein – in Europa ist das Auftreten des japanischen Schauspielers Sessue Hayakawa noch heute, nach zehn Jahren, nicht vergessen. Sein Spiel hat Schule gemacht. Desto befremdlicher ist, wie lange es dauerte, bis in Amerika die Chinesin zum Filmen zugelassen wurde oder sich entschloß. May Wong kann sich ihr Dasein ohne den Film nicht mehr denken, und als ich frage: »Nach welchem Ausdrucksmittel würden Sie greifen, wenn Ihnen nicht der Film zur Verfügung wäre?«, ist ihre einzige Antwort »touch wood«, und die ganze Runde hämmert lustig auf unser Tischlein. – Aus Frage und Antwort macht sich May Wong eine Schaukel: sie legt sich zurück und taucht auf, versinkt, taucht auf, und ich komme mir vor, als gäbe ich ihr von Zeit zu Zeit einen Stoß. Sie lacht, das ist alles. Ihr Kleid würde sich gar nicht schlecht zu solchem Gartenspiel eignen: dunkelblaues Kostüm, hellblaue Bluse, gelbe Kravatte darüber – man möchte einen chinesischen Vers dafür wissen. Diese Kleidung hat sie immer getragen, denn sie ist ja nicht in China sondern in Chinatown von Los Angeles geboren. Wenn aber ihre Rollen es mit sich bringen, nimmt sie alte nationale Trachten gern an. Ihre Phantasie arbeitet freier darinnen. Ihr Lieblingskleid ist aus der Hochzeitsjacke ihres Vaters geschnitten, und das trägt sie auch bisweilen im Hause. Damit sind wir denn zurück von »Bologna« und wieder in Hollywood. Als ihr zum erstenmal der Vorschlag gemacht wurde zu filmen, kam es ihr komisch vor, sie glaubte nicht recht daran. Natürlich war, was ihr zufiel, nur eine kleine Statistenrolle. Aber wir stellen uns die fieberhafte Erregung vor, mit der sie bei der Erstaufführung sich auf der Leinwand suchte und die grenzenlose Enttäuschung, als es vergeblich war. Sie hatte sich beim Spiel solche Mühe gegeben. Denn von früh auf hat der Film sie interessiert. Sie erinnert sich noch heute an das erste Mal, da sie ein Kino betrat. Wegen einer Epidemie war schulfrei. Von dem Taschengeld kaufte sie ein Billett. Kaum war sie wieder zu Hause, so probte sie vor dem Spiegel alles, was sie gesehen hatte. Denn, so sagt es die Geschichte von den zwei Basen im Kapitel vom Abzug des Kranichs und der Rückkehr der Schwalbe: »Die Laufbahn in der Welt ist eine Sache, der man frühzeitig seine Gedanken zuwenden muß.« Lange blieb sie dem Spiegel treu. Einmal kam die Mutter dazu: ihre Leidenschaft wurde entdeckt, und es endete nicht ohne Schelten. Jetzt gebraucht sie längst keinen Spiegel mehr. Keinen gläsernen Spiegel und auch den papiernen Zerrspiegel nicht, den ihr die öffentliche Meinung entgegenhält. Freundliche und unfreundliche Kritiken sagen ihr wenig. »Denn«, diese chinesische Sentenz stammt von ihr selber, »die Wahrheit hört man, wenn sie bitter ist, nur von Feinden. Ich möchte auch die bittere Wahrheit von Freunden hören.« »Haben Sie Vorbilder, Lehrer?« »Nein. Es gibt Schauspielerinnen, die ich bewundere, Pauline Frederik zum Beispiel. Aber das einzige Mal, daß ich eine Geste einer anderen absah, geschah das, nach der allgemeinen Überzeugung von Hollywood, an der dümmsten, unbegabtesten Schauspielerin, die wir da hatten.« Wir sind längst ins andere Zimmer hinübergewechselt. May Wong hat ihre liegende Lage schnell wiedergefunden. Sie scheint sich hier wohl zu fühlen, löst ihr langes Haar und frisiert es zu den »im Wasser sich tummelnden Drachen« (streicht's in die Stirn). Genau in deren Mitte schneidet es mit einer Schwingung ein wenig tiefer ein und macht ihr das herzförmigste aller Gesichter. Alles was Herz ist scheint sich in dessen Augen zu spiegeln. Ich weiß, ich werde sie wiedersehen, in einem Film, der dem Gewebe unserer Zwiesprache ähnlich sein möge, von der ich mit dem Verfasser des Ju-Kia-Li sage:
»Das Gewebe war göttlich angelegt,
Aber das Gesicht war noch feiner.«
Epilog zur Berliner Ernährungsausstellung
Wenn die Neapolitaner Piedigrotta gefeiert haben, so zieht an einem der Tage, die dem 8. September folgen, ein Herold durch die Stadt, der in allen großen Straßen verkündet, wieviel Schweine, Kälber, Ziegen, Hühner, wieviel Eier und wieviel Tonnen Wein dies Jahr von den Bewohnern in der Festnacht bewältigt wurden. Mit Spannung wartet das Volk auf den Augenblick, wo es erfahren soll, ob es den früheren Rekord gebrochen hat oder nicht. Wie ein weit aufgerissenes Heroldsmaul, eine herrliche, unverschämte, schallende Schnauze war diese Ausstellung. Wir haben mit rätselhaftem Vergnügen erfahren, was von der Menschheit bis zur Stunde in Sachen der Fresserei ist geleistet worden. Und zwar wie jener Piedigrottaherold so hielt auch dieser Riesenmund hinter der Schallmaske Berlin sich an die Volksmassen. Es ist ihm hoch anzurechnen, daß vom ausgefallenen privaten Tafelluxus fast nirgend die Rede war und diese ganze reiche, witzige, tönende Proklamation zu Ehren der Hausmannskost aller Länder, Zeiten und Völker erging.
Popularisierung war noch vor wenigen Jahren ein bedenkliches Grenzland der Wissenschaft, ein Tätigkeitsgebiet freudloser Missionare. Seit kurzem hat sie mit Hilfe der großen Ausstellungen, das heißt aber mit Hilfe der Industrie, sich emanzipiert. In der Tat: die außerordentlichen Verbesserungen, die in die Technik der Veranschaulichung eingeführt wurden, sind nur die Kehrseite derer in der Reklame.
Ausstellungen wie diese sind die vorgeschobensten Posten auf dem Terrain der Veranschaulichungsmethoden. Und da der Golem Industrie sie erobert hat, so ist nicht zu verwundern, daß er an Ort und Stelle allerlei Unschönes zurückließ. In diesem Fall vor allem leere Malzbier-Flaschen. Er hat daraus einen fragwürdigen Riesenbaum gemacht, der im Spalier an einer Hallenwand sich hochrankt. Anderswo zeugt ein buddhistischer Reistempel, ausgeführt im besten Kolonialwarenstil, von seinem Wirken. Auch sonst stößt man ununterbrochen auf Riesenspuren; mannshohe Opferbrote auf dem Altar der Statistik oder ein ungeheurer geöffneter Schlund, angeblich Modell eines gähnenden Mundes, in Wahrheit den pantagruelischen Schaugerichten geöffnet: der »Walfischpastet mit Schuppen und Flossen« und der »Hohen Turm Dorten«, die Aschinger nach mittelalterlichen Rezepten erstehen ließ. Was diese Dinge für die Wissenschaft bedeuten, weiß ich nicht. Wohl aber, was sie den Kindern sagen. Es gibt in diesen Hallen kaum einen Stand, vor den man nicht mit ihnen hintreten könnte. Hier huldigt die Doppelmonarchie der Riesen und der Zwerge, die von dem Kind in Personalunion regiert wird, ihrem Fürsten. Neben der Riesenmitgift stehen, unzweideutiger und versöhnlich, die Spielmodelle: kleine Pasteten- und Fleischküchen, winzige Kabinette, in denen die großen Physiologen Sanctorius, Lavoisier, Liebig, Pettenkofer im Puppenstande ihres Amtes walten, transparente Nordlandsküsten mit ihren Dorschfängern und nimmermüde Arbeitspuppen, die aus den verspielten mechanischen Bergwerken in der Flasche in ein didaktisches Jenseits versetzt scheinen.
Die Masse will nicht »belehrt« werden. Sie kann Wissen nur mit dem kleinen Chock in sich aufnehmen, der das Erlebte im Innern festnagelt. Ihre Bildung ist eine Folge von Katastrophen, die sie auf Rummelplätzen und Jahrmärkten in verdunkelten Zelten ereilen, wo ihnen Anatomie in die Glieder fährt, oder in der Manege, wo mit dem ersten Löwen, den sie zu sehen bekommen, sich unauslöschlich das Bild des Dompteurs verbindet, der ihm die Faust in den Rachen steckt. Es braucht Genie, die traumatische Energie, den kleinen spezifischen Schrecken derart aus den Dingen herauszuholen. Unaufhörlich müssen unsere Ausstellungsleiter vom fahrenden Volk, dem unerreichten Meister dieser tausendfältigen Kunstgriffe, lernen.
Hier hatten sie es getan. Hier gab es ein Gemüseorakel, ein vegetarisches Delphi, dessen Hebel man nur auf einen bestimmten Monat zu stellen hatte, um in farbigen Transparenten den kommenden Küchenzettel gewahrsagt zu sehen. Hier konnte man in eine schwüle Finsternis tauchen, in die vom Weltall nichts mehr hereinschien als ein Vorgang, der »Vom Atlantischen Ozean bis zum Spickaal« führt. Daneben öffnete sich der Schlund eines Hades, dessen Lethe »Vom Urwald bis zum Kaffeetisch« als ein brauner Strom sich dahinzog. Hölzerne Landkarten sah man prangen, auf denen aufglühende und erlöschende Lämpchen die Flurbestellung im Wechsel der Jahreszeiten und den Stoffwechsel im menschlichen Körper markierten. Ihr Rot war das der Liebesthermometer, in denen Weingeistsäulen auf und nieder steigen und ihr überstürzter Takt derselbe, mit dem in Schießbuden die Jäger, Teufel, Schwiegermütter im Augenblick des tödlichen Schusses ins Leben treten.
Erscheinungen des kulinarischen Jenseits: Die Tafelfreuden der Abgeschiedenen. Ägypter, Griechen, Römer, Germanen der Frankenzeit, Italiener der Renaissance speisen in erleuchteten Nischen und nehmen wie Geister, wenn sie sich um Mitternacht zum Mahl versammeln, nichts zu sich. Oder das christliche Jenseits der Säuglingspflege: Im Vordergrunde die guten Schwestern. Sie prüfen die Wärme der Flaschen, verkosten einen Tropfen auf ihrer Hand, halten das Kind auf die rechte Art und reinigen die Flasche. Ihre ungezählten Tugenden ließen nur in einem Lehrgedicht sich beim Namen nennen. Im Hintergrunde, von schwülem Schwefelrot, sie und die armen Kinder, die sie warten, übergössen, die schlechten Pflegerinnen. Sie setzen die Flasche an den eigenen Mund, halten das trinkende Kind nach unten, schwatzen dabei mit einer anderen Verdammten und gewähren ein Bild, bei dem dem Satan das Herz im Leibe lacht.
Auf einem Sockel eine herrliche Alpenlandschaft. Die Unterschrift aber lautet: Das Verschwinden des Sommergipfels der Säuglingssterblichkeit. Ganz im Hintergrunde die steile Julihöhe der Todesfälle aus irgendeinem grauen Vorkriegsjahr. Dagegen abgesetzt, in Schichten, immer neue Gebirgsketten mit absinkenden Gipfeln, ein Höhenzug, der sich gegen die Ebene des platten Staunens verliert, die im Beschauer ihn aufnimmt. Wenn er langsam zu sich selber kommt, wundert ihn nur noch, nirgends den medizinischen Hochtouristen, die dieses Matterhorn der Statistik bezwungen haben, als kletternden Püppchen auf dem Massiv zu begegnen. Und unmittelbar daneben ein neues, gleich unerhörtes topographisches Gebilde: die Beförderurigslandschaft. Ein Milchtransport ist unterwegs vom Produzenten zum Verbraucher. In der oberen Hälfte des Schreins mit endlosen Zwischenstationen. Daher mußte die Milch für den Transport sterilisiert werden. Wertvolle Vitamine gingen verloren. Über dem reizlosen Flachland schweres Gewölk und ein Regenbogen. In der unteren Hälfte der Vitrine jedoch durchschneidet ein schnelles Auto ohne Zwischenstationen eine fruchtbare Ebene, über der ein wolkenloser Himmel sich ausspannt. Wie weit liegen die trockenen Aufrisse der älteren Statistik mit ihrer unschönen Linienwirrnis hinter uns. Die ganze Erde mit Busch und Baum und Feld und Haus und Hof und Mensch und Tier ist gerade gut genug, in den Sprachschatz dieser wundervoll neuen und unverbrauchten Zeichensprache einzugehen. Wir selber, alles was uns eignet oder freund ist, können jederzeit uns in ihr wiederfinden und von unserer verborgensten Seite, der vierten oder fünften Dimension, von der wir gar nichts wußten, zu Ehren kommen: als Maßstabwesen. So muß das Brandenburger Tor hier immer wieder in die Arena steigen, um in heroischen Konkurrenzen von Kohlköpfen, Äpfeln, Broten, Kartoffeln und anderen Konsumgütern sich schlagen zu lassen.
Dies alles ist Jahrmarkt. Daß es aber das ist, daß hier in jeder Ecke und unter tausenderlei Gestalten das Essen seine Purzelbäume schlagen und seine Kunststücke zeigen kann und daß wir uns vom Hundertsten ins Tausendste verlieren, von einem Schnullerkabinett zu den mittelalterlichen Saugflaschen und von den mittelalterlichen Saugflaschen zu den Inkunabeln der Medizin, wo sie zum ersten Male abgebildet sind, kurz daß uns jeden Augenblick so viel »dazwischen kommt« und dieser Rummelplatz mit Gratiskino, Gratisführung, Gratisausschank auf einen Vergnügungspark verzichten durfte, weil er selbst einer war, das ist doch nur die Kehrseite einer straffen und glücklichen Organisation, die überall locker lassen konnte, weil sie das Ziel fest im Auge hatte: für vernünftiges, sauberes, freudiges Essen zu werben.
Der politische Wetterwinkel der Schau: die Kammer der Kriegsernährung. Ich glaube, sie hat erschütternde, klassische Szenen des Wiedererkennens gesehen wie nur ein attisches Amphitheater. »Ach, das ist ja die wunderbare Wurst, die wir hatten.« Und: »Ich weiß noch den Abend, wie Onkel Oskar das ›Lausitzer Kindel‹ aufmacht, und wir alle ...« Oder eine andere, beim Anblick der »Fischblutwurst«: »Na, das habe ich ja nun nicht gemacht.« Aber auch sie wird den »Deutschen Reichs-Kaffee-Ersatz ›Gloria‹« ausgeschenkt oder den Gästen, die »nach dem Abendbrot« kommen durften, ein Schälchen »Kakaotee« vielleicht mit »Bomben und Granaten Rum-Ersatz«, den Kindern aber ihr Gläschen »Alkolos« und sich selbst früher oder später einen »Kriegsbitter« gegönnt haben. Und wenn der Gatte seine Kollegen beim Skat sah, konnte er ihnen getrost bei einem schäumenden Becher »Kampfperle« die Mindestforderung Deutschlands entwickeln. – Man hat diese große, unschätzbare Kollektion vom Dresdner Hygienemuseum bezogen und würdig zur Schau gestellt. Sie ist es wert, die Runde bei allen Hausfrauenvereinen Deutschlands zu machen. Es wäre eine schöne Aufgabe für das Rote Kreuz oder für die Vaterländischen Frauenvereine, diese Sammlung auf Reisen zu schicken. Nur müßte sie vervollständigt werden um all die Gutachten ärztlicher Autoritäten, mit denen diese Höllentränke und Schmutzpasteten ins Volk gebracht wurden. Im übrigen gibt die Sammlung das Wesentliche. Nicht zu vergessen die wohlerhaltenen Etiketten der Flaschen und Tüten. Da stehen sie, die sadistische Trockenmilch »Trinknur«, die Marmelade »Fruchtogen«, oder die apokalyptische Kriegstorte »Astro« – eingetragene Fabrikmarken, in welche damals die heimatlose Wahrheit als in ihr letztes sprachliches Asyl sich geflüchtet hatte. Wann wird das alles wieder aktuell werden? Und welches Geschlecht wird, wenn von unserm schon nichts mehr übrigblieb, auf die Überreste der ersten »garantiert unvergasbaren« Nährmittel stoßen?
Man kennt Riepenhausens berühmten Stich nach Hogarths Bild »Das Ende aller Dinge«. Es ist jenes bedeutende Werk, das bestimmt war, gegen den Geist der allegorischen Malerei sich zu wenden, und ihn doch nur großartig ausspricht. Auf einer Trümmerstätte von Emblemen ruht Saturn, und in der Hand hält er ein Testament, in welchem er verfügt: »Alles und jedes Atom hievon (d.h. der Welt) vermache ich dem Chaos, das ich als meinen einzigen Testamentsvollzieher ernenne. Zeugen: Klotho, Lachesis, Atropos, die drei Parzen.« Man kann sich das Ende der Welt auch weniger dramatisch, räumlicher, friedevoller und provinzieller denken. Und in solchem Sinne wäre das Ende der Ernährungsausstellung kein schlechtes Modell des Ortes, wo die Welt mit Brettern vernagelt ist. Am äußersten Rande der Schau, abseits von allen Hallen und am Ausgang eines Gartenpfades, erhebt sich ein Schuppen. Im Vordergrunde rechts eine riesige Batterie blecherner Milchkannen: 3000 Liter. Links und im Hintergrunde läßt man uns sehen, was an die Kuh verfüttert werden mußte, um so viel Milch zu erhalten. Da liegen in 12 Säcken 6½ Doppelzentner Kraftfutter, 9 Doppelzentner Stroh, 27 Doppelzentner Heu in 2 Fudern und 110 Doppelzentner Rüben in 5 schweren Fuhren. Wem wäre der Gedanke nicht tröstlich, hier, wo alles zu Ende geht, hier, wo er es am wenigsten noch erhoffte, die Lösung des Welträtsels, beiläufig, wie man einem Kinde ein Liebigbild zusteckt, mit in den Kauf zu bekommen und das in Gestalt einiger Ziffern, die geruhig über dem stillen Leben, dem Unbekannten, das zwischen Futter und Milch liegt, dem ausgesparten Geheimnis des Wiederkauens, im Winde schwanken?
Wir alle haben, als wir klein waren, im »Robinson« immer wieder auf die gefährliche Art geblättert und mit klopfendem Herzen das Angstglück gesucht, das uns beim Anblick des Bildes befiel, wo Robinson vor den Spuren der Menschenfresser zurückschrickt. Das war nicht nur eine Episode aus seinem Leben, es war die ultima Thule der Ernährung, die mit dem knochenübersäten Stückchen Strand vor uns aufstieg. Warum mußten wir sie auf dieser Schau, die auch das Fernste eingebracht hatte, vermissen? Und warum entzog sie denen, die sie in wenigen Stunden zu wahren Kunstkennern des Essens gebildet hatte, die höchste künstlerische Befriedigung: zu sehen, wie der Ring sich schließt und die geheimnisvolle Schlange des Nahrungstriebes sich in den Schwanz beißt?
Zur Berliner Uraufführung
Hier ist nicht ein Roman verfilmt worden. Ein sehr befähigter Regisseur hat sich von der gleichen Atmosphäre, dem gleichen Erfahrungsschatz, dem gleichen Kollektivum inspirieren lassen wie Speyer in seinem glücklichen Buche. Der Film hat seine besondere Chance, ein Kollektivum in den Vordergrund stellen zu können, bis aufs letzte ausgenutzt. Von wo auch immer die fünfundzwanzig Tertianer, mit denen Mack arbeitet, zusammengekommen sein mögen, während der Aufnahmen waren sie wirklich mit Leib und Seele Schüler des Schulstaats, nicht angehende Statisten. Diesen Schulstaat hat man aus den Waldbergen an das Meer versetzt. Ein kluger Griff, denn so hat die Entfernung zwischen der Katzenmordstadt Böstrum und dem freien Sparta »Tertia« – das Wattenmeer erstreckt sich zwischen beiden – etwas Pathetisches bekommen. Mack hat in dieser Landschaft einige wundervolle Bilder gewonnen. Man wird an den Wettlauf der Tertianer am Strand entlang – von ihnen sind nur die Schatten sichtbar und leibhaft sieht man nur den Tertiahund, der quer über die Schatten dahinjagt – noch lange denken. Auch wird man mit den Blicken noch lange den Jungens folgen, die im Gänsemarsch durch niedrige Wellen einer nach dem andern sich gegen die rechte Bildwand verlieren. Ab und zu stößt man mit Vergnügen darauf, wie hier Motive aus russischen Massenfilmen in Miniaturausgabe wiederkehren und kaum von ihrer Schärfe verlieren. Die beiden Stadtväter, die da von oben hinterm Fenster auf den schrägen Platz blicken, auf dem die Tertia mit der Stadtjugend kämpft, sind harmlosere Klassengenossen des Unternehmers und des Sekretärs, die in Pudowkins »Mutter« von oben den Pogrom gegen Fabrikarbeiter verfolgen. Wo aber russische Unterweisung und eigenstes Können des Regisseurs aufs prachtvollste, explosivste zusammenstoßen, das ist der Schluß. Die Flucht der Stadtschüler vor der andrängenden Tertia, der Gewaltmarsch der Tertianer über die Brücke sind Bilder, die in eine Anthologie der kinematographischen Verfolgungen gehören. Es gab viel spontanen Beifall. Alle haben ihn verdient; besonders aber der tüchtige Junge, der als Borst vor den Vorhang trat. Er ist ein treuer Helfer seines Regisseurs und ein aufgeweckter Leser des Dichters gewesen.
Zu einem Vortrag von Prof. Edgar Dacqué in der Lessing-Hochschule
Alle Hörer werden verstanden haben, daß es sich nicht nur um biologische Dinge handelte. Dacqués Biologie bricht mit dem Darwinismus. Außerdem aber stellt sie eine Anzahl merkwürdiger Verbindungen mit der Mythologie, der Metaphysik und der philosophischen Anthropologie her. Wenn seine antidarwinistische Position an sich Interesse erregt, so machen diese Integrationsversuche seine Ansichten zeitgemäß.
Will man sie überspitzt in einem Worte zusammenfassen, so müßte man sagen, daß der Mensch eine Keimform ist. Es gibt Keimformen in der Natur, die sich als ausgewachsene, aber nicht umgebildete Embryos darstellen. Der Mensch sei daher im Frühstadium am angemessensten, am »menschlichsten« ausgeformt. Im ausgewachsenen Menschen wage sich Tierisches wieder weiter hervor. Vor allem aber trete das Tierische in der ferneren eigentlichen »Entwicklung« des Keimes »Mensch« auf; als solche nämlich sieht Dacqué die Affen und insbesondere wohl die Menschenaffen an. Und so erklärt er, daß der Embryo des Menschenaffen dem homo sapiens, nicht aber der Embryo des homo sapiens dem Menschenaffen gleiche. Gerade aber weil die Entwicklung des Keimes »Mensch« im kanonischen Falle, nämlich beim homo sapiens gehemmt sei, habe sich dessen Gehirn auf Kosten anderer Organe heraufbilden können.
Im übrigen verweise die vergleichend-anatomische Untersuchung den Menschen seinem primitiven Bau nach in die Formenwelt des Erdaltertums. Man findet eine äußerst primitive fünffingrige Hand, wie sie nur bei sehr alten Säugetieren bekannt ist, Spuren des Stirnauges, ein primitiveres Gebiß als die höheren Säuger es haben und anderes. Der Mensch könnte also sehr alt sein, viel älter, als gewisse Tierformen, die man sich heute, wenn nicht als seine Stammväter, so als deren Verwandte vorstellt. So seien eben z.B. die Affen stammesgeschichtlich viel eher als überspezialisierte Seitenformen des Menschen denn als seine Vorläufer aufzufassen. Seitenformen, die die biologische Klasse »Mensch« sozusagen überstürzt absolviert hätten.
Dacqué erkennt aber die stammesgeschichtliche Betrachtung nur in gewissen Grenzen und durchaus nicht in Gestalt der kurrenten Lehre vom »Stammbaum« des Menschen an. Was den betrifft, so sind, wie er sagt, die Verhältnisse um so undurchsichtiger geworden, je mehr die Menge ausgestorbener Formen unterm Grabscheit wuchs. Man fand zwar eine Anzahl von Lebewesen, in denen die Entwicklung sich zu gabeln schien. Die Analyse aber enttäuschte regelmäßig die stammesgeschichtliche Erwartung. Denn diese Formen waren, wie sich zeigte, samt und sonders schon allzuweit spezialisiert, lagen immer an kurzen, keimlosen Seitenästen des hypothetischen Stammbaums. Wahre Knotenpunkte, sagt Dacqué, hat man überhaupt nicht gefunden. Für die Formen aber, die zuerst als solche erschienen, stellt er die folgende frappante Theorie auf.
Wir haben alle gelernt, daß der Walfisch zwar aussieht wie ein Fisch, in Wirklichkeit ist er aber ein Säuger. Solche Fälle hat man bisher als Ausnahmen angesehen. Dacqué will darauf hinaus, sie seien zu gewissen Zeiten und in gewissem Sinne die Regel, zumindest aber außerordentlich häufig gewesen. Er sprach von Stilen der Natur, von Stilverwandtschaft, die mit Stammverwandtschaft gar nichts zu tun habe und die man, um seine Meinung drastischer zu machen, geradezu als Moden bezeichnen könnte. So kennt er Flügel-, Schnabel-, Panzer-, Krallenmoden, Perioden, in denen gewisse dieser Gestaltungselemente in Tieren der allerverschiedensten, stammesgeschichtlich einander völlig fernstehenden Gruppen auftreten. Auf diese Weise aber entstehen Übergangsgeschöpfe, Zwischenwesen, »Versuchstiere«, die man zunächst für stammesgeschichtlich bedingt hielt. Nach Dacqué handelt es sich hier um Bildungsnotwendigkeiten, die dem Abstammungsverhältnis transzendent sind und gerade die Tiergruppen, bei denen sie besonders grotesk und äußerlich auftreten, zum Aussterben verurteilen. An einen Stammbaum glaubt der Vortragende nicht. Man hat immer wieder nur stammesgeschichtliche Verwandtschaft innerhalb gewisser Gruppen gefunden. Er scheint der Ansicht zuzuneigen, die Natur verfahre sprunghaft, setze nach einer Reihe von Versuchen mit bestimmten Tierformen plötzlich irgendwo anders mit höheren, d.h. feiner organisierten, angepaßteren Gestaltungen äußerlich ähnlicher Art ein, ohne daß zwischen den ersteren und letzteren ein Abstammungsverhältnis bestehe. Er findet keinen Stammbaum, nur eine Fülle von Stammgesträuchen.
Eines also unter denen wäre der Mensch. Der Mensch, dessen reine, entelechetische Form bisher noch überhaupt nicht zum Vorschein gekommen sei, der sozusagen mit dem großen Vorbehalt im Tierreich steht, weitgehender Spezialisierung sich zu verweigern, der, um mit S. Friedlaender zu reden (was Dacqué nicht tut), eine uralte »schöpferische Indifferenz« im Tierreich bezeichnet, eine rotierende Achse, die das eigentlich Tierische nach allen Seiten hin aus- und abschleudert, um zu ihrer reinen Gestalt sich hindurchzubilden. Diese noch unverwirklichte Urgestalt will der Vortragende doch im bisherigen Menschen symbolisch angelegt finden. Die Betrachtungsweise mündet, soweit sich das erkennen ließ, in eine Anschauung vom Menschen als Urphänomen einer Tierreihe – oder des Tierreichs? – aus.
Der Laie kann nicht versuchen, diese Ausführungen zu kritisieren. Gewiß wird er oft genug stutzen, der Einwand, daß wir Menschenspuren bisher ja nur in tertiären Schichten begegnen, wird nicht der einzige sein, der auf der Hand liegt. Wohl aber darf der Nichtbiologe so gut wie der Fachmann versuchen, von dem unterirdischen Kräftezusammenhang, der diese Gedankenketten aufwirft, sich Rechenschaft zu geben. »Integration« – wir nannten das Wort vorhin. Aber diese Integration der Gebiete, die die Schranken des Fachwissens und des Fachdenkens niederreißt, und auf Einheit und Kontinuität der Anschauung drängt, steht doch in striktem Gegensatz zur überkommenen Form solcher Einheit: dem System. Wenn nämlich dieses jene Einheit, jene Kontinuität auch im Objekte zu finden beansprucht, so frappiert an den dargestellten Gedankengängen, wie eng sie sich mit der Arbeit anderer großer zeitgenössischer Forscher gerade in der Durchbrechung überkommener Systemträume berühren. Husserl setzt an die Stelle der idealistischen Systeme die diskontinuierliche Phänomenologie, Einstein an Stelle des unendlichen, kontinuierlichen Weltraums den endlichen diskontinuierlichen, Dacqué an die Stelle eines unendlichen, strömenden Werdens ein immer erneutes Einsetzen des Lebens in begrenzten, zählbaren Formen. Diese höchst aktuellen Zusammenhänge würden der offenen Auseinandersetzung des offiziellen Darwinismus mit dem Manne, der ihm vor einem ausverkauften Saale den Fehdehandschuh hinwarf, das allgemeinste Interesse sichern.
Wer sich kurz fassen will, muß die Dinge packen, wo sie am paradoxesten sind. Zumal wenn ihr Paradoxon auf der Hand liegt. Berlinisch – der Dialekt einer Großstadt, in der seit langem alle deutschen Stämme, seit kurzem alle europäischen Nationen einander treffen, sich vermischen und mit steigender Umdrehungsgeschwindigkeit aneinander sich abschleifen. Wie ist das Phänomen überhaupt möglich? Und müßte es nicht von Rechts wegen schon seit Jahrzehnten auf dem Aussterbeetat stehen? Selbstverständlich, wenn es auf räumlicher Isolierung, auf der Reinblütigkeit der Bevölkerung, kurz auf »regionalen Belangen« beruhte. Aber davon ist gar keine Rede. Von jeher ist der Berliner Dialekt – wie der der anderen Großstädte – viel weniger an das Lokal als an das Tempo des Daseins gebunden. Dies Tempo aber wird diktiert von der Arbeit. Schon in den Glaßbrennerschen Texten, den Hosemannschen Zeichnungen der Biedermeierzeit tauchen ganz bestimmte Berufstypen – der Schusterjunge, das Marktweib, der Budiker, der Straßenhändler – als Träger des Dialekts und des Dialektwitzes auf. Das Zille-Album von heute zeigt andere Typen; viele davon entstammen einem Lumpenproletariat, an dem gemessen Glaßbrenners Eckensteher Nante ein Grandseigneur ist. Sie sprechen ein Berlinisch, das viel aus der Ganovensprache entlehnt hat und ihr vieles zurückgibt. Aber auch das ist die Sprache einer Berufsgemeinschaft. Für die Großstadt bleibt das Argot in seinen hundert einander überschneidenden Spielarten die eigentliche Pflanzschule des Dialekts. Das gibt von der unübersehbaren Mannigfaltigkeit seiner Ursprünge den rechten Begriff: Mannschaftsstube und Skattisch, Kaschemme und Schulklasse, Leihhaus und Sportpalast steuern das Ihre bei.
Das allein aber macht noch nicht die ganze, noch nicht die schärfste Paradoxie dieses Dialekts. Der ländliche kann einer gewissen Naivität, einer harmlosen Selbstverständlichkeit sich erfreuen. Zwar desavouiert ihn jeden Morgen die Zeitung; aber das will nicht viel sagen, denn hier decken sich die Grenzen von Schriftdeutsch und Hochdeutsch. Nicht so für den Berliner, der den Archipel seiner Muttersprache ununterbrochen von einer nicht nur papiernen Flut von Hochdeutsch umbrandet fühlt. Man kann von ihm in Dingen seiner Ausdrucksweise unmöglich die Unschuld eines niederdeutschen oder alemannischen Bauern erwarten. Sein Verhältnis zum eigenen Dialekt ist ein höchst gespanntes und reflektiertes. Mehr als eine und manche von den rühmlichsten Eigenarten des Berlinischen rührt daher. Am offenkundigsten freilich ein Ausfall. Es gibt nämlich, selbstverständlich, im berlinischen Schrifttum nichts, was neben den alemannischen Gedichten eines Hebel, den niederdeutschen eines Klaus Groth, der Prosa eines Gotthelf oder sogar Reuter sich zeigen könnte oder auch nur wollte. Der Berliner hielt mit seinen Spracheigentümlichkeiten bescheiden, um den Ruf seiner Bildung besorgt, zurück.
Müßte man wirklich erst die Psychologie eines Alfred Adler sich zu eigen machen, um die berühmte »Berliner Schnauze« als Überkompensierung eines Minderwertigkeitskomplexes zu erkennen, als den Krakeel, der nur die innere Stimme übertönen soll? Wir wagen jedenfalls diese Deutung. Wir kennen den Berliner nicht anders als mit dem »Sinn fürs Höhere«, als dessen fernste verschwimmende Alpenspitze die »Idee« ihm vor Augen schwebt. Die »Idee«, von der der Berliner nur spricht, wenn er etwas ganz, ganz besonders Winziges meint. Kennen ihn nur mit dem eingeborenen Respekt für »jroße Männer« und mehr noch für deren Denkmal, bis eines Tages in irgendeiner seiner Explosionen der Volkswitz seine Emanzipation von ihm vollzieht. Und um nun auf den Dialekt zurückzukommen: Es ist bezeichnend, daß die erste Stimme, die den Berlinern über ihre Sprache zu Ohren kam, eine Strafpredigt war. 1781 veröffentlichte Karl Philipp Moritz seine Schrift »Über den märkischen Dialekt«, eine aufklärerische Kritik, die dem Berlinischen seine undurchschaubare Zwitterstellung zwischen dem Hoch- und Niederdeutschen zum Vorwurf machte. Daß schon damals das gute Sprachgewissen seiner Bürger erschüttert war, zeigt die Anekdote des Verfassers von der Gesellschaft, die »hier in Berlin, unter sich ausgemacht hatte, eine eigne Armenbüchse, zu dem Ende, zu halten, um für jeden Sprachfehler, den sie in der gesellschaftlichen Unterredung machen würden, einen Dreier in dieselbe zu erlegen; und was das auffallendste war, so fand man diese Armenbüchse, in wenigen Stunden, von Dreiern angefüllt. Ob nun die Anzahl dieser Personen vielleicht sehr groß, oder der Raum in der Armenbüchse sehr klein gewesen seyn mag, kann ich nicht so genau bestimmen.« Gerade in sprachlichen Dingen trat ja das »Höhere« dem Berliner sehr drastisch bei den Emigranten in Gestalt der französischen élégance vor Augen. Erbschaft von ihnen sind nicht nur die vielen französischen Wendungen oder Endungen – »nich in die la main«, »ete petete«, »mit 'nem avec«, »Bagage«, »Kledage« etc. –, sondern auch die »vornehme« Aussprache »Grammophong«, »Telephong«. Einem ähnlich skrupulösen, aber schlecht beratenen Sprachgewissen entstammt das r, das der Berliner – der es in betonten Silben bekanntlich verschleift – Fremdwörtern als Respektsbezeugung verleiht: »Karnallie« für »Canaille«, »Kartarr« für »Katarrh«.
Das Sprachgewissen des Berliners ist also bedeutend zarter besaitet, als man es seinem Ruf nach vermuten sollte. Und nicht das Sprachgewissen allein. Man lese doch Fontane, um zu erkennen, wie leicht die Rührung dem märkischen Menschen und wie sehr sie ihm aus der märkischen Landschaft kommt, in der der Windhauch in den Fichten das einzig Erschütternde ist. Wenn er auch sagt: »Es ist rührend, wenn man dran wackelt«, so wird's auf zehnmal neunmal sein, um eine echte Rührung zu verstecken. Ja wenn der Dialekt spezifischer ist als die Nationalsprache (wie der Wein spezifischer als die Rebe), wenn man nach seinem Aroma forschen dürfte, fände der Kenner die innigste Würze dieses Dialektes vielleicht in einer Durchdringung des Zartesten mit dem Rohen, wie einmal ein Freund sie in einer Wendung, bei der Beratung einiger dunkler Existenzen, erhaschte. Es ging darum, einen Dritten unschädlich zu machen: »Den lehn' wa an de Wand.«
Im Zentrum der Stadt hat vor einiger Zeit eine Maschinenfabrik ihre Niederlage eröffnet. Zur Feier des Tages war das Schaufenster ganz mit Blumen gefüllt, nur hie und da leuchteten hinter den Blütenblättern die polierten Kurbelwellen und Schwungräder auf. Es war ein sehr berlinisches Bild. Ganz neue stahlharte Sachlichkeit durch die Blume. So sagt der Berliner, wenn er einem die Faust weist: »Hast woll schon lange nich an det Knochenbukett jerochen.« Er sagt auch in genau derselben Verfassung: »Sonst sollste mit Verjißmeinich handeln.« Gerade seine nachdrücklichsten Drohungen kommen sachte heraus. Dieses »sachte« spielt eine große Rolle nicht nur im Sprachschatz, sondern vor allem als Zeitmaß der Sprachbewegung. Denn der Berliner spricht als Kenner und mit Liebe zu dem, wie er's sagt. Er kostet es aus. Wenn er schimpft, spottet und droht, will er dazu sich Zeit nehmen, genau wie zum Frühstück. »Alle Zähne wer'k dir ausschlagen. Aber een laß ick dir stehn fors Zahnweh.« Diesen Satz hörte ich, fast getragen, in einer Rempelei zwischen Straßenjungens. »Immer sachte« – das gibt das Zeitmaß des gemütlichsten Beisammenseins wie der drohendsten Auseinandersetzung.
Freilich, wenn's sein muß, kann der Berliner auch anders. Als der Expressionismus mit seiner geballten, gestuften und gesteilten Sprache ins Land kam, ließ er sich nicht lumpen. Er zeigte den Literaten, »was ne Harke is«, und brachte die Wendung auf, der an Kürze und Sprachgewalt von Sternheim bis Becher nichts gleichkam. Sein großes: Bei mir. »Bei mir: Katze« (mies), – »Bei mir: Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche« (Türme, d.h. »verdufte«), – »Bei mir: Schiefertafel« (Auf mir könn' se rechnen). Solche Wendungen hat man vielfach gesammelt und dem Berliner einen schlechten Dienst damit erwiesen. Denn immer ist der Sprachwitz Improvisation und Zeit und Umstände seines Entstehens geben auch dem scheinbar Gröbsten noch das unvergleichliche Aroma, ohne sie aber beginnt er bald schal und verweslich zu riechen. Danach mag man von dem Dunstkreis mancher berlinischer Dialektbücher sich einen Begriff machen. Immer wird der Geist dieser Sprache aus einem Wörterbuche viel reiner als aus jedweder Kollektion von Witzen hervorgehen. Aber freilich läßt ein Dialekt sich auch lexikalisch nicht ausschöpfen. Jedes wahre Studium führt auf seine Grammatik (s. dazu das Standardwerk: H.G. Meyer: Der Richtige Berliner in Wörtern und Redensarten. 9. Aufl.), und von da noch weiter auf Mimik und Physiognomik, auf die unübersetzbaren Gesten.
Im allgemeinen ist der Berliner sparsam mit weitausholenden Gebärden. Sie liegen seinem phlegmatisch-sanguinischen Typus nicht. Immerhin kennt er – vielleicht aus dem Boxsport – eine provozierende Ausfallsbewegung des Ellenbogens, die das Wort »Mensch knorke« begleitet oder ersetzt. Auch den Griff unters eigene Kinn zu der geheimnisvoll abschätzigen Wendung »So jung«. Oder den berühmten Fingerzeig an die Schläfe. Dieses Gebiet der Geste ist ein Grenzbezirk auch darum, weil das Unbestimmte, Mystifizierende, das jedem Dialekte hin und wieder eignet, hier leicht die Oberhand bekommt und dann am Ende den Ausdruck nicht nur unübersetzbar, sondern undeutbar macht. Wenn der Berliner mit einem vielsagenden Aufblick »von wejen« sagt, so liegt auch das im Grund schon jenseits der artikulierten Sprache.
Aber kommt denn am Ende die Betrachtung des Dialekts nicht irgendwie mit dem geläufigen Bilde zusammen, das »überall im Reiche« vom Berliner kursiert? Der selbstbewußte kesse Junge mit der großen Schnauze, der helle Bengel, dem immer noch die Lichter der Aufklärung aus den Augen kucken – ist das Fabel? Gottseidank nein. Es ist Wahrheit. Aber auch nur die halbe. Gewiß, was sich da breitbeinig aufbaut und fragt: »Stimmt's oder hab ick Recht?«, bei wem das Maul so groß geraten ist, daß sogar Substantive drin zu Adjektiven werden – »klasse Sache« sagt der Berliner im Sinne von »ganz was Feines« –, der wird schon »von hier« sein. »Kommt nicht in Frage« mag noch reichsdeutsche Geltung haben; »knif« aber, die firmierte Ablehnung aus seinen Anfangsbuchstaben, ist schon berlinisch. Soweit die Keßheit.
Nur daß der schnell mit diesen groben Begriffen ans Ende käme, der versuchte, mit ihnen den Zugang ins Innerste dieser Sprache sich zu erschließen, in ihre dichte, exzentrische Bilderwelt. Die Schnoddrigkeit, die Schnödigkeit des Berliners, sie sind nicht nur die Folgen eines gottlosen Rationalismus, sondern vor allem anderen Ausdruck einer wunderbar trainierten Beobachtungsgabe. Seine innerste Haltung dem Leben gegenüber ist kontemplativ. Er ist so sehr Philosoph, so wenig der abgebrühte, ausgekochte Großstädter, daß er eine geniale Kraft, sich zu wundern, sich bis heute bewahren konnte. Wenn André Gide einmal der pseudophilosophischen Maxime »nil admirari« die wahre »omne admirari« entgegenstellte, so hat er dem Berliner seine Devise geschrieben. Aber die beste Definition des Philosophen, des berlinischen nämlich, gab 1922 ein Kellner im Romanischen Café dem Gaste, der sich darüber wunderte, daß die Tasse Kaffee wieder einige Millionen teurer war als am Vortag, da doch der Dollar nicht gestiegen war. Dem gab dieser große Berliner Kellner zur Antwort: »Wissen se nich, was die Devise ist, heute: Philosoph sein; nur nich denken; Philosoph sein.« Und damit meinte er doch wohl: Sich im stillen wundern. Vielleicht hat keine Sprache, kein Dialekt eine solche Fülle von Ausdrücken für dies stille Staunen wie dieser. Vom topographisch-archäologischen »Ick stehe wie die Kuh vorm neuen Tor« bis zu dem erschütternden »Da staunste Bauklötzer« durchmißt die Achse der Verwunderung alle Reiche der Natur – »Ick denkender Affe laust mir«, »Ick fall vom Stengel« – und wagt sich (sonst um keinen Preis) in den Himmel: »Mann Jottes!«.
Was ihn eigentlich die ganze Zeit wundert? Nun, vielleicht ist der Grund wirklich sein lästerlicher Rationalismus, vielleicht sind seine Anmutungen an die Verständigkeit des Weltlaufs so grotesk und exzentrisch, daß er sich wie ein Lebewesen von einer anderen Welt auf dieser vorkommt. »Au Mensch« kann manchmal so einen Ton haben, und gewiß hat ihn die Gebärde des Kutschers, der eines Tages mit den Worten »Mensch, du hast woll 'nen Vogel« sein Pferd an die Stirn tippt. Zahllose Redewendungen gibt es, in denen der Berliner so auf Gulliverische Art sein Liliput von Wirklichkeit aus den Angeln hebt. Und die besten sind noch nicht einmal Redewendungen, sondern Zufallsbildungen, die nur das Glück erhascht. Ich denke an den Chauffeur, den eine Panne zwang, unter den Wagen zu kriechen. Ein Auflauf. Unter den Vordersten beginnen ein paar zu kichern. Da tauchte hochrot der Mann unter seinem Gestell hervor: »Wat hier jelacht wird, det lache ick.« Es ist kein Zufall, daß selbst alte Berliner Witze diese exzentrische Geste schon kennen. Den Frühlingswunsch des Schneidermeisters: »Mutter, lang mir mal 'nen Blumentopp aus'n Fenster; ick will mir mal en bisken in't Jrine setzen«, könnte man, wenig verschoben, heute Grock nachfühlen.
Derselbe schwer entzifferbare, aber höchst bedeutende Zusammenhang, der den großen Exzentrik zum Zeitgenossen der neuen Sachlichkeit machte, hat von jeher latent in der Sprache des Berliners gewirkt. Es ist darum kein Zufall, daß der zum ersten Male seit siebzig Jahren nun wieder seine Stadt und seine Sprache eingeständlich zu lieben begonnen hat. Früher, als er denkt, werden auch Werke da sein, die zeigen, wie sich die Potenzen dieser Sprache an wichtigen Gehalten unserer Gegenwart bewähren. Alfred Döblins »Berliner Alexanderplatz« könnte nach allem, was bisher davon bekannt ist, vielleicht so ein Werk werden. Gerade dann freilich wird der echte Berliner erklären: »Mein Name ist Hase.« Aber im stillen wird er denn doch die »Mache« bewundern und nicht leugnen, daß es »jekonnt« ist.
Erwin Piscator plant, wie wir erfahren, eine Arbeitsgemeinschaft mit der »Moskauer Association für das proletarische Theater« einzugehen. Piscator wird diesem Verband seine Texte, Bearbeitungen, Regiepläne, Photos usw. zugänglich machen und seinerseits von ihm über dessen Theaterpolitik auf dem laufenden gehalten werden. Wie wertvoll diese Beziehung sein kann und was sie bedeutet, wird aus den folgenden Angaben ersichtlich werden.
Die »Moskauer Association für das proletarische Theater« ist aus dem »Rapp« (»Moskauer Association der proletarischen Schriftsteller«), und zwar genauer aus Debatten über die Frage hervorgegangen, auf welche Art und Weise die Parole der »Kulturrevolution« sich im Theater auszuwirken habe. Die erste Schwierigkeit, auf die man hier stieß, liegt in der Tatsache, daß Rußland in der Bühne Stanislawskis noch heute eine höhere vorrevolutionäre Theaterkultur besitzt als die meisten Länder Europas. Die Auseinandersetzung mit ihr konnte also nicht unter der Hand mit ein paar Schlagworten geleistet werden. Sie rief vielmehr im Bereich der Regielehre wissenschaftliche Kontroversen hervor, die dem Marxisten aus der Philosophie geläufig sind. Vor allem auf eines verwiesen die Anhänger Stanislawskis: Der Marxismus erklärt den Menschen für bedingt durch die Verhältnisse, in denen er lebt. Nun untersuchet daraufhin den Realismus von Stanislawski! Beruht er nicht auf schärfster, detailliertester Wiedergabe der Umwelt, aus welcher die Figuren, die er auf die Bühne stellt, hervorgehen? – Hier war nun der Ort zu einer ersten grundlegenden Klarstellung. Man konnte, man mußte erwidern: Das Milieu, von dem ihr da redet, ist das der individualistischen Soziologie, der Milieutheorie Taines. Marx aber behauptet, der einzelne ist bestimmt durch die Klassenlage, die Lage der Klasse aber wiederum durch ihre Stellung im Produktionsprozeß. Stanislawskis Theater kennt folgerichtig keine Psychologie der Klasse, sondern nur die des Individuums, keine klassenkämpferischen, sondern nur klassenversöhnende Tendenzen. Und ferner: Es zeigt wohl die Epoche als Produkt des Menschen, aber es tut dies statisch, nicht dialektisch. Es zeigt wie sie ist, nicht wie sie geändert wird. Und dieser gleiche Ausfall der Dialektik ist es, dem seine Kritiker in der Technik der Inszenierung begegnen: einem Realismus, der nachahmt, ohne sich mit dem Nachgeahmten auseinanderzusetzen.
Mit anderen Worten: Die »Association für das proletarische Theater« wendet ihre kritische Front zunächst gegen Stanislawski. Sie wahrt aber ebenfalls ihre Freiheit gegenüber der Gruppe »Lew«, dem Theater Meyerholds, der Bühne Tretjakoffs, Majakowskis u. a. Die Kämpfe um »Lew« sind beinahe so alt wie die russische Revolution selbst. Eine gewisse Epoche bezeichnet das Jahr 1926, in dem der Anspruch dieser Gruppe, die revolutionäre Form an die erste Stelle zu rücken, ihr den Primat vor dem Inhalt zu geben, abgewiesen wurde. Die »Association für das proletarische Theater« ist der Ansicht, daß nun nach dieser Klarstellung die Öffentlichkeit eine wohlwollende Neutralität gegenüber dieser Bühne sich leisten könne, die ihre Experimente zum Teil ohne ideologische Fundierung, aber nicht ohne Glück und Fruchtbarkeit unternimmt. Sie sieht in ihr das Theater der kleinbürgerlichen radikalen Intelligenz, die nicht ganz abgestoßen werden soll. Denn im Augenblick sei die »rechte Gefahr«, die von den Positionen der alten Bourgeoisie her droht, dringender als die »linke« dieser radikalen Mitläufer.
Damit ist die Stellung der Association jenseits von beiden Gruppen bezeichnet. Sie setzt sich vor, die neue nachrevolutionäre Bühne mit einem Geiste zu durchdringen, der die lebendigen Elemente aus dem Erbe der Theaterkultur der Schärfung und Erhellung des Klassenbewußtseins dienstbar macht. Und nun die Hauptsache: Solche Theater sind nicht nur die großen Moskauer Bühnen – das Theater der Revolution; MGSPS, das Gewerkschaftstheater; Proletkult –, sondern all die über Rußland verstreuten Dilettanten- oder Arbeiterbühnen, die Vertreter einer Bühnenkunst, die aus den Betrieben und der Tagespolitik unmittelbar hervorgegangen ist, und die wir als das »Theater der blauen Blusen« auch hier kennengelernt haben. Endlich die Bauerntheater. Das ist die breite Basis, auf welche die Association sich stützt. Es wird von höchstem Interesse sein, die Wechselwirkung zwischen diesem russischen Klub, in dem zum ersten Male alle am Theater Beschäftigten, Schauspieler, Regisseure so gut wie Hilfsarbeiter und Kritiker sich zusammenfinden, mit der deutschen Bühne zu verfolgen.
Man wird in diesem Überblick den Namen Tairoffs vermißt haben. Sein Theater hat in diesem Zusammenhange nichts zu suchen. Es gilt als das der neuen Bourgeoisie, des Nep.
Wir saßen draußen in seinem kleinen Haus in Vincennes beim Frühstück, als mir Bernouard seine Lebensgeschichte erzählte. Ich weiß noch das Zimmer – aber welches Zimmer wüßte man nicht, in dem man einmal mit ihm gesessen? Und welcher Tisch, an dem man ihm gegenübersaß, wäre nicht eine Insel im Meer des Vergessens? Ich denke nicht allein an die schönbestellten Holztische, an denen wir oft beim Père du Côté miteinander zu Abend aßen und nicht nur an die Marmortische der Deux Magots, sondern auch an den winzigen Tisch des Bureaus, an dem ich ihn zum erstenmal gesehen und auf dem ich seither so viele seiner Drucke bewundert habe. Nie in meinem Leben habe ich in einem kleineren Bureau gesessen, eine Kammer aus den Anfängen der Buchdruckerkunst, eine Inkunabel von einem Bureau, hinge nicht das Telephon an der Wand. Es kommt einem der Gedanke, der Mann dort, der das Drucken (und nicht nur drucken!) von der Pike auf erlernte, will nun, als Unternehmer, sich klein machen und allen Platz für Maschinen und Personal sparen. Seltsamer Unternehmer, der Mann, an dem keine Fiber je den verrohenden, verdummenden Einfluß des Geldes erfahren, aber dafür auch kein Zoll die Jahre des Elends und der hundertfältigen Arbeit vergessen hat. Es ist lange her, daß er eine anarchistische Zeitschrift herausgab. Wenn aber eine chemisch-reine Mischung von Geist und Lauterkeit gefährlich ist, so ist sein Gesicht es noch heute.
Der Charme, mit ihm zu reden, ist abgründig. Schmale Stege über Abgründe des Tiefsinns – so wirft er Verse, Anekdoten, Erlebnisse ins Gespräch. Keines ist unbedeutend, und keines ist allgemein. Natürlich hat er Lieblingsthemen, oft religiöse: die Juden, die Bibel. Nichts geht für den, der seine musterhafte Ausgabe der massoretischen Bibel kennt, über das Vergnügen, ihn dieses Buch als Freigeist diskutieren zu hören. So muß man den frivolen Abbés des dixhuitième gelauscht haben. Und dennoch weiß ich, daß dies große Unternehmen von mehr als 20 Bänden die praktische Vernunft seines Bibelglaubens zum Ausdruck bringt; Glaube nicht an das, was sie lehrt, aber an die ehernen Fundamente ihrer Herrschaft in Schrifttum und Sprache. Oft gibt es Debatten in größerem Kreis, die den Reiz der friedlichen Zwiegespräche noch überbieten. Dann ist es passionierend, seiner Taktik zu folgen, mitzuerleben, wie er unbeirrt durch alle Finten dem Gegner immer auf dem Leibe bleibt, nie den Partner in einer Meinung, sondern immer die Meinung in einem Partner bekämpft.
Jedes Handwerk hat einst seine eigenen professionellen Physiognomien herausgebildet. Die Kraft, die sie prägte, ist in den meisten Gewerben längst erloschen. Denkt man aber an große Drucker, selbst neuester Zeiten, einen Wiegand in München, einen Bernouard in Paris, so kommt man ganz von selber darauf, daß sie bei Typographen bisweilen jetzt noch wirkt und zum Vorschein kommt. Und Bernouard hat ja nicht als Verleger, sondern als Drucker begonnen. Es sind nun rund zwanzig Jahre seitdem vergangen. Die Buchkunst Frankreichs stand damals tief unter der deutschen, von der englischen ganz zu schweigen. In der »Préface du typographe« zur fünfzigbändigen Zola-Ausgabe hat Bernouard erzählt, wie eben die Gedanken jenes William Morris, die die Buchkunst Europas erneuert haben, ihn damals ergriffen. Freilich war es eine Einwirkung auf kurze Sicht, genug, die Verantwortung des Buchgestalters zu wecken, nicht ausreichend, ihn zu leiten. »Aber«, sagt Bernouard, »mit zwanzig Jahren denkt man mehr durch die Toten als durch sich selber.« Die Wiedererweckung des handwerklichen Setzergeistes des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts – das war Bernouards Programm, als er zu drucken begann; und in den Besitz einer Handpresse zu gelangen sein höchstes Ziel. Der Weg, den er dann später von den ersten Versuchen mit dieser Presse bis zu seinem heutigen Betrieb in Vincennes, der mit den geistvollsten, vollendetsten Setz-, Falz- und Bindemaschinen arbeitet, zurücklegte, wäre so, wie er ihn auf den genannten Seiten erzählt, gewiß ein großer epischer Stoff. Nur Zoll für Zoll hat er den Boden der Maschine überlassen, und nie ehe es ohne allen Opportunismus aus der Überzeugung geschehen konnte: so wird das Buch besser und der Arbeiter freier. Was er in dieser Vorrede erzählt und wie er es tut, ist nicht nur eine Huldigung an Zola, die dem Kern seines Werkes näherkommt als manche gelehrte Betrachtung, es ist zugleich das Bild dieses unendlich wendigen, immer der Logik der Dinge getreuen Menschen, eines polymetis – wenn das Beiwort des »nie um Rat verlegenen« Odysseus auf irgend jemand zutrifft. Aber ein polytropos auch, ein Umgetriebener, in Frankreich und in den Geistwelten. Immer doch in einer begrenzten, im Fremdesten noch ihm heimischen Zone; ich glaube nicht, daß er viel oder lange über die Grenze Frankreichs hinauskam. (Als er mir eines Tages erzählte, er sei in jedem Herbst auf einige Tage in Nizza oder Marseille, da klangen auch diese Namen in seinem Mund wie Ménilmontant oder Billancourt.) Und über seinen Editionen steht als Ursprungsmarke die Rose de France.
Diese Ausgaben stellen einen neuen Typus von Buch dar; es sind komplette, kritische, in Text und Ausstattung höchstwertige und dennoch standardisierte Gesamtausgaben moderner Autoren. Es handelt sich also bei diesen œuvres Complètes von Nerval, Mérimée, D'Aurevilly, Schwob, Renard, Zola, Bourges, Courteline um etwas, wozu es in Deutschland nichts Entsprechendes gibt. Denn alle diese Bände sind, wie gesagt, in Format und Ausstattung völlig gleich. Moderne »Klassikerausgaben« also, wenn man will, – nur daß an diesem Begriffe, wenn man alles Verstaubte, Zopfige und Langweilige abzieht, nichts übrig bleibt. Und daß das Müßige, Kleinbürgerliche und Feige, von dem dies andre nur der Ausdruck ist, hier keine Stelle hat, weil es sich in den meisten Fällen um Autoren handelt, die noch nicht frei sind. Fast immer sind also diese Sammlungen die ersten kritischen Gesamtausgaben der betreffenden Dichter.
Dieser Verleger ist Drucker, aber er ist auch Autor: Romancier und Dramatiker. Nach beiden Seiten hat er über die Vermittlerstellung seines Berufes hinaus- und in die geistige und manuelle Produktion des Buches eingegriffen. Das ist, im Querschnitt seiner Aktivität, die deutlichste Formel für das Umfassende dieses Mannes. Von den Freunden, die sich jeden Donnerstag zur Aperitifzeit um seinen Tisch zusammenfinden, wird sich schon jeder einmal im stillen über diese undurchschaubare Physiognomie seine Gedanken gemacht haben. Diesem Haar ist kein Staub der Werkstatt, diesen Augen kein Blick der Liebe, diesem Ohr kein französischer Dialekt, diesem Mund kein verzichtendes Lächeln, diesen Händen kein Griff des Mixers, diesen Füßen kein schwerer Weg fremd. So viel Wissen und so viel Kunst mußten sich zusammenfinden, um die ganze gelassene Lebenserfahrung eines Flaneurs von 1850 dem aktivsten, gewandtesten Unternehmer zugute kommen zu lassen. Und wenn wenige in dem Werk, das aus dieser Vereinigung hervorging, den erstaunlichen Menschen ahnen, so gehört auch diese Anonymität zu dessen Erscheinung. Ja, vielleicht druckt dieser Mann nur, um in einer Welt kunstreich beschworener Geister vor den Menschen sich zu verbergen.
»So wie in einem Gedicht von Laforgue, einer Szene bei Proust, einem Bild von Rousseau recht wohl ein Pianino stehen könnte, so paßt in Aragons oder Cocteaus Dichtung, in ein Gemälde von Beckmann oder besser Chirico die zottige Figur des Lautsprechers, das Geschwür des Kopfhörerpaares um die Ohren mit den pendelnden Eingeweiden der Leitungsschnur.« Das ist scharf gesehen und evident. Es stammt aus einem »Anbruch«-Artikel »Musikalische Unterhaltung durch Rundfunk«. Verfasser Ernst Schoen. Und damit tritt zur Evidenz die Überraschung: so treffend, so kultiviert und unverbildet zugleich spricht hier der Leiter eines Senders vom Instrument. Einen solchen Mann über seine Pläne und Ziele zu hören, schien mir um so mehr Interesse zu haben, als dieser Sender der Frankfurter ist, der seinen europäischen Ruf schon besaß, ehe sein früherer Programmleiter Flesch durch die Berufung nach Berlin die Aufmerksamkeit auf Frankfurt lenkte und seinen Mitarbeiter als Nachfolger zurückließ.
»Eine Sache historisch verstehen«, so beginnt Schoen, »heißt, sie als Reaktion, als Auseinandersetzung begreifen. So muß auch unser Frankfurter Unternehmen aus einem Ungenügen, und zwar aus einer Opposition gegen das erfaßt werden, was ursprünglich die Programmgestaltung des Rundfunks bestimmte. Das war, kurz gesagt, die Kultur mit einem haushohen K. Man glaubte im Rundfunk das Instrument eines riesenhaften Volksbildungsbetriebs in der Hand zu halten. Vortragszyklen, Unterrichtskurse, großaufgezogene didaktische Veranstaltungen aller Art setzten ein und endeten mit einem Fiasko. Denn was zeigte sich? Der Hörer will Unterhaltung. Und da hatte der Rundfunk nichts zu bieten: der Trockenheit und fachlichen Beschränktheit des belehrenden entsprachen Dürftigkeit und Tiefstand des ›bunten‹ Teils. Hier galt es einzusetzen. Was bisher als Vereinsunternehmen ›Schlummerrolle‹ oder ›fröhliches Weekend‹, eine Arabeske am seriösen Programm gewesen war, mußte aus der muffigen Atmosphäre des Amüsements in die gut durchlüftete, lockere und witzige Aktualität gehoben und zu einem Gefüge werden, in dem das Mannigfaltigste auf gute Art sich zueinander finden konnte.« Schoen gab die Losung aus: »Jedem Hörer was er haben will und noch ein bißchen mehr (nämlich von dem, was wir wollen).« Man sah aber in Frankfurt sogleich: dies zu bewirken ist heute nur möglich mit einer Politisierung, die ohne den chimärischen Ehrgeiz staatsbürgerlicher Erziehung den Zeitcharakter so bestimmt, wie ehemals der »Chat Noir« und die »Elf Scharfrichter« es getan haben.
Der erste Schritt war vorgezeichnet. Es galt anschließend an den Status quo des großstädtischen Kabaretts zu einer Auslese der Qualitäten, wie sie in solcher Strenge allein dem Rundfunk möglich ist, zu gelangen und zugleich den Vorsprung zu nutzen, den gerade hier der Rundfunk vorm Kabarett hat: vor dem Mikrophon Künstler zu kombinieren, die sich im Räume eines Kabaretts nicht leicht zusammenfinden. Und anschließend bemerkt Schoen: »Viel wichtiger als die zur Zeit etwas forcierte Suche nach dem literarischen Hörspiel mit seiner fragwürdigen Hörkulisse ist mir, die besten Methoden ausfindig zu machen, mit denen jedes Werk, das aufs Wort gestellt ist, vom lyrischen Drama bis zum Versuchsstück, in werdenden Formen übertragen zu werden vermag. Ganz anders steht es natürlich um jene unliterarischen, stofflich und sachlich bestimmten Hörspiele, mit denen gerade Frankfurt den Anfang gemacht hat. Hier wird man von den Erfahrungen der Kriminal- und Scheidungsaffären, die mit so viel Erfolg gegeben wurden, ausgehend, zunächst eine Folge von Mustern und Gegenmustern der Verhandlungstechnik – ›Wie nehme ich meinen Chef?‹ u. ä. – geben.« Es ist Schoen gelungen, gerade für diese Seite seiner Tätigkeit das Interesse von Bert Brecht zu gewinnen, der ihm hier zur Seite stehen wird.
Schoen denkt im übrigen nicht daran, die technischen Errungenschaften, wie deren jeder Monat im Rundfunk bringt, mit süffisanter Miene zum »Kulturgut« zu schlagen. Nein, er bewahrt ihnen gegenüber kühlen Kopf und ist sich zum Beispiel ganz darüber im klaren, daß die Vergrößerung seines Arbeitsgebietes wie das Fernsehen sie darstellt, auch neue Schwierigkeiten, Probleme, Gefahren naherückt. Für den Augenblick freilich hat der Rundfunk es nicht mit dem Fernsehen in vollem Umfang zu tun. Aber gerade was den zunächst in Frage kommenden Ausschnitt, den Bildfunk, betrifft (dessen Einrichtung von der Reichsrundfunk- Gesellschaft abhängt), leuchtet uns ein, daß seine künstlerischen Verwendungsmöglichkeiten, wie Ernst Schoen sagt, um so vielfältiger sein werden, je mehr es gelingen wird, ihn von bloßer Reportage zu emanzipieren, mit ihm zu spielen.
Sind es meine vorwiegend literarischen Interessen oder ist es nicht vielmehr die Zurückhaltung meines Partners – Ernst Schoen ist von Hause aus Musiker und ein Schüler des Franzosen Varèse –, die das Gespräch bisher von musikalischen Dingen fernhielten? Einer Frage nach dem Baden-Badener Musikfest, das bekanntlich zwei Tage der Musik für den Rundfunk gewidmet hatte, wird er nicht ganz ausweichen können. Nicht ohne Überraschung aber bemerke ich: er ist auch hier nicht aufs ästhetische Gebiet zu verführen. Er bleibt bei der Technik. Und führt ungefähr Folgendes aus: Die Techniker stehen auf dem Standpunkt: Es ist überhaupt keine besondere Musik für den Rundfunk nötig. Er ist entwickelt genug, um jede Musik vollendet zu übertragen. Demgegenüber Schoen: »Gewiß, in der Theorie. Aber das setzt vollkommene Sender und vollkommene Empfänger voraus, die es in der Praxis nicht gibt. Und das bestimmt die Aufgabe der Rundfunkmusik: Sie hat auf bestimmte Wirkungsminderungen Rücksicht zu nehmen, die heute noch mit jeder Übertragung verbunden sind. Darüber hinaus – hiermit stellt sich Schoen an Scherchens Seite – gibt es für eine besondere etwa ästhetisch neu fundierte Rundfunkmusik noch keinen Anhalt. Baden-Baden hat das bestätigt. Die Rangfolge des Wertes fiel bei dem, was man dort vortrug, mit der der Radioeignung zusammen. In beiden Hinsichten standen Brecht-Weill-Hindemiths ›Lindberghflug‹ und Eislers Kantate ›Tempo der Zeit‹ voran.«
»Das Radio«, bemerkt Ernst Schoen abschließend, »ist an einem bestimmten, verhältnismäßig willkürlichen Punkte seiner Entwicklung aus der Stille des Laboratoriums herausgerissen und zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht worden. Seine Entwicklung ging vorher langsam, sie geht jetzt nicht schneller. Würde ein Teil der Energien, die einem oft allzu intensiven Sendebetrieb dienen, auch heute den Versuchsarbeiten zugewandt, so würde der Rundfunk dadurch gefördert werden.«
Frank Wedekind: Frühlings Erwachen
An dieser Martinschen Aufführung war das grundsätzlich Interessante eine Akzentverschiebung. «Was da in Wendla und Melchior erwachte, war nicht mehr Frühling; so wenig regt er sich in diesen leidvollen, lärmenden Knaben und Mädchen wie in der trostlos verbauten Großstadt, mit welcher Caspar Neher sein vortreffliches Ingolstadt in den Schatten stellte. Das buschige Ufer, von dem sich Moritz Stiefel hinabgleiten läßt, ist senkrechte Kaimauer, der Heuboden, auf dem Wendla und Melchior miteinander zu schaffen haben, ein Hängeboden, und Hänschen Rilow macht dem Schulfreund sein Geständnis nicht mehr im Weinberg, sondern zwischen den Achsen und Radspeichen eines Zirkuswagens. Kurz, Martin hat den Kindern ihren großen Sachwalter, den Frühling, genommen. Der Erfolg hat ihm rechtgegeben. In den dreißig Jahren, die seit der Abfassung hingingen, sind diese Kinder mündig geworden. Aber auch das Stück ist gewachsen. Es steht größer, in sich vertrotzter und in sich verträumter vor uns. Und so hat es nicht nur auf sein schüchternes Frühlingsweben, sondern auch auf die provokatorische Geste verzichten können. Metapher und Tendenz sind im Vestibül des Naturalismus abgelegt worden. Nun tritt es mit seinem natürlichen und bisweilen Shakespeareschen Ernst in die Gegenwart. Unangekündigt, ohne zu klopfen. Es ist ganz normal und die Regie hat es richtig gefühlt, daß dieser Ernst sich mit dem unsrigen verbindet, dem die sexuelle Frage nur ein ungelenker Vorläufer der sozialen ist. »Unsinn! Die Berliner Rangen sind aufgeklärt! Darum muß Frühlings Erwachen in einer Kleinstadt spielen« hat man Martin entgegnet. Aber das ist es eben: Wedekind schrieb nicht die Moritat von den ahnungslosen Flegeln und Backfischen, sondern das Trauerspiel vom Erwachen der eigensinnigen Naturkraft in der Kreatur. Und eine blinde Macht geht mit der andern: die frühe Sexualität mit dem Großstadtelend. Das gab dem Stück seine Atmosphäre. Unvergeßlich der Abend am Kai, von dem sie wie ein feuchter Nebel ins Publikum drang, während Moritz Stiefel mit Ilse seinen Diskurs hat. Viel Unzureichendes, offenbare Fehlbesetzungen, mußte man unterwegs hinnehmen, dann aber faßten, in der letzten Szene, Darsteller und Regie auf diesem Boden Fuß, wo er am heißesten ist. Wahrscheinlich sind die Worte des abgefallenen, von seinen Händen aufbewahrten Kopfes noch niemals so – so voll von resigniertem Heimweh nach dem Rumpfe – gesprochen worden wie von Peter Lorre. Und der Epilogos des Stücks, der vermummte Herr, ist zur Zeit, als er von Wedekind selber gegeben wurde, dem Autor nicht besser gerecht geworden als hier in der Person von Walter Franck. Aber nicht nur Epilogos des Stücks, sonderndes ganzen romantischen Dramas; den aufgeregten Autor, der bei Bernhardi, Grabbe, Tieck nur aus Neugier und um ins Publikum zu wittern, die Nase hinterm Drama heraussteckt, treibt hier die Liebe zu den eigenen Kreaturen auf die Bühne. Zum Begräbnis des Moritz Stiefel kommt er zu spät, aber immer noch zeitig genug, seinen Melchior zu retten. So kam Wedekind den Kindern zu Hilfe. Die vollendete Kraft und Gesundheit der Dichtung aber – und das sehen wir erst heute – ist, daß diese Kinder es ihm vergelten. Freud hat gelehrt, daß alle »Entartungen« des Geschlechtslebens nur verfrühte Triebfixierungen sind; der Sexus ist auf kindlichen Entwicklungsstufen stehen geblieben; Denkmäler, Spuren dieser Stufen sind die Perversionen. Die allzu krassen, allzu scharfen Masken dieser Kinder sind inzwischen Schutzgötter des Wedekindschen Sexus selber geworden. Sie stehen zum organischen und geistigen Gesicht des Toten. Sie sind in der langen, traurigen Unsterblichkeit seine Nothelfer.
Karl Kraus: Die Unüberwindlichen
»Der Zuhälter ist das Vollzugsorgan der Unsittlichkeit; das Vollzugsorgan der Sittlichkeit ist der Erpresser.« So hat Kraus vor fünfzehn Jahren geschrieben. Nun zeigt er, wie der Polizeipräsident Wacker im Bund mit dem Erpresser Barkassy das Erbe des Doppelaars übernimmt, nachdem er dessen ausgestopften, mottenzerfressenen Balg – Wien – in einem Blutbad gesäubert hat. Dem sieht man Arkus (Anagramm für Kraus) entgegentreten. Jedoch vor diesem Zauberschränkchen »Polizeipräsidium«, in dem er den Erpresser ahnt, steht er so machtlos wie wir im Variété vor der berühmten »Zaubertruhe Salomonis«, aus der sogleich – wir wissen es – das schöne Kind sich hebt, obwohl doch alle Türen offen standen, und wir das Innere spiegelklar durchschauten. So wird es wirklich. Arkus hat das Nachsehen. Zum Schluß operiert Barkassy nicht mehr heimlich, sondern jovial und lärmend im Blutpalaste. Die frostige Distanz zwischen ihm und Wacker ist einer ausgesprochenen Nibelungentreue gewichen.
Wacker ist die vollendete Verkörperung dessen, was früher in der Fackel »die Fibel« hieß. Also ganz und gar nicht der abstoßende Ausbeuter, den George Grosz darstellt, und von dem die Proletarische Bühne die Maske des »Bourgeois« entlehnte. Wacker ist ein soignierter Herr; ein Würdenträger und dennoch Mensch; die Güte und die Innigkeit persönlich sind in den Dienst der Infamie getreten, um diesen Typus möglich zu machen, und wahrscheinlich mußte ein Wiener kommen, um ihn in jedem Zuge so schlicht und regelrecht zu treffen, wie es Peppler gelang. Es war eine unübertreffliche Leistung, und sie stellte ihn in den Mittelpunkt einer Aufführung, die auf außerordentlich hohem Niveau stand. Selten ist man bei den Berliner Veranstaltungen von Karl Kraus einem so unforcierten Enthusiasmus begegnet. Und wenn schließlich dennoch in den Applaus sich etwas von dem Gesinnungslärm mischte, der eine so zweideutige Begleiterscheinung der Berliner Premieren zu werden beginnt, so weist das auf den einzigen Punkt, in dem Regie und Text ein Schwanken zeigten.
Das ist der vierte Akt, in dem dramatischer und politischer Schwerpunkt sich nicht mehr decken. Es war ein Mißgriff des verdienstlichen Regisseurs Kenter, die beiden Schreiber in automatischem Gleichschritt an die Rampe zu führen, um sie dort mit ekstatischer Stimme die Akten der Julimorde verlesen zu lassen. Automatische Demagogen, demagogische Automaten sind widersinnig. Was hier als Bruch im Aufbau, Bruch im Beifall, Bruch in der Regie heraustritt, ist freilich die innerste Paradoxie der Sache selber: Kraus kann die eigene Niederlage nicht gestalten. Und dazu werden wir uns beglückwünschen. Wenn sich im letzten Akt der Dichter selbst den hochdramatischen Triumph nicht gönnt, dem Arkus von seinen Gegenspielern ein Licht über die wahren Grundsätze der Korruption aufstecken zu lassen, so ist es, weil Karl Kraus seinen Kampf nicht aufgibt. Sein Stück ist kein Schlachtendrama, sondern ein Communiqué an das Hinterland. Und es in den Abendspielplan zu übernehmen wäre die beste Antwort der Volksbühne auf die Konjunkturwelle der Kriegsdramen.
Dergleichen ging mir auf dem Heimwege durch den Sinn. Daneben aber, ganz ohne Zusammenhang mit alledem, sah ich vor mir: Den Dichter, im Jackettanzug, um den Hals, tief auf die Brust herunterhängend, eine Ordenskette. Die Glieder hießen: Ausbeutung, Kuppelei, Verrat, Erpressung, Sadismus, Lüge. In der Mitte aber bleischwer, erdrückend, dieser fürchterlichste Kraus-Anhänger: Wien. Und die plumpe Berlocke hohntanzte auf seiner geschundenen Brust um so ausgelassener, je verzweifelter er die Arme gen Himmel warf.
Uraufführung im Theater am Schiffbauerdamm
Die neue Sachlichkeit hat sich am politischen Drama die Milchzähne ausgebissen, ohne daß ihr darum Weisheitszähne gewachsen wären. Dieses Drama nämlich steht und fällt mit seinem didaktischen Gehalt, mit seinem Lehrwert. Davon will aber niemand hören; dafür hat niemand Zeit übrig. Es ist ja so viel einfacher statt eines Lehrgehalts, der den Autor strapaziert, weil er Einsicht verlangt, den agitatorischen in die Mitte zu stellen. Man kann es Ungar also nicht verdenken, wenn er statt ans politische Drama sich an ein politisiertes hält, und den bewährten Rohbau des bürgerlichen Lustspiels zugrunde legt, um darauf zu montieren, was er Verdrossenes, was er Despektierliches, was er Schnödes zu sagen hat. Auf diese Art gewinnt er festgefügte dankbare Rollen, denen eine sichere durchdachte Aufführung völlig gerecht wurde. Man sehe näher zu: Jede dieser Figuren ist nur durch eine kleine Verzerrung – wie uns der Simplizissimus seit Jahren zeigt – von dem sympathischen Urbild aus dem »Raub der Sabinerinnen« oder aus dem »Weißen Röss'l« unterschieden. Der Vater, ehemals zerstreuter Professor oder Schmierendirektor; jetzt (Erich Ponto: ganz meisterhaft) der närrisch weltfremde Schöngeist. Die Mutter, ehemals die waltende Hausfrau, die das Ihre zusammenhält; jetzt (Hedwig Wangel) das Weib, das mit beiden Füßen im Leben steht, und, etwas strindbergisch, die Ihren zusammenhält. Die Tochter, ehemals unaufgeklärt, unberührt und zum Schluß versorgt; jetzt (Hilde Körber) aufgeklärt, aber bis zur Narrheit, berührt, aber von dem Zukünftigen und zum Schluß nicht minder versorgt. Weil die Schärfe dieser Dialoge weit der des Aufbaus überlegen ist, darum geht es nicht ohne expressionistische Verstauchungen ab. So wie Ungar es tut, konfrontierte man vor acht Jahren eine »Kurtisane« und einen »Vater«. Manchmal langt der Witz nur mit weit heraushängender Zunge an der Pointe an.
Bei alledem bleibt das Drama (und nicht nur der ausgezeichneten Aufführung wegen, um die auch Nehers Panoptikumvilla ein großes Verdienst hat) sehr sehenswert. Es ist ein sauberer Trick, der zugrunde liegt. Wenn auch im Innern der Mechanismus noch auf die herkömmliche Weise abschnurrt, so macht es dennoch Spaß, sich das Ganze einmal in entgegengesetzter Richtung drehen zu sehen.
Von dem folgenden Dokument, Kunstgriffe oder Anweisung, wie Väter, Erzieher und Lehrer einen Aufsatz auf funfzigerley verschiedene Weise zweckmäßig zu Sprach- und Verstandesübungen benützen können von Friedrich Johann Albrecht Muck. Rothenburg im Rezatkreise, 1810. – Gedachter »Aufsatz« ist die Bertuch'sche Fabel »Das Lämmchen«., das zu den schrulligsten der Pädagogik gehören muß, wird sich schwer sagen lassen, ob es je
Ein junges Lämmchen, weiß wie Schnee,
Ging einst mit auf die Weide;
Mutwillig sprang es in den Klee,
Mit ausgelass'ner Freude. usw.
»Wie man – erklärt der Verfasser in einer Vorrede – einen einzigen, zweckmäßig gewählten deutschen Aufsatz auf möglichst verschiedene Weise zu Verstandes- und Sprachübungen benützen könne, ohne großen Aufwand von Kraft und Zeit? – hierauf mußte ich als Pfarrer zu Markt-Ippesheim besonders studieren, indem mir neben meinem Amte, und neben der täglichen Unterweisung der Schulcandidaten, auch noch der Unterricht mehrerer Zöglinge, meiner Kinder und einiger hoffnungsvollen Mädchen obgelegen ist. Das Resultat meiner Versuche enthalten diese Kunstgriffe.« Hier einiges aus dem Inhaltsverzeichnis: 1. Das Metrum richtig angegeben, aber beym Dictiren in jedem Verse eine Sylbe zu viel oder zu wenig. 2. Mit durchaus falscher Interpunction. 3. Mit orthographischen Fehlern. 4. Mit falschen Reimworten. 12. Erzählung dieser Fabel ohne R. 42. Fehlerhafte Perioden. 45. Paradoxe Fragen und Sätze, usw. usw. eine Rolle im regulären Unterricht gespielt hat. Daß es im Selbstverlage des Verfassers erschien, der doch als »Königl. Bayerischer Dekan der Diözese, Hauptprediger der Stadt und erster Distriktsschulinspektor des Landgerichts Rothenburg«, an sich einen anderen leicht hätte finden müssen, deutet darauf, daß man die praktische Brauchbarkeit dieses Buches schon vor 120 Jahren richtig eingeschätzt hat. Wir wollen es wenigstens hoffen. Hat nicht der Physikus des »Woyzeck« in seinem Verfasser einen Zwillingsbruder bekommen? Gäbe es nicht Büchner'sche Szenen, diese Deutschlehre im Unterricht an Kindern erprobt zu denken? Einen Magister darüber wachen zu sehen, daß auch kein R in die Erzählung des Schülers sich einschleiche, das Lämmchen der Bertuch'schen Fabel als Steckenpferd durch die vierzig Wochen des Schuljahrs einen pädagogischen Don Quichote tragen, den Lehrer vor versammelter Klasse haarscharf angeben zu sehen, wie man die falsche Interpunktion zu betonen habe (und wehe, wenn einer es richtig machte!), Lob und Tadel, Angenehmes und Unangenehmes einzelner Gegenstände abwägen, Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten aufsuchen und endlich auf der Basis der folgenden Thesen – sie sind dem Kapitel 14 entnommen, in dem die Hauptbegriffe der Fabel erst »unrichtig« und dann »richtig« erklärt werden – »Naturhistorische Unterhaltungen« der sprachlosen Kinder inszenieren zu sehen?
»Lämmchen: Ein Lämmchen ist ein altes großes Thier, mit Flügeln, zwey Füßen und Fühlhörnern versehen. Es lebt von der Luft, stellt dem Wolf nach und zehrt ihn auf, wenn es ihn erhascht. Es geht immer sehr bedächtlich einher, und besitzt viel Muth. Seiner körperlichen Stärke wegen wird es zum Lasttragen und Ziehen gebraucht. Auf seinem Felle trägt es Schuppen, die es von Zeit zu Zeit abwirft, und die der Nagelschmid als Köpfe auf die Nägel leimt.«
»Herz: Das Herz ist ein harter viereckichter Theil im Unterleibe des menschlichen Körpers, der sich von außen fühlen läßt. Wenn man zu viel gegessen hat, schwillt es auf, und verursacht Drücken. Der Wundarzt kann im Falle der Noth ganze Stücke daraus schneiden, ohne Nachtheil für die Gesundheit des Patienten.«
»Schnee: Der Schnee ist ein Mineral, das sich, jedoch nur im Sommer, im Erdboden findet, von Bergknappen zu Tag gefördert und durch Hämmer verarbeitet wird. Je näher er dem Ofen kommt, desto härter wird er, und brennt, der Flamme nahe gebracht, lichterloh. In Spanien und Portugal werden Schnallen und Knöpfe daraus fabriciert.«
»Die unrichtigen Angaben, schließt Muck, kann man auf ähnliche Art auch nur mündlich erzählen.« – Heute wird man sehr leicht geneigt sein, in dem Verfasser so einer Schrift weniger einen Pedanten als einen Geisteskranken zu vermuten. Wahrscheinlich mit Unrecht. Mehr als man glaubt, würde sich bei einer zeitkritischen Betrachtung des Falles erhellen. Um sie in einer Formel vorwegzunehmen: Ein später Rationalist, den die inzwischen hereingebrochene Romantik um seinen gesunden Menschenverstand gebracht hat. Aber was ist das anderes, als jener Büchnersche Physikus im Gewand eines Schulmeisters?
Zur Ausstellung »Gesunde Nerven« im Gesundheitshaus Kreuzberg
Diese Ausstellung ist ein Glücksfall. Sie ist mit dem Andenken eines merkwürdigen Mannes verbunden. Ernst Joël, Stadtoberschularzt des Bezirkes Kreuzberg, der den Plan zu ihr gefaßt und ihre Gestaltung ein gutes Stück geleitet hat, war einer der seltenen Menschen, die einen ungewöhnlichen Einfluß auf Andere, eine mit höchstem Charme verbundene Führerenergie, die wir in Deutschland allzu oft an eitle, verbohrte, sektenhafte Schrullen verschwendet sehen, streng rational und restlos in die Dienste einer Sache, durchdachter, folgerechter Volksaufklärung stellte. Wenn dieser Mann in allen Wirkungskreisen, die er in seinem kurzen Leben ausmaß, nicht nur Spuren, nein, ein Gedächtnis hinterließ, so ist es darum, weil er so heilsam aus der deutschen Situation herausfiel. Daß gerade die stärksten und suggestivsten Naturen den freien und vernunftgemäßen Ort, der ihre Kräfte wirksam macht, nicht finden, daß sie in freireligiösen Siedlungen und völkischen Stoßtrupps, in Mazdaznanverbänden und Tanzgruppen sich verkapseln, aus dem Fanatismus einen Komfort machen und ihr Bestes verloren geben, das ist die chronische Katastrophe des Nachkriegsdeutschland. Ernst Joël hatte alles Zeug zum Fanatiker: die Überzeugung, die Rastlosigkeit und die Wirkungskraft. Ihm fehlte nur eines: der Hochmut. Und darum konnten diese souveränen Kräfte sich ungeteilt einem unscheinbaren aber fruchtbaren Felde zuwenden, das meist die unbestrittene Domäne der Bonzen bleibt: Medizinischer Volksaufklärung.
Was in solchem Glücksfalle das Ergebnis ist, zeigt diese Ausstellung. Da ist nicht nur die berühmte Kleinarbeit, nicht nur die organisatorische Seite der Sache bewältigt, da ist vielmehr an allen Ecken und Enden eine Überlegung, eine grundsätzliche Klarheit zu spüren, wie nicht Amtsstunden, sondern nur Monate passioniertester Tätigkeit sie erzeugen. Weder Joel noch einer seiner Mitarbeiter sind in Rußland gewesen. Desto interessanter, daß der erste Blick in den Räumen jedem der sie betritt, eine Vorstellung davon geben kann, wie es im Moskauer »Hause der Bauernschaft« oder im »Klub der roten Soldaten« im Kreml aussieht. Nämlich heiter, bewegt und freudig und so, als sei gerade heute, am Tage an dem du kommst, hier etwas ganz Besonderes los. Modelle, Transparente sind gruppiert, als hätten sie auf das Geburtstagskind gewartet, Statistiken schwingen sich wie Guirlanden von Wand zu Wand, an manchen Apparaten sucht man unwillkürlich den Schlitz, um sie durch einen Groschen in Bewegung zu setzen, so unfaßlich scheint es, daß hier alles umsonst ist. Bald kommen wir auch hinter einen Trick: der künstlerische Leiter dieser Schau, Wigmann, ist Zeichenlehrer. Er hat die Schulkinder für diese Ausstellung gewisse Themen »niedermalen« lassen. So sind aus dem »Tag des Abergläubigen«, aus den »Erziehungsfehlern unserer Eltern« eigensinnige, grellbunte Bilderfolgen geworden, zu denen nur die Leierkastentexte und das Stöckchen des Moritatensängers noch fehlen. Ganz davon abgesehen, daß die Aussicht auf solch vernünftige Verwendung ihrer Sachen die Lust der Kinder an der Arbeit steigert. Kinder können hier darum so gut vermitteln, weil sie ja die eigentlichen Laien sind.
Und Laien sind auch die Besucher dieser Schau und sollen es bleiben. Damit ist die Maxime der neuen Volksbildung im Gegensatz zur früheren ausgesprochen, die von der Gelehrsamkeit ausging und glaubte, mit Hilfe einiger Tabellen und Präparate dies gelehrte Wissen zum Eigentum der Masse machen zu können, zu sollen. Die Qualität, so sagte man sich, wird schon in Quantität umschlagen. Umgekehrt geht die neue Volksbildung von der Tatsache des Massenbesuchs aus. Quantität in Qualität verwandeln ist die Parole, ein Umschlag, der für sie identisch mit dem vom Theoretischen zur Praxis ist. Die Besucher sollen, wie gesagt, Laien bleiben. Nicht gelehrter sollen sie die Ausstellung verlassen, sondern gewitzter. Die Aufgabe der echten, wirksamen Darstellung ist geradezu, das Wissen aus den Schranken des Faches zu lösen und praktisch zu machen.
Aber was ist »echte Darstellung«? Mit andern Worten: was ist Ausstellungstechnik? Wende sich wer das wissen will an die ältesten Fachleute dieser Branche. Wir alle kennen sie. Frühen Unterricht haben wir bei ihnen genommen. Säugetiere, Fische und Vögel lernten wir gesattelt bei ihnen handhaben, alle Berufe und Stände lernten wir in der Tätigkeit kennen, in die unser Büchsenschuß sie versetzte, ja unsere eigenen Kräfte lernten wir an der »langen Jule« – dem Schreckbild, das auf einen Hammerschlag den Kopf aus einem Hohlzylinder vorreckt – messen. Die fahrenden Leute leben vom Ausstellen, und ihr Gewerbe ist alt genug, ihnen zu einem soliden Schatz von Erfahrungen verholfen zu haben. Sie sind aber alle um diese Weisheit gruppiert: um jeden Preis und jedem die kontemplative Haltung, das unbeteiligte und schnöde Mustern zu verlegen. Darum keine Schau ohne Karussells, Schießbuden, Muskelmesser, ohne Liebesthermometer, Kartenlegerinnen, Lotterien. Wer als Gaffer gekommen ist, soll nach Hause gehen als einer, der mitmachte – das ist der kategorische Imperativ des Jahrmarkts. Nicht so sehr durch ihre Dioramen, Transparente und Verwandlungsbilder, die übrigens mit den primitivsten Mitteln gemacht sind, sondern durch dieses In-Aktion-Versetzen des Besuchers kommt der Charakter dieser Ausstellung zustande. – Da ist das Stichwort »Berufsberatung«. Ein Kopf vor einer Scheibe, auf die Embleme, Situationen der verschiedensten Berufe montiert sind. Ein Stoß gegen die Scheibe, und nun scheint auch – es ist aber eine optische Täuschung – der Kopf sich in Bewegung zu setzen und sein resigniertes Pendeln zeigt an, wie er ratlos ist. Daneben eine Reihe Prüfungsapparate, an denen jeder, der Lust hat, seine Geschicklichkeit, seinen Farbensinn, seine Übungsfähigkeit, seine Kombinationsgabe feststellen kann. Das delphische »Erkenne dich selbst« lockt von jeder automatischen Waage. Der Jahrmarkt kennt es in dem Teufelkabinett, dem schwarz ausgeschlagenen Verschlag, in dem der Teufel unter dem Federhut seine Fratze zu bewegen scheint. Wenn du dich bückst, um sie zu erkennen, ist da ein Spiegel, aus dem du selbst dir entgegen blickst. Wigmann war klug; er hat auch das übernommen. Es gibt da eine Stube gegen den Aberglauben: »Wer glaubt das?« steht auf einer beweglichen Tafel, auf der Prospekte zur Schau gestellt sind. Du ziehst sie hoch und erblickst dich in dem Spiegel, der dahinter zum Vorschein kommt.
Was heißt das alles? Das heißt: echte Darstellung drängt die Kontemplation zurück. Um den Besucher, wie es hier geschehen ist, in die Schau hineinzumontieren, muß das Optische sich in Schranken halten. Verdummend würde jede Anschauung wirken, der das Moment der Überraschung fehlt. Was zu sehen ist, darf nie dasselbe, oder einfach mehr oder weniger sein, als eine Beschriftung zu sagen hätte. Es muß ein Neues, einen Trick der Evidenz mit sich führen, der mit Worten grundsätzlich nicht erzielt wird. Da soll z. B. der Vierteljahrskonsum eines Trinkers dargestellt werden. Nun hätte man sich begnügen können, eine ansehnliche Batterie leerer Wein- oder Schnapsflaschen aufzubauen. Statt dessen legt Joel neben die Tafel mit Aufschrift ein schmutziges Zettelchen mit den Spuren vielfacher Kniffe: die Vierteljahrsrechnung bei dem Weinhändler. Und während die Weinflaschen den Text zwar beleuchten, selbst aber wenig durch diese Zusammenstellung verändert werden, fällt plötzlich auf das Dokument, die Rechnung, ein neues Licht. Es erregt, weil es richtig montiert ist, Aufsehen.
Montage kennt die Budenschau freilich nicht. Hier bricht der Anschauungskanon unserer Tage, der Wille zum Authentischen, ein. Montage ist ja kein kunstgewerbliches Stilprinzip. Sie entstand, als es gegen Ende des Krieges der Avantgarde deutlich wurde: die Wirklichkeit hat nun aufgehört, sich bewältigen zu lassen. Uns bleibt – um Zeit und einen kühlen Kopf zu bekommen – nichts weiter übrig, als sie vor allem einmal ungeordnet, selber, anarchisch, wenn es sein muß, zu Worte kommen zu lassen. Die Avantgarde waren damals die Dadaisten. Sie montierten Stoffreste, Straßenbahnbilletts, Glasscherben, Knöpfe, Streichhölzer und sagten damit: Ihr werdet mit der Wirklichkeit nicht mehr fertig. Mit diesem kleinen Kehricht ebenso wenig wie mit Truppentransporten, Grippe und Reichsbanknoten. Als die neue Sachlichkeit sie schüchtern zu desavouieren und Ordnung zu stiften wagte, hätte diese Entwicklung am Film, der nun so unabsehbar großes Dokumentenmaterial ergab, den stärksten Anhalt gewinnen müssen. Aber die Amüsierindustrie, die die technischen Möglichkeiten nur entwickelt, um sie dann lahm zu setzen, hemmte auch dies. Immerhin: sie schulte den Blick fürs Authentische. Was ist nicht alles authentisch, ohne daß wir uns im Vorübergehen davon Rechenschaft geben? Was wird für den, der den Prozeß gegen Ausbeutung, Elend und Dummheit rücksichtslos führt, nicht alles zu einem corpus delicti? Den Veranstaltern dieser Ausstellung war nichts wichtiger als diese Erkenntnis und der kleine Chock, der mit ihr aus den Dingen springt. Im »Saal des Aberglaubens« hat man eine Kartenlegerin errichtet, an der von Geld und Spielkarten auf dem Tisch bis zu dem gelbgrauen Chignon fast alles echt ist; wer davor steht, fühlt sich nicht belehrt, sondern einfach ertappt. Er wird – auch wenn er noch bei keiner war – »nie wieder« hingehen.
Kluge Fallen, die die Aufmerksamkeit locken und festhalten. Was von Texten übrig bleibt, sind Parolen. »Die Durchbrechung des Achtstundentags raubt dem Arbeitenden die Möglichkeit, an den Errungenschaften der Kultur Anteil zu nehmen. Das ist Tod aller geistigen Hygiene.« – Oder: unter einem Interieur aus dem Arbeitsamt ein Foliobogen, der in zehn Kolonnen von oben bis unten nur immer mit dem Worte »Warten« bedruckt ist. Er sieht aus wie die Börsennotierungen einer Tageszeitung. Quer darüber mit fetten Buchstaben: »Der Kurszettel des armen Mannes.« Wenn etwas fehlt, so ist es am Eingang, wo der Satz hätte Platz finden sollen, der hier so glänzend bewiesen wird:
Langeweile verdummt, Kurzweil klärt auf.
Die Theaterkritik, in Europa eine Methode, das Publikum zu beeinflussen, ist in Rußland ein Mittel, es zu organisieren. Ich habe mich über diese Funktion der Theaterkritik in Moskau mit einem, der davon wissen muß, unterhalten. Vielleicht war es weniger eine Unterhaltung, als ein Austausch prägnanter Erfahrungen. Mir kam es jedenfalls nicht auf eine exotische Farbe mehr im Bilde des Moskauer Geisteslebens an, sondern auf einen möglichst genauen Einblick darein, wie ein Theatererfolg in Moskau aussieht. Niemand weiß das besser als mein Partner, Bill' Belozerkowsky, der Verfasser des »Sturm«. »Sturm« war nicht nur der größte Erfolg in der sowjetrussischen Theatergeschichte, es war zugleich der erste, der mit einem rein politischen Drama errungen wurde. Im übrigen hat er mit vielen westeuropäischen jedenfalls dies gemein, daß die Fachleute von einem Durchfall felsenfest überzeugt waren. Ich selbst habe Belozerkowskys Stück vor mehreren Jahren in Moskau gesehen. »Sturm« ist eine Szenenfolge, die die Revolution in der Kleinstadt schildert. Wie hat man nun die Energien, die jeder große Theatererfolg enthält, und die bei uns so oft im Amüsiertrieb verpuffen, in Moskau zu verwerten gewußt? Daß nämlich eine Verwertung stattfand, ist am Resultat zu beweisen. Im »Sturm« setzt der neue russische Naturalismus ein, den man Naturalismus weniger des Milieus und der Psychologie, als der politischen Augenblickssituation nennen könnte. Um das vorweg zu nehmen: der Anteil der professionellen Theaterkritik an diesem Vorgang war verschwindend. Es gibt keine prominenten Feuilletonkritiker in Rußland, jedenfalls nicht fürs Theater. Das ist kein Zufall. Warum es ihn nicht gibt, haben wir bald begriffen. Schwerlich sind irgendwo im literarischen Betrieb politische Spannungen offenkundiger als im Theater. Das Massenpublikum bringt sie zum Ausdruck. In einem ohnehin durchdringend politisierten Lande wie Rußland wäre es für den Einzelnen aussichtslos, kraft seiner bloßen Eigenschaft als Rezensent diese Energien leiten zu wollen. Daher geschieht es wohl, daß hin und wieder an wichtigen Wendepunkten die großen Theoretiker selbst das Wort ergreifen, Bucharin etwa in der »Prawda« sich zu einer Meyerholdschen Inszenierung äußert; das hat dann Einfluß. Aber die journalistische Theaterkritik hat kaum welchen. An ihre Stelle tritt die Artikulation des anfangs eruptiven wortlosen Massenurteils. Nach Schluß der ersten Vorstellung bleibt das Theater noch ein, zwei Stunden geöffnet, und es finden an Ort und Stelle sogleich Debatten über den Abend statt. Das ist keine Premierensensation. Das Bestreben, den Eindruck festzuhalten, klarzustellen, zu beleben, hat sich organisiert und zu den Enqueten geführt, die allabendlich über die wesentlichsten Stücke veranstaltet werden. Die Rubriken der Fragebogen, auf denen die Besucher sich äußern, sind je nach dem Theater und nach dem Stück verschieden und reichen von den primitivsten Fragen: »Wie hat das Stück Ihnen gefallen?« bis zu subtileren: »Wie würden Sie das Stück haben enden lassen?« Zu schweigen von den ideologisch-ästhetischen Fragestellungen, von den Urteilen über Schauspieler und Regie. Namentliche Unterschrift ist nicht erforderlich, aber auf dem Fragebogen soll vermerkt werden, welcher Klasse der Ausfüllende sich zurechnet. Auszüge aus solchen Enqueten werden in den Zeitschriften der verschiedenen Theater veröffentlicht. Aber auch hierin hat man nicht den endgültigen Niederschlag der öffentlichen Kritik zu suchen. Den bilden vielmehr die Berichte der Arbeiterkorrespondenten, der sogenannten Rabkorr, die im Namen der Fabrikzellen in den Tagesblättern, Gewerkschafts-, Fabrikorganen usw. zu aktuellen Fragen das Wort ergreifen. Davon gibt es zur Zeit in Moskau 1200. Ihre Stellungnahme kann ausschlaggebend sein, dies aber wieder nur darum, weil sie öffentlicher Kontrolle zugänglich ist. Die Rabkorr veranstalten in ihrem eigenen Wirkungskreis Diskussionen – sogenannte »Gerichtsverhandlungen« über das Stück –, zu denen dann wiederum das Theater, vor allem der Dichter, geladen wird. Hier hat er Gelegenheit, unmittelbar vor dem Arbeiterpublikum seine Gedanken zu entwickeln, um neue Anregung zu empfangen. Der Einfluß der Rabkorr, ihre Agitation für oder gegen ein Stück, ist schließlich so groß geworden, daß manches Theater es vorgezogen hat, ehe es mit der Probe beginnt, sich mit ihnen ins Einvernehmen zu setzen. Natürlich hat ihr Veto keine ausschlaggebende Bedeutung, meist aber bemüht man sich, in der Form eines Kompromisses von vorne herein ihrer Kritik entgegen zu kommen.
Es gibt in Berlin wieder eine schöne Ausstellung, mit anderen Worten ein paar Säle, in denen es still und friedlich ist und wo man sich tagelang aufhalten kann, ohne einer lebenden Seele zu begegnen. Gäbe es nichts in diesen Sälen als die Ruhe und den schönen Blick auf den Tiergarten, den man von Paul Graupes Fenstern aus hat – der Aufenthalt darin wäre an sich schon empfehlenswert. Nun aber kommt der Umstand hinzu, daß Rolf von Hoerschelmann und Otto A. Hirth in diesen Sälen ausgestellt haben.
Hoerschelmann zeigt Paris-Studien, Bilder aus Dalmatien, aus Franken – eine Art Reisetagebuch seines verflossenen Jahres. Die Sachen insistieren auf dem Lokal, sie haben die eigensinnige topographische Präzision, die da sagt: Hier bin ich gewesen. Es gibt diese Art, Ort und Stelle schwarz auf weiß nach Hause zu tragen. Und sie ist Hoerschelmanns; nur eben, daß diese Blätter bunt sind. Wenn sie im Aufbau an die altmeisterliche Keuschheit gemahnen, mit der im fünfzehnten Jahrhundert Landschaften manchmal eher auf- als abgezeichnet wurden, so spricht ihr Kolorit von dem Verhältnis, das Hoerschelmann, als Sammler, zu der versessenen Farbigkeit der ausgetuschten Kinderbücher hat. Der Zauber dieser Blätter ist vielleicht der: Auf ihnen finden Lokal und Phantasie sich in »freier Liebe« zusammen, ohne sich standesamtlich von der Komposition vermählen zu lassen. Und weniger als bei irgendwem ist es bei Hoerschelmann gleichgültig, was er malt. Natürlich wird kein Ort auf der Erde besser der anarchischen Konvention, die diese Blätter schuf, entgegenkommen, als Paris. Jeder der da gewesen ist, wo dieser Mann malte, ist auf seinen Blättern zu Hause. Und, um nun einen großen Namen zu nennen: wenn von Utrillos Bildern überall ein unsichtbares Schild herunterhängt: »Diese Straße ist zu vermieten«, so sind wir in den möblierten Straßen der Stadt, die hier zu sehen sind, selber der Zimmerherr.
Nebenan gibt es Otto A. Hirth, der aus dem Spielbarock herkommt. In Hoerschelmanns Sachen lebt Kinderernst; Hirth hat die Geste des barocken Menschen, der sich das Kinderantlitz als Maske vorhielt, um desto schwermütiger seine unergründlichen Spiele zu spielen. Das siebzehnte Jahrhundert hat unter seinen genialen Einfällen den gehabt, mit einem Schlage dadurch sein Gewand um die ganze Erde zu werfen, daß es die Landkarte allegorisch verwendete. Damals entstanden die cartes du tendre – die Landkarten des Liebesreiches –, die Generalstabskarten des Schlaraffenlandes, die Regiones Animae Hominum. Dergleichen finden wir bei Hirth wieder. Wie groß sein echter allegorischer Eigensinn ist, erkennt man aber erst, wenn man die Bergzüge, die Flüsse, Vesten und Flecken sich näher ansieht, wo denn »Fleiß«, »Habsucht«, »Tapferkeit« genau das gleiche Städtchen, die Berge des Stolzes nicht sehr verschieden vom Gebirge der Dummheit sind. Auf anderen Blättern verbindet sich mit der Atlantenmanie dieses merkwürdigen Mannes das Labyrinthmotiv, das wir alle aus unserer Kinderzeit kennen. Aber wie herrlich sind nicht die dürftigen Winkelzüge vom Rande unserer Rechen- und Zeichenhefte hier aufgegangen, zu Brücken- und Bogen-, Berg- und Höhlen-, Dom- und Mauer-Labyrinthen geworden. Unabsehbare Landschaften reihen sich so aneinander, sind auch bisweilen zusammensetzbar, nämlich als Tapetenmuster gedacht und erinnern dann an die Myrioramen, die man vor hundert Jahren den Kindern schenkte: Blätter mit Landschaftsstücken, die man beliebig auswechseln und zusammenfügen konnte. Einleuchtend hängen neben diesen Bogen Phantasiearchitekturen, wie Meister aus der Schule Piranesis sie für die Wiener Oper vor zweihundertfünfzig Jahren entworfen haben. Vielleicht erkennen wir sie eines Tages auf der heutigen Bühne wieder.
Gemeinsam ist den beiden Bilderreihen, die wir beschrieben haben, dies eine: es zeigen sich auf ihnen keine Menschen. Genius loci und genius saeculi haben die Erde unter sich aufgeteilt. Dies ist der unterirdische Gang, der von Hoerschelmanns Bildern zu Hirths Phantasien führt. Vergessen wir aber darüber nicht, wie bequem sich's durch eine Tür von einem dieser Säle in den andern spazieren läßt.
Von allen Malern, die heute am Leben sind, hat Ensor wahrscheinlich das auffallendste Werk. Nicht im Sinne des Kolorits – seine Farben sind oft gedämpft – sondern im Sinn des Gemalten. Jedes Kind sieht: In diesen Bildern geht etwas um. Dennoch hat selbst dies Werk nicht das Geschwätz der Snobisten entmutigt. »Durch Beurteilung und Bewunderung seiner Sujets oder seiner Gedanken tut man ihm unrecht. Und Alle, die diese unfruchtbare Diskussion fortsetzen, verlängern dies Unrecht.« Wir wollen nicht scheuen, es ihn zur Feier seines siebzigsten Geburtstags erleiden zu lassen. Heute an diesen Sujets vorüberzugehen, wäre gesuchter denn je, weil sie ganz unabhängig von Ensors Werk, geschweige denn vom Jubiläum seines Schöpfers, zur Debatte stehen. Sie teilen die Beharrlichkeit, mit der sie fortdauernd wiederkehren, mit denen, die in den Leistungen der Psychopathen, Primitiven und Kinder die Analyse herausfordern. Wer sich die Fülle seiner Fratzen und Masken, die Stereotypie seiner Kringel und Ornamente, die in Wolken- und Menschenmassen sich wiederfinden, die provozierend literarischen Unterschriften vergegenwärtigt, stößt unbedingt auf einen zwangshaften Einschlag in Ensors Schaffen. Mehr noch als seine einzelnen Bilder verlangen diese Motive gebieterisch, enträtselt zu werden; ein Verlangen, das am Ende wohl auch den Snobisten zu Ohren gekommen sein muß. Daraufhin tauchten dann die beliebten Erklärungen auf, die auf eine Unterschlagung der Rätselfrage hinauskommen. Die Masken, das seien eben die Figuren der belgischen Landsleute, die er in Brügge beim Karneval beobachtet habe, die Unheimlichkeit seiner »Schlittschuhläufer«, seiner »Schlacht der Güldensporne« sei in Wahrheit biderbe Komik, das »In Betrachtung von Chinaarbeiten versunkene Skelett« ein Vorwand, die Reflexe von Licht auf Knochen und Porzellan zu studieren. Alledem gegenüber wird immer mit Nachdruck auf die grundlegende Betrachtung verwiesen werden müssen, die Wilhelm Fraenger im Anschluß an die Radierung »Die Kathedrale« von Ensors Schaffen gegeben hat, und die mit Tschudis Analyse des Manetschen Fliederstraußes, Grimmes ikonographischer Enträtselung der Sixtinischen Madonna zu den vorbildlichen Detailstudien der neuesten Kunstwissenschaft gehört. Fraenger nimmt es da mit den Hauptmotiven des Meisters auf: mit der Masse, mit der Maske und mit dem Raum. Es gelingt ihm, Ensors Motive durch Zeugnisse Georg Heyms, Strindbergs, Kubins zu beleuchten und aus der »Kathedrale« ein verwandeltes Selbstportrait des Malers herauszulesen. Gewissermaßen das Architekturskelett eines Ensor, der sich und allem Lebenden entfremdet, in die Mitte einer von panischem Entsetzen fixierten Masse von Larven und Soldaten gebannt ist, um so als Urweltmaske unter jüngeren Masken, als gotischer Saurier mit der unabsehbaren Gipfelung des Horn-Turms, den Raum in leises Schwanken zu versetzen und seine Wesen ins Nirwana einzuwiegen. Aber vielleicht kann man den Angriff gegens l'art pour l'art noch weiter vortragen und dem Ästhetizismus der in Valeurs und Tonalitäten sich auskennt, eine fast politische Ensordeutung entgegenstellen. Da die artistische Wertung von Ensors Sachen immer vom Lichte wird ausgehen müssen, ist für einen, der sich von der Gesamterscheinung dieses Werkes Rechenschaft geben will, vielleicht die Hauptfrage, wie dieses Licht mit den Erfahrungen zusammenhängt, deren Niederschlag seine Bilder sind. Man hat darauf verwiesen, daß Ensor an der Küste in Ostende lebt, daß die atmosphärischen Nuancen der Meerluft in seinen Bildern sich spiegeln. Gewiß. Da aber Bilder doch nicht Spiegel sind, warum spiegeln sie sich in ihnen? Die Meerluft löst nicht nur das Licht in eine unendliche Tonskala auf, sie löst, oder vielmehr zersetzt auch den Stein, sie frißt und sie zehrt am Festen. Und indem wir uns das Bild so gelöster, zersetzter Blöcke vor Augen stellen, wie die, in denen die »Kathedrale« weniger ragt als rieselt, geraten wir auf eine sonderbare Seite der Zersetzung: daß sie nämlich das Massenhafte, daß sie die verborgene Unzähligkeit der Dinge hervorkehrt. Der angefressene Stein, zersetztes Fleisch zeigen die Vielheit ihres körnigen oder zelligen Aufbaus. »Masse« scheint ganz und gar nichts Rundes, Eindeutiges zu sein. Es scheint eine Dialektik der Masse und sie selber zwiefach zu geben, je nachdem, ob sie sich formiert oder ob sie entdeckt wird. Die aufgedeckte, die entdeckte Masse ist immer das Gewimmel des Schlangenknäuels, den wir mit Ekel unter einem aufgehobenen Stein entdecken. Nun ist der Friede so ein Stein gewesen, und der Krieg hat ihn gewendet und aufgehoben, daß unter ihm das scheußliche Gewimmel der Schlange »Inflation« zum Vorschein kam. Ganz wenige nur wußten schon vordem, wie es unter diesem Stein aussah, zu dem die Masse gebetet hat. Einer von diesen war Ensor. Ihm war er transparent geworden, er sah die ungezählten Windungen derer, die am Höllentor Schlange stehen. Nicht das Gesicht, das Gekröse der herrschenden Klasse.
30. Dezember 1929. Kaum hat man die Stadt betreten, so ist man beschenkt. Vergeblich der Vorsatz, nichts über sie niederzuschreiben. Man baut sich den vergangenen Tag auf wie Kinder am Weihnachtsmorgen sich den Gabentisch wieder aufbauen. Auch das ist ja eine Art zu danken. Im übrigen halte ich mich an meine Veranstaltungen, eines Tages mehr zu unternehmen als das. Für diesmal aber verbieten mir eben sie, verbietet die Besonnenheit, die ich für jene Arbeit mir bewahren muß, der Stadt mich willenlos zu überlassen. Zum ersten Mal entweiche ich ihr, entziehe mich dem Stelldichein, zu dem der alte Kuppler Einsamkeit mich einlädt und richte es ein, daß ich an manchen Tagen vor Parisern die Stadt nicht sehe. Freilich – wie leicht ist es nicht, hinwegzusehen über diese Stadt! So leicht wie über Gesundheit und Glück. Unfaßlich, wie wenig sie insistiert. Es gibt wohl keine, in der sich weniger übersehen läßt, in der weniger übersehen wird, als in Berlin. Darin erscheint der organisatorische und technische Geist, der es im Guten und Schlechten beherrscht. Dagegen Paris. Wie sehr die Straße selber hier gewohntes, ja ausgewohntes Interieur ist, wieviel man tagtäglich, selbst in den vertrautesten Teilen, nicht sieht, wie vom rechten auf den linken Bürgersteig hinüberzuwechseln nirgends entscheidender ist – man muß Paris lange bewohnt haben, um das zu wissen. Woher diese Unscheinbarkeit, die an den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Geringsten sich ausrichtet? Vielleicht aus einer uns sehr fremden Durchdringung konservativer und städtischer Denkungsart. Nicht nur der Aragon, der jenes Buch schrieb, ist ein »Paysan de Paris«, erst recht sind es der concierge, der marchand de quatre Saisons, selbst der flic. Sie alle Leute, die ihr quartier bebauen, stetig und friedliebend wie die Bauern. Sicher war die Baugeschichte der Stadt nicht weniger bewegt, nicht weniger voll von Gewalttat als andere. Wie aber die Natur an Burgen Wunden mit Grün heilt, so hat angesiedeltes, strotzendes Bürgertum die Zerrissenheit der Großstadt befriedet. Wenn manche abgelegenen Plätze so innig den Raum umfangen, als hätte eine Konvention von Häusern sie gestiftet, so hat der Sinn für Friedlichkeit und Dauer, der sie schuf, Jahrhunderte hindurch sich auf ihre Anwohner übertragen. Und all dies klang in der Begrüßung mit, mit der der alte Kassenvorstand meiner Wechselstube mich heut nach langem Fernsein empfing: »Vous avez été un moment absent« – ein Ruck, mit dem er meine Abwesenheit zusammenschnürte, wie einen Sack, in dem er die Ersparnisse dreier Jahre mir aushändigte.
6. Januar 1930. In den ersten Januartagen sah ich: Aragon, Desnos, Green, Fargue. Fargue tauchte im Bateau Ivre auf. Es gibt da drinnen Kommandobrücken, Bullaugen, Schallrohre, viel Messing, viel Weißlackiertes. Die neueste Mode: daß die boîtes de nuit von Damen der Aristokratie gehalten werden. So gehört diese einer Prinzessin d'Erlanger. Da der Ginfizz außerdem 20 Fr. kostet, so kann die Aristokratie nebenbei noch Geschäfte machen und dies mit um so besserem Gewissen, als sich an ihren Mixturen zum großen Teil Schriftsteller inspirieren, der Betrieb die geistigen Güter der Nation mithin mehrt. Dort also begegnete mir, lange nach Mitternacht, glutheiß, gewissermaßen aus dem Kesselraum auftauchend, Léon-Paul Fargue. Als er da plötzlich vor mir auftauchte, blieb mir nur Zeit, D., welcher neben mir saß, zuzuflüstern: »Der größte lebende Lyriker Frankreichs.« Abgesehen davon aber, daß Fargue in der Tat ein großer Lyriker ist, an diesem Abend lernten wir ihn als einen der bestrikkendsten Erzähler kennen. Er hatte kaum erfahren, daß ich mich mit Marcel Proust viel beschäftigt habe, als er seine ganze Ehre dareinlegte, das kolorierteste und zerrissenste Bild seines ehemaligen Freundes vor uns aufzurufen. Da war aber nicht nur die Physiognomie des Mannes, die erstaunlich in Fargues Stimme auflebte; nicht nur das laute exaltierte Lachen des jungen Proust, des Salonlöwen, der, am ganzen Körper geschüttelt, die weißbehandschuhten Hände vor den weitaufgerissenen Mund preßt, während sein viereckiges Monokel am breiten, schwarzen Band vor ihm hertanzt; nicht nur der kranke Proust, der in einem Zimmer, das sich vom Möbelspeicher eines Auktionshauses kaum unterschied, im tagelang ungemachten Bett, vielmehr in einer Höhle aus Manuskripten, beschriebenen und unbeschriebenen Blättern, Schreibunterlagen, Büchern, hauste, die sich zu Bergen türmten, in den Ritzen zwischen Bett und Wand sich verfingen, auf dem Nachttisch gestapelt lagen, – nicht nur diesen Proust rief er auf; er skizzierte die zwanzigjährige Geschichte dieser Freundschaft, die Ausbrüche rührender Zärtlichkeit, die Anwandlungen irrsinnigen Mißtrauens, dies »Vous m'avez trahi« à propos de tout et rien, nicht zu vergessen die denkwürdige Darstellung, die er von dem Diner und freilich auch von seiner eigenen Regie des Diners gab, zu dem er Marcel Proust und James Joyce, die sich dabei zum ersten und letzten Mal sahen, zu sich gebeten hatte. »Das Gespräch in Gang zu halten«, sagt Fargue, »hieß für mich eine Zentnerlast stemmen. Dabei hatte ich schon vorsorglich zwei schöne Frauen gebeten, um den Zusammenstoß etwas zu mildern. Aber das hinderte nicht, daß Joyce beim Fortgehen sich hoch und teuer verschwor, nie wieder den Fuß in ein Zimmer zu setzen, wo er dieser Figur zu begegnen Gefahr laufen könne.« Und Fargue ahmt das Entsetzen nach, das den Iren durchzitterte, als Proust von irgendeiner kaiserlichen oder prinzlichen Hoheit mit aufgerissenen leuchtenden Augen beteuerte: »C'était ma première altesse.« – Dieser frühe Proust vom Ende der neunziger Jahre stand am Beginn eines Weges, dessen Verlauf er selbst noch nicht absehen konnte. Damals suchte er die Identität im Menschen. Sie erschien ihm als das eigentlich Vergottende. So begann der größte Zerstörer der Idee der Persönlichkeit, den die neuere Literatur kennt. – »Fargue«, schreibt Léon Pierre-Quint im November 1929, »ist von denen, die schreiben wie sie sprechen, er spricht fortwährend Werke, die ungeschrieben – vielleicht aus Faulheit, vielleicht auch aus Verachtung für das Schreiben – bleiben. Anders als in Geistesblitzen, in Wortspielen, die einander ebenso zwangwie endlos ablösen, könnte er gar nicht reden. Paris, seine gottverlorenen kleinen Cafés, seine Bars, die Straßen und das Nachtleben, das kein Ende nimmt, liebt er kindlich. Er muß eine glänzende Gesundheit und eine höchst widerstandsfähige Natur haben. Tagsüber arbeitet er als Industrieller und nachts ist er unterwegs. Elegante Frauen, Amerikanerinnen, gehen mit ihm aus. Dieser Mann von annähernd fünfzig Jahren führt nachts, als könne es gar nicht anders sein, die Existenz eines Gigolos und zwingt alle, die er trifft, in den Bann seiner Rede.« Genau so habe ich ihn kennengelernt und so, unter einem kleinen Feuerwerk von Erinnerungen und Maximen, blieben wir zusammen, bis man uns um 3 Uhr heraussetzte.
9.Januar. Jouhandeau. Der Raum, in welchem er mich empfing, ist die vollendetste Durchdringung von Atelier und Mönchszelle. Eine ungebrochene Fensterreihe, zieht sich über zwei Wände. Außerdem Oberlicht. Dichte grüne Vorhänge überall. Zwei Tische, deren jeden man mit gleichem Recht als Arbeitstisch ansehen könnte. Vor ihnen Stühle wie verloren im Raum. Fünf Uhr abends; das Licht kommt von einer kleinen Krone und einer hohen Stehlampe. Gespräch über die Magie der Arbeitsbedingungen. Jouhandeau redet von den inspirierenden Kräften des Lichts, das von rechts kommt. Sodann viel Autobiographisches. Mit dreizehn, vierzehn Jahren bekommen zwei liebliche Schwestern, die in der Karmeliter-Nonnenschule seiner Vaterstadt leben, entscheidenden Einfluß auf ihn. Von da an umfaßt ihn der Katholizismus, der ihm vorher nicht anders denn als Gegenstand von Erziehung und Unterricht nahegekommen war. Daß er ihm mehr geworden ist, sagte mir beim ersten Blick in den Raum ein Kruzifix aus Porzellan überm Bett. Ich gestehe ihm aber, wie ich nach Kenntnis seines ersten Buches ganz im unklaren blieb, ob er den Katholizismus als Bekenner oder nur als Forschungsreisender – »explorateur« – darstelle. Dieser Ausdruck gefiel ihm sehr. Wie er mir so gegenüber saß, mit leiser Stimme eindringlich sprechend und lebhaft, eine sehr vornehme, etwas gebrechliche Erscheinung, lernte ich das Bedauern kennen, erst jetzt, da so viel seinen Welten gefährliche Kräfte in mir erwacht sind, ihm näherzukommen. Er fuhr fort von seinem Leben zu sprechen, besonders aber sprach er von der Nacht – es war die, die der Beisetzung Derouledes folgte – da er seine ganze Arbeit verbrannte, eine unendliche Menge von Notizen und Spekulationen, die ihm zuletzt als ein Hemmnis auf dem Wege zum wahren Leben erschienen waren; erst seitdem begann seine Produktion das Lyrisch-Spekulative zu verlieren. Erst seitdem formte sich die Welt dieser Personen, die eigentlich, wie Jouhandeau mir erzählt, alle der einen Straße seiner Heimatstadt entstammen, in der er wohnte. Es ist ihm wichtig, die Welt dieser Personen zu kennzeichnen: ein Kosmos, dessen Gesetz sich nur vom Mittelpunkt her erschließt. Dieser Mittelpunkt ist Godeau, ein heiliger Antonius redivivus, dem seine Teufel, Huren und Bestien aus der spekulativen Theologie kommen. – Weiter: »Was mich am Katholizismus am meisten fesselt, das sind die Häresien.« Jedes Individuum ist für ihn ein Häretiker. Und das Passionierende sind ihm die unabsehbaren individuellen Verzerrungen des Katholizismus. Oft stehen seine Personen, deren er eine große Zahl kennt die in seinen Büchern noch niemals auftraten, schon lange vor ihm, ehe sie ihm so greifbar werden, daß er sie darstellen kann; oft vergeht lange Zeit, ehe eine kleine Geste oder Wendung an ihnen ihm ihre besondere, eigenste Häresie kundgibt. Ich spreche zu ihm von der großartigen und abstrusen Verspieltheit seiner Menschen, deren Zerstreuung nicht mit den Gegenständen des täglichen Gebrauches, Messern oder Gabeln, Zündhölzern oder Bleistiften, sondern mit Dogmen, Beschwörungsformeln und Illuminationen hantiert. Mein Ausdruck »jouets menaçants« gefällt ihm sehr. Ermeline, Noëmie Bodeau kommen vor. Und Mademoiselle Zéline, deren Geschichte ich allegorisch im Bilde des Lasters darstellen möchte, das diese Frau nicht verführt, nein, im Nacken packt und die Betäubte auf dem Wege der Tugend voranstößt. Selbstverständlich, daß ich ihm meine Gedanken über die großartige erleuchtende Schilderung des Wahnsinns im »Marié du village« sage. Ein Kritiker hat den Verfasser mit Blake verglichen. Ich glaube, wie richtig das ist, erkennt man, wenn man an die Grausamkeit denkt, mit der Jouhandeau seine Figuren der religiösen Erfahrung aussetzt, eine Preisgegebenheit, die in den jähen Kurven seiner Sätze zum Ausdruck kommt. »Vos personnages sont tout le temps à l'abri de rien.« – Das Ende unseres Gespräches markierte die Stelle, die er mir in der schönen Luxusausgabe seines »Monsieur Godeau intime« aufschlug. Er bezeichnet sie selbst als den Angelpunkt des Buches, und es ist darin von dem Aufenthalt Gottes in der Hölle und von dem Kampfe mit ihr die Rede.
11. Januar. Frühstück mit Quint. Er plant ein Buch über Gide. Betonte, wie sehr die letzten Bücher von Gide das Publikum dekonzertiert hätten, wie gering – abgesehen von der »École des femmes« – ihr buchhändlerischer Erfolg gewesen sei. Das französische Publikum habe keinen Geschmack an der Debatte über sexuelle Fragen und stehe noch immer den retrousses des »Sourie« und der »Vie parisienne« näher als dem Phänomen Wilde. Von mir aus ist da zu sagen, daß die bemerklichste Schwäche in Gides Erörterung der Homosexualität sein Versuch ist, sie absolut als reines Naturphänomen zu statuieren, anstatt, wie Proust, fürs Studium dieser Neigung zum Ausgangspunkt die Soziologie zu nehmen. Aber auch dies hängt mit jener Konstitution des Mannes zusammen, die mir mehr und mehr ihre Formel im Kontrast seiner verspäteten Pubertät, seines gequälten und gespaltenen Naturells auf der einen Seite und der reinen, strengen und zeichnerischen Linie seiner Schriften auf der anderen zu haben scheint.
16. Januar. Théatre des Champs Élysées. Giraudoux' »Amphitryon 38«, das einzige Stück, das Einen zur Zeit in Paris zum Theaterbesuche bewegen kann, da der begabte Pitoëff seine Bühne mit einer Aufführung der »Verbrecher« belegt hat. 38, das heißt, die achtunddreißigste Bearbeitung dieses Stoffes. Man braucht dieses Wort nur ein wenig zu wenden und es enthält das Wesentliche der Sache. In der Tat, Giraudoux hat die Sage als einen unerhört kostbaren Stoff betrachtet, der in so vielen Händen nichts von seinem Wert verloren, durch einen Anflug von Altersglanz ihn gesteigert, und nun dem Dichter die modische Aufgabe gestellt hat, durch einen neuen eleganten Zuschnitt ihn auf unerwartete Weise zur Geltung zu bringen. Man vergleicht das Stück mit dem »Orpheus« von Cocteau, doch auch einer Neubearbeitung des antiken Gegenstandes, und bemerkt, wie Cocteau den Mythos nach den neuesten architektonischen Grundsätzen umkonstruiert, Giraudoux aber ihn modisch zu erneuern versteht. Man hat Lust, die Proportion aufzustellen: Cocteau: Corbusier = Giraudoux: Lanvin.
Wirklich hat das große Modenhaus Lanvin die Kostüme gestellt, und die Darstellerin der Alkmene, Valentine Tessier, spielt eine Rolle, in der die Rüschen, Schärpen, Volants und Fichus ihrer Roben mindestens ebenso begabte und lebendige Partner sind wie Merkur, Sosias, Zeus und Amphitryon. Nimmt man hinzu, daß die Moral, die so virtuos und verführerisch dem Beschauer sich insinuiert, die Sache ehelicher Treue gegen alle olympischen Raffinements der Erotik führt, so hat man die modische und konservative, mit einem Wort die eminent französische Tendenz des Ganzen erfaßt. Nachdenklich geht man durch eine dieser milden Winternächte nach Hause und ist den Kräften etwas näher, die es bewirkt haben, daß diese Stadt jahrhundertelang die umfassendste wirtschaftliche und geistige Organisation der Mode gewidmet hat, nimmt auch von Giraudoux die Gewißheit mit, daß sie nicht nur die Frauen, sondern die Musen kleidet.
18. Januar. Berl. Diese primitive Methode, die noch immer die beste ist: bevor man einen Unbekannten besucht, eine halbe Stunde in seinen Schriften lesen. Es war nicht umsonst. In »Mort de la Pensée Bourgeoise« stieß ich auf diese Stelle, die ihr Licht nicht nur auf Berl voraus, sondern auf mein Gespräch mit Quint, über Lautréamont, zurückwarf. Diese Stelle über Sadismus: »Was lehrt denn das Werk von Sade anderes, als zu erkennen, wie sehr ein wahrhaft revolutionärer Geist sich der Idee der Liebe entfremdet. Soweit seine Schriften nicht Verdrängungen darstellen, wie sie bei einem Gefangenen natürlich sind, soweit sie nicht aus der Absicht Anstoß zu erregen, hervorgingen – und an die glaube ich nicht bei Sade, denn das wäre bei einem Häftling der Bastille ein ziemlich albernes Vorhaben gewesen – soweit dergleichen nicht im Spiele ist, entspringen seine Werke einer bis in die äußersten logischen Konsequenzen entfalteten revolutionären Verneinung. Was wäre denn auch ein Protest gegen die Machthaber nutze, wenn man einmal die Naturbedingtheit des menschlichen Lebens mit allem was sie Empörendes mit sich bringt akzeptiert hat? Als wäre die ›normale Liebe‹ nicht das anstößigste aller Vorurteile! Als wäre die Zeugung etwas anderes als die nichtswürdigste Manier, den Grundplan des Universums zu unterschreiben! Als wären die Naturgesetze, denen Liebe sich unterwirft, nicht tyrannischer und hassenswerter als die sozialen. Der metaphysische Sinn des Sadismus besteht in der Hoffnung, die Revolte des Menschen werde eine so gewaltige Intensität gewinnen, daß sie für die Natur den Zwang bedeute, ihre Gesetze zu wandeln, daß angesichts der Entschlossenheit aller Frauen, die Unbill der Schwangerschaft, die Gefahren und Schmerzen der Entbindung nicht mehr länger zu dulden, die Natur sich genötigt sehe, auf andere Wege zur Erhaltung der Menschheit auf der Erde zu verfallen. Die Kraft, die zu der Familie oder zum Staate ›nein‹ sagt, muß ›nein‹ auch zu Gott sagen und genau so wie die Anordnungen des Beamten und des Priesters muß das alte Gesetz der Genesis übertreten werden: ›Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen; in Schmerzen sollst du gebären‹, das Gesetz, das nicht hervorgerufen zu haben, das erduldet zu haben, Adam und Evas Verbrechen ausmacht.« – Und nun im Zimmer, das der Verfasser bewohnt: niedrige Sitze, von einem Schreibtischstuhl abgesehen. An der Schmalseite rechts ein Aquarium, das man beleuchten kann. Über dem Aquarium ein Gemälde von Picabia. Alle Wände grün bespannt, mit Goldleisten eingefaßt. Die Regale mit grünem Leder bezogen: Courier, Sainte-Beuve, Balzac, Staël, Tausend und eine Nacht, Goethe, Heine, Agrippa d'Aubigné und Meilhac und Halévy. Nicht schwer zu merken, daß er zu den Menschen gehört, die nur auf ihr Lieblingsthema gebracht sein wollen und dann, ohne viel Unterbrechung zu dulden, was sie zu sagen haben, memorieren. Jetzt handelt es sich in der Fortführung seines polemischen Werks für ihn vor allem darum, die Pseudoreligiosität des Bürgertums aus den letzten Schlupfwinkeln zu vertreiben. Als solche sieht er aber weder den Katholizismus mit seinen Hierarchien und Sakramenten noch den Staat an, sondern den Individualismus, den Glauben an die Unvergleichlichkeit, an die Unsterblichkeit des Einzelnen, die Überzeugung, das eigene Innere sei der Schauplatz einer einmaligen, nie wiederkehrenden tragischen Handlung. Die modischste Form dieser Überzeugung erblickt er im Kultus des Unbewußten. Daß er in dem fanatischen Kampf, den er diesem Kultus ansagt, – das heißt dem Surrealismus, welcher ihn zelebriert – Freud auf seiner Seite hat, das wüßte ich, auch wenn er es mir nicht versichert hätte. Und mit einem Blick auf das »Grand Jeu«, die Zeitschrift einiger dissidenter Glieder der Gruppe, die ich gerade erstanden hatte: »Seminaristen sind das, weiter nichts.« Nun einige merkwürdige Andeutungen über den Lebensstil dieser jungen Leute; den refus, wie Berl sagt. «Wir können übersetzen: die Sabotage. Ein Interview zu versagen, eine Mitarbeit abzulehnen, ein Foto zu verweigern, gelten ihnen für ebensoviel Beweise ihres Talents. Berl setzt das auf sehr geistvolle Art mit dem eingewurzelten Hang zur Askese, der dem Pariser eignet, in Verbindung. Andererseits spukt hier noch die Vorstellung vom verkannten Genie, die wir bei uns so gründlich zu beseitigen im Begriff stehen. Der raté hat hier noch eine Gloriole und der Snobismus steht im Begriffe, sie ihm neu zu vergolden. So jene Finanziers, die einen Klub zum Ankauf von Gemälden gründen und sich verpflichten, sie nicht vor Ablauf von zehn Jahren wieder auf den Markt zu bringen. Hauptgrundsatz: Für kein Gemälde dürfen mehr als 500 Frank bezahlt werden. Wer teurer ist, der ist schon reüssiert; wer reüssiert ist, taugt nichts. Ich höre ihm zu, ich widerspreche ihm nicht. So ganz unverständlich aber ist mir weder die Haltung jener jungen Leute noch dieser alten Snobisten. Wie viele Prozeduren gibt es nicht, als Künstler zu reüssieren und wie wenige darunter haben mit Kunst das geringste zu tun!
21. Januar. M. Albert. D. morgens bei mir im Hotel, bittet mich, den Abend mir freizuhalten. Wird mich um sieben abholen, mich bei M. Albert einführen. Wird, wie er sagt, M. Albert in dessen Etablissement aufsuchen. Schildert das als äußerst bemerkenswert. Nun ist dieses Etablissement – eine Badeanstalt im Quartier Saint-Lazare – bemerkenswert in der Tat. Aber alles andere als pittoresk. Die ernstlichen, wahren, das ist die sozial gefährdenden Laster, gebärden sich bescheiden, vermeiden, selbstverständlich, jeden Anschein von Betrieb, können geradezu etwas Rührendes annehmen. M. Alberts Freund Proust dürfte darum gewußt haben. Die Atmosphäre dieser Badeanstalt daher schwer darzustellen. Etwa: Wand an Wand zur Familie aber in ihrem Rücken wie alle echten Laster. Wirklich ist das Auffallende, und zwar den ganzen Abend über, die lautere, familiäre Vertraulichkeit dieser Jungen, zu der ihre erstaunliche franchise in keinem Gegensatz steht. Die jedenfalls, die ich da sah, haben noch in der ausgefallensten, preziösesten Art sich zu geben eine Naivität:, eine jungenhafte Aufsässigkeit, Verspieltheit und Trotz, die mir verstohlen meine Internatszeit vergegenwärtigen. – Zuerst der Hof, den man zu überqueren hat: eine Landschaft aus Pflastersteinen und Frieden. Wenige Fenster, die hier hinaussehen, erleuchtet. Aber Licht hinter den Milchglasscheiben von Alberts Büro und in einer Mansarde links, die zinnenhaft in den Himmel rage. Wir kamen zu dritt; Hessel und ich mußten es sich gefallen lassen, von D. als Proust-Übersetzer vorgestellt zu werden. Es bestätigte sich erstaunlich, was Hessel mir mehrere Tage vorher von ihm gesagt hatte: dies Meergotthafte, mit allem sich Mischende, gegen alles Verfließende. Übrigens haben das Porzellanpuppen in Figurengruppen am deutlichsten; Porzellan ist die kupplerischste Materie an Liebespaaren; D. stelle ich mir als einen kupplerischen Porzellanflußgott vor. Unter den Statisten ergab sich M S als einer Hauptrolle vorbehalten. Er trug durch seine Lebhaftigkeit und die offenbar bereits mehrfach erprobte Treffsicherheit seiner Anekdoten vor allem dazu bei, mir gewisse Episoden, gewisse Informationen im folgenden verdächtig zu machen. Und wenn er, kaum mit mir und Hessel ins Auto verstaut, etwas wie ein Verzeichnis oder einen Musterkatalog von Alberts Hauptgeschichten entwickelte, so glaubte ich mit einigem Unbehagen die Spuren einer auch hierher schon vorgeschobenen Tournée des grands-ducs zu entdecken. Hinter den Milchglasscheiben der Empfangsraum, durch Stores gegen alle anstoßenden und anstößigen Gemächer abgedichtet. Und M. Albert hinter dem Ladentisch oder der Kasse, kurz ein Arrangement aus Seiflappen, Parfüms, pochettes surprise, Badekarten und nuttigen Puppen. Sehr höflich, sehr diskret in der Begrüßung und auf das angenehmste nebenher durch Rückstände der Tagesarbeit beschäftigt. Proust hat ihn, wenn ich mich recht erinnere, 1912 kennengelernt. Damals wird er nicht älter als zwanzig Jahre gewesen sein. Und wie er heute aussieht, davon gibt es einen Begriff, wenn man sagt, man sieht es ihm an, daß er damals, als er Leibdiener beim Fürsten von Radziwill, wie früher bei dem Prinzen Orloff gewesen ist, sehr schön gewesen sein muß. Die vollständige Durchdringung von höchster Unterwürfigkeit und äußerster Dezision, die den Lakaien auszeichnet als mache es der Herrenkaste keinen Spaß, Wesen zu befehligen, die sie nicht zu Befehlshabern drillte – ist in seinen Zügen gewissermaßen in Gärung übergegangen, so daß er auf Augenblicke einem Turnlehrer ähnlich sieht. Das Programm des Abends war groß geplant. Jedenfalls gedachte man nach dem Diner die neue Freundschaft in M. Alberts zweitem Etablissement, dem Bai des Trois Colonnes, zu bekräftigen. Über den Ort des Diners schien man sich, vielleicht nur anstandshalber, kurze Zeit im unklaren zu befinden. Dann war man sich schnell über dies Lokal in der rue de Vaugirard einig, an dem Hessel und ich einmal vor drei Jahren vorübergegangen waren, ohne einen Blick hinein zu riskieren. Heute gab es da einige erstaunlich schöne Jungen. Darunter ein, vermutlich echter, indischer Prinz, der M. S. so lebhaft interessierte, daß er seinen Vorsatz, M. Albert zu besonders weitgehenden Konfidenzen zu bewegen, nicht ausführen konnte. Auch weiß ich nicht, ob sie für mich größeres Interesse gehabt hätten als einige, sehr nebensächliche, fast unwillkürliche Bemerkungen, die nebenher in unser Gespräch einflössen. Denn an der Frage, was sich ergeben würde, wenn einer die Passionen Prousts – unter denen gewisse einer berühmten Szene mit Mademoiselle Vinteuil sehr nahekommen – der Interpretation von seinen Werken dienstbar machte, bin ich kaum interessiert. Umgekehrt aber scheint mir das Werk eines Proust den Hinweis auf allgemeine, wenn auch sehr verborgene Charaktere des Sadismus zu enthalten. Und dabei gehe ich von Prousts Unersättlichkeit in der Analyse der kleinsten Vorfälle aus. Auch von seiner Neugier, die dem sehr nahe steht. Daß die Neugier in Gestalt der wiederholten, immer denselben Sachverhalt erbohrenden Frage ein Instrument in der Hand des Sadisten zu werden vermag – das gleiche Instrument, das Kinder unschuldig handhaben –, wissen wir aus Erfahrung. Prousts Verhältnis zum Dasein hat etwas von dieser sadistischen Neugier. Es gibt Stellen, an denen er das Leben mit seinen Fragen gewissermaßen zum äußersten bringt, andere, an denen er sich vor einem Tatbestand des Herzens aufstellt wie ein sadistischer Lehrer vor dem eingeschüchterten Kind, um es mit zweideutigen Gebärden, einem Ziepen und Kneifen, das zwischen Liebkosung und Quälerei liegt, zur Preisgabe eines geargwöhnten, vielleicht nicht einmal wirklichen Geheimnisses zu zwingen. In diesem Einen jedenfalls konvergieren die beiden großen Leidenschaften des Mannes, die Neugier und der Sadismus: bei keinem Befunde sich irgend beruhigen zu können, in jedem Geheimnis eingeschachtelt ein kleineres, in ihm ein noch winzigeres und so weiter bis ins Unendliche zu wittern, wobei mit abnehmender Größe die Bedeutung des Aufgespürten sich steigert. – Das ging mir durch den Kopf, während M. Albert mir den Entwicklungsgang ihrer Bekanntschaft skizzierte. Man weiß, daß Proust ihm einige Zeit, nachdem sie einander kennengelernt hatten, eine Maison de Rendezvous einrichtete. Diese Gründung war für den Dichter pied-à-terre und Laboratorium zugleich. Hier unterrichtete er sich, wohl auch durch Augenschein, über alle Spezialitäten der Homosexualität, hier wurden die Beobachtungen gemacht, die er später in der Schilderung des gefesselten Charlus verwertete, hierhin stiftete Proust die Möbel einer verstorbenen Tante, um ihr unziemliches Ende als Ameublement eines Bordells in »A l'ombre des jeunes filles en fleurs« zu beklagen. – Es wurde spät, ich hatte alle Mühe, M. Alberts schwach artikulierende Stimme aus dem Lärm eines Grammophons herauszufiltern, das eine elegische Schönheit, die, weil sie ein Loch im Hosenboden hatte, nicht tanzen konnte, und durch die erfolgreiche Rivalität des indischen Prinzen gekränkt wurde, andauernd mit neuen Platten versorgte. Wir waren zu müde, M. Albert Gelegenheit zu einer Revanche chez lui – das heißt in den Trois Colonnes – zu geben. D. brachte uns im Auto nach Hause.
26. Januar. Félix Bertaux. Seinem meridionalen Aussehen zum Trotz ist er Lothringer. Hat aber vermutlich französisches Blut. Aus der Zeit, da er ein junger Lehrer in Poitiers war, diese hübsche Geschichte: Die Action française veranstaltete – es war vor dem Krieg – dort einen Verbandsabend. Bertaux war mit einigen dissidenten Freunden erschienen. Nach dem Werbevortrag des Referenten fordert der Versammlungsleiter die Andersdenkenden zur öffentlichen Stellungnahme auf. Groß ist Bertauxs Erstaunen, als niemand sich meldet. Kurz entschlossen springt er von seinem Platz am äußersten Ende des Saales auf, durchstürmt den Raum bis zum Podium mit Riesenschritten und behauptet dreiviertel Stunden lang die Tribüne. Seine Rede ruft in diesem Publikum von Mitläufern der Action française einen völligen Umschwung hervor. »II a renversé la salle« wie man sagt. Und das Nachspiel am folgenden Tage, in seiner Klasse. Er ist im Begriff, etwas an die Tafel zu schreiben und läßt dabei ein Stück Kreide fallen. Zehn Jungen stürzen aus den Bänken, um es ihm aufzuheben. Bertaux stutzt, will genauer zusehen und läßt, und jetzt nur scheinbar aus Versehen, wieder etwas hinfallen. Diesmal zwanzig Jungen, die aufspringen. So stürmische Sympathien hatte ihm seine Rede vom Abend vorher erobert. Er könnte die glänzendste politische Karriere machen, Präfekt, Abgeordneter werden. Er zieht es aber vor, in seinen Mußestunden an einem französisch-deutschen Lexikon zu arbeiten, das ihn schon seit fünfzehn Jahren beschäftigt, und von dem man sich sehr viel verspricht. Unser Gespräch drehte sich vor allem um Proust. Proust und Gide – im Jahre 1919 habe ihre Rangfolge einen Augenblick fraglich erscheinen können. Für Bertaux sei sie es aber auch damals nicht gewesen. Die kanonischen Einwände und Reserven: daß er, Proust nämlich, die substance humaine nicht bereichert, den concept de l'humanité nicht erhöht und geläutert habe. Bertaux zitiert den Vergleich, mit dem Gide Prousts Verfahren dem Alltag gegenüber kennzeichnet: Ein Stück Käse unter dem Mikroskop; man sagt sich »Eh bien, c'est ça ce que nous mangeons tous les jours?!« – Ich: Gewiß, er hat den Menschen nicht gesteigert, sondern nur analysiert. Seine moralische Größe aber liegt in einem ganz anderen Felde. Er hat mit einer Leidenschaft, die kein Dichter vor ihm gekannt hat, die Treue zu den Dingen, die unser Leben gekreuzt haben, zu seiner Sache gemacht. Treue zu einem Nachmittag, einem Baum, einem Sonnenflecken auf der Tapete, Treue zu Roben, Möbeln, zu Parfüms oder Landschaften. (Ich hätte bemerken sollen, daß die Entdeckung des letzten Bandes – daß die Wege nach Guermantes und Meseglise sich verschlingen allegorisch die höchste Moral, die Proust zu vergeben hat, einschließt.) Ich gebe zu, daß Proust, im Grunde, peut-être se range du côté de la mort. »Jenseits des Lustprinzips«, das geniale Alterswerk Freuds, ist wahrscheinlich der grundlegende Proust-Kommentar. Mein Partner will dies alles einräumen, bleibt aber überaus spröde, se range du côté de la santé. Ich begnüge mich mit dem Hinweis, wenn Proust eine Gesundheit, in seinen Werken, gesucht und geliebt hat, so ist es jedenfalls nicht die tüchtige des Mannes, sondern die schutzlose und zarte des Kindes.
4. Februar. Adrienne Monnier. Kurz nach drei öffne ich die Tür »Aux amis des livres« 7, rue de l'Odéon. Ich fühle einen gewissen Unterschied von andern Buchhandlungen. Gewiß dürfte dies kein Antiquariat sein. Adrienne Monnier scheint sich nur mit neuen Büchern zu beschäftigen. Aber es sieht doch weniger bunt, weniger bewegt oder zerfahren aus als in andern Läden. Ein warmer und blasser Elfenbeinton liegt über den breiten Tischen. Vielleicht kommt er von den transparenten Schutzumschlägen, die viele Bücher – alle modernen Erstausgaben, alle Luxusdrucke – hier tragen. Ich gehe auf die Frau zu, die mir zunächst ist, auf diejenige zugleich, von der es die größte Enttäuschung der flüchtigen, oberflächlichen Erwartung, hier die Bekanntschaft eines hübschen jungen Mädchens zu machen, wäre, wenn dies Adrienne Monnier sein sollte. Eine breite, blondhaarige Frau mit sehr klaren blaugrauen Augen, die ganz in einen derben grauen Wollstoff von nonnenhaftem Zuschnitt gekleidet ist. Vorn ist das Kleid mit Knöpfen in eingelegter Arbeit besetzt, altväterischer Besatz. Sie ist es. Sogleich fühle ich, einem der Menschen gegenüber zu sein, denen man nie respektvoll genug begegnen kann, und die, ohne dem Anschein nach auf solchen Respekt im geringsten zu rechnen, ihn dennoch keinen Augenblick abweisen oder bagatellisieren werden. Merkwürdig ist, daß diese Frau den Weg von Rilke, der doch solange in Paris gelebt hat, nur zweimal, wie sie sagt, gekreuzt hat. Ich könnte mir denken, daß er einem Wesen von solcher rustikalen Reinheit, daß er solch einem kosmischen Klostergeschöpf die tiefste Neigung hätte entgegenbringen müssen. Sie spricht im übrigen sehr schön von ihm und sagt: »Er scheint allen, die ihn etwas gekannt haben, dies Gefühl hinterlassen zu haben: mit allem was sie tun, innig verbunden zu sein.« Und schon zu seinen Lebzeiten habe er ihnen dies Gefühl ganz wortlos, durch sein bloßes Dasein geben können. Wir sitzen an ihrem schmalen, mit Büchern bedeckten Büro ganz im Vordergrunde des Ladens. Natürlich ist I.M.S. unser erster Gesprächsgegenstand; dann aber sind es die klugen und die törichten Jungfrauen. Sie spricht von den verschiedenen Gestalten der vierge sage – der von Straßburg, die ihr das Stück, das ich gelesen habe, eingegeben hat, der von Notre Dame de Paris, »qui est si désabusée, si bourgeoise, si parisienne – ça vous rappelle ces épouses qui ont appris à se faire à leur mari et qui ont cette façon de dire: Mais oui, mon ami; qui pensent un peu plus loin.« »Und jetzt«, habe Paulhan ihr gesagt, als er die »vierge sage« kennengelernt hatte, »werden Sie uns eine ›vierge folle‹ schreiben.« Aber nein! Die vierge sage, das ist immer, trotzdem die sieben beisammen stehen, Eine – die vierge folle aber, das sind viele, das wäre die ganze Bande. Im übrigen: ihre »servante en colère«, das sei ja schon eine vierge folle gewesen. Und nun ein Wort, das allein, hätte ich auch nichts von ihren Sachen gelesen, mir einen Einblick in das Wesen ihrer Welt gegeben hätte. Sie redet von der Unberührtheit der klugen, und wie in dieser Unberührtheit doch ein Schein, ein Schimmer von Hypokrisie nicht verkannt werden könne. Die klugen und die törichten Jungfrauen – gewiß, was sie da sage sei nicht im Sinn der Kirche – aber sie seien doch nur um ein Geringstes verschieden, seien einander unendlich nahe. Dabei machten ihre Hände eine so einschmeichelnde und so bezwingende Schaukelbewegung, daß ich ein Portal in der Phantasie sah, wo alle vierzehn Jungfrauen auf runden, beweglichen steinernen Sockeln ruhten, und ein beständiges Schaukeln aller gegeneinander den Sinn ihrer Worte auf das vollendetste darstellte. Ganz von selbst kamen wir auf diese Weise dazu, von coincidentia oppositorum zu sprechen, ohne daß dies Wort gerade gefallen wäre. Ich will auf Gide hinaus, von dem ich weiß, daß sie ihm nahegestanden hat oder steht, daß hier in diesen Räumen die berühmte Auktion sich abspielte, wo Gide, um zwischen sich und jenen Freunden, die seinem »Corydon« die Gefolgschaft versagten, die Trennung feierlich zu besiegeln, die Widmungsexemplare dieser Freunde aus seiner Bücherei versteigern ließ. »Nein, unter keinen Umständen –«, Gide will sie hier doch nicht genannt wissen. Gide hat zwar dies: die Bejahung und die Verneinung, aber hintereinander und in der Zeit, nicht in der großen Einheit, der großen Ruhe, in der sie sich am ersten noch bei Mystikern findet. Nun nennt sie, und das betrifft mich wirklich, Breton. Sie zeichnet Breton: eine spannungsreiche, explosive Natur, in deren Nähe das Leben unmöglich, »quelqu'un d'inviable, comme nous disons«. Aber wie außerordentlich ihr sein erstes surrealistisches Manifest erscheine, und wie herrliche Dinge sich selbst noch im zweiten fänden. Ich gestehe ihr, daß mir vor allem die okkultistische Wendung im zweiten auffiel und in wie unangenehmem Sinne. Auch sie will von der Verklärung der Kartenlegerinnen – in Bretons »Lettre aux voyantes« – nichts wissen. Sie erinnert noch die Zeit, wo Breton mit Apollinaire bei ihr in der boutique erschienen ist. Wie er in Ergebenheit gegen Apollinaire verging, seinen kleinsten Winken gehorsam war. »Breton, faites cela, cherchez ceci.« Viele Kunden erscheinen. Ich will diese Situation an der Tischkante nicht forcieren, fürchte auch, in ihrem Betriebe sie aufzuhalten. Dann aber fesselte mich wieder, wie sie sich meiner alten Idiosynkrasie gegenüber, die so heftig gegen Photos von Bildwerken reagiert, derer annahm. Zunächst scheint sie von meinem Satze frappiert, wieviel leichter ein Bild, vor allem aber eine Plastik, und nun gar Architekturen, im Photo sich »genießen« ließen als in der Wirklichkeit. Doch als ich weiter ging und solche Art und Weise mit Kunst sich zu befassen kümmerlich und entnervend nenne, wurde sie eigensinnig. »Die großen Schöpfungen«, sagt sie, »kann man nicht als Werke Einzelner ansehen. Es sind kollektive Gebilde, so mächtig, daß sie zu genießen geradezu an die Bedingung, sie zu verkleinern geknüpft ist. Im Grunde sind die mechanischen Reproduktionsmethoden eine Verkleinerungstechnik. Sie verhelfen den Menschen zu jenem Grade von Herrschaft über die Werke, ohne die sie nicht zum Genuß kommen.« Und somit tauschte ich ein Photo der vierge sage von Straßburg, welches sie am Anfang der Begegnung mir versprochen hatte, gegen eine Theorie der Reproduktionen ein, die mir vielleicht noch wertvoller ist.
7. Februar. »Mélo« von Bernstein im Gymnase. Die Architektur dieses Theaters begegnet heut nur noch in der Fassade alter Badeortkasinos. Wenn sie nun gar, wie zu Beginn und Ende, im Stile der Pariser Großen Oper beleuchtet ist – so nämlich, daß alle vorkragenden Bänder und Balken zu Rampen werden, von denen aus Scheinwerfer Säulen-Primadonnen ins rechte Licht setzen, während in Nischen über ihnen sich die Finsternis des nächtlichen Himmels wölbt – so ist die äußere Szene der Fassade der inneren auf der Bühne weit überlegen.
10. Februar. Adrienne Monnier zum zweiten Male. Inzwischen war mir die Topographie der rue de l'Odéon deutlicher geworden. Ich hatte in ihrem verschollenen Gedichtband »Visages« die schönen Verse auf ihre Freundin Sylvia Beach gelesen, die ihr gegenüber die kleine boutique hat, in der der englische Joyce die bewegte Geschichte seines ersten Erscheinens erfuhr. »Déjà«, hat sie da gedichtet – »Déjà midi nous voit, l'une en face de l'autre / Debout devant nos seuils, au niveau de la rue / Doux fleuve de soleil qui porte sur ses bords / Nos Libraires.« Sie betritt den Laden gegen halb vier, genau eine Minute nach mir, in einen grauen Flauschmantel eingehüllt, kosakisch und großmütterlich, schüchtern und sehr bestimmt. Und wir sitzen noch kaum an derselben Stelle wie neulich zusammen, so winkt sie jemandem durchs Schaufenster. Er tritt ein. Es ist Fargue. Und da es ein himmlischer Tag über Paris ist, etwas kalt mit Sonne, und wir alle voll von der Schönheit da draußen sind, ich auch erzähle, wie ich um Saint-Sulpice herumschlenderte, läßt Fargue fallen, da möchte er wohnen. Und nun erhoben sich beide zu einem wundervollen Duett um die Priester von Saint-Sulpice, einem Duett, in dem ihre alte Freundschaft den vollsten Klang gab. Fargue: »Ces grands corbeaux civilisés«.« Monnier: »Jedesmal, wenn ich über den Platz gehe, der so schön ist, aber über den es im Winter so schneidend weht, und die Priester kommen aus der Kirche heraus, ist mir, der Sturm müsse sich in ihre Soutanen verfangen und sie hoch in die Luft hinauftragen.« Man muß es gesehen haben, dies schwarze Kommen und Gehen, Innehalten und Wallen dort im quartier, und wie dies Priesterschweigen mit der blanken Stille der vielen librairien zusammenkommt, um den Schlüssel zu diesem unvergleichlichen Viertel und vor allem dem Platz, der sein Herz ist, zu haben. Dann nehmen die beiden ihre freundschaftlichen Streitigkeiten wieder auf, die alt sein müssen. Fargues Trägheit muß herhalten; daß er nichts schreibt. »Que voulez-vous, j'ai pitié de ce que je fais. Ces pauvres mots, je les vois, à peine écrits, qu'ils s'en vont, traînant, boitant, vers le Père-Lachaise.« Unser späteres Gespräch ist beherrscht von der Joyce-Übersetzung, die sie verlegt hat und von der sie die Umstände mitteilt, die sie zu so einem seltenen Gelingen führten. – Einiges über Proust: Sie spricht von dem Widerwillen, den seine Transfiguration der oberen Zehntausend in ihr erweckt habe, von dem rebellischen Protest, der sie verhindert habe, Proust zu lieben, und dann mit Fanatismus, fast mit Haß, von Albertine, die in so absurdem Maße ce garçon du Ritz – Albert – sei und dessen vierschrötigen Körper, dessen männischen Gang sie jederzeit bei Albertine durchfühle. Proust zu lieben, auch nur lieben zu wollen, habe sie dessen moralische Person gehindert. Was sie sagt, macht mir nicht schwer, ihr von den Schwierigkeiten zu sprechen, denen Proust in Deutschland begegnet, wie sehr sie eindringende Studien über den Dichter verlangten, um überwunden zu werden, wie wenig es solche Studien bei uns und im Grunde auch in Frankreich gebe. Ihr Staunen über diesen Satz ist mir Anlaß genug, ihr mein Bild einer Proust-Interpretation in wenigen Zügen zu zeichnen. Nicht die psychologische Seite, nicht die analytische Tendenz, sondern die metaphysische seiner Dichtungen ist, so erkläre ich ihr, noch immer unentdeckt geblieben. Die hundert Tore, die den Eintritt in seine Welt eröffnen, sind unerschlossen: die Idee des Alterns, die Verwandtschaft der Menschen mit Pflanzen, sein Bild des neunzehnten Jahrhunderts, sein Gefühl für Moder, Rückstand und dergleichen. Und wie ich mich immer mehr von dem Gedanken durchdringe, man müsse, um Proust zu verstehen, überhaupt davon ausgehen, sein Gegenstand sei die Kehrseite, le revers – moins du monde que de la vie même.
Am gleichen Nachmittag später Gespräch mit Audisio, dem ich über sein »Heliotrop« vieles zu sagen weiß, was ihn freut. Er erzählt sodann die Umstände, unter denen er an diesem Buche geschrieben hat, und das führt uns auf die Arbeit im südlichen Klima. Wir sind uns über die Absurdität der Meinung, die südliche Sonne sei eine Feindin geistiger Konzentration, völlig einig. Audisio verrät seinen Plan, eine »Défense du soleil« zu schreiben. Wir treten in eine Betrachtung der verschiedenen Arten mystischer Kontemplation ein, die unter nördlichem Mitternachts-, südlichem Mittagshimmel erwachsen. Jean Paul auf der einen Seite, auf der anderen orientalische Mystik. Die romantische Haltung des Nordländers, der der Unendlichkeit im Weben seiner Traumwelt sich anzugleichen versucht, und die Strenge des Südländers, der, eher trotzig, mit der Unendlichkeit der Mittagsbläue in Konkurrenz tritt, um etwas gleichermaßen Dauerndes zu schaffen. Ich muß bei diesem Gespräch an die Zeit denken, da ich in Capri mitten im Juli die ersten vierzig Seiten des Trauerspielbuches schrieb – nichts als Feder, Tinte, Papier, ein Stuhl, ein Tisch und die Mittagshitze. Dieser Wettbewerb mit der unendlichen Dauer, deren Bild der Mittagshimmel des Südens so zwingend heraufruft wie der Nachthimmel das eines unendlichen Raums, macht den verschlossenen, konstruktiven Charakter der südlichen Mystik, wie er zum Beispiel in den Sufischen Tempelbauten zu architektonischem Ausdruck kommt.
11. Februar. Frühstück mit Quint. Ich hätte weniger unmittelbar das Gespräch auf den neuesten Stand des Surrealismus geführt, wenn ich mir gegenwärtig gehalten hätte, daß Kra – bei dem Quint Verlagsdirektor ist – das zweite surrealistische Manifest herausbringt. Die Teile, die die Auseinandersetzung mit früheren Angehörigen des Kreises betreffen, hält Quint für die schwächsten. Im übrigen hätte ich seine Bestätigung, daß die ursprüngliche Bewegung nun ihr Ende erreicht habe, kaum mehr nötig gehabt. Aber es ist der richtige Augenblick, einige Tatsachen rückblickend sicherzustellen. Und da ist das erste, von allem das rühmlichste: der Surrealismus hat mit einer Gewalttätigkeit, die für Frankreich, für die Gesundheit seiner Intellektuellen zeugt, auf jene Vermischung von Dichtung und Journalismus reagiert, die in Deutschland zur Formel des Literaturbetriebs zu werden begonnen hat. Er hat dem Gedanken der poésie pure, der im Akademischen zu versickern drohte, demagogischen, beinahe politischen Nachdruck verliehen. Er hat die große Tradition der esoterischen Dichtung wiedergefunden, die dem l'art pour l'art in Wahrheit so fernsteht und für die Dichten eine geheime heilsame Praxis ist, ein Rezeptschreiben. Er hat die innige Wechselbeziehung von Dilettantentum und Korruption, die die Basis des Journalismus bildet, durchschaut. Er hat mit anarchistischer Leidenschaft den Begriff des Niveaus, des anständigen Durchschnitts in der Literatur unmöglich gemacht. Und von hier ist er weiter gegangen, die Sabotage in immer breitere Gebiete des öffentlichen und privaten Lebens vorantragend, bis endlich die politische Richtigkeit dieser Haltung, ihre scheidende, mehr: ihre ausscheidende Gewalt offenkundig und wirksam wurden. Aber wir waren uns weiter auch darin einig, daß eine der großen Schranken der Bewegung die Faulheit der Führer gewesen ist. Wenn man Breton begegnet und ihn fragt, was er macht, so antwortet er: »Rien. Que voulez-vous que l'on fasse.« Es ist einige Affektation darin, aber auch viel Wahres. Und vor allem gibt sich Breton keine Rechenschaft davon, daß Fleiß außer der bürgerlich-philiströsen auch eine magische Seite hat.
Vorher Abschiedsgang die Champs-Elysées herunter. Die ebene Fläche der Tage ist wie ein Spiegel, der jetzt, da ich an ihre Ränder stoße, in allen Farben des Prismas aufleuchtet. Mit der Kälte zugleich ist der Frühling gekommen, und während man mit klopfenden Pulsen und geröteten Backen die Champs-Elysées wie einen schneeigen Berghang heruntergeschritten kommt, hält man mit einem Male vor dem Rasenstückchen hinter dem Théâtre Marigny inne, in welchem der Frühling wittert. Hinterm Théâtre Marigny wird etwas sehr Stattliches aufgebaut; ein hoher, grüner Zaun umgibt die Baustelle, hinter ihm ragen Gerüste auf. Da sah ich diesen Zauber: einen Baum, der innerhalb der umzäunten Stelle wurzelt und seine kahlen Äste seitlich ein wenig über den Zaun hinausstreckte. Diesen Ästen nun schmiegte der derbe Zaun sich mit durchbrochener Spitzenarbeit so innig an wie einem kleinen Mädchen die Halskrause. Mitten in der massiven Bautischlerei war diese Silhouette wie von der sicheren Hand einer Zuschneiderin gezeichnet. Die Sonne kam blendend von rechts, und wie die Spitze des Eiffelturms, meines lieben Sinnbilds der Rechthaberei, sich in dem Glanz beinahe auflöste, war sie das Bild der Versöhnung und Reinigung, die der Frühling heraufführt. Im Schein der Sonne schmolzen die Mietspaläste, die von weitem die Durchblicke in der rue La Boétie, der avenue Montaigne abgeschlossen, und wurden zu mächtigen Pasten Goldbraun, die der Demiurg auf die Palette Paris gedrückt hat. Und wie ich im Gehen meine Gedanken so kaleidoskopisch durcheinanderfallen fühlte – mit jedem Schritt eine neue Konstellation; alte Elemente verschwinden, unbekannte kommen herangestolpert; viele Figuren, wenn aber eine haftet, heißt sie »ein Satz« – da bildete unter Tausenden sich auch diese, auf die ich viele Jahre gewartet habe – der Satz, der das ganze Wunder, das die Madeleine (die echte, nicht jene proustische) mir vom ersten Augenblick an gewesen war, ganz umschloß: Die Madeleine ist im Winter ein großer Ofen, der mit seinen Schatten die rue Royale heizt.
Dienstag, 21. Januar. Dausse morgens bei mir im Hôtel, bittet mich, den Abend mir frei zu halten. Wird mich um sieben abholen, mich bei M. Albert einführen. Wird, wie er sagt, M. Albert in dessen Etablissement aufsuchen. Décrit ça comme énormément pittoresque. Ich meinerseits benachrichtige H. Aus verschiedenen Gründen. Nicht unbegründete Befürchtung, daß mir der Abend finanziell über den Kopf wachsen könne. Um sieben kommt H. kurz vor Dausse; ich habe nichts Eiligeres zu tun als H. zu bitten, mich in meiner Strategie addition bezüglich zu unterstützen.
Nun ist dieses Etablissement Rue St. Lazare in der Tat pittoresque. (Die ernstlichen, wahren, d.i. sozial gefährdenden, Laster gebärden sich bescheiden, vermeiden, selbstverständlich, jeden Anschein von Betrieb, können dergestalt geradezu etwas Rührendes annehmen. Proust dürfte darum gewußt haben.) Jedenfalls ist es so bei M. Albert. Die Atmosphäre dieser Badeanstalt schwer darzustellen. Etwa: Wand an Wand aber im Rücken der Familie wie alle wirklichen Laster. Das Auffallendste, und zwar den ganzen Abend über: die erstaunliche franchise dieser Jungen. Die jedenfalls, die ich da sah, haben noch in der ausgefallensten preziösesten Art sich zu geben eine Naivität, eine jungenhafte Aufsässigkeit, Verspieltheit und Trotz, die mich sehr an Haubinda erinnern, mir verstohlen sehr Verflossenes vergegenwärtigen.
Also zuerst der Hof, den man zu überqueren hat: eine Landschaft aus Pflastersteinen und Frieden. Wenige Fenster, die hier hinaussehn, erleuchtet. Aber Licht hinter den Milchglasscheiben zu Alberts Büro und in einer Mansarde links, die zinnenhaft in den Himmel ragt. Präsentation. Wir sind nicht allein, wir werden selbstverständlich, verdrießlicherweise als Proustübersetzer vorgestellt. Es bestätigte sich erstaunlich, was H. mir mehrere Tage später von Dausse sagte: dies Meergotthafte mit allem sich Mischende, gegen alles Verfließende (übrigens haben das Porzellanpuppen in Figurengruppen am deutlichsten; Porzellan ist die kupplerischste Materie an Liebespaaren; Dausse stelle ich mir als einen kupplerischen Porzellanflußgott vor), demgemäß er es für nötig befunden hatte am Morgen mir zu erzählen, er stünde in diesen Kreisen im Rufe homosexuell zu sein, und sogar mich beiläufig aufzufordern, abweichende persönliche Geschmacksrichtungen nicht laut werden zu lassen. Unter den Statisten ergab sich M. Maurice Sachs als einer Hauptrolle vorbehalten. Dieser Mann trug durch seine Lebhaftigkeit und die offenbar bereits mehrfach erprobte Treffsicherheit seiner Anekdoten vor allem dazu bei, mir gewisse Episoden, gewisse Informationen im folgenden verdächtig zu machen. Und wenn er kaum mit H. und mir ins Auto verstaut etwas wie ein Verzeichnis oder einen Musterkatalog von Alberts Hauptgeschichten entwickelte, so glaubte ich mit einigem Unbehagen die Spuren einer auch hierher schon vorgeschobenen tournée des grands-ducs zu entdecken. Hinter den Milchglasscheiben der Empfangsraum, durch Stores gegen alle anstoßenden Gemächer und anstößigen Vorfälle abgedichtet. Und M. Albert hinter dem Ladentisch oder der Kasse, kurz, ein arrangement aus Seiflappen, Parfüms, pochettes surprise, Badekarten und nuttigen Puppen. Sehr höflich, sehr diskret in der Begrüßung, aber gar nicht pompier und außerdem aufs angenehmste nebenher durch Rückstände der Tagesarbeit beschäftigt. Proust hat ihn, wenn ich recht erinnere, 1912 kennen gelernt. Damals wird er nicht älter als 20 Jahre gewesen sein. Und wie er heute aussieht, davon gibt es einen Begriff, wenn man sagt, man sieht es ihm an, daß er damals, als er Leibdiener beim Fürsten von Radziwill wie früher bei dem Prinzen Orloff gewesen ist, unglaublich schön gewesen sein muß. Die vollständige Durchdringung von höchster Unterwürfigkeit und äußerster Dezision, die den Lakaien auszeichnet (als mache es der Herrenkaste keinen Spaß, Wesen zu befehligen, die nicht wie Befehlshaber aussehn) – eine Durchdringung, die Proust wird zu denken gegeben haben –, ist in seinen Zügen gewissermaßen in Gärung übergegangen, so daß etwas Durchgedrücktes, ein leerer Energieüberschuß ihn auf Augenblicke einem Turnlehrer ähnlich macht.
Das Programm des Abends war groß geplant. Jedenfalls gedachte man nach dem Dîner die neue Freundschaft in M. Alberts zweitem Etablissement, dem Bai des Trois Colonnes, zu bekräftigen. Über den Ort des Dîners schien man sich vielleicht nur anstandshalber kurze Zeit im unklaren zu befinden. Dann war man sich schnell über dies Lokal »Oustiti« einig, an dem, wenn ich nicht irre, H. und ich einmal vor drei Jahren vorüber gegangen waren, ohne einen Blick hinein zu riskieren. Heute, nach etwas besserer Kenntnis, zumal des Patrons, kann ich sagen, daß es alle Chancen hat, in denkbar engster Beziehung zur brigade mondaine der Surété Générale zu stehen. Wäre das nicht der Fall, so dürfte man sagen, daß der Patron polizeiwidrig aussieht. In diesem Lokal gab es einige erstaunlich schöne Jungen. Darunter ein höchstwahrscheinlich echter indischer Prinz, der Maurice Sachs so lebhaft interessierte, daß er seinen Vorsatz M. Albert zu besonders weitgehenden Confidencen zu bewegen, nicht ausführen konnte. Ich glaube auch nicht, daß diese Confidencen jemals die Schranken überschritten hätten, die M. Alberts Versicherung seine Beziehungen zu Proust seien keine körperlichen gewesen, errichtet. Ich weiß auch nicht, ob sie jenseits dieser Grenze ein größeres Interesse angenommen hätten, als einige sehr nebensächliche beinah unwillkürliche Bemerkungen für mich besaßen, die er machte.
Proust hat bekanntlich M. Albert eine Weile nachdem sie sich kennengelernt hatten, ein Maison de Rendezvous eingerichtet. Diese Gründung war für ihn Pied-à-terre und Laboratorium zugleich. Hier unterrichtete er sich, häufig wahrscheinlich durch Augenschein, über alle Spezialitäten der Homosexualität, hier wurden die Beobachtungen gemacht, die er später in der Schilderung des gefesselten Charlus verwertete, hierhin stiftete Proust die Möbel einer verstorbenen Tante, deren unziemliches Ende als Ameublement eines Bordells er in »A l'ombre des jeunes filles en fleurs« beklagt. Hier, wo seine bürgerliche Person selbstverständlich unbekannt blieb, hat man ihm den Beinamen l'homme aux rats gegeben. Nämlich: Proust hielt die jungen Leute, deren Bekanntschaft er bei M. Albert machte, dazu an, Ratten, die ihm in einem Käfig präsentiert wurden, mit langen Nadeln auf verschiedene überaus scheußliche Art zu quälen. Neben diese unerzogensten Betätigungen seines Sadismus stellte M. Albert, ohne auf diesen sonderbaren Kontrast abzuzielen, diese rührende: Wie Proust eines Vormittags in seiner geschlossenen Kutsche an einer Schlächterei vorbeikommt, einem Metzgerjungen, der ihm gefiel, beim Zerhauen des Fleisches zusah und darüber stundenlang seinen Wagen am Fleck halten ließ.
Ich habe nicht viel Interesse an der Frage, was dabei herauskäme, wenn man diese Passion Prousts (und andre, die gewissen Szenen mit Mademoiselle Vinteuil atemraubend nahkommen) einer Interpretation seines Werks dienstbar machte. Umgekehrt aber scheint mir das Werk eines Proust ein Hinweis auf allgemeine, wenn auch sehr verborgene Charaktere des Sadismus zu sein. Und dabei gehe ich von Prousts Unersättlichkeit in der Analyse der kleinsten Vorfälle aus. Auch von seiner Neugier, die dem sehr nahe steht. Daß die Neugier in Gestalt der wiederholten immer denselben Sachverhalt erbohrenden Frage ein furchtbares Instrument in der Hand des Sadisten werden kann (das gleiche Instrument, das Kinder unschuldig handhaben), wissen wir aus Erfahrung. Prousts Verhältnis zum Dasein hat etwas von dieser sadistischen Neugier. Es gibt Stellen, an denen er das Leben mit seinen Fragen gewissermaßen zum Äußersten bringt, andre, an denen er sich vor einem Tatbestand des Herzens aufstellt, wie ein sadistischer Lehrer vor dem eingeschüchterten Kind, um es mit: zweideutigen Gebärden, einem Ziepen und Kneifen, das zwischen Liebkosung und Quälerei liegt, zur Preisgabe eines geargwöhnten vielleicht nicht einmal wirklichen Geheimnisses zu zwingen. In diesem Einen jedenfalls koinzidieren die beiden großen Passionen des Mannes, die Neugier und der Sadismus: bei keinem Befunde sich irgend beruhigen zu können, in jedem Geheimnis eingeschachtelt ein kleineres, in ihm ein noch winzigeres usw. bis ins Unendliche zu finden, wobei mit abnehmender Größe die Bedeutung des Aufgespürten sich steigert.
Das ging mir nicht gerade während M. Albert uns unterhielt durch den Kopf, sondern später. Denn an diesem Abend hatte ich alle Mühe seine schwach artikulierende Stimme aus dem Lärm eines Grammophons herauszufiltern, das die elegische Schönheit, die, weil sie ein Loch im Hosenboden hatte, nicht tanzen konnte, und durch die erfolgreiche Rivalität des indischen Prinzen gekränkt wurde, andauernd mit neuen Platten versorgte. Die addition blieb dann selbstverständlich trotz listiger Manöver an H. und mir hängen. Wir hatten keine Lust M. Albert Gelegenheit zu einer Revanche chez lui – das heißt in den Trois Colonnes – zu geben und vielleicht auch keine unbedingte Sicherheit, es würde dort nicht eine neue Zeche zu begleichen geben. Dausse brachte uns im Auto nach Hause.
Die Bourgeoisie, hat der große spanische Staatsphilosoph Donoso Cortés gesagt, ist die ewig diskutierende Klasse. Dieser verächtlichen und tiefgründigen Bezeichnung liegt die abschätzige Meinung vom Diskutieren zugrunde, die ja auch heute die verbreitete ist. Es gehört sogar zur Signatur der Nachkriegszeit, wie sehr ihr der Geschmack an Debatten vergangen ist. Der Verfall der Beredsamkeit, die Gleichgültigkeit gegen jede Privatmeinung, die verminderte politische Toleranz, der erwachende Sinn für Autoritäten sind die Hauptursachen dieser Entwicklung, die heilsam ist, die man fördern soll, deren Umschlag sich aber doch bereits absehen läßt. Und zwar wäre das kein modisches Umschlagen, indem ein Überwundenes von neuem aufkäme, vielmehr ein Umschwung im Wesen der Diskussion, die ja durchaus nicht jene planlose, uferlose Sache zu sein braucht, als die wir sie verachten gelernt haben. Um etwas anderes zu werden, muß sie allerdings den verlogenen Grundsatz aufgeben, sie sei eine Veranstaltung, kraft deren Gegner einander zu überzeugen – oder gar miteinander sich zu verständigen – suchten. Auf der anderen Seite muß sie genau so den demagogischen Zug aufgeben, wie ihn – im besten Fall – die Reichstagsreden haben, wenn sie zum Fenster hinaus und nicht in den Schlafsaal hinein gehalten werden. Wie aber eine nützliche Debatte aussehen könnte, das hat man selten genug zu erfahren Gelegenheit und darum verdient eine Diskussion festgehalten zu werden, die sich in Berlin bei einer der letzten Versammlungen des »Vereins der Freunde des neuen Rußland« ergab.
Der Vortragende, Prof. O. Brick aus Moskau, erklärte von vornherein, eine polemische Ansprache halten zu wollen. Seine Gegner allerdings – das verbog die Achse seiner Ausführungen ein wenig –, sucht er in Moskau, nicht hier. Wer sind sie? Nun, zunächst einmal alle russischen Dichter, deren Namen das deutsche Publikum je hat nennen hören, angefangen von I. Babel aus der Budjonnyschen Reiterarmee bis zu Panferow, der die Genossenschaft der Habenichtse auf seinem Dorfe entstehen sah. Die Argumente? Ja, ehe wir die mitzuteilen wagen, müssen wir sie bereits in Schutz nehmen, so grotesk werden sie einem Europäer erscheinen. Es wird also gut sein zu wissen, daß Brick ein Veteran der Revolution ist, daß er als Student die Bewegung von 1905 mitmachte, später unter den ersten war, die sich zum integralen Bolschewismus bekannten, daß seine Leidenschaft und sein Denken dem Neuen gelten, und daß sein Programm weit entfernt ist, das maßgebende für die Dichter in Rußland zu sein. Wen aber – hier oder bei ihm zu Hause – die Naivität seiner Argumente chockieren sollte, der möge sich erinnern, daß nicht alle, vor allem nicht die wichtigsten Kunstdebatten, angefangen von der platonischen, die dem Staat den Dichter verbietet, mit ästhetischen Begriffen geführt worden sind. Und bestimmt kann man das von einem Kampf nicht erwarten, der sich gegen die Existenz der Kunst selbst richtet. Freilich würde Brick dies letzte wohl nicht glatt einräumen. Er hat davon nicht gesprochen und nur gefordert, daß Kunst sich restlos in den Dienst der Propaganda stelle. Wie fern er aber dabei der uns vertrauten Debatte über das Recht der Tendenz steht, beweisen am besten seine Beispiele. Da ist Panferow mit seiner »Genossenschaft der Habenichtse«, bestimmt ein schöner Roman; immerhin der Form nach ein Roman wie andere, die Menschen darin sind realistisch abgeschildert; vorsichtiger: geschildert wie wir sie zu sehen gewohnt sind. »Aber«, fragt Brick, »was soll uns das? Was soll uns der arme Bauer, der ein tüchtiger Kommunist ist, aber freilich ein Trinker? Oder was soll uns der reiche Bauer, der ein Ausbeuter ist, aber freilich ein gute:; Herz hat? Ist ein Bauer, der trinkt, ein Kommunist? Ist das gute Herz eines Ausbeuters etwas Gutes?« Oder – und hier wird der bilderstürmende Ingrimm seiner Betrachtung noch deutlicher – Babel hat Budjonnys Reiterarmee geschildert. »Aber«, hat Budjonny gesagt, als er das Buch zu lesen bekam, »in Wirklichkeit war das alles ganz anders. Meine Leute hatten mit denen, die Babel darstellt, gar nichts zu tun.« »Und«, fährt Brick fort, »was für einen Sinn hat es, eine historische Wirklichkeit, die wir alle erlebten und die kontrollierbar ist, auf ›interessante‹ Art zu verwandeln?« Wenn aber Brick hier für historische Treue eintritt, so greift er doch an anderen Stellen erbittert die an, die Objektivität sich zum Grundsatz in ihrer Epik machen. Sachliche Objektivität und poetischen Individualismus erklärt er für Komplemente, für verschiedene Seiten ein und derselben literarischen Haltung, der bürgerlichen. Wie erklärt sich der Widerspruch? Einfach. Was ihn für minutiösen Realismus hier, dort gegen objektive Haltung einnimmt, ist in beiden Fällen das gleiche: der Grundsatz vom Primat des revolutionären Stoffes.
Die ganze Diskussion kreiste um diesen Grundsatz. Und spannend war sie, wenn es ihr auch nicht gelang, ganz in die Perspektiven Bricks zu dringen, für welchen revolutionärer Stoff wohl minder dem Gewesenen, und sei es den zehn Tagen, die die Welt erschütterten, entstammt, als stets der jeweils aktuellen Losung. Couragiert trat Wieland Herzfelde, der Leiter des Malik-Verlages, für die Rechte des Buches gegen die Drucksorten, des objektiven Romans gegen die taktisch visierte Propaganda-Erzählung auf. Und als er gerade für das Gros der Leser sehr substantielle Bücher verlangte, in die sie sich hineinlesen, über deren Helden sie sich vergessen können, da nur von solchen die Massen bewegt werden – »Romane von Mark und Knochen« hat Hugh Walpole sie in einem vortrefflichen Aufsatz einmal genannt – da hätte ein Leiter des russischen Staatsverlages ihm wohl beistimmen müssen. Aber was soll man Brick erwidern, wenn er zum Beispiel auf das Vielen geläufige »Zement« von Gladkow verweist, um den Widersinn aufzuzeigen, der darin liegt, daß das Regime die Familie für belanglos erklärt, seine Erzähler aber ihre Geschichten aus dem Leben der Sowjet-Union in die alte Form des Familienromanes kleiden? Schade, daß er sich nicht weiter vorwagen wollte und es einem Diskussionsredner überließ, das Programm einer Propagandaliteratur deutlicher auszusprechen. Der ging mit Recht von der Frage, was wahre Wirkung sei, aus, um sich durchaus von bloß suggestiver oder demagogischer Wirkung auf Massen unbefriedigt zu erklären und der Propagandaliteratur Wert nur als didaktischer zuzusprechen. »Wir sind bereit«, so sagte er, »die Individualität des Dichters, den Ewigkeitsanspruch der Werke, die Objektivität der Schilderung preiszugeben. Nicht aber, um eine primitive Suggestiv- und Schlagwörterliteratur dafür einzutauschen, sondern um für ein autoritäres Schrifttum den Weg freizumachen. Wir wollen beim Lesen die genießende Haltung durch eine lernende, übende ersetzt wissen, nicht aber durch hirnlose Reaktionen.« Soweit gut. Man hatte die extreme Position des Redners von verschiedenen Seiten in Frage gestellt, nicht aber seine »Plattform«, wie man in Moskau sagt. Kaum einer im Saale, vielleicht nicht einmal der Referent, wußte, wer das war, der nun zum Schluß aufstand, um leidenschaftlich, weitausholend, überzeugt, nicht nur den Redner, sondern seine »Plattform« zu vernichten. Dennoch ist Bela Illesz – so hieß er – in Deutschland kein Unbekannter. Wir haben von ihm einige Bücher in Übersetzung. Für Rußland aber ist er mehr als Autor. Lange hat er im Kultusdepartement als Zensor eine Rolle gespielt und als Anwalt des Staates, als Vertreter einer offiziösen und orthodoxen Richtung – so wenigstens suchte er's darzustellen – ergriff er das Wort: »Wer seid ihr? Eine sture, winzige Minderheit, ein nichtssagendes Grüppchen. Ihr wollt hier Lärm machen? Ihr erinnert euch nicht der Verfügung des Z.K. (Zentral-Komitees) eben die Klassiker – Puschkin, Dostojewsky, Tolstoi zu studieren, die ihr hier angreift? Ihr sagt: Nicht dies sind die Vorfahren der proletarischen Literatur. Unsere Vorfahren, sagt ihr, sind unbekannt, aber darum sind sie nicht weniger groß. Der Begriff einer russischen Literatur selber, sagt ihr, sei reaktionär. Die Autoren des internationalen Proletariats seien unsere Ahnen? Von wem aber sollen unsere jungen Autoren lernen? Was sollen unsere Arbeitermassen lesen, wenn sie die Zeitung beiseite gelegt haben? Wie wollt ihr den Einzelnen für die Sache gewinnen und festhalten, wenn ihr ihm die Möglichkeit nehmt, am Helden sich zu begeistern, ihm nachzueifern? Ihr macht gegen den Roman eure Vorbehalte. Seine Objektivität stört euch, sagt ihr. Ist vielleicht – hier wirft der Redner das Lasso seiner Argumentation zum entscheidenden Fang aus – die objektive Wirklichkeit des Sowjetstaates etwas, was man verbergen muß, was der Propaganda schädlich sein könnte? Ist nicht die objektive Schilderung unseres Lebens das allerbeste Propagandamittel?«
Diese Rede, eine Disputationskunst in nuce, mag vielen, die sie hörten, bemerkenswert vorgekommen sein. Und vielleicht hat ihr Schluß manche an den berühmten Anfang der Hexenprozesse erinnert. »Glaubst du, daß es Hexen gibt?« wendet der Großinquisitor sich an die Delinquentin. Wenn sie erwidert »ja«, fährt er fort: »Woher hast du denn dieses Wissen?« Auf »nein« aber heißt es: »Dann bist du ein Ketzer, denn die heilige Kirche lehrt, daß es Hexen gibt.« Man hätte aber sehr unrecht, sein Urteil sich auf Grund von Analogien zu bilden, und wenn es die stimmigsten wären. Die russische Revolution hat mit einem Umstand zu rechnen, der für Europa zu den Ausnahmen zählt: daß nämlich, was gedacht wird, Folgen hat. Und zwar Folgen ebensosehr kraft des enormen Apparates der in Rußland der Verbreitung von Ideen zu Diensten steht, wie hierzulande der Verbreitung von Seidenstrümpfen oder Zigaretten, wie kraft der Unberührtheit der Massen, die die Revolution zum ersten Male mit Ideen durchdringt. Und darum muß sie, was gedacht wird, kontrollieren. Sie muß die Ideen ins Kreuzverhör nehmen, denn die Gerichtsverhandlung ist und bleibt das Schema eines Vorganges, in welchem Worte in die Waagschale fallen. Freilich, ein Arm muß sein, der die Waage hält. Den Arm der Justitia durch den der Revolution ersetzt zu sehen, war das Lehrreiche dieses Abends.
Der erste Jahrgang einer neuen Zeitschrift »Bifur« liegt vor. »Bifur« ist neben den »Annales«, die gleichfalls in Paris, den »Variétés«, die in Brüssel erscheinen, die wichtigste unter jenen Zeitschriften surrealistischer Richtung, die durch den internationalen Mitarbeiterkreis, die wohltemperierte Mischung der Beiträge und nicht zuletzt den musterhaftesten Bilderteil sich einem breiteren Publikum empfehlen. »Bifur« im besonderen ist aus einer eigentlichen Sezession, vielmehr einer Reihe von Sezessionen hervorgegangen, in denen eine Gruppe von Autoren: Desnos, Baron, Vitrac, Leiris und andere unter Führung von Ribemont-Dessaignes, dem Herausgeber von »Bifur«, von dem surrealistischen Kern um Breton und Aragon sich abgespalten hat. Während diese letzteren gerade jetzt in einer neuen Zeitschrift »Le Surréalisme au service de la révolution« die politischen Fluchtlinien der Bewegung nachziehen, die sich sämtlich im Kommunismus schneiden, die polemische Bereitschaft ihrer Gruppe aufs höchste steigern, die Reinigungskrisen immer unerbittlicher austragen und daher im ganzen ein Blatt für Fachleute – freilich in dem entscheidenden Fach revolutionärer Haltung – geworden sind, stellt der Kreis um »Bifur« dem Publikum neue Tendenzen minder aggressiver Natur dar. Auswärtige Mitarbeiter, die »Bifur« zu gewinnen gewußt hat, unterstreichen das, indem sie der parisisch-moskowitischen Note der orthodoxen Surrealisten eine international-urbane gegenüberstellen. Sie bringen Briefe aus Estland, Syrien, Amerika, Finnland, den Antillen, verfügen über Mitarbeiter wie Döblin, Benn, Kafka unter den Deutschen, Joyce, O'Neill, Hemingway unter den Angelsachsen, Schklovski, Pilnjak, Iwanow unter den Russen, Huidobro, Serna, Chirico, Bontempelli unter den Spaniern und Italienern. Unter den einheimischen Mitarbeitern befinden sich einige der namhaftesten Autoren Frankreichs: Malraux, Cendrars, Drieu La Rochelle, Salmon, Giraudoux, Supervielle, Berl. Der Bilderteil bringt Photos von Man Ray, Stone, Germaine Krull, Eli Lotar usw. Besonders hingewiesen sei auf die schöne, in Nr. 2 reproduzierte Bleistiftzeichnung, die Nathan Altman, der erste Künstler, dem Lenin saß, im Kreml von ihm gemacht hat.
Die wissenschaftliche Graphologie ist heute gute dreißig Jahre alt. Sie kann, mit gewissen Vorbehalten, durchaus als eine deutsche Schöpfung und 1897, da die Deutsche Graphologische Gesellschaft in München gegründet wurde, als ihr Geburtsjahr bezeichnet werden. Auffallend genug, daß die akademische Wissenschaft dieser Technik, die nun schon drei Jahrzehnte lang Beweise von der Exaktheit ihrer Prinzipien gegeben hat, immer noch abwartend gegenüber steht. An keiner deutschen Universität gibt es bis heute einen Lehrstuhl für Handschriftendeutung. Da verdient es festgehalten zu werden, daß nunmehr eine der freien Hochschulen die Lessing-Hochschule in Berlin – dazu geschritten ist, ein Zentralinstitut für wissenschaftliche Graphologie (unter der Leitung von Anja Mendelssohn) sich anzugliedern. Offenbar hat man diese Tatsache auch im Ausland als einen Markstein in der Geschichte der Graphologie erkannt. Jedenfalls hat der älteste noch lebende Vertreter dieser Wissenschaft, J. Crépieux-Jamin, sich aus Rouen auf den Weg gemacht, um der Eröffnung des Instituts beizuwohnen. Man lernte einen alten, etwas weltfremden Herrn in ihm kennen, der einem auf den ersten Blick ganz gut als Mediziner erscheinen konnte. Und zwar eher als ein bedeutender Praktiker, denn als bahnbrechender Gelehrter. Damit wäre denn in der Tat auch die Stellung Crépieux-Jamins und seiner Schüler in der Graphologie umschrieben. Er übernahm das Erbe seines Lehrers Michon, der 1872 sein »Geheimnis der Handschrift« veröffentlidit hatte, in dem der Begriff Graphologie zum erstenmal auftauchte. Was beide, Lehrer und Schüler, gemein haben, ist der scharfe Blick für Handschriften und eine große Dosis gesunden Menschenverstand im Verein mit kombinierendem Scharfsinn. All das hat sich vorteilhaft in ihren Analysen niedergeschlagen, die freilich den Anforderungen des praktischen Lebens eher als denen einer wissenschaftlichen Charakterologie entsprechen. Deren Forderungen sind zuerst von Ludwig Klages in seinen grundlegenden Werken »Prinzipien der Charakterologie« und »Handschrift und Charakter« erhoben worden. Klages wendet sich gegen die sogenannte »Zeichenlehre« der französischen Schule, die Charaktereigenschaften an ganz bestimmte Schriftzeichen bindet, die sie als Schablone ihrer Deutung zugrunde legt. Demgegenüber deutet Klages die Handschrift grundsätzlich als Geste, als Ausdrucksbewegung. Bei ihm ist nirgends von bestimmten Zeichen die Rede, sondern nur von allgemeinen Merkmalen der Schrift, die nicht auf irgend eine bestimmte Form gewisser Buchstaben beschränkt sind. Eine besondere Rolle spielt dabei die Analyse des sogenannten »Formenniveaus« – eine Betrachtungsweise, in deren Zusammenhang alle Charakteristika einer Schrift grundsätzlich doppeldeutig-positiv oder negativ – auswertbar sind, wobei erst die Niveauhöhe der Schrift darüber Aufschluß erteilt, welche von den beiden Deutungen jeweils stattfinden müsse. Die Geschichte der neuesten deutschen Graphologie wird im wesentlichen durch die Auseinandersetzung mit den Theorien von Klages bestimmt. Sie hat an zwei Punkten eingesetzt. Robert Saudek kritisierte die mangelnde Exaktheit der schreibphysiologischen Befunde bei Klages sowie seine willkürliche Beschränkung auf den deutschen Duktus. Er strebt eine differenzierte Graphologie der verschiedenen nationalen Handschriften auf der Grundlage exakter messender Feststellungen über die Schriftbewegung an. Während bei Saudek die charakterologischen Probleme zurücktreten, stehen sie für eine zweite Richtung, die sich grade jetzt mit Klages auseinanderzusetzen sucht, im Mittelpunkt. Von ihr wird die Definition der Handschrift als Ausdrucksbewegung beanstandet. Max Pulver und Anja Mendelssohn, die ihre führenden Vertreter sind, suchen den Weg zu einer »ideographischen« Schriftdeutung freizumachen, d.h. einer Graphologie, welche die Schrift auf die unbewußt zeichnerischen Elemente, die unbewußten Bildphantasien hin deutet, die sie enthält. Wenn im Hintergrunde der Graphologie von Klages die Lebensphilosophie der Georgeschen Schule, im Hintergrunde der Saudekschen die der Wundtschen Psychophysik steht, so ist in den Bemühungen Pulvers der Einfluß der Freudschen Lehre vom Unbewußtsein nicht zu verkennen.
Es versteht sich, daß zu den vielen Dingen, die einem Sammler ein Buch merkwürdig, einzig zu machen vermögen, mitunter auch sein Erstehungspreis zählen kann, mag er nun durch seine Höhe eine gerechtfertigte Kraftanstrengung des glücklichen Besitzers darstellen oder durch seine Geringfügigkeit einen Triumph seiner Findigkeit – in beiden Fällen wird er ihm die Freude an seiner Erwerbung steigern. Grundsätzlich gibt es natürlich – um hier nur von dem zweiten Fall zu reden – kein Buch, so wertvoll, es sei, das man nicht billig oder sogar »geschenkt« an sich bringen könnte. In der Praxis sieht aber die Sache doch anders aus. Da bei uns in Deutschland zumindest die private Hand immer schwächer wird, die Anzahl der in den offiziellen großen Antiquariatshandel gelangenden Bücher daher immerfort wächst, so geben allerdings die Preise infolge des Überangebots in etwas nach, auf der andern Seite aber werden doch die Bücher, die sich der sachgemäßen antiquarischen Behandlung entziehen und die mar einem Ahnungslosen für nichts abnehmen kann, immer seltener. Da nun an dieser Stelle vom billigen Buch die Rede sein soll, so scheint es uns zweckdienlicher als einige Anekdoten von Ausnahmefällen, sagenhaftem Finderglück an den Pariser Quais oder gar – das wäre schon eher das Erlebnis eines bibliophilen Münchhausen an den Berliner Bücherwagen zum besten zu geben, die Aufmerksamkeit des Bücherfreundes auf einige Möglichkeiten zu lenken, die ihn beim besten Willen nicht viel kosten können, auf Bezirke, in denen die Preisbildung noch nicht begonnen hat.
Ehe wir aber den Neuling in dieses bibliophile Schlaraffenland einlassen, mag er sich durch den Reisberg folgender Überlegung hindurchfressen: Die bis vor kurzem in ununterbrochener Beschleunigung wachsende Bücherproduktion hat es mit sich gebracht, daß zwischen die alten Bücher, die das Antiquariat, und die neuen, die das Sortiment in den Handel bringt, eine unscheinbare Zwischenklasse sich einschob, deren niemand sich annimmt und die schutzlos auf den Sammler wartet, der ihnen ein Asyl gibt: das sind die veralteten. Der Antiquariatshandel bildet noch Preise für solche veralteten und verschollenen Werke, wenn sie der Jugendproduktion sehr namhafter Schriftsteller angehören. Für Hofmannsthals »Gestern« oder Rilkes »Tägliches Leben« muß der Sammler allerlei aufwenden. Sobald er sich aber den Erstlingswerken von Autoren zuwendet, die nicht gerade europäischen Rang haben, sieht er sich mit einem Schlage Broschüren und Bändchen gegenüber, für die man ihm nicht viel mehr abverlangt, als der Papierwert beträgt. Es versteht sich von selbst, daß solche Werke – es sollen sogleich einige genannt sein – für die literarische Signatur ihres Zeitalters oft ebensoviel, ja mehr besagen als die tastenden Versuche von Dichtern, die sich sehr bald in eine höhere Region erhoben. Kurz, der Vorschlag, den wir zu machen haben, wäre, einmal den Blick auf die Erstlingswerke der nicht durchaus prominenten Schriftsteller, mehr noch auf die bisweilen so überaus interessanten Büchlein jener Verschollenen zu lenken, die es über zwei oder drei Bände nie herausgebracht haben: Leute, die keine gesammelten Werke hinterlassen, in den Literaturgeschichten nie mehr als ein paar Zentimeter eingenommen und dennoch über ihre Epoche Bemerkenswerteres zu sagen haben als viele der Arrivierten.
Und nun in bunter Folge ein paar Namen derart veralteter Schriftchen oder verschollener Schreiber aus der jüngsten Zeit: An die Spitze stellen wir Donald Wedekind, den Bruder des Dramatikers, Verfasser des Romans »Ultra montes« im Verlage von Costenoble in Jena, gegenwärtig dem führenden Verlag für Werke über die Technik der Holzbearbeitung. Donald Wedekind veröffentlichte außerdem einige Bändchen erotischer Literatur. Wie es scheint, hat bisher nur Ferdinand Hardekopf von ihm Notiz genommen und der behauptet mit seinen frühen Werken, dem wundervollen Dialog »Der Abend«, den bezaubernden »Lesestücken« sich ebenfalls mit vielem Anstand in unserer Reihe. Weiterhin bleibt man in der besten Gesellschaft, wenn man sich den Frühwerken eines Salomo Friedlaender zuwendet, von denen hier nur zwei so disparate Büchlein wie »Rosa, Die schöne Schutzmannsfrau« und »Logik für Arbeiter« genannt sein mögen. Jahre um Jahre hat es gedauert, bis der deutsche Buchhandel mit dem Verramschen des Frühwerks von Friedlaenders großem Freunde Paul Scheerbart »Ja ... was ... möchten wir nicht Alles!« zu Rande gekommen ist. Später wird Scheerbarts Weg von den ersten Fußtapfen eines anderen gekreuzt, der uns gerade recht ist, diesen entlegenen Sammelgebieten einen neuen Aspekt abzugewinnen: es sind die breiten Fußstapfen Ernst Rowohlts, dessen verlegerisches Erstlingswerk, Paris und Leipzig, die »Kater-Poesie« von Scheerbart gewesen ist. Denn auch das wäre ein sammlerisch und soziologisch ungemein interessantes Unternehmen, die Erstlingswerke großer Verlage zusammenzubringen, von denen bisher eigentlich nur die der »Insel« einen hohen Preis haben. Selbst das sehr prunkvolle und interessante Erstlingswerk Diederichs, Maeterlincks »Schatz der Armen«, Florenz und Leipzig, hat man hin und wieder schon für ein paar Mark bekommen können. Während ein solches Werk schon äußerlich mit einigem Anspruch auftritt, sieht man den ersten Produkten Jakob Hegners (die freilich in Gemeinschaft mit einem anderen Verlage auftraten) noch nicht an, daß ihr Hersteller später mit dem verlegerischen Renommee auch das des Druckers verbinden sollte. Um aber auf die Dichter zurückzukommen: wer weiß heute noch etwas von Philipp Keller, dessen »Gemischte Gefühle« eines der lesbarsten Bücher vom Jahre 1913 geblieben sind; wer erinnert sich der Doktordissertation von Franz Blei über den Philosophen Avenarius, die dem Verfasser eine Erwähnung durch Lenin eintrug; wer kennt noch Döblins »Ermordung einer Butterblume«, Polgars »Quell des Übels«, Eisenlohrs »Kriminal-Sonette« – Bücher, die ebensoviele Nachschlüssel zu der Rumpelkammer zeitgenössischer Literatur sind, in der man die schönsten, lehrreichsten Nächte verbringen kann.
All das findet man auf Bücherwagen, in den Ramschabteilungen der Warenhäuser, wo die Bücher zu 45 oder 95 Pf. gestapelt liegen, in den Papierhandlungen der Provinzstädte und, wer weiß, wenn man ein bißchen nachguckt, vielleicht sogar in seiner eigenen Bibliothek.
Anne Macy ist gestorben. Sie war die Lehrerin von Helen Keller. Die Arbeit ihres Lebens war, einem Menschen, der blind und taubstumm geboren war, die Welt seiner Mitmenschen zu erschließen. Sie muß zu den Pädagogen vom Stamm eines Pestalozzi gehört haben, deren Ingenium sich an der äußersten Bedürftigkeit und Verlassenheit menschlicher Geschöpfe entzündet.
Ähnliches begegnet bei Religionsstiftern. Und wird die Welt, in die Helen Keller durch ihre Lehrerin eingeführt worden ist – die Welt ihrer Lehrerin – nicht bald in weiter Ferne, religiös verklärt vor uns schweben? Mag es auch in Wirklichkeit die des hausbackenen bürgerlichen Humanismus von der Wende des vorigen Jahrhunderts gewesen sein. Vielleicht erinnert noch mancher die schmalen, violett eingebundenen Bücher, in denen Helen Keller sich auf die Welt, der sie an der Hand ihrer Lehrerin auf endloser Wanderung entgegen gegangen war, ihren Vers gemacht hat. Dieser Vers war kein sehr tiefer und kein sehr klangvoller. Aber welches Gewicht hatten nicht Worte wie »Glück« und »Glaube«, »Ziel« und »Zukunft« bei einer Reisenden, die von so weit herkam! Und in welchem Lichte muß die Epoche, in der solche Expedition »durch Nacht und Eis« unternommen und durchgeführt worden ist, vor unseren Augen stehen, die für Millionen das nahen sehen, wovor eine Einzige zu retten 1887 noch das Ziel eines Lebens werden konnte.
Une collection de peintures chinoises appartenant à M. J. P. Dubosc a été exposée au mois d'octobre dernier à la Bibliothèque Nationale, dont l'intérêt mérite d'être signalé. Le public a pu voir là des chefs-d'œuvre qu'il rencontre rarement sur son chemin et les connaisseurs, de leur côté, ont profité de cette occasion pour discerner un regroupement de valeurs qui s'opère actuellement dans ce domaine. Il convient de rappeler ici l'exposition faite en 1936 à Oslo par le D r O. Sirén qui déjà attira l'attention sur la peinture chinoise du XVI e, XVII e et XVIII e siècle.
Le renom des peintures qui appartiennent aux époques que nous venons d'indiquer est solidement établi en Chine et au Japon; mais chez nous, en raison d'un certain parti pris et d'une certaine ignorance, on a surtout prôné la peinture chinoise de l'époque Song (X e, XI e–XII e siècles), accordant bien aussi un regard à l'époque Yuan (XIII e–XIV e) considérée d'ailleurs comme le prolongement de l'époque antérieure. Cette admiration assez confuse pour les »Song-Yuan« se transformait soudain en mépris lorsque l'on prononçait les noms des dynasties Ming et Ts'ing.
Or, il faut d'abord le noter, l'authenticité de beaucoup de peintures prétendues Song ou Yuan est très sujette à caution. M. Arthur Waley, le D r Sirén, dans leurs ouvrages, ont suffisamment indiqué combien sont rares les tableaux qui peuvent avec certitude être attribués à l'époque dite »classique« de la peinture chinoise. Il apparaît donc que l'on s'est pâmé surtout devant des copies. Mais sans préjuger de la grandeur véritable de la peinture chinoise des époques Song et Yuan, l'exposition de la Bibliothèque nationale nous a permis tout au moins de reviser le jugement qui avait été porté avec beaucoup de désinvolture sur les peintres chinois des dynasties Ming et Ts'ing. A vrai dire, il n'était même pas question de nommer un seul de ces peintres. On n'en prenait pas la peine. La condamnation portait en bloc sur la «peinture Ming«, la «peinture Ts'ing« – que l'on plaçait sous le signe de la décadence.
M. Georges Salles, à qui nous sommes reconnaissants de nous avoir présenté la collection de M. Dubosc, insiste cependant sur la permanence de l'ancienne maîtrise chez les peintres plus récents. Il s'agit là, dit-il, d'un »art dont le métier est désormais fixé, – facettes mallarméennes taillées à même le vieil alexandrin«.
Sous un autre aspect, qui se rattache de plus près à la personne du collectionneur même, cette exposition nous a intéressé. M. Dubosc, qui a séjourné près de dix ans en Chine, est devenu un éminent connaisseur d'art chinois en vertu d'une formation esthétique qui, elle, est essentiellement occidentale. Sa préface, discrètement, fait comprendre de quel prix lui a été notamment l'enseignement de Paul Valéry. On apprend dès lors sans surprise que son intérêt se soit porté sur l'état de lettré qui, en Chine, est inséparable de celui de peintre.
C'est un fait capital et assez étrange aux yeux des Européens: le lien qui nous est révélé entre la pensée d'un Valéry, qui parle d'un Léonard de Vinci en disant »qu'il a la peinture pour philosophie« et cette vue synthétique de l'Univers qui caractérise ces peintres-philosophes de la Chine. «Peintre et grand lettré«, »calligraphe, poète et peintre«, telles sont les désignations courantes des maîtres de la peinture. Les tableaux eux-mêmes en prouvent le bien-fondé.
Un grand nombre de ces peintures portent des légendes importantes. Sans parler de celles qui ont été ajoutées plus tard par des collectionneurs, les plus intéressantes sont celles qui proviennent de la main des artistes eux-mêmes. Multiples sont les sujets de ces calligraphies qui font, en quelque sorte, partie du tableau. On y trouve des commentaires ou des références à d'illustres maîtres. On trouve, plus souvent encore, de simples notations personnelles. En voici qui seraient aussi bien détachées d'un journal intime que d'un recueil de poésies lyriques.
Sur les arbres la neige demeure encore glacée...
Tout un jour je ne me lasse pas de ce spectacle.
Ts'ien Kiang
Dans un pavillon au cœur des eaux où nul n'atteint
J'ai fini de lire les chants de »Pin«
Ceux du septième mois.
Lieou Wang-Ngan
»Ces peintres sont des lettrés«, dit M. Dubosc. Il ajoute: »Leur peinture est cependant à l'opposé de toute littérature.«
L'antinomie qu'il indique en ces termes pourrait bien constituer le seuil qui donne accès d'une manière authentique à cette peinture – antinomie qui trouve sa » résolution « dans un élément intermédiaire, lequel, bien loin de constituer un juste milieu entre littérature et peinture, embrasse intimement ce en quoi elles paraissent les plus irréductiblement s'opposer, c'est-à-dire la pensée et l'image. Nous voulons parler de la calligraphie chinoise. »La calligraphie chinoise en tant qu'art«, dit le savant Lin Yutang, «implique ... le culte et l'appréciation de la beauté abstraite de la ligne et de la composition dans des caractères assemblés de telle manière qu'ils donnent l'impression d'un équilibre instable... Dans cette recherche de tous les types théoriquement possibles du rythme et des formes de structures qui apparaissent au cours de l'histoire de la calligraphie chinoise, on découvre que pratiquement toutes les formes organiques et tous les mouvements des êtres vivants qui sont dans la nature ont été incorporés et assimilés... L'artiste... s'empare des minces échasses de la cigogne, des formes bondissantes du lévrier, des pattes massives du tigre, de la crinière du lion, de la lourde démarche de l'éléphant et les tisse en un réseau d'une beauté magique. «
La calligraphie chinoise – ces »jeux de l'encre«, pour emprunter le mot par lequel M. Dubosc désigne les tableaux eux-mêmes – se présente donc comme une chose éminemment mouvante. Bien que les signes aient un lien et une forme fixés sur le papier, la multitude des »ressemblances« qu'ils renferment leur donne le branle. Ces ressemblances virtuelles qui se trouvent exprimées sous chaque coup de pinceau forment un miroir où se réfléchit la pensée dans cette atmosphère de ressemblance ou de résonance. De fait, ces ressemblances ne s'excluent pas entre elles; elles s'enchevêtrent et constituent un ensemble que sollicite la pensée comme la brise une voile de gaze. Le nom »hsie-yi«, peinture d'idée – que les Chinois réservent à cette notation, est significatif à cet égard.
Il est de l'essence de l'image de contenir quelque chose d'éternel. Cette éternité s'exprime par la fixité et la stabilité du trait, mais elle peut aussi s'exprimer, de façon plus subtile, grâce à une intégration dans l'image même de ce qui est fluide et changeant. C'est à cette intégration que la calligraphie emprunte tout son sens. Elle part à la recherche de l'image-pensée. »En Chine« – dit M. Salles – »Part de peindre est avant tout l'art de penser.« Et penser, pour le peintre chinois, veut dire penser par ressemblance. Comme, d'autre part, la ressemblance ne nous apparaît que comme dans un éclair, comme rien n'est plus fuyant que l'aspect d'une ressemblance, le caractère fuyant et empreint de changement de ces peintures se confond avec leur pénétration du réel. Ce qu'elles fixent n'a jamais que la fixité des nuages. Et c'est là leur véritable et énigmatique substance, faite de changement, comme la vie.
Pourquoi les peintres de paysages atteignent-ils une si grande vieillesse? se demande un peintre philosophe. »C'est que la brume et les nuages leur offrent une nourriture.«
La collection de M. Dubosc suscite ces réflexions. Elle évoque bien d'autres pensées encore. Elle servira prodigieusement la connaissance de l'Est. Elle mérite de durer. Le Musée du Louvre, en l'acquérant, vient de consacrer ce mérite.