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11.4.11. Überall in Deutschland werden jetzt die Äcker bestellt. – Man sollte auf der Reise doch nicht seinen schlechtesten Anzug anziehen, denn das Reisen ist ein internationaler Kulturakt: man tritt aus seiner Privatexistenz in die Öffentlichkeit. – Ich las während der Fahrt Anna Karenina: Reisen und Lesen – ein Dasein zwischen zwei neuen aufschluß- und wunderreichen Wirklichkeiten. – Ein Thema: Religion und Natur (Naturreligion). Der Bauer muß religiös sein. Alljährlich erlebt er das Wunder, daß er aussäet und erntet. Dem Großstädter geht mit der Natur vielleicht auch die Religion verloren; an ihre Stelle tritt das Sozialgefühl. –
Das sind einige Gedanken, die ich während der Fahrt dachte. Von Halle bis Großheringen genießt man das Saaletal; dann aber nur Äcker, Äcker, die sich schneiden, heben und senken und dazwischen Dörfer mit der breiten Chaussee.
In Fröttstädt hat man plötzlich das Gebirge vor sich. Es lag in durchsichtigen Nebeln in ganz verschiedenen Höhenabstufungen. Von Waltershausen aus geht die Bahn durch schönen Wald.
Steinfeld überraschte mich schon in Reinhardsbrunn. Von da gingen wir eine viertel Stunde bis zu unserer Pension (Koffer). Der Wirt ist anscheinend ein freundlicher, gemütlicher Mann. Er abboniert die »Jugend« und das »Israelitische Familienblatt«. Im Annoncenteil herrschen Solomonsche u. Fäkeles und Würste und Sederschüsseln. [Diese verwendet man zum Passahfest und sie haben verschiedene Abteilungen für Verschiedenes. So sagt Steinfeld.] Nachmittags gingen wir den Herzogsweg – an der Mühle vorbei zum Wasserfall, zurück an Dorothea-Waldemar-Lottchen-August-Ruheplätzen vorbei durchs Dorf. Immer nach Spittelers Rat: nicht die Natur anglotzend, sondern redend, über Berlin, Theater, Sprachverhunzung. Jetzt mache ich Schluß, um den Plan für morgen mit Steinfeld zu entwerfen.
Das Objekt war friedlich.
Vorpostengefechte mit dem 2 ten Backenzahn oben. Ich hoffe...!
12.4.11. Heute ist Jontew. Eben habe ich in der Hagadda gelesen. – Beim Essen sagt Herr Chariz immer: »Ja, was soll man an Jontew machen« (d. h. kochen) Man sagt nicht: guten Tag, sondern: gut Jontew. Beim Abendbrot stand ein dreiarmiger Leuchter auf dem Tisch. Gott sei Dank wurde nicht Seder gemacht. Es wäre wohl sehr interessant gewesen und es hätte mich vielleicht auch ergriffen aber es wäre mir für mich wie unheiliges Theater vorgekommen. –
Immerhin, heute Abend bin ich in der Weltgeschichte wohl an 500 Jahre zurückgereist.
Regen und Sturm leiteten den Festabend ein. Wir besuchten Salomon und gingen mit ihm spazieren. Wie genießbar die Menschen allein sind. Und draußen, steht man ihnen auch so selbstständig, überlegen und gleichgestellt gegenüber. (Denn eben wo die Worte fehlen, da stellt ein Paradox ... u.s.w.)
Heute vormittag schleifte ich meinen Körper über die Seebachsfelsen zum Spießberghaus. Dann war er brav und wir stiegen mitsammt dem Gottlob auf sein bemoostes Haupt. Unten liegt Friedrichroda, gegenüber ein koketter Berg, der seine Spitze schief aufgesetzt hat (novarum rerum cupidus) und die Ebene mit Dörfern u. Höhenbahn. – Als wir nach Friedrichroda hinuntergingen fröhnte St. seinem Hauptvergnügen, Psychologie an harmlosen Objekten zu treiben. Diesmal wars eine Bauernfrau. In der Riege trug sie leider Käse.
Am Nachmittag fand eine Revolte des Objekts statt. Drei Bananen, die sich auf dem Luftwege zu St. begaben, der im Bett lag, zerschlugen seinen Kneifer. Mein Taschenmesser begab sich auf ähnliche Weise unters Bett, wo es am dunkelsten ist.
Der Zahn erließ Amnestie für ein paar Bonbons. Auch sonst führte er sich lobenswert.
13.4.11. Heute war der Abend die Krone des Tages. Morgen fand nicht statt, da wir uns mit Aufgebot aller Kräfte des Willens und des Intellekts von der Notwendigkeit des Aufstehens erst um 9 ¼ Uhr überzeugten. Zum Kaffee gabs Matze und so wird bleiben. Denn gestern war Jontew und wir leben in der Passahwoche. Dann gings zum Abtsberg. Unten lag die Ebene mit Sonne und Wolkenschatten. Bis zu einer Bank marschierten wir; dann zurück und rechts den Wald hinauf zur Schauenburg. Nichtsahnend vorbei an der Alexandrinenruh und der Gänsekuppe. Es handelte sich um den Novellenschluß des Romans, darin um die Landschaft in der Dichtung. Wenn Steinfeld und ich zusammen sind entsteht eine philosophisch-literarische Spannung. – Statt einer Beschreibung, Charakteristik und Statistik des Mittagsbrots (»Was soll man am Jontew machen«) folgt eine solche des Herren des Hauses:
Ein Spießer, der 9 Jahre in Berlin verlebt hat, nicht soviel Takt besitzt mit seinen Gästen ein Gespräch zu beginnen, sondern seine lange Weile durch leise Pfiffe und Räckeln manifestiert. Gutmütig und, was die Umgebung Friedrichrodas anbetrifft, aufschlußreich. – Nachmittags fanden häusliche Szenen im Bett statt; draußen herrliche große Schneeflocken, drinnen wurde Graphologie gesimpelt. Ich sah Briefe von Steinfelds Eltern.
Dann gingen wir, erstanden den Simplizissimus (auf dem Rückweg eine Kokusnuß) in der Richtung des Bahnhofs über Friedrichroda hinaus. Wege und Wiesen waren naß, alles wundervoll frisch. Ein Stück Chaussee durch so eine sanfte Hügellandschaft, die ich sehr liebe, weil Haubinda da lag, dann einen Waldweg hinauf an einem Bergrücken entlang. Da lag eine Schonung: ganz kleine Tannen und größere Sprößlinge voll welker Blätter. Nach dem Regen war ein wundervoller Sonnenuntergang. Friedrichroda lag in Sonnendunst; der Wald war rot überstrahlt und einzelne Zweige und Stämme am Wege glühten.
Aus Wolkengluten erhebt sich neu
Eine junge Welt;
Purpur umsäumte Nebelberge,
Wollen Riesenleiber gebären
die goldenen Ströme brechen sich Bahn,
Fließen aus dichtem Wolkenhimmel
Durch die abendklaren Lüfte
Nieder zu der stillen Erde.
Senken sich in Fels und Äcker,
Glühnde Goldesadern ziehen
Durch der Erde schwere Tiefen.
Morgen wird Herbert kommen.
14.4.11. Heute kam Blumenthal. Das Bild ist geändert. Wir gingen mit ihm spazieren, es gab eine vorübergehende Mißstimmung zwischen Steinfeld und mir; der ganze Weg litt, da wir vorher ziemlich intim verkehrt hatten, unter der Gegenwart eines Dritten. Später, zu Hause, sprach ich mit Steinfeld darüber und hoffentlich gleicht sich alles aus.
Von heute vormittag datiert der bis jetzt stärkste landschaftliche Eindruck der Reise. Wir kletterten an einem Bergmassiv herum, kamen zu mehreren Felsen mit schöner Aussicht und auch zu einem, auf den die Sonne sehr heiß schien, der freie Aussicht auf den Inselsberg und in ein schönes Waldtal ließ. Vorher hatten wir uns immer noch losgerissen, aber hier konnten wir nicht gehen. Wir legten uns hin und blieben eine viertel Stunde. Es war 2¼ Uhr, als wir gingen, um ½ Uhr wurde schon gegessen, Blumenthal kam um 3½». Auf dem Rückweg, der durch den »ungeheuren Grund« führte und unerwartet lang wurde, ging ich schließlich voraus und erreichte Herbert an der Post. –
Am Abend sahen wir wieder, in derselben Gegend wie gestern, einen sehr schönen Sonnenuntergang. Folgende Unterhaltung:
Ich: Gestern abend waren wir spazieren und haben auch Dings gesehen.
Herbert: Was, Dings?
Ich: Na, Sonnenuntergang.
15.4.11. Durch nächtliche Gespräche und morgendlichen Schlaf gehen die Vormittagsstunden verloren. Um 11 Uhr gingen wir heute los und gelangten nach längeren Streitigkeiten auf einen Stein am schroffen Abhange eines Tales. Wir stiegen hinunter und kamen durch ziemlich eiligen Marsch noch zu rechter Zeit zum Essen. Nachmittags Bummel in der Umgegend. Schluß: früh zu Bett. Denn morgen gehts auf den Inselberg.
Ich lege das Tagebuch in Rückblicken an, teils, weil ich erfahrungsgemäß nicht jeden einzelnen Tag zum Schreiben Zeit finde, teils weil der Rückblick schon manches klärt. Also ich beginne mit dem Rückblick auf Weggis. Ort: der Schreibsalon des Hotel Belvédère in Wengen. Links in der Ecke zwei Backfische mit einem etwas albernen Herrn in meinem Alter; sie schreiben eine Karte an ihren Konfirmationspfarrer; draußen im Vestibül ein gespanntes Publikum, worunter sehr viel Kinder, die auf die Vorführungen der musikalischen Medien Prof. Matteo u. Frau Tuoselli (zu verwechseln mit Tosulli!) harren.
Wir reisten über Basel. Um 10 Uhr abends stiegen wir in den italienischen Expreß um, der in einer sehr weiten, einsamen Bahnhofshalle stand. Ein ganz leeres Coupe II schloß der Schaffner für uns auf. Nach ¼ Stunde verließ der Zug die Halle und fuhr in die regnerische, von großen Gaslaternen aufgehellte Nacht hinaus, zwischen Mauern mit Reklameaufschriften. Die Fahrt war schön: Wie von Zeit zu Zeit runde waldige Berge in ganz verschwommenen Umrissen auftauchten. Hier und da Lichter und vor allen Dingen die weißen Landstraßen.
Am nächsten Morgen ein ganz kurzer Aufenthalt an der Luzerner Kurpromenade bei der Musik. Dann im Dampfer nach Weggis. Am Nachmittag ein Spaziergang nach Hertenstein. Papa und ich alleine, denn Crzellitzers und die anderen ruderten. Je heißer die Straße für Papa wurde, um so schöner wurde sie für mich. Man hat, sowie man sich umdreht, den Rigi vor sich. Der schönste Teil der Straße liegt nicht am See, sondern im Hinterland, wo der Weg um einen Hügel biegt.
– Jetzt kommt ein sehr interessantes Intermezzo, da hinter mir Frau Tuoselli, wie ich vermute, (eine Dame in seidener, schwarzer Flitterrobe, genaueres steht noch nicht fest) hereingetreten ist, und ab und zu auf einem Klavier bekannte und wenig berückende Weisen spielt. Hinter das genauere werde ich noch zu kommen suchen. Augenblicklich steht die Dame an der geöffneten Tür (wenn sie es ist?)
Jetzt wieder Weggis: In Hertenstein entdeckte ich »limonade gazeuse«, die mir von da aus auf vielen Spaziergängen als lockende Belohnung vorschwebte. Georg und Crzellitzers fuhren trotz drohenden Gewitters mit dem Boote nach Weggis. Als sie unterwegs waren, brach das Gewitter aus. Sehr beängstigend, mit außerordentlich starken Blitzen. Gelb graue Wolken senkten sich schnell tief an den Bergen und der See bekam Schaumkämme. Der Rückweg war wenig angenehm, da wir große Angst ausstanden; und obwohl wir wesentlich kürzer gingen, kam er mir viel länger vor. Am Sonnabend ging mein Geburtstag ziemlich sang- und klanglos vorüber, da ich die Geschenke schon in Berlin erhalten hatte und Mama auch nicht einmal, wie ich heimlich vermutet hatte, ein kleines Reservegeschenk (einen Füllfederhalter hatte ich mir gewünscht und nicht bekommen) zurückbehalten hatte. Nur Onkel Fritz hatte eine Bonbonniere gestiftet.
Nachmittags waren wir auf dem Bürgenstock. Eine Bergbahn, Hotels, ein langsam steigender Weg am Felsen entlang und dann ein 120 m hoher Fahrstuhl bis auf die Piazza. Anfangs in den Felsen hineingebaut, dann aber ganz frei neben dem Felsen sich erhebend. Von unten sieht die Anlage schwindelnd aus; ist man jedoch drinnen, so fühlt man sich vollkommen sicher; denn erstens bewegt sich der Fahrstuhl in einem starken Eisengerüst und außerdem kann man nicht in die Tiefe sehen. Aber auch oben, auf der Brücke, die vom Ende des Fahrstuhls auf den Felsen führt, fühlte ich mich ganz schwindelfrei. Abstieg. Und der Abend beschwor bei zwei Flaschen Asti eine leise Feierlichkeit herauf.
Sonntag wurde ruhig bei Tolstoi, Burckhardt und lateinischer Formenlehre verbracht. Am Vormittag stieg ich heldenhaft einen heißen Hügel hinan um unter einem Baume einsam ein Buch zu genießen. Und es war schön, wenn das Buch auch nur die lateinische Formenlehre war.
Montag vormittag erblickte ich die Mythen, an deren einen ich noch eine ganz blasse Erinnerung von meinem ersten Aufenthalt in Brunnen her (5 Jahre) bewahrt hatte. Mit anderen hatten wir ein Motorboot gemietet, mit der Absicht zur Felsplatte zu fahren und ein Stück der Axenstraße zu gehen. Es wurde zu spät; und Mama, Georg und ich führten die Absicht am nächsten Tage aus. (Es ist die Dame)
Wir hatten Glück. Wundervoll klar war alles am Nachmittag und auf dem zweiten Platz des Schiffes wurden Jungen und Mädchen von der Volksschule befördert. Ich stand vorn und hörte zu; sehr schön begeistert von den Liedern die sie sangen. Mir fiel ein: Im Volkslied kommt das Volk zum Bewußtsein seiner selbst. Das macht seine mächtige, allgemeine Wirkung aus; das macht es so unsympathisch und falsch, wenn anstatt selbstverständlicher Einfachheit (das einzig durchaus originelle wird wohl meist nur Sprache oder Dialekt sein), ein nationales Protzen sich breit macht.
Am Rütli stiegen die Kinder aus; es war ein Geistlicher (die man überhaupt dort viel sieht) unter ihnen, dessen imposante Dummheit sich unverhüllt in seinem Lächeln offenbarte.
Und an der Teilsplatte stiegen wir aus. Der epische Fluß der Erzählung muß hier unterbrochen werden, durch einen wissenschaftlich getreuen, doch feuilletonistisch erheiternden Modenbericht. So ungefähr stelle ich mir einen Zweig der Familie Eckel vor, die ihre berühmte Alpenfahrt macht. Mann, Frau, Tochter. Das Familienmerkmal – sozusagen – des Mannes war ein Monokel. Im Knopfloch eine Georgine von imposanter Größe. Die Gattin – die Signalstange der Familie, die »Achtung« rief. »Achtung« rief der Hut. Von ganz normalen Dimensionen. Verhältnismäßig normal auch die Labz-Spitzengarnitur. Normal, weil in Mode. Über den Spitzen, auf der angenehmen Wölbung des Hutes jedoch befand sich das Auffallende. Zunächst weiß und seltsam zwischen hell und dunkelrot. Bei näherer Beachtung ein Vogel, ein vollständiger Vogel, der als Bekleidungsstück am Kopf und an den Flügelenden in besagtem merkwürdigen Rot erglänzte. Alles übrige weiß mit Spitzen. Der Ausdruck eines beleidigten Dienstmädchens krönte das ganze. Die Tochter war charakterisiert durch die Mutter. Ebenso dienstmädchenhaft vornehm, ebenso dick, nur noch mit einer fast tragischen Note in einem naiven Lächeln. Dieselbige Familie saß auch auf dem Dampfer, mit dem wir von Flüelen zurückfuhren.
Also zunächst zur Teilsplatte. Was die Platte betrifft, so ist sie von einem Gitter umgeben und von den Füßen 1000der patriotisch oder poetisch durchglühter Waller wohl noch ebener gemacht als Tell sie vorfand. Den Hintergrund schmückt ein Raubtierkäfig, der aber statt Löwen oder Tigern fromme Altarlichter und sterbensblasse Wandgemälde (deren Zeichnung nicht schlecht ist) in seinem schauerlich nüchternen Innern birgt. Hinauf zur Axenstraße. Ein ziemlich steiler Aufstieg brachte mich durch große Anstrengung in meinen gewohnten Wanderzustand, so daß ich nunmehr schnell und leicht die große Straße, die teils eben geht, später sich senkt, verfolgte. Die üblichen großen Bogen der Bergstraßen, vorwiegend einer nach innen. Links die ganz steilen Felswände, die oben an einen tiefblauen Himmel zu stoßen scheinen. Und deutlich sieht man in der größten Höhe schwankendes Gehölz, Laubbäume, leise wehen oder in der großen Schwüle unbewegt stehen. Unten geht, am Rande des Sees, oft durch Tunnel die Gotthardbahn ... nach Italien. Über ein halbes Jahr? Der See, den von drüben hohe, zum Teil schneebedeckte Berge einfassen, in leisem, windgekräuseltem Farbenspiel. Wo der Wald sich spiegelt ein märchengoldnes grün, wo die Sonne das Wasser trifft, seegrün, wie von Tang gefärbt. Und den Bergen drüben sieht man geradezu ins Gesicht, d. h. man sieht ihre schroffen Abstürze und Schluchten. Über ihnen erscheinen Wolken, die sich bis Flüelen recht stark verdichten. Die Axenstraße führt durch Tunnel, in denen arme Ansichtskartenverkäufer ihren »Bazar« aufgeschlagen haben. Drei große Fenster sind in den längsten dieser Tunnel gesprengt; unerwartet öffnet sich der See.
Eine ganz starke Wanderstimmung überkommt mich. Als ob ich schon den ganzen Tag gehe, Morgen und Mittag der Sonne erblickt habe. Das machen die Berge; der Himmel über ihnen, der so blau ist und vor allem ihr gewaltiger Linienrhytmus. Sie scheinen wie ewige Weltwanderer, die dahinziehen und wenn man mit ihnen wandert, so glaubt man selber aus Fernen zu kommen.
Bis sich das beruhigt und mäßigt; die ersten Häuser von Flüelen; ein alkoholfreies Restaurant weckt Kulturgedanken; und ein normales Bewußtsein erwacht bei einer Flasche »Limonade gazeuse«. Leider ist sie abgestanden.
Am Mittwoch früh ein entzückender, wenn auch gänzlich rührungsloser Abschied von Franz, Robert und Jete. Franz hat etwas Gravitätisches, Robert ist für sein Alter erstaunlich schelmisch; mehr wohl im Ausdruck als sonst; aber sehr lieb. Jete ist 2 Jahre. Mehr kann man zum Lobe eines Menschen wohl kaum sagen.
Mit dem Dampfboot nach Alpnachstad über den Teil des Sees, den wir noch nicht befahren hatten. Am Bahnhof ein erstes »Abenteuer der Seele«. (Und damit hier ein erstes schüchternes Bekenntnis) Vom Warteraum aus besah ich mir im Korridor Reklamebilder, dabei sah ich ein Mädchen an einer Tür zum Stationsraum lesend, ganz flüchtig, ein rosa Kleid mit schwarzem, glänzendem Gürtel. Sie schien mir sehr hübsch. Wahrscheinlich die Tochter des Stationsvorstehers. Ich streifte sie nur sehr schnell mit dem Blick; denn im gleichen Korridor saßen auf einer Bank zwei ältere Tanten in schwarz. Daher ging ich. Noch zwei Mal besichtigte ich eingehend und aufmerksam die bunten Plakate. Das Mädchen stand noch da, aber ich konnte es nicht ansehen.
Nachher, als der Zug die Station verließ, sah ich sie. Es war ein kurzes Abenteuer der Seele und fand mit diesem Anblick seinen Schluß. Sie war nicht besonders hübsch.
Die Brünigbahn ist schön. Ich genoß die Fahrt mit 2 Schweizer Knaben und mehreren Herrn auf der Plattform des Wagens. Vom Brünig nach Meiringen – Brienz. Mit dem Schiff nach Interlaken. Mit zwei Franzosen (ein älterer Herr und eine junge Dame), deren Gespräch ich zu meiner Genugtuung verstehen konnte, mit der herrlichen Bergbahn von Lauterbrunnen nach Wengen. Was da Erinnerung, was vorübergehender Verdruß oder Genuß sein wird, und gewesen sein wird, weiß ich nicht.
Für den folgenden, am 25 ten hier in Wengen begonnenen Teil dieses Pseudotagebuches trage ich schwere Bedenken. Nur die beständig im einzelnen wechselnden und doch im Grunde sehr ähnlichen Stimmungen der Hochgebirgsnatur sind festzuhalten; noch dazu unter möglichster Ausschaltung der pragmatischen, unwichtigen Begleitumstände. Und diese feinsten Gründe verschiedener Natureindrücke festzuhalten ist schwer und manchmal und für manchen unmöglich. Und vielleicht wird da doch wieder an einzelnen Stellen im pragmatischen, im gewöhnlichen, begleitenden Erlebnis, der einzige Schlüssel und Ausdruck liegen.
Mit leichterem und gleich reizendem kann ich beginnen. Mit dem eindrucksvollen Merkmal des Tages als ich mit meinen Geschwistern 10 Minuten in dem bestrickend kunstgewerblichen Vestibül des Hotels zubrachte und eine Entscheidung der Eltern über die Wohnung erwartete (die imponierenden Blätter der Times und des Matin musternd) und mit dem zweiten Genrebild: Einem tagebuchbeflissenen Jüngling in dem allmählich sich leerenden Schreibzimmer (nur ein vornehmer Herr mit lang ausgezogenem Bart legt seine abendliche Patience) während im erleuchteten Vestibül ein Zauberer seine scharf accentuirten Reden vor dem Publikum hält und bis in meine stille Ecke sendet.
Danach wohnte ich dieser Vorstellung bei, ohne weitere tiefere oder denkwürdige Gefühle, Gedanken oder Erinnerungen daran zu bewahren.
Ein harmlos angelegter Spaziergang des folgenden Vormittags entwickelte sich zu einem etwas längeren Gang, der mit einer Bergtour wenigstens das Ziel und die Anstrengung gemein hat. Man erklomm auf heißen, steilen Hügelrücken und zuletzt auf kurzem braunen, mit Wurzeln durchquertem Waldweg das Lauberhorn, das diese Bemühungen mit einem Ausblick auf Interlaken lohnt.
Es wechselte nun mit ziemlicher Regelmäßigkeit eine Reihe von Tagen der Beschaulichkeit mit solchen, die von mehr oder weniger langen, harmlosen Touren ausgefüllt werden; während die Lektüre der »Anna Karenina«, der »Kultur der Renaissance«, einiger Zeitungsfeuilletons und Vormittage, die in mehr oder weniger bequemer Lage auf dem Waldboden verbracht werden die beschaulichen Tage darstellen. Nicht zu vergessen ein bandwurmartig anwachsender Briefwechsel mit Herbert, so wie auch im übrigen ein mit der Intelligenz von Berlin-W geführter leider reger Briefwechsel, der dadurch nicht interessanter wird, daß die Umstände Veranlassung zu mehrfach wiederholten Schilderungen identischer Urbilder geben. Ferner bringt jeder Tag eine Stunde der Göttin des Examens zum Opfer. Desgleichen jede Nacht ihr einen Traum.
Und nun erst gelangen wir in medias res, wobei die Sache die Alpenwelt darstellt. Da Sinn und Verstand weder für noch gegen eine chronologische Aufzeichnung sprechen, so wähle ich sie. Oder trotzdem. Auch das bleibt dahin gestellt. Denn die Niederschrift eines Tagebuches kostet schon an sich genug geistige Arbeit.
Ich muß also beginnen mit Ausflug und Fahrt in den Jungfrautunnel. Leider ist der Schreibtisch nicht besetzt und am 28 d.M. des Abends setzte ich mein Werk fort.
Die Bahn (eine Bergbahn mit offenen Wagen) geht nach Wengen-Scheidegg und wieder sendet dem rückwärts sitzenden die Bergwelt nur kurze, blendende Grüße. In einer langen, ausgedehnten Menschenkolonne geht's zu Fuß von Scheidegg nach dem Eigergletscher. 250 m Steigung. Ich berechne immer eifrig Höhengewinnste und Verluste; kann mich geruhsam darüber ärgern daß erworbene 30 m in 1 Min. in einem kleinen Abstieg wieder geraubt werden, bleibe weit hinter den Eltern und dann hinter Nachfolgenden zurück und gelange schließlich recht erschöpft auf die Höhe. Mühsam muß ich eine Übelkeit unterdrücken. Merkwürdig, wie gereizt die Anstrengung mich macht. Auf eine Frage nach meinem Befinden antworte ich fast frech. Die errungene Höhe, die Nähe der Gletscher läßt Mama endlich den zurückgedämmten Wunsch nach einer Fahrt mit der Jungfraubahn wach werden. Sogar Papa wird ergriffen und eine Fahrt nach Station Eismeer beschlossen. Wobei ich ein Opfer meines etwas aufrührerischen Herzens zurückbleiben soll. Sofort stand bei mir fest mit Aufwand aller Diplomatik wenigstens etwas zu erreichen. Und nach ganz kurzem Kampf setzte ich eine Fahrt nach Eigerwand durch. Dora sollte dort mit mir bleiben und der nächste Zug sollte uns zurückbringen.
Noch ist Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Wir verlassen das festungsmäßig düster gebaute Bahnhofs- und Restaurationsgebäude und auf Schuttabhängen hinab zum Eigergletscher. Bald haben wir Schnee unter den Füßen und vor uns Eis und Schneemassen, den Gletscher und eine ziemlich schneefreie braun-schwarze Felswand. Man ist mitten in der Gletscherwelt. Aber das Kulturbewußtsein wird wach erhalten durch zahlreiche Bewunderer am selben Orte, durch eine Eisgrotte mit Eintritt nach Belieben, durch Männer, die angelegentlichst eine Rodelfahrt in Schlitten empfehlen, die gegen eine Gebühr auszuleihen sie gern bereit sind. Rückweg und Fahrt in der Jungfraubahn. Leis, ganz leise enttäuschend. Nur vage Ahnungen der Gletscherwelt stehen dem Fahrgast in einer endlosen, vom elektrischen Licht der Coupees erhellten Tunnelfahrt frei. Und dann der kühle Tunnel, mit etwas satterer Belichtung, wo der Zug hält: Station Eigerwand in bunten Glühbirnen oben an der Wölbung zu lesen. Überrascht und erfreut, doch etwas zu entdecken laufe ich zu, auf den Fleck, wo Tageslicht grüßt. Ein Ausblick, wie viele Ausblicke. Ein Stück Felsenwand, Dunkelheit und 5 m entfernt, noch so ein Loch im Felsen mit eisernem Gitter davor. Ebenso zur anderen Seite. Die Fahrgäste verlaufen sich allmählich; kehren in ihre Coupees zurück. Nicht genug damit: das Schicksal hatte mir noch eine kleine Liebesgabe zugedacht, die ich aber sogleich als solche erkannte und die mich daher nicht sehr ärgern konnte. Zwei junge Damen, die auch auf der Station bleiben wollten, aber durch lockende Schilderungen des Eismeers von dem Bahnbeamten bewogen wurden, im letzten Augenblick einzusteigen. Der Zug fährt ab. Meine Schwester, ich ein Fernrohr ... und nach einiger Zeit der Bahnbeamte die einzigen. Wir entwickeln unser Lunch. Der Bahnbeamte schenkt Dora einen Glimmerstein; dann nähert es sich und wir bewundern entflammt nach seinen Weisungen im Fernrohr in plötzlicher Deutlichkeit die Umgegend. Tandlhorn, Schyn Platte, Grindelwald u.s.w. Ich fühle mich zu einer Erkenntlichkeit bewogen; habe aber kein Kleingeld bei mir und helfe mir, indem ich eine Karte kaufe. Hoffentlich gehörte ihm der Stand und wahrscheinlich, da er doch Dora etwas vom Bestande geschenkt hatte. Unter spärlichem Unterhalten mit Dora vergehen die letzten 10 Minuten kalter Einsamkeit, das Lunch geht aus, die letzten Augenblicke; soeben fährt der Zug ein, Abfahrt und Ankunft wieder im Eigergletscher.
Ich will hier nachträglich einiges herausheben und aufheben, da mancherlei und nicht zum wenigsten auch die Schwierigkeit der Aufgabe, eine leise, liebevolle Schilderung auch des Alltages einer Reise, und des gemäßigten, schön bewegten Schwankens und Träumens in Erwartung und befriedigtem Genuß verhindert hat.
Am reichsten an unverhüllten inneren Freuden und beinahe andächtigen Festen war der Aufenthalt am Genfer See. Die erste Berührung aus der Ferne von einem Hochplateau, in dem sich nähernden niedersteigenden Eisenbahnzug. Unten gewahre ich eine leere Tiefe. Wohl wenige oder keine Landschaften im Gebirge gibt es, die eine gleich ruhige, befreite Spannung gewähren, wie der erste weite Ausblick auf die See oder eine große Wasserfläche. Die Eltern orientierten sich und uns an den Aufenthaltsorten ihrer früheren Reise am See. Schloß Chillon, deutlich in der Vorstellung durch bürgerliche Mondscheindrucke suchen wir noch vergebens. Ein farbenvoller Sonnenuntergang spielt schon am Himmel. Wir fahren durch Weinpflanzungen, halten an kleinen Orten mit französischen, zusammengesetzten Namen; die rätselvolle Ferne des Sees ist verdrängt durch das imposante Bild der Badestadt Montreux-Vevey-Territet in der Tiefe. Die Bahn immer zwischen Weinhügeln und ab und zu eine niedrige Mauer oder ein Schloßturm. Bis die Einfahrt mit schamlosen Hotel-Rücken in prassenden Aufschriften das Bild bestauben, aber nicht verdrängen.
Von einem Zimmer-Balkon des Eisenbahnhotels genieße ich in jener durchaus selbstbefriedigten Ruhe nach einer längeren Reise Fortgang und Ende des Sonnenuntergangs. Mir noch unbewußt läßt eine Musikkapelle auf der nüchternen Hotel-Terrasse nach dem Bahnhof hinaus italienische Stimmung entstehen und wachsen.
½ Stunde später gehe ich nach dem Abendbrot auf der Terrasse ein paar Schritt hin und her – nur wenige Schritt, (dann gleich zu Bett) und die Stimmung ist schon da, stark gegenwärtig. Die sehr nüchterne Bahnhofs-Terrasse muß nach dem See zu abfallen und mit Palmen bestanden sein. Die Musik ist durch eine längere Pause unterbrochen und die Luft sehr lind. An den See will ich nicht mehr gehen. Morgen. Ich bin müde und weiß alles, habe ja diese Landschaft schon erfaßt und genieße sie ganz. Und so schließt der Tag. Mit der Aussicht auf morgen, den Überfluß, der kommt ohne ersehnt zu werden.
Dieses »Morgen« stand im Zeichen der Sonne. Ein Gang durch die heiße, helle Stadt. Zuerst hinunter zum See, der liegt unbewegt, blau – die hohe Lage des gegenüberliegen Ufers deckt ein leichter Dunst. Dunst überall, er verwehrt den deutlichen Blick in die Ferne und gibt See und Land eine ebene weite Ruhe. Doch die Sonne vertreibt uns vom Ufer mit der Brüstung und dem Eisengeländer vor dem See und Bäumen, deren Schatten recht tief sich von alle dem Licht absetzt. Zurück zur Stadt. Gegenständlicher wirds in Farbe und Form. 10 Uhr. In der Vormittagshitze formen sich alle Gebäude hell und kantig; das weiße oder gelbe Pflaster sogar strahlt Licht aus. Und doch wieder, gerade durch dies Licht, gerade in dieser Klarheit, märchenhaft seltsam ... märchenhaft hell. Ganz verlassene Hotelfassaden, schimmernde Juweliersläden an der Straße ... vornehm luxuriös erscheinen sie, als wären sie für sich da. Denn Badepublikum gibt es nicht. Ein dicker Schlächter steht in Hemdsärmeln vor der Tür und ein paar Einheimische beleben die Straßen – oder heben gerade um so deutlicher die Einsamkeit hervor. Die Weinberge, kahle Felsenpartien oberhalb der Stadt erscheinen als die gegenständliche Atmosphäre. Die Straße hat eine Brüstung; darunter sieht man das Geleise der Simplonbahn und manchmal fauchen und poltern Züge drüber hin. Der Weg hat ein Ziel ... das Ziel ist Schloß Chillon. Im Burggraben ... im früheren Burggraben liegt der Schienenstrang der Simplonbahn. Ich war mißtrauisch diesem Schloß gegenüber ... wie allen Schlössern gegenüber seit ich die Wartburg sah ... und noch ganz besonders in manchen unklaren Erinnerungen an Mondschein-Romantik. Doch meine Enttäuschung war groß und angenehm. Überall interessant ... stellenweise, in den tiefen Felsgemächern ist der Eindruck stark und würdig. Ganz besonders fiel mir in drei Zimmern die neuerdings freigelegte durchaus modern, im geschmacklosen und schönen Sinne wirkende Bemalung auf.
Auf dem Vorderperron der Tram stehend, hoffte ich die Fahrt nach Vevey recht zu erschöpfen. Doch nur bis zu einer Schokoladenfabrik an der Landstraße blieb der Blick frei. Fabrikschluß ... ich stand gedrängt in einem Haufen von Arbeitern und Arbeiterinnen, die einen angenehmen, intensiven Schokoladengeruch aus der Fabrik mitbringen. Die Straße geht am See entlang. In bestaubten Gärten, oft hinter grauen Steinmauern, liegen Landhäuser. Auf dem See liegt Dunst. Auf alles drückt die Hitze ihre schwer und hell machende, und in der Ferne lichtdämpfende Hand. Unvermittelt liegt das Aristokratenviertel hinter mir. Jetzt – so denke ich mir die Straßen einer italienischen Landstadt. Eng, mit wenig verlockenden) Blicken ins Innere der Häuser, unsauberen Auslagen, Menschen aus demselben Milieu. Unangenehm sind mir solche Straßen als Kultureuropäer. Sehr interessant, noch mehr, fesselnd, sind sie mir aus individuelleren Gründen. So ganz unvermittelt aus all dem Schatten taucht plötzlich ein Lichterreich auf, blendend wie eine nahe Sonne ... der Markt von Vevey. Der weiße, helle Platz mit flüchtig aufgerichteten, braunen, gelben und farblosen Buden strahlt sein Licht zurück auf die umgebenden Häuser, alle ohne bestimmte Färbung, in den feinsten Nuancen von weiß zu leuchtenderem und verwaschenem gelb. Buntes schmutziges Papier liegt massenhaft am Boden. Aus dieser ganzen Lichtfülle aber hebt sich hinten abschließend und beherrschend der fein sanft gebogene, mäßig hohe Mont Pelerin. Dunkle Waldflächen wechseln mit hellen, angebauten Saatfeldern, graue Flecke, Häuser, stellenweise vielleicht kleine Dörfer heben sich heraus. Und in diesem gleichen weißen Ton, der alles beherrscht und alle Farbenpracht, die das Leid wohl sonst entwickeln mag, mildert, spannt sich der Himmel.
Am Nachmittag bringt eine Fahrt auf dem See mir wieder diese seine seltsam ruhige, fast wesenlose und tief beruhigende Erscheinung vor Augen. Gewitterwolken stehen am Himmel, ganz gelb erstrahlt das Wasser an einer Stelle von ihrer Spiegelung, einige bewegtere Schaumwellen erheben sich, aber vergebens erhoffe ich ein kleines stürmisches Abenteuer. Die Ufer liegen klarer zu beiden Seiten. Weiter entfernt von der hochgebirgsartigen französischen Seite, fahren wir an dem hügeligen Lande vorbei, das Schweizer Gebiet ist. Keine bewegte, sondern im wesentlichen eine langsam aufsteigende Linie stellt es dar ... die Dörfer am Bergrücken ganz gedrängt in der Entfernung, nehmen bisweilen die sonderbarsten, farbenstärksten Gestalten an.
Auf dem Dampfer sind zwei ungefähr 20jährige Schwestern. Die eine sehe ich am Schiffsende stehen ... mit anmutigem, weitem Schwung wirft sie Brot ins Wasser, das die Möwen, die dem Dampfer folgen, schnappen. Darin ist sie ganz vertieft und sichtlich dadurch erfreut. Von allem anderen abgesehen ... ein seltenes und liebenswürdiges Schauspiel, selten leider auch auf Reisen, in so natürlicher Beschäftigung einen Erwachsenen eifrig handelnd zu sehen. ... O! aber ein sehr feines, ein fein-schönes Gesicht ... es läßt sich nicht sagen ... um Gotteswillen kein rundweg schönes Gesicht... man denkt an Würde und Hermelin. Sondern bei allem Ernst erscheint die Fähigkeit fein zu lachen, bei aller Gründlichkeit erscheint verborgen glühendes Feuer. Alles lebendig und gar nicht »interessant«. Denn sie hatte sich umgedreht und ich sah nun auch eine schöne Eigentümlichkeit der Kleidung: über einer einfachen weißen Bluse ein dunkler Sammetschlips, groß, frei herunterhängend ... wie farbig-stark das wirkt! Das alles die Entdeckung wohl kaum einer Sekunde. Ich wende mich und begegne nach wenigen Schritten ihrer Schwester. Gleich gekleidet, die gleichen hellblonden Locken zu Seiten der Schläfen eng gewunden, gleich große dunkle Augen und dieselbe süße Farbe des Gesichts. Das alles macht mich sehr vergnügt ... froh.
Ouchy ... das ist die Hafenstadt von Lausanne. Ich ärgere mich, daß ich erst einige Zeit nach ihnen ans Land komme ... ich sehe ... ein junger Mann, wohl der Bruder, begleitet sie. Ich folge ihnen mit den Augen ... sie gehen, wir zögern, bald habe ich sie verloren. Dann folgen auch wir dem Trott, die gepflasterte Allee hinunter... wir sind an der Bahn, die hinauf fährt nach Lausanne. Gott sei Dank: sie sind noch da. Wie überall betrachte ich die Plakate und werfe ab und zu einen vergnügten Blick auf sie. – Ob sie wohl in mein Coupee kommen ... Bitte sehr, wozu weißt du das, verweise ich eine Regung der Vernunft, es kann alles sein. Es war aber nicht ...
Lausanne hat ... glaube ich gegen 60 000 Einwohner. Doch ist es eine richtige Großstadt, konzentriert auf kleinem Raum. Die Geschäftsstraßen – bewegte, belebte, lärmende Straßen, – der Großstadt, die Schmutzwinkel der Großstadt ... wohl nur die Repräsentationsgemächer der Großstadt fehlen. Denn der Dom ... in seiner äußeren Wirkung ... trotz schönen Baus, soweit ich mich erinnere, durch Restauration in seiner Tönung verdorben, repräsentiert nicht, ebensowenig wie einige nüchterne schloßartige Gebäude. Das sahen Georg und ich in Eile ... nach Baedeker, während die Eltern und Dora in einem Café warteten. Es war sehr heiß. Vielleicht trug auch diese lastende Schwüle zum Eindruck der Stadt bei. Vielleicht komprimierte sie sozusagen Häuser und Straßen, daß alles Enge enger, alles Gedrängte gedrängter erschien. Viel wird gebaut. Auf dem Bauplatz steht ein halber Abbruch, ein halber Aufbau. Straßenlärm, viele Cafés, laute Musik aus dem Café Cursaal, das uns mit einer Portion Eis erfrischte. Eine starke, packende Stadt, durch ihren teuflisch reinen Stadtcharakter ... weder Zweckmäßigkeits- noch Schönheitsrücksichten haben hier gelichtet.
Papa ging mit uns zum Hafen hinunter zu Fuß. Durch neuangebaute Gegenden ... kein Haus versperrt hier noch den Blick zum Himmel, nur die Straßen, denen die Häuser noch fehlen und nur die einzelnen Häuser in ihrer Nüchternheit oder in albernem Putz verraten die Stadt. Und nur eine Stelle mit offenkundigen Armenansiedelungen bei einer Fabrik. Es ist gut für den Augenblick, daß man in die Wohnungen in dem schwarzen Bau trotz der geöffneten Fenster nicht sehen kann. ... Es ist ein richtiger berliner Vorstadtabend.
Die Rückfahrt zeigt den See ... ruhig, wie vorher ... in der Dämmerung alles noch ruhiger, die Ufer verblaßt. Aber heute nach der Dunkelheit wird er lebendiger. Der erste August... an den Ufern feiert man das Unabhängigkeitsfest mit Feuer und Feuerwerk. Auch im See liegen und rudern einige Boote mit Lampions.
Um Montreux, um einer stellenweise, besonders in ihrem letzten Teil von Martigny nach Chamonix herrlichen Eisenbahnfahrt willen, würde der nächste Morgen hier keine Stelle finden. ... Soll ich jetzt einen ehrerbietigen Gruß stammeln ... oder sollen wir in burschikoser Laune alles als natürlich ansehen und kaum ein behendes Danke rufen. In diesem Zwiespalt folgen wir dem Instinkt, der heißt uns ein leises aber inniges Danke lächeln ... ein Danke einem lieben, schalkhaften, (oder ernsteren) wir haben ja darüber gar kein Urteil – ein Danke diesem Schicksal, das ich nicht als Zufall entweihen kann.
Am Vormittag, noch nicht spät, fuhren wir von Montreux ab. Der Morgen war bis jetzt in vielleicht kaum bewußter, heller Freude unter Reisevorbereitungen verstrichen. Ein sehr liebenswürdiger Traum hatte rückblickend den Aufenthalt in Wengen vollendet. Und am Morgen hatte ich, so will ich sagen, in der einen Hand den Traum und in der anderen die feinen Bilder der beiden Mädchen von gestern. Vergnügt betrachtete ich sie wechselseitig. ... Dann saß ich im Zug und sah, wie immer, zum Fenster hinaus. – Was vorher war vielleicht jetzt gedacht, will sagen flüchtiger Gedanke war, weiß ich nicht: Schade ... wo sie wohl wohnten, an welchem Orte, vielleicht in Lausanne? Das waren wohl die flüchtigen Gedanken. Ich sah hinaus ... ob ich dabei im Stillen vermutete ... ob ein ganz verstohlner Advokat Parallelen zog ... sieh' nun hat sich Wengen so hübsch vollendet... sieh' das phantasiere ich wahrscheinlich alles ... Über aller Phantasie erhoben aber steht der Augenblick, als ich sie sah ... vor einem Schaufenster, vor dem auch ich gestern gestanden hatte ... Der Satz ist schon vorbei... aber ich freue mich ... freue mich ... sehr, wie ein Baby, dem der liebe Gott selber einen Schnuller geschenkt hat.
Noch ist herauszuheben der große, überraschende, nächtig schöne Schluß meiner Reise: Genf. Die Fahrt dahin steht mir in Erinnerung in ihrer pressenden, drückenden schauerlichen Enge in einem Coupee II Kl. blau, nicht grün wie bei uns; und Ausblicke auf ausgestorbene, wasserlose Landschaften, Chausseen, deren Glut bis ins Coupee dringt, faulste Schläfrigkeit und o Hohn! als Reiselektüre die Novellen Henri Stendhal Beyles ... starke Verbündete der Nachmittagshitze. Dazwischen Reisepläne in unserer vagen Art, voll Reizen mit Überraschungen von Minute zu Minute ... bleiben wir in Genf? nein – seit neuest weiter in den Schwarzwald und ich, mit meinen Gedanken an eine vorzeitige Rückreise. Schließlich waren wir dann doch in Genf – unbestimmt auf wie lange. – Ja! und von der Fahrt ist noch so eine recht roh pragmatische Erinnerung nachzuholen. Auf einer Station war ein Wagen mit einem ziemlich engen vergitterten Fenster zu sehen und dahinter ein Mensch mit blassem Gesicht. Die Schaustellung eines Gefangenentransports.
Am ersten Abend nach dem Abendbrot machte ich mit Georg einen Gang am Wasser, am schönen Quai du Montblanc. Was wir jetzt in Dämmerung oder in hellem elektrischen Licht sahen (dicht uns zur Seite weite Hotelfronten) unfern des Sees ein Teil der beleuchteten Stadt, hatten wir noch nicht bei Tage gesehen. Der Anblick war also eine erste eindrückliche Bekanntschaft. Die Luft sehr warm ... sehr viele Menschen im Freien ... und auch, daß ich mit Georg allein war ... alles gab eine lässig-befreite Stimmung, Ahnung und Wunsch nach Studentenleben ... vielleicht romanhaftem Studententum.
Der späte Abend ... ¾ des morgens dem Studium »der Religion« von Simmel gewidmet. Am Morgen auf einer Bank dem Wasser gegenüber der Badeanstalt, wo Mama, Georg und Dora badeten; wieder war es heiß ... Spaziergänger und Beschäftigte kommen vorbei... ich lese und sehe auf, so recht im Genuß des Müßigganges, ich, selbst in halber und manchmal ungeduldiger Arbeit, halber Arbeit zusehend.
Dann noch am Vormittag gingen wir alle – außer Papa – durch ein paar Straßen am Ufer, schon hier von buntem, und bei aller Geschäftigkeit manchmal trag südlich anmutendem Leben eingenommen. Markt ... Blumenmarkt mit Musik, um den Pavillon hocken ein paar Jungen. Um die Ecke wieder Markt, Obst, Gemüse, Schokolade ... aber das ist auch wohl alles, was sich nennen läßt. Sonst richtige, wenn auch nicht sehr breite Geschäftsstraßen.
Für den Nachmittag hatte Papa aus Höflichkeitsrücksichten den Sohn eines Bekannten zu uns aufgefordert. Wir verlassen mit ihm das Hotel ... da höre ich, indirekt, verspätet wie oft, Papa hat beschlossen, heute Nacht 1 Uhr nach Deutschland abzufahren. Das erste war Schrecken und Arger über die Zeit, die ich am Vormittag verloren hatte. Nun würde ich die Stadt nicht mehr sehen können. Das Zweite, daß ich erklärte, mich von einer Dampferpartie der anderen emanzipieren zu wollen, um wenigstens noch jetzt die Stadt sehen zu können. Der junge Mann erklärt, in Genf sei nichts zu sehen ... er erklärte dies kategorisch, welchen modus er überhaupt bevorzugte. Die Universität sei nichts – garnichts. Aber das Museum? Na ja! aber schließlich doch auch nichts. Im übrigen wars dazu etwas spät. Höchstens ... ja, wenn ich das sehen wollte ... Vergnügungsetablissement so u. so, ein herrlicher Saal... fertig. Ein Blick auf die Abbildung im Führer belehrte mich vollauf... Also – na ja. Und essen sollte ich bei ... Ja, ja, ich durchblätterte den Führer noch mal, sah mir die Abbildungen der Sehenswürdigkeiten an – nein wirklich, es schien kein Ziel zu geben. Und 4 Std. bummeln? Ich kann nicht ordentlich bummeln. »Ich fahre mit. Ein paar Stationen zu einem Genfer Vorort, einem Dorf, wo man 20 Min auf den Dampfer zur Rückfahrt wartet. Ein kleiner lockender Hügelweg führte 100 Schritt zwischen zwei wuchernden Gärten ganz drinnen ... irgend wohin. Nur blauer Himmel war zu sehen, aber ich beschloß eine Entdeckung – und gleich stehe ich am Saume der grünsten Wiese ... ein paar alte Eichbäume stehen hier am Saum, einzelne Büsche auf der Wiese ... der ganz blaue Himmel und hier spielt die Sonne Versteck und berichtet aus dem Gras und den Büschen, eine ganz entzückende Wiese ... geradezu meine Wiese – hier für mich. Hinten geht eine Chaussee; aber weitere Entdeckungsreisen verbietet die Zeit. Wohin auch? Ich sehe mich satt.
Auf der Rückfahrt, wie wir uns Genf nähern, stehe ich allein, vorn und will das ganze Bild, und vor allem die Berge, die ich nun für lange Zeit zum letzten Mal sehe, die Berge, die hier nicht so fordernd, majestätisch sind, sondern gleichfarbig und in beruhigender Entfernung, nicht zerrissen – mehr als ruhige Mauer sich erheben in mich einzufangen. – Und die noch unbeleuchtete Stadt im Schein der untergehenden Sonne.
Später wollten wir alle außer Papa uns noch die Stadt ansehen. Ich saß im Schreibzimmer und schrieb für Papa einen Brief und es machte sich, daß ich die andern verfehlte. Ich wurde nicht gerufen und sie gingen ohne mich. Als ich den Brief beendet hatte, ging ich hinaus und hörte, daß sie eben fort waren. So wollte ich allein gehen. Willkürlich wählte ich die Richtung rechts vom Hotel, wo ich noch nicht gegangen war, um sie vielleicht noch zu erreichen. Es war schon ziemlich dunkel. Jetzt geradeaus, dann an einem beleuchteten Restaurant vorbei – draußen saßen Leute und tranken Bier – eine breite Querstraße. Hier war es weniger hell beleuchtet und Bäume die in zwei Reihen zu beiden Seiten der Straße standen, machten es noch dunkler. Dann – ich bemerke es schon an der neuen Lichtfülle, wieder eine Geschäftsstraße. Sie war sehr belebt und ich gab nun meine Hoffnung, die anderen zu finden auf und sah mich auch nicht mehr nach ihnen um. Recht viel wollte ich wenigstens in der kurzen Zeit noch in mich aufnehmen. Ich lenkte wieder in die Straßen, durch die ich am Vormittag gegangen. Dort aber sah ich, wie die Uferbeleuchtung längs dem Wasser immer spärlicher wurde, weiter hinauf, noch einem Teil der Stadt zu, den ich noch nicht kannte. Dorthin ... Auf dem geradesten Wege – an erleuchteten Cafés am Ufer, aus denen bumbsende, gemeine Musik klang vorbei. Nun war es schon viel dunkler ... Ein Platz mit Bäumen, über den die Straßenbahn fährt – ich biege ab über eine Brücke unter mir liegt das Wasser, das hier natürlich auch dunkler ist und aus der Entfernung sehe ich noch die Lichtpaläste vom Quai du Montblanc. Eine kurze, feige Versuchung, die breite Straße längs des anderen Ufers einzuschlagen, unterdrücke ich. Immer hinein in die dunkelsten Straßen. Ein Denkmalskoloß am Portal eines stattlichen ... wohl öffentlichen Gebäudes taucht auf. Ich werfe nur einen flüchtigen Blick darauf ... ein paar Schiffer stehen ausgelassen johlend in der Nähe – ich will nicht, daß man den Fremden in mir erkenne. Jetzt gehts immer schneller, denn in 10 Minuten muß ich zu Hause sein. Aber doch weiter und weiter die dunkle Straße hinauf. Sie ist nicht eng, aber gerade darum wirkt die breite Dunkelheit um so seltsamer. Endlich liegt – mir zu Seite – eine Gasse, in tieferem Dunkel vielleicht noch, nur der verschwommene trüb-gelbe Schein einiger Laternen dringt durch. Das lockt mich. Ich gehe jetzt sehr schnell; das tu ich in einer fremden Stadt immer – schnell und zielbewußt – selbst wenn ich kein Ziel kenne. Und hier ists vielleicht auch wirklich geraten. Ein paar gröhlende Straßenjungen – ich erkenne Leute, die vor den Türen sitzen – wieder Kinder auf der Gasse – alles dunkel alles schmutzig. Dann von irgend wo ein hellerer Schein – schnell, erlöst gehe ich darauf zu – ein Platz mit Bäumen ein Denkmal – wie ich näherkomme – nein, eine Bedürfnisanstalt. Und dahinter das breite Wasser der Rhone und noch weiter schon greller Glanz vom Kurhaus. Auf geraden Wegen gehts eilends ins Hotel. In Schweiß gebadet wacht ich auf. Ein paar Straßen nur und mir wars, als hätte ich im Traum die Stadt genommen.
Die anderen waren schon da. Wir setzten uns zum Abendbrot auf die Terrasse – es war noch immer sehr heiß. Aber der mächtige rote Vollmond tauchte jetzt auf. ... Schließlich ging der junge Herr. Dann ging ich ins dunkle Lesezimmer, beleuchtete es noch einmal und fand französische Bücherschätze vor – will sagen ein gutes französisches Journal. Als einzige Gäste nahmen Georg und ich in dem kleinen Vestibül Platz. Noch las ich eine kleine Novelle. Dann ging ich hinaus für die letzten Minuten, war da und dort auf dem Platz um noch einmal Bergumrisse, noch einmal den schönen Mond, noch einmal in die Richtung des Montblanc zu blicken. Es war ganz dunkel, doch noch belebt wegen der Hitze am Tage. Dann saßen wir auch schon im Hotelomnibus. Die Fahrt war so kurz wie eindrucksvoll. Es war für diesmal das letzte Mal auf Schweizer Boden. Schrecklich ist diese Schnelligkeit des Automobils und dies maschinenmäßig nichtssagende bequeme Fahren. Als führe man grade in die Ferien. Aber draußen sehe ich doch wenigstens holpriges Pflaster und besonders dunkle Schatten, wo Türen und Fenster sind.
Also stehe ich in dem stillen Bahnhof vor dem Zuge ... morgen in Berlin ... unten noch eine Straße im Mondschein zu sehen ... Ja und morgen war ich wirklich in Berlin.
Aus dem Tagebuch, das ich schreiben will, soll erst die Reise erstehen. In ihm möchte ich das Gesamtwesen, die stille, selbstverständliche Synthese, deren eine Bildungsreise bedarf und die ihr Wesen ausmacht, sich entwickeln lassen. Um so unabweislicher ist mir dies, als durchaus keine Einzelerlebnisse mit Macht den Eindruck dieser ganzen Reise prägten. Natur und Kunst gipfelten überall gleichmäßig in dem, was Goethe die »Solidität« nennt. Und keine Abenteuer, keine Abenteuerlust der Seele stellten einen wirksamen oder reizvollen Hintergrund dar.
Am Freitag, den 24 ten Mai morgens um 4½ Uhr sollte unser Zug gehen; doch gab es starke Verspätung. Früher als pünktlich stand ich schon vor viertel in der Morgenkühle vor Katz' Haus und stieß schüchtern mehrere mißtönende Pfiffe aus, die mich aber nicht bemerkbar machten. – Bei dieser Gelegenheit ist zu bemerken, daß als Reisepfiff: »Winterstürme wichen dem Wonnemond« festgesetzt war, eine Melodie von der ich mir nur traurige Variationen aneignen konnte. – Nach einigen Minuten des Wartens kam Sachs aus unserem Haus gestürzt – er rannte über die ganz leere Straße und ich rief ihm über die Straße zu. Gleich daraufwaren wir drei alle zusammen. Unangenehm war, daß sich nun herausstellte, es sei garnicht mehr so früh. Eilschritt wurde angeschlagen und je mehr mir die Dringlichkeit der Zeit zum Bewußtsein kam, desto mehr blieb ich zurück. Joel, Sachs Reisegefährte, überraschte mich mit »Guten Morgen« von hinten, trat an mich heran, mein Stock flog zu Boden, er hob ihn auf; ich war aufgelöst, als wir alle, auch Simon und Börnstein am Bahnhof zusammentrafen.
Die längeren Minuten, die wir nun noch auf den Zug warten mußten, hatte ich mit meiner Übelkeit zu tun. Die Fahrt nach Basel suchte ich dann, um mich für die Eindrücke des Tages frisch zu erhalten, zum Schlafen zu benutzen. Doch wurde meine Aufmerksamkeit öfters durch die Touristen, auch Studenten, die mit uns fuhren, beschäftigt, sowie durch Simon und Katz die draußen im Gang des D-Zuges sich mit den Sprachführern abgaben oder die Landschaft, die regnerisch war, ansahen.
In Basel bereits zeigte sich Simons überlegenes Reisegenie. Nach einigem Suchen fanden wir uns auf dem Bahnhof und Simon lenkte nicht, gleich den genußgierigen Haufen der übrigen Reisenden gleich in den Wartesaal zum Frühstück. Sondern wir begaben uns mit unserm Gepäck auf den nächsten Bahnsteig, warteten auf unsern Zug und belegten Plätze. Hier zum erstenmale nahm Katz den Kampf mit seinem jeder Schilderung und jedem Gewichtsmaß spottenden »Handkoffer« eingehüllt in braunes Leinentuch, auf, den er nun täglich mehrmals mit Aufbietung aller Glieder und Kräfte schleppen, heben, herunternehmen mußte. Darauf gingen wir zum Frühstück: Wartesaal II Klasse, Franc 1.40. Es war durchaus keine Zeit, dem Preis entsprechend zu essen. Unter mehrmaligem, energisch betontem »Sollen mich gern haben!« » Die sollen mich gern haben!« »Na, etwa nicht?!« ergriff Simon die umliegenden Brötchen und steckte sie mit Butter und Marmelade beladen in seinen Mantel. Ähnlich Katz und ich. Am Frühstückstisch begrüßte Simon einen jungen, liebenswürdigen freiburger Studenten, einen Freund seines Freundes Bloch nebst Gesellschaft. Er reiste auch in unserer Richtung und wir fanden ihn später in Venedig wieder.
Im Wagen saßen wir mit 2 Italienern, die später, wenn wir im Gange waren, unseren Baedeker und Sprachführer ungeniert lasen. Außerdem entsinne ich mich eines Franzosen, der in seiner Ecke schlief oder Zeitung las. Die Landschaft war durch dicke Wolken und Regen reizlos. Simon erzählte eine sehr hübsche Geschichte von einem prüden Herrn und seinem Pudel, etwas wurde gequatscht, ein bißchen im Baedeker oder Sprachführer geblättert – Simon sang. Ganz ungeniert Studentenlieder vermischt mit Stumpfsinn. Er ist oft impulsiv höchst vergnügt und besitzt die Fähigkeit zu harmlosem Blödsinn. Kurz vor Luzern kamen nach einem Besuch von mir im anderen Coupee Sachs, Joel und Börnstein zu uns. Als Simon wieder die Geschichte von dem Pudel verzapfen wollte, verulkte ich die Pointe. Er war gekränkt, ärgerlich und wollte nicht weiter erzählen. In den ersten Tagen war ich natürlich sehr aufmerksam um Spannungen zu vermeiden und nahm mir das ad notam. Innerlich ernste aber unberechenbare und schroffe Menschen, sind für mich, gleich ob jung oder erwachsen, im Umgang immer peinlich; wenn sie eine gewisse Verschlossenheit und Distance wahren, bin ich sehr vorsichtig. Simon hat von diesem Typus etwas. Aus diesem Grunde wachte ich auch in diesen ersten Tagen sehr aufmerksam, daß keine Gruppe zwischen zweien, die ständige Spannung gegeben hätte, entstünde. Daß die ganze Reise so außerordentlich harmonisch und persönlich fein verlief, ist sicher einer gewissen inneren Zurückhaltung unser aller zu danken.
In Luzern bei strömendem Regen verließen uns die andern. Die Fahrt am Vierwaldstättersee folgte, die mich ganz desorientierte und bei tiefen Wolken an allen Bergen nicht viel Schönes hatte. Schließlich versenkte uns der gleichmäßige Regen in Apathie und trieb uns zu Lektüre, bis die großartigen Strecken der Gotthardbahn begannen. Hier ist die Natur nicht auf Schönheit, sondern auf fast architektonische Großartigkeit gestellt, die, wo eben die Windungen der Bahn oder das Felsbett der Reuß sichtbar werden, wirken muß. Doch gibt es allerdings Mittel, die einem allzu elementaren Eindruck vorbeugen können. Man hat sie gefunden. In metergroßen hohen roten Blechbuchstaben steht an Wäldern, Felsen, Matten und Gehöften: Pneu Continental. Plakate von Chokoladenfirmen konkurrieren, doch erfolglos. – Übrigens regnet es weiter; Simon flucht und jammert abwechselnd. Die letzte Hoffnung ist der Gotthard. Mich regte das Wetter nicht so auf: mir war ein wenig schwül vor der Besteigung des M. Mottarone am folgenden Tage und der Madonna del Sasso, die für diesen Nachmittag noch in Aussicht genommen war. Bei Regen wären wir ja nicht an den Seen geblieben, sondern gleich in die Städte gefahren. Jedenfalls ein ziemlich feiger und alberner Gedankengang. – Hinterm Gotthard aber war es ganz wunderschön. Ein herrlicher Blick auf Berge, deren Gipfel Neuschnee trugen erweiterte sich dauernd während der Fahrt; die Landschaft hinter dem Gotthard hat noch jetzt, selbst für den, der sie auf der Bahn geräuschvoll durcheilt auf eine Strecke hin den ursprünglichen Charakter tiefer Einsamkeit. Das einzig ungemütliche waren italienische Aufschriften an Häusern, die über das »Ristorante« hinaus kaum verständlich waren.
Bellinzona – schönes Wetter der erste Eindruck – ist die erste Etappe dieses großen Reisetages. Hinter dem Bahnhof finden wir auf einem kleinen grünen Platz eine Bank. Wir legen das Gepäck ab, Simon zieht mit Meyers Sprachführer aus, Brot einzukaufen. Postkarten, die ich suche, sind nicht zu finden; dagegen trifft mich auf dem Bahnhof hocherfreut ein Mitglied der Freiburger »Rotte Corah« an. Doch mein höflicher Gruß weist alles Weitere zurück. Bei der Bank ist ein Brunnen. Hier darf man noch Wasser trinken!
In der Lokalbahn von Bellinzona nach Locarno schlafe ich dann fortwährend ein. Mit aller Mühe betrachte ich schließlich mit offenen Augen den See ... Auf dem Wege vom Bahnhof Locarno bis zum Hafen bemerke ich mit Zufriedenheit, daß nicht ich immer der letzte sein werde, denn mein Vulkanfiber-Koffer trägt sich ausgezeichnet, während Katz seinen Quaderstein kaum 30 Schritte hintereinander schleppen kann. – Simon hat seinen teuren Bambusstock in der Bahn vergessen! Er läuft zurück; wir warten am heißen Ufer mit der Steinbrüstung.
Ich setze mich auf die Brüstung. Das war der erste Augenblick ruhigen Genusses. Vor uns blitzen die Boote am Ufer in ihrer Holzfarbe. Der See ist blau, die Berge treten, in einen ganz feinen Schleier gehüllt auf der Seeseite weit zurück. An unserm Ufer sehen wir die heißen Abhänge mit Villen und Hotels hinauf; dort liegt auch, ein großer gelbbrauner Bau auf einem Felsen, Madonna del Sasso. – Simon kommt mit dem Stock zurück und wir gehen aufs geratewohl zur Madonna del Sasso hinauf. Nach einer Weile begegnen wir auf einem schmalen steilen Weg zwischen Villen einem Briefträger. »Dove...?« Wir müssen zurück und er geht voran, sehr schnell. Ein Graben kommt – ich falle beim Springen; als ich glücklich herausgekrabbelt bin sind die anderen verschwunden. Ich nehme einen Weg, der sich aber bald verläuft, gehe zurück auf einem zweiten. Endlich höre ich irgendwo von unten die »Winterstürme«. Bei der Drahtseilbahn auf M. del Sasso komme ich heraus und finde Katz und Simon, die auf mich warten. So schnell vergessen ein solches Intermezzo ist – es ist für ein paar gegenwärtige Minuten unangenehm; denn in 2 Std. ging der Dampfer von Locarno nach Stresa, wir hatten uns einzurichten mit unserer Zeit. – Der Weg geht in Windungen bei der Drahtseilbahn herauf, mäßig steil und gepflastert; zu Seiten hohe Büsche, manchmal starke Duftwellen (denn alles blüht hier) und in größeren oder kleineren Abständen ganz minderwertige Kapellen. Doch beleben sie den kurzen Weg, der besonders schön ist angesichts eines großen Viadukts der Drahtseilbahn, das aus dem Grün hervorsteigt. – Oben genießen wir zuerst die Aussicht von einem Umgang am Fuß der Klosterkirche. Schon hier zeigt sich das Charakteristische im Landschaftsbild des Lago maggiore – »das Weitläufige« möchte man es nennen. Die Berge treten vom See zurück, oder berühren sie ihn, so sind sie ganz sanft geneigt, die Bewaldung tritt zurück vor Häusern und freien Anpflanzungen. Sieht man durch den Krimstecher die einzelnen Wege am See mit den scharfen Schatten der kleinen Bäume, so steigert sich der Eindruck der Hitze fast zum Sichtbaren. – In der Kirche selbst fällt außer mittelmäßigen und pathetischen schlechten Gemälden nichts auf. Durch das Klostergewölbe selbst steigt man dann weiter hinauf. In einer Nische sitzen betende Mönche. Leibhaftig! Ich habe ein Gefühl als sähe ich plötzlich im Tiergarten eine Palme oder träfe einen Löwen in der Leipziger Straße. Im Laufe der Reise habe ich mich dann an diesen Eindruck gewöhnt, der zuerst eine Art Sturmlauf gegen mein Kulturbild lief. – Oben setzten wir uns dann zu Bier und Limonade hin, nachdem wir uns umständlich über den Preis verständigt hatten. Die Kellnerin konnte nur italienisch und demgemäß verlief denn auch der erste Akt des Zahlens. Sehr schüchtern bringt man zuerst das Wort: pagare über die Lippen. Eine Sprache, die man nicht einigermaßen beherrscht, zu sprechen, klingt unnatürlich und fast lügnerisch für den Menschen selbst. Auf dem Rückwege kauften wir Kirschen, wobei wir dann zum ersten Male im Gewicht betrogen wurden.
Wie in vielem anderen, brachte dieser Tag auch im Mittagessen die erste Übung eines dauernden Brauches. Es war schon gegen 4 Uhr, als Simon, kaum auf dem Schiffe angekommen, begann, die erste Verteilung der Vorräte vorzunehmen, die er in Freiburg auf gemeinsame Kosten eingekauft hatte. Wir erfuhren das übliche hors d'œuvre: Brot mit Sardellenbutter – 1 bis 2 Scheiben, schnell und gleichmäßig verabreicht. Darauf Brot mit Wurst in größeren Mengen. Kirschen. Zum Schluß: 2 Bonbons aus der Tüte. Durch die lakonische Bestimmtheit dieses Menüs erwarben wir die offenbaren Sympathien einer älteren Dame, die neben Simon saß. Sie begann eine Unterhaltung, zunächst italienisch, bot Simon Cakes an, worauf er »no« erwiderte. Auf einen Einspruch von mir meinte er: »Zu so einer alten Schachtel kann ich doch nicht ›Grazie‹ sagen!« Darauf fing die Dame an, fließend Deutsch zu sprechen. Sie wohnte am See selbst in einer eigenen Villa. Auf der nächsten Station stieg sie aus – nachdem sie uns trübe Wetterprophezeiungen gegeben hatte. Während der folgenden Stunden blieb unsere Aufmerksamkeit zwischen der Schönheit des Sees und der Wolken, die sich näherten geteilt. Gegen Abend war die Aussicht nach dem Gotthard verdeckt und der See wurde nebelig. Es wurde ziemlich kühl und der Wolken wegen früher als zu berechnen war dunkel. Anderthalb Stunden sahen wir die Lichter von Stresa in geringer Entfernung vor uns. Aber wir näherten uns ermüdend langsam, das Schiff fuhr in Zickzacklinien von einem Ufer zum andern. Wir wurden müde – Simon und ich hatten noch eine längere Unterhaltung über Schiller – bis wir an der gespenstig dunklen traurigen Isola madre hielten. Wir machten uns fertig. In Stresa fanden wir den Hausdiener des Hotels, das wir in Aussicht genommen hatten, am Bahnhof. Doch war kein Platz mehr für drei Personen. Man führte uns in ein nebenliegendes Hotel. Den Eingang bildete eine große Halle, eine dunkle Treppe, die vom Hof aufstieg folgte, mit zwei Lichtern ging der Wirt durch eine Reihe von Wohnzimmern, die nichts von Hotelräumen hatten, und kam schließlich zu zwei Schlafzimmern. Der Preis (2 fr. pro Bett) entsprach unseren Wünschen. Der Wirt, ein dicker, altmodisch aussehender, aber sehr gefälliger Mann hatte den Vorzug, daß man sich französisch mit ihm verständigen konnte. Bei schönem Wetter sollten wir am nächsten Morgen zeitig zur Besteigung des Monte Motarone geweckt werden. Sonst um 9½ Uhr. Er verabschiedete sich, kam aber gleich noch einmal wieder, um die Richtung nach den Toiletten zu beschreiben. Ich erinnere mich nicht mehr, da ich sie während meines Aufenthaltes nicht kennen lernte. – Nach Abrechnung mit Simon und Regulierung der Kasse waren wir schnell im Bett. In der eigentümlich erfüllten Stimmung nach einem Reisetage, und besonders einem so langen, hörte ich noch kurze Zeit durch das offene Fenster das Rauschen des Sees.
Am nächsten Morgen war ich zuletzt beim Frühstück. Wir waren um 9¼ geweckt worden, doch war das Wetter, wie wir unten sahen recht schön und wir ärgerten uns. Doch war nichts weiter anzufangen. Aber Frühstück mit eigentümlicher Butter und dem starken Kaffee dieser Gegenden wurde genossen, darauf eine Gondel gemietet, die uns zur Isola madre, dann zur Isola bella fuhr. Auch das Gepäck wurde mitgenommen, da wir von Isola bella aus mit dem Dampfer weiter wollten. Der See war ruhig, doch noch ohne die blaue Farbe, die man auf den Bildern sieht; die Ufer aber und die Kette des Monte Ceneri und Simplon, die am Vorabend bedeckt gewesen war, lagen ganz klar. Es ist sehr schön, in einer Gondel zu fahren, wenn man die Insel vor sich hat, sich ganz, ganz langsam nähert, und viel, viel Zeit hat. Daß wir auf den M. Mottarone verzichtet hatten war uns nun ganz lieb; wir hätten diese Fahrt sonst nicht gehabt. – Die Führung auf der Isola madre hatte ein Gärtner, deren es, wie wir zu unserm Staunen erfuhren, zur Pflege des großen Parks nur drei gibt. Er nannte in einem Sprachenkonglomerat die Namen der Pflanzen, schnitt auf seinem Rundgang zugleich welke Zweige ab, räumte Unkraut fort und vergewisserte sich seines Trinkgelds, indem er von Zeit zu Zeit drei Blumen für jeden von uns abschnitt. Da der Gärtner auf Isola bella das gleiche Verfahren hatte, besaßen wir ein paar Stunden später einen ganz schönen und kostbaren Strauß. Der Rundgang auf der Isola madre war eine botanische Offenbarung, Pflanzen von denen ich niemals eine Vorstellung hatte – außer der, daß sie in ganz fernen Ländern wachsen standen vor mir. Von einem solchen Reichtum in den Formen von Bäumen und Palmen, von der Größe mancher Gewächse, wie der Erika, die ich dort sah, von der Farbenstärke mancher Blumen, hatte ich niemals eine Ahnung gehabt. Dazu kommt die Schönheit, in der das alles harmonisch oder überraschend angeordnet ist. Der blaue Himmel, der Blick auf den See und die Ufer – und wieder die Insel: zwei ganze schöne Welten scheinen nebeneinander zu stehen.
Auf Isola bella ist man nicht gleich im Park, sondern muß schnell ein Schloß mit viel ermüdendem Prunk, der oft kleinlich oder protzig ist, bewundern. Schön sind einzelne Räume, einzelne Schränke, alle Blicke auf den Park. – Der Tag hatte schon einiges Geld gekostet; der Führer durchs Schloß bekam diesmal, trotz allen Klimperns kein Trinkgeld. – Im Park hatte wieder ein Gärtner die Führung. Alles ist hier künstlich. Der Aufbau von Statuen, Grotten und Terassen unterbricht aufdringlich die Natur. Eine Gartenkunst, die an sich kunstvoll sein mag, unmittelbar nach dem Anblick der Isola madre aber sehr unglücklich wirkt. Auch fehlt der Isola bella im ganzen das Vornehme, Isolierte ihrer Nebenbuhlerin. Ein großes Hotel, Verkaufsbuden und Häuser, ja, auch die Nähe des Ufers, benachteiligen sie gegenüber der Isola madre.
Auf der Dampferfahrt nach Luino konnten wir den See schon ganz blau sehen. Zwei Kapuzinermönche und unter vielen Marktleuten eine schöne Italienerin fuhren eine Strecke auf dem Schiff. In Luino machte Simon Einkäufe, Katz und ich warteten auf einer Bank am Quai. Eine ganze Weile dauerte es, bis Kutscher und Gepäckträger merkten, daß wir wußten, was wir wollten, d. h. nichts von ihnen. Die dritter Klasse Wagen der Kleinbahn von Luino nach Ponte Tresa sind wie unsere 4 ter Klasse Wagen gebaut und erleichtern so den Genuß der Fahrt nicht. Die Bahn biegt bald in ein ganz schmales, ganz unbewohntes, von ganz grünen Hügeln umschlossenes Tal ein. In einer offeneren durch Häuser und Hügel belebten Gegend tritt sie heraus und hält in Ponte Tresa am Luganer See.
Der italienischen Natur des Lago maggiore mit seinen weiten, schlaffen Zügen und blassen Farben der Ufer, tritt hier Schweizer Art entgegen. Die Berge bis hoch hinauf dunkel bewaldet oder schroff, felsig kahl. Oft verschwindet das Ufer, wenn die Berge senkrecht zum See abstürzen. Und die Gebirge bilden nicht wechselnd verbundene Ketten, sondern oft genug einzelne Berge von willkürlichen Formen wie den steilen S. Salvatore bei Lugano. Die Fahrt war sehr stürmisch; der See zeigte Schaumkämme auf seiner ganzen Fläche; es ist ein Anblick, der unglaublich und überraschend wirkt. Mit uns auf dem Hinterdeck fuhr eine große Anzahl junger Leute mit einem Führer, streng hochtouristisch gekleidet. Das Gespräch drehte sich um Geologie, sie hatten sämtlich geologische Karten. Augenscheinlich eine Studienreise. Ein sehr freier, kameradschaftlicher Ton beherrschte alle; die Unterhaltung bewegte sich gleichmäßig ruhig zwischen den Gruppen. Einzelne der jungen Menschen fielen mir in ihrem Ernst auf; besonders einer studierte seine Karte, aß etwas Chokolade und blickte nur auf, um anderen etwas anzubieten. Es war wohl der jüngste.
Das erste Hotel, an das wir uns in Lugano wandten, ein deutsches war wiederum besetzt. Doch wies man uns an ein zweites benachbartes. Wir fanden gute Zimmer, in denen man sich mit einigem Behagen ausruhen konnte. Vor dem Abendbrot schrieb ich Karten auf einer Terrasse.
Außer uns saßen noch zwei andere junge Leute, Touristen am Tisch und ein dicker Herr am Tafelende – neben ihm seine Frau, die leider Zahnschmerzen hatte. Dies veranlaßte den einen der jungen Herren zu zahntechnischen Erörterungen, in denen er, als höheres Semester der Zahnkunde, energisch den Satz verfocht, es sei üblich, die Nerven kranker Zähne auszuziehen. Einigermaßen kindisch sprach er dauernd von seinem Chef. Der Mann der leidenden Dame fühlte sich außerordentlich wohl. Mehrfach betonte er die Nähe der Jugend, die er genieße, daß es fröhlich hergehen müsse unter jungen Leuten; er versuchte sich durch Anstoßen und »Prost« nach allen Seiten in verspätete Illusionen zu versetzen. Im übrigen war er ein Original und gab eine vorzügliche Beschreibung seines Besuches in einer katholischen Kirche. »Da wa'n Priester. Kommt a auf mich zu, fragt ›was mein Begehr wäre‹ ›was mein Begehr wäre‹«, indem er sich vor Lachen schüttelte brachte er das in ausgezeichnet aufdringlich lispelndem Ton vor. »Mache ich so.« Dabei fuhr er mit dem dümmsten Gesichtsausdruck mit seinen Händen umher und schlug das kath. Kreuz. – Auf die Dauer fiel er etwas auf die Nerven – wir standen als die ersten auf und gingen zum See hinunter. Die Straßen fallen ganz steil zum Ufer ab. Unten ging es zuerst bei bequemem Gespräch über Musik auf der Hauptpromenade entlang bis sie in eine ziemlich dunkle Straße mit kleinen Hotels mündet. Nach wenigen Schritten hören die Häuser auf; vorn erhebt sich die starke dunkle Silhouette des S. Salvatore auf dem Lichter den Weg der Drahtseilbahn bezeichnen; rechts hinter einer kleinen Steinbrüstung das Ufer und der See. Ab und zu tasten breite Streifen der Scheinwerfer in Funktion die Fläche ab. Es wird sehr viel geschmuggelt. Wir setzen uns auf die Brüstung und lassen die Beine über den Strand baumeln. Am anderen Ufer erhebt sich der M. Brè. Einzelne Lichter von Häusern – schamlos aber eine Art Lichtplakat: Von Zeit zu Zeit wird in großen belichteten Buchstaben das Wort: M.‹Brè sichtbar. – Das gibt den Gegenstand unseres Gespräches: welche Möglichkeiten sich wohl bei konsequenter Durchführung des Prinzips ergeben? Soll man Bergsilhouetten elektrisch beleuchten? oder die ganze Kuppe? Vielleicht kann man eine Aktiengesellschaft zur elektrischen Bergbenennung und Gebirgstaufe gründen?
Der Rückweg verlangsamt sich, als die steile Straße anfängt. Es ist gegen 10 Uhr – aber die Geschäfte sind noch offen. Auf der Höhe stehen wir bei einer Kirche, die ganz hell vom Mond beleuchtet ist. Und gleich darauf sind wir zu Hause. Seltsam! wie die Orte sich so bei halber Beleuchtung zu verschieben scheinen. Plötzlich, ohne es zu wissen – bin ich irgendwo – gerade zu Hause! –
Der steile Anstieg hat mich etwas ermüdet. In dem Zimmer, das Katz und ich bewohnen, steht ein Korbsessel. Ich rücke ihn vors Fenster und lehne mich hinein und sitze so gegen eine Viertelstunde, während Katz sich auszieht. Im Fenster sehe ich nur wenig. Hinten schließt der Bahnhofshügel ab; von unten kommen die Geleise einer Drahtseilbahn und überall stehen Bäume – auch seitwärts ist ein Teil eines Hauses zu sehen – und die Laternen der Drahtseilbahn. Schön ist daß man den ziemlich vollen Mond nicht sieht. Ich warte – ob er noch hinter dem Haus und ein paar Bäumen aufsteigt und sehe jetzt nur, wie er allem die Farben gibt. Niemals vielleicht nach dem Abiturium ist mir so stark wie jetzt, das Unglaubliche in den Sinn gekommen, daß ich nicht mehr Schüler bin, keine Antworten geben muß, daß mein Morgen keinem unterstellt ist und meine Gedanken keine Fassung und Befriedigung im Aufsatze mehr finden. Das alte Bewußtsein empörte sich noch einmal gegen das neue, das nun doch einziehen muß. – Katz gibt mir einen sanft gemeinten, aber in diesem Zusammenhange doch sehr aufreizend wirkenden Schlag auf die Schulter. Ich gehe aber doch noch nicht zu Bett, sondern setze mich jetzt zu seinem Ärger hin und schreibe noch 3-4 Karten an Verwandte.
Die Unternehmungen des nächsten Morgens verwirrten sich etwas. Da der Schalterdienst (am Pfingstsonntag) mehr als lässig war, verzögerte sich durch Sorge um das Gepäck unser Marsch nach Gandria – wo wir dann schließlich einen späteren Dampfer als beabsichtigt war, nehmen mußten. Wetter und Weg waren glühend heiß; wir hatten den heißesten Tag der ganzen Reise. Die Chaussee steigt über die Ufer und bald biegt ein engerer Weg zwischen Villen, später zwischen Gebüsch und hohen Felsen ein. Der Weg ist hier in den Fels gesprengt und an einer Stelle sogar als Tunnel durch einen gewaltigen vorspringenden Block geführt. Ganz tief unten liegt immer der gedrängte blaue See und den Rückblick beherrscht der groteske S. Salvatore. Massig in seinem ganzen Aufbau, so daß sein gebogener Fels als Zipfel mit dem Haus darauf wie eine kühne Paradoxie wirkt. Gandria. Das sind Häuserruinen, Steinhaufen, Glut, grüne Anpflanzungen in den kleinen Häfen, Treppenstufen von der Höhe eines halben Meters. Das Dorf stürzt von der Höhe zum Ufer herab. Unaufhaltsam, von Haus zu Haus. Unten kommt der ganz kleine Dampfer. Wie er vorwärts rutscht auf dem glatten See! Aber wir bekommen ihn nicht mehr, trotzdem wir atemlos von Stufe zu Stufe, durch die schmutzigen Torwege hin und her rennen. Wir finden das Ufer nicht. Unten fährt schon der Dampfer ab, während eine Frau uns auf »a la stazione« den Weg zurück weist. – Ich war müde, schon von Zeit zu Zeit zurückgeblieben und finde mich plötzlich allein in diesem Zaubernest. Von unten kommen Reisende und klettern zur Höhe hinauf. Ich hinterher, in dem Wunsch, einen Überblick zu bekommen und die Dampferstation zu sehen. Da mußten ja wohl die anderen warten. Es geht höher und höher – die Reisenden sind schon in irgend einer Seitengasse verschwunden – höher und höher. Irgendwo biege auch ich ab. Es scheint unmöglich auf den Weg zu kommen, von dem wir eben heruntergelaufen sind. Auf den Stufen brennt die Sonne, als wenn die Steine zerfallen sollten. Auf den Beinen kann ich nur mehr mit Mühe stehen. Mit den Händen, immer behindert durch den Stock klettere ich hoch. Auf einmal bin ich vor einem Haus, hier ist der Weg zuende. Nirgends in der ganzen Gegend sieht man Menschen. Auf der schmalen Mauer eines Weingartens spaziere ich jetzt zurück und bin gefaßt jeden Augenblick herunter zu fallen. Aber ich will immer weiter, bis ich in der Breite über das Dorf hinausgekommen bin und vielleicht über den Abhang zum Ufer kommen kann. Bald habe ich denn auch die Häuser hinter mir, der Abhang liegt vor mir. Grasboden – aber so steil, daß ich hinunter rutschen muß und nicht gehen kann. Ich lande in einer Weinanpflanzung, die ich absuche bis ich auf eine kleine Treppe stoße, die nach unten führt. Wie ich sie hinunterstürzen will, falle ich erschöpft hin, die zweite Übelkeit folgt und ich ruhe mich drei Minuten aus. Dann die Treppe hinunter, ich lande auf einer Gasse, die zum See abfällt – da, ein Schild, ein Restaurant, in dem die anderen sitzen. Ich lasse mir von meiner Erschöpfung wenig merken – und erhole mich bei einer Limonade – Simon wird im Gespräch zur Graphologie bekehrt. Und nach einer Stunde kommt der Dampfer auf dem wir Gandria verlassen, eins der einzigartigsten Nester sicher, auch um Mittag verrufen, in dem Simon seinen teuren Stock endgültig stehen ließ und nicht wieder bekam. Die Fahrt genoß ich in begreiflicher Müdigkeit nur teilweise. Die Eisenbahnstrecke von Porlezza nach Menággio, das schon am Comer See liegt, ist im letzten Teil schön, wo die Bahn in Kurven, an Cypressen und weißen Häusern vorbei zum See absteigt. In 20 Min ist man dann mit dem Dampfer in Bellágio, wo sich die Wege trennen mögen. Denn nun kommt der Individualismus der Rassen zu schrankenloser Herrschaft. Uns 3 aber führte er in das Hotel de la Suisse. – Nach kurzer Ruhe kam noch eine stille Bootfahrt auf dem schönen See zu stände.
Die Ufer haben das Dunkle und Felsige vom Luganer See; sind aber doch nicht so von Bergen erfüllt und lassen auch dem Auge Spielraum in einem von Bäumen und hellen Villen belebten Vordergrunde. In der Ferne sieht man Schneeberge. Es schien uns im Boot, als hätten wir die schönste Vereinigung des Lago Maggiore und des Luganer-Sees vor uns.
Beim Abendbrot auf der Terasse sahen wir das Dunkeln auf dem See. Wir blieben lange sitzen, von einem Gespräch über Kunst, das ich mit Simon hatte, gefesselt. Und schließlich gingen wir sogar noch ans Ufer, wo eine Italiener-Gesellschaft, Sänger und Musikanten, Volkslieder und Arien spielen. Das gab eine merkwürdige Fortsetzung des wissenschaftlichen Gespräches mit der Energie im Kampf um das Recht geführt auf einem dunklen Weg, unterbrochen durch die Aufmerksamkeit, die man dem Gesang und den roten und weißen Kleidern der Italiener geben mußte. Erst gegen 19 Uhr oder noch später als wir schon lange in den Betten auf unserm, diesmal gemeinsamen Zimmer lagen, endete notgedrungen die Unterhaltung. Simon hatte sie durch die gröbsten Ausfälle gegen moderne Dichtung recht stark belebt.
Früh am nächsten Morgen waren wir in Cadenábbia und bald in der Villa Carlotta. Sie hat einen schönen klassischen Aufgang – hinter dem kräftig geschwungenen gußeisernen Toreingang ein rundes Bassin, auf dem Seerosen schwimmen und dann symmetrisch abfallende Terrassen, an denen sich Rosen heraufranken. Vom Schlosse selbst bekommt man nur den Eingangsraum zu sehen, in dem Plastiken stehen. Hauptsächlich Canovas. Und es ist interessant, wieviel scheuer und schöner Amor und Psyche hier in ihrer ersten Umarmung zu sehen sind, als in all den unendlich vielen späteren, in denen sie doch keinen neuen Ausdruck ihrer alten, uralten Liebe finden – die sogar schon vor Canova war. – Daneben sah ich, wie sehr auch Thorwaldsens Alexanderzug in seiner Kraft an einigen Stellen wenigstens, das klassizistisch-süßliche vieler Abdrucke widerlegt.
Der Park war an vielen Stellen schon abgeblüht. Die einzelnen Pflanzenungeheuer grüßen hier den, der vom Lago maggiore kommt schon als harmlose Bekannte – aber eine neue Variation haben sie doch in einer urwaldartigen Schlucht gefunden, wo in enger Fülle Unterholz, Bambus- und vor allem dicke Farnbäume mit schwarzen Stämmen stehen. – Wir wenden den Blick und finden die Blüten der Azaleen, wie sie in einzelnen Büschen aus den Rasenrändern auf den Weg sich drängen – es ist unmöglich, die einstigen Farben der abgeblühten Felder in denen nur die Blätter stehen, sich vorzustellen. Die letzte Schönheit des Parks kann aber nicht genossen werden, denn die Sonne, die anfangs noch schien, ist nun vollständig verschwunden und der Himmel grau bedeckt. – Das nahm auch der Dampferfahrt nach Como manches von ihrem Reiz. Der See ist hier weit und manchmal einförmig, bis man sich wieder dem Ufer nähert, wo man dann die einzelnen Dörfer im Genauen sieht, die engen Straßen und Häfen, die von den Felsen sich senken und Brücken zwischen manchmal schon baufälligen Häusern. Von oben stürzen einzelne starke Bäche tosend in den See. Wenig interessant ist die Dampfergesellschaft – nur fällt dem Neuling, der eben die ersten Kilometer in Italien fährt, auf mit welcher Häufigkeit und absichtlicher Intensität die Leute spucken. Meist rauchen sie einen furchtbaren Tabak. – Je mehr das Schiff sich Como nähert, desto flacher werden die Ufer. Cypressen stehen am See neben den vielen Villen. Ein pyramidenförmiger Bau mit der Inschrift: Philipp Frank fällt auf – das aufdringliche Grabmal eines Sonderlings. Auch in Como ist es heiß und bedeckt. Nach einigem Zögern verzichten wir auf die Fahrt auf einen nahen Aussichtspunkt; entwickeln vielmehr auf einer Bank am Ufer unsern Proviant, zu gleichen Teilen aus Eingekauftem und Mitgebrachtem bestehend. Althergebrachtes Mittagessen verteilt Simon unter dem regelmäßigen Zeremoniell. In unserer unbekümmerten Ruhe erregen wir die Aufmerksamkeit der Hafenwache. Die Stadt ist durch irgend etwas Außerordentliches belebt. Musik wird von einem andern Teil des Hafens hörbar, große und kleine Menschentrupps, fast alle mit italienischen Fähnchen im Knopfloch marschieren vorbei, z. T. Touristen. Doch erfuhren wir den Anlaß zu alle dem nicht. Als ein leiser Regen sich erhob, brachen wir zum Dom auf. Ein weißer Marmorbau, dessen Fassade durch tiefe Nischen, in denen Figuren stehen, sehr eindringlich geteilt und belebt wird. Über dem gotischen Portal liegt der Kreis eines ungeheuren Rundfensters. Wir betrachten noch die Seiten, die nichts von der steilen Schönheit und Gliederung der Front haben, und gehen dann hinein. Kalt und nüchtern ist der Eindruck; auch hat der Dom im innern wohl keine großen Schönheiten im einzelnen. Mit der Elektrischen bringen wir unser Gepäck und uns zur Bahn, und es findet sich auch hier Gelegenheit, uns 20 Centesimi zu viel abzunehmen.
Mailand begrüßt den Fremden nicht italienisch, vielmehr übereuropäisch. Mit allen Mitteln bringt man ihm das Sensationelle zum Bewußtsein: hier ist die erste italienische Stadt, die du betrittst und die größte. Die Aufdringlichkeit der Hoteldiener kann nicht übertroffen werden und wir spürten sie ganz besonders. Unter Simons Führung stellten wir am Hauptportal unsere Koffer ab und studierten die Karte. Einer nach dem andern kam mit der Phrase »deutsches Hotel«, die er kaum sprechen konnte und einem schmutzigen Zettel, der das Hotel anpries. Wir nahmen alles entgegen und Simon betont grandseigneurmäßig sein: Wir werden darauf zurückkommen – jawohl – wir sind orientiert.
Wir haben unser Hotel nach dem Baedeker gewählt und gehen über den Platz – Gepäckträger und Hotelangestellte folgen. Als das Schreien vergeblich bleibt – geht einer nach dem andern fort. Zufällig treffen wir dann unsern Hoteldiener. –
In dem deutschen Gasthof gab man uns ein Zimmer mit drei Betten, dessen überaus groteske Geschmacklosigkeit nicht übergangen werden darf. An der Längswand stehen in Abständen von ½ Meter die drei Betten nebeneinander, zwei Nachttische dazwischen. Das eigentliche Bett ist aber Nebensache. Beherrschend ist ein ungeheuer langer hölzerner Aufbau darüber. Völlig zwecklos stellt er die Vereinigung von allerlei geraden und krummen Linien in einen plumpen oberen Bogen vor und dies Spiel von Sinnlosigkeit und vehementer Häßlichkeit wird lebhaft gesteigert durch kleine Aufbauten der Nachttische in ähnlicher Art und durch das dritte und letzte Bett, das die Scheußlichkeiten der beiden andern in seinem Aufbau variiert. Das Ganze erweckt schließlich den unüberwindlichen Eindruck eines Götzentempels, und in ihrer dummen ausdruckslosen Höhe scheinen diese Überbauten auf gläubiger Verehrung der Schläfer zu bestehen, die zitternd zu ihren Füßen entschlafen.
Doch das war erst viele Stunden später. Wir waren früh angekommen und wollten am Nachmittag den Campo santo, abends, wenn möglich ein Theater besuchen. Es war zwischen der lustigen Witwe und »Gloria« einer fünfaktigen Tragödie d'Annunzios zu wählen. Und wir entschlossen uns für diese in der Hoffnung, sie würde einen Stoff aus dem italienischen Kriege recht bunt-pantomimisch behandeln. Wie wir so etwas irgendwo gelesen zu haben glaubten.
Es war an diesem Tage sehr heiß. Wir fuhren in einer breiten, nüchternen und schattenlosen Allee auf den Campo santo zu. Ein großes ausdrucksloses Gitter grenzt am Ende der Straße einen Hof ab, auf dem weit ausladend eine Halle in weißen und roten Steinen sich erhebt. Der Bau wirkt unruhig in den Farben und unaussprechlich leer mit seinen weiten maurischen Bogen, die aneinander stoßen ohne durch architektonische Gliederungen irgend Ausdruck zu erhalten. Beherrschend für den Eindruck ist die gewaltige Ausdehnung. Auch schien die Sonne prall auf den Platz als wir ihn sahen, und dieses Werk, das Millionen gekostet haben mag, wirkt nicht anders als die Vorhalle zu einer Kolonialausstellung. Doppelt peinlich berührt dies alles, wenn man an seinen Zweck denkt. –
Doch sollten wir bald merken, daß Weihe überhaupt nicht das Zeichen des Ortes ist. Die Mailänder, gebildete und ungebildete machen hier in der Halle oder dem steinernen Garten ihren Nachmittagsspaziergang. – In der Haupthalle sind überall an den Wänden Büsten der großen italienischen Toten mit Gedenktafeln angebracht. Der Stein ist recht schmutzig. Gegenüber vom Eingang steht der graue Steinsarkophag mit der Inschrift Alessandro Manzoni – darauf ein eherner Lorbeerkranz. Sehr ernst wirkt eine gewisse tempelähnliche Form des Sarkophags, der giebelartig zuläuft. Die anstoßende Halle ist schon ganz hell; und allen drängte sie in ihrer Anlage die Erinnerung an das Antilopenhaus im Berliner Zoologischen Garten auf. Die Wände sind in kleine Fächer geteilt, in die meist Täfelchen mit Blumen, Photographien der Toten und Gedenkworten eingelegt sind. Hier sind Aschenreste der Toten. Unsagbar kleinlich wirkt diese Anlage. Jedes Fach mit seinen besonderen Tafeln, Blumen, Bildern. Dann in den anstoßenden Räumen folgen wieder die banalsten Statuen. Unser Schritt beschleunigt sich immer mehr – bis wir schließlich noch einmal durch ein ganz modernes Grabmal aufgehalten werden. Zwei Mädchen – in Bronze dargestellt, verlassen den grauen Gedenkstein am Grabe ihrer Eltern. Die ältere hat die Hand ihrer kleinen Schwester gefaßt, die noch halb gewendet steht und ein paar Blumen auf den hohen Stein legt, den sie kaum erreicht. Überaus schön ist die ruhige, weiche Modellierung der kindlichen Körper, die sich in dem warmen Ton der Bronze belebt und doch nicht aufdringlich gegen den Stein abheben.
Der Friedhof liegt vor uns. Nicht eigentlich ein Friedhof sondern ein ganz blendend helles, aufreizendes Marmorfeld. Dazwischen einige Gerüste, an besonders hohen Grabmälern wird gebaut. Hier muß vor allem eingeschaltet werden, daß jeder Mailänder für eine bestimmte und natürlich sehr hohe Summe sich einen Begräbnisplatz kaufen kann, auf dem er sich ein Grabdenkmal errichten läßt. Der Tod, der ein Demokrat und Verbündeter der Armen ist hat sich gerächt. Eine ganz furchtbare Anhäufung von Häßlichkeit und protziger Banalität ist entstanden – man muß ins Mystische und Phantastische schweifen, um eine Erklärung zu finden. Gewiß: jeder Bau im einzelnen ist so gemein wie prunkvoll; aber wie dieses Zusammenwirken geschah, diese gesteigerte und überraschende Scheußlichkeit, das ist kaum zu vermuten. Dieser unselige Mailänder Friedhof ist nicht mehr ein Denkmal des Geldes, sondern des Mammons. Da sind Säulen, aus deren Innern Trauergenien kriechen, Kapellen, die im abenteuerlichsten Glanz bunter Scheiben innen erleuchtet sind, wüste, unverständliche Totenallegorien in Unmengen von Marmor ausgeführt, große Pyramiden von Menschen sind auf ihrem Grabmal dargestellt, wie sie im Familienkreise sitzen – Kreuze, auf denen die Photographien der Toten, die sich auf den meisten Gräbern befinden, angebracht sind oder unsinnige Darstellungen von Liebe, Glaube und Hoffnung in ihrem Symbol: Anker, Säule o. ä.
Am Ende des Friedhofs liegt ein Krematorium, mit einer Urnenhalle im Stile derjenigen, die wir anfangs sahen. Wir hielten uns bei alle dem nicht lange auf, aber gingen umher, vom Entsetzen ins Lachen und wieder zurückfallend ins fassungslose Schweigen. – Schließlich verweilten wir noch zwei Minuten am Grabmal des Manzoni, aber das konnte den Eindruck einer fast physischen Übelkeit, den wir mitnahmen nicht heben.
Die Bahn brachte uns zum Dom. Sicher ist man bei seiner Betrachtung ganz vom Wetter abhängig und wir hatten Glück, indem wir diese große und doch auf ihrem breiten Fundament so schlanke Steinmasse gegen den blauen Himmel sahen, der im Kontrast zu dem Marmor noch dunkler aussah. Später gingen wir hinein. Der Raum wirkt groß und doch diszipliniert durch die starken Säulen mit ihren Doppelkapitälen, die die Wucht der Schäfte noch verstärken. Die Scheiben haben satte Farben und besonders erinnere ich mich an den warmen gelben Lichtton, den die untergehende Sonne auf den Fußboden warf, durch eines dieser Fenster hindurch. Dem Innern kommt der Mangel an allen aufdringlichen Altarbildern sehr zu statten – auch stehen keine Bänke im Dom, das alles erhöht das Bewußtsein, sich in einem freien, groß gegliederten Raum zu finden, den das Licht überall gedrängt erfüllt. Man konnte wohl kaum zu günstigerer Zeit hinkommen als wir. Das Dach wollten wir erst am nächsten Tage besteigen und so gingen wir zum Teatro Olympico, um die nicht ganz billigen Billets zum Abend zu holen. Nach dem Abendbrot schlenderten wir wieder zum Theater zurück. Zu alledem hatten wir viel Zeit, denn die Vorstellung begann erst um 9 Uhr. Später merkte ich übrigens, daß ich bei diesem Abendbrot sehr wahrscheinlich meine Brieftasche verloren habe; zufällig war kaum etwas von Wert darin – trotz meiner Nachfrage habe ich sie nicht wiedererhalten.
Wenn man übrigens in Mailand eines schönen Frühlingsabends ins Theater geht, so ist das nicht anders, als in Berlin – besser in Charlottenburg, wenn man durch den Kurfürstendamm und die Grolmannstr{aße} zum Schillertheater geht. Dann allerdings trennen sich die Wege und man wird im Schillertheater niemals etwas, wie d'Annunzios: Gloria zu sehen bekommen.
Wenn man ins Theater hineinkommt, – die Garderobe nimmt man mit sich – sieht man sich einem erleuchteten Vorhang gegenüber. Wir hatten einen unnötig guten Platz und konnten aus der Nähe die große Anzahl von Reklamen, die diesen Vorhang vollständig füllen, lesen, soweit das Italienisch reichte. – Es füllte sich langsam, die Herren rauchen im Theater. Bei den Damen fällt auf, daß viele alleine hinkommen. – Um im Einzelnen den Verlauf des Stückes zu erzählen, habe ich nicht genug verstanden. Immerhin ergaben mimisches Spiel und vage Hypothesen der Zwischenakte, daß es sich um den Kampf eines Mannes zwischen Ruhm und Liebe handelte. Das Stück liegt im Rohesten und nährt sich nur von heroischen od{er} sentimentalen Affekten. Dementsprechend ist das Spiel grob und wo wir es näher verfolgen konnten, wirkt es platt und unkünstlerisch. Sehr spaßhaft war, die genaue Kopie einer Sonne aus dem Fiesko hier wiederzufinden. Wie wir nachher merkten war es eine Premiere und am Schluß wurde denn auch bescheiden gezischt, neben vielem Beifall. – Abgesehen vom Künstlerischen waren wir auch durch die mangelnde Ausstattung u{nd} Pantomime durchaus nicht auf die Kosten gekommen. Nur die phänomenale Schlechtigkeit des Stückes war interessant und die Beobachtung, daß mitten im Spiel, 2 Min vor dem Fallen des Vorhangs, ein Klingelzeichen auf dieses Ereignis aufmerksam macht. Beim zweiten Klingelzeichen fällt dann der Vorhang wirklich. –
Der nächste Morgen – gegen ½2 ging unser Zug von Mailand nach Verona – war dem Domdach, der Brera und dem Abendmahl gewidmet. Im Dom kamen wir gerade zu einer hübschen Feier. Die kleinen 5-6jährigen Kinder erhalten ihr erstes Sakrament (oder etwas ähnliches). Sie sind alle in weißen Kleidern erschienen und sitzen sich in 2 Reihen gegenüber – hinter ihnen die Eltern, zwischen den Stuhlreihen aber bewegt sich eine Art Prozession vorbei, worunter der Erzbischof von Mailand, der die Kinder segnet. Jedenfalls ist dieser Zug in schönen Ornaten, mit Lichtern – nicht zu vergessen, die Festkleidung der Kinder selbst, geeignet, ihnen einen frühen und darum nachhaltigen religiösen Eindruck zu geben. Als wir nach einiger Zeit vom Dache herunterkamen war die Feier gerade zu Ende. Die Kinder drängten sich aus der Kirche und da war die von Hunderten von Händen wiederholte Bewegung des Kreuzschiagens in ihrem Schema wenig anmutig. – Auf das Dach führt zunächst eine bequeme Treppe – später geht man über die glatten Steine selbst bis zu einer Brüstung. Treppen durchziehen überall die abfallenden Teil-Dächer und bilden Absätze. Die Marmormasse ist so ausgedehnt, daß man auch von oben nur nach bestimmten Richtungen den Platz am Fuße des Doms sehen kann. Auf allen Seiten erheben sich kleine und größere Türme, Brüstungen, Geländer, auf und in denen Heilige stehen. Hier kann man den Glauben an die Menschheit gewinnen, wenn man bedenkt, welche Massen heiliger Menschen gelebt haben müssen, damit dieser Dom gebaut werden konnte. Der Anblick ist durch diese Fülle natürlich imposant und gewinnt noch viel, wenn man in einzelnen Teilen die Ornamente in ihren schönen Variationen verfolgt. – Wir schritten nicht das ganze Dach ab, sondern stiegen nachdem wir einen kleineren Teil betrachtet hatten, auf geradem Wege wieder hinunter.
Die Brera ist in ihrer Fülle italienischer Kunst aller Zeiten ohne Vorkenntnisse oder Führer in kurzer Zeit nicht zu genießen. Also verweilte ich nach Gefallen bei einzelnen Bildern und fand eine große Menge schöner. Wenn man hineinkommt, hat man stark angegriffene und doch noch farbige Tafeln Luinis vor sich. Nach einiger Zeit folgt der wohl unstreitig schönste der Säle der Brera: Mehrere Madonnen und eine großartige Pietà Bellinis. Daneben der berühmte Christus Mantegnas. Weiterhin fiel mir noch Gentile da Fabriano auf in seinen architektonisch genau gegliederten, naiv und darum um so eindrücklicher erzählten Szenen. Überaus traurig ist die moderne Malerei der Brera; im wesentlichen schlechter Piloty. Bei der immerhin schnellen Betrachtung zu der wir gezwungen waren, haftet doch fast nur der Gesamteindruck, einzelne Schönheiten verblassen. Und eben das will für den Laien bei der Brera nicht das Beste besagen. – Jedenfalls hatte mich die Galerie, die wir übrigens einzeln durchschritten, so sehr gefesselt, daß ich es bei Lionardos Abendmahl zu büßen hatte. Wir waren hundert Schritt auf der Straße gegangen, als mir einfiel, daß ich meinen Stock vergessen hatte – noch jetzt, indem ich es schreibe durchzuckt mich der unangenehme Schreck dieses Augenblickes. Katz und Simon konnten bei der knappen Zeit nicht warten – bei mir aber stand natürlich fest, daß ich das Abendmahl sehen wollte. Sie konnten mir nur einige vage Andeutungen geben, ich ohne Plan, ohne Sprachführer, die sie natürlich besaßen, mußte sehen, wie ich durch kam. Ich trennte mich – an der Bahn wollten wir uns wieder treffen. Ich zweifelte einen Moment, ob ich überhaupt versuchen sollte, nach St Maria delle Grazie zu kommen. Ich eile zur Brera, habe natürlich erst eine langweilige Prunktreppe hinaufzugehen, empfange meinen Stock und ziehe noch eine Erkundigung ein. Auf der Straße kommt eine Bahn. Ich (schreiend): St. Maria delle Grazie? Der Schaffner nickt und ich springe auf, trotzdem ich vorher gehört hatte, daß durch diese Straße keine Bahn nach dem Kloster fährt. Ich fahre – und fahre, der Schaffner hat natürlich in Anbetracht meiner Hilflosigkeit ein Trinkgeld bekommen. Ich habe das Glück, daß einer Dame der Schirm hinfällt und hebe ihn auf. Der Lohn folgte auf dem Fuße. Denn plötzlich sind wir am Dom – und der Wagen hält. Ich verfüge nur über 4 Worte: St Maria delle Grazie. Das sage ich denn auch. Vielleicht sogar mehrere Mal. Die Dame will gerade aussteigen, hört es und versteht die Sache und sagt dem Schaffner irgend etwas. Ich frage französisch: »Combien de temps?« er nickt, ich will verzweifelt absteigen – er winkt mit der Hand. Schließlich drückt er mir einen Zettel in die Hand mit einigen Zahlen und italienischem Text, der mich wohl veranlassen sollte, die betreffenden Straßenbahnen zu benutzen. Darauf schiebt er mich sanft und eine gewisse Richtung andeutend aus dem Wagen.
Von hier aus irrte ich wild umher. Viele Haltestellen sind auf dem Platz – hier kommt diese Bahn vorbei da eine andere. Ich gehe der Richtung nach, frage an jeder Straßenecke einen Menschen, frage die Kondukteure, überall bekomme ich Antwort, nirgend verstehe ich sie. Schließlich nickt ein Schaffner auf meine Frage, ich springe auf und gerate noch fast unter den Wagen. Es ist inzwischen nach viertel zwei – kurz nach zwei geht der Zug. Ich weiß nur, daß ich das Abendmahl sehen will – weil es zu albern ist, wegen eines vergessenen Stockes Lionardos Bild nicht zu sehen. Unsinnig frage ich den Schaffner auf französisch, wie lange man fährt. Er versteht natürlich nicht. Endlich hält er und zeigt eine Richtung. Ich sehe eine Kirche, im Dauerlauf stürze ich hinein – es ist dunkel, irgend jemanden sehe ich und gehe auf ihn zu: Lionardo da Vinci? Er zeigt hinaus, ich laufe aus der Kirche ins Nebengebäude, bezahle – muß auch meinen Stock noch abgeben. Es ist ganz ungeheuerlich, daß ich jetzt mein Billet habe und ich muß in diesem Loch warten, bis einer von den Männern langsam auf steht und zur Sperre geht. Dahinter ist der große Raum und Lionardos Bild. Die kahle Verfallenheit fesselt. Die Bilder scheinen die Produkte irgendeiner rätselhaften Verwesung, die hier aus den Wänden heraustritt. Ich sehe nur Lionardos. Eine Mauer hält den Beschauer in 2 Meter Abstand. Ich stehe davor, mein Schweiß trieft, der Kneifer fällt mir zu Boden, ich hebe ihn erschrocken auf, kann ihn nicht aufsetzen. In die Tasche – die Brille wird aufgesetzt. Ich kann nicht mehr empfinden als den Raum und das Bewußtsein, so groß und blaß nun das vor mir zu sehen, was ich so oft als Abbildung bewunderte. Das alles hat kaum eine halbe Minute gedauert. Ich laufe hinaus und die Leute in Livree, die im Vorraum sitzen, stutzen. Ich laufe wieder, stürze mich in die nächste Bahn, steige nach zwei Minuten wieder ab und rufe eine Droschke. Der Mann hat einen sterbenden Gaul vorgespannt. »Presto« und ich klopfe mit dem Stock auf den Boden. Gott, er fährt mich um, ich sehe, daß er notorisch einen Umweg macht. Aber ich kann mich nicht ausdrücken und schreie nur Presto. Jetzt suche ich den Kneifer, wühle alle Taschen durch und er ist nicht da. Ich bin wirklich erschöpft. Schließlich sitzt er im Futter. – Im Hotel ist niemand mehr. Sie haben meinen Koffer schon mit zur Bahn genommen. Ich laufe die 3 Minuten zur Bahn, auf dem Perron sehe ich endlich Simon. Doch ich habe noch keine Ruhe, sondern muß Katz suchen, der sich jetzt verloren hat. Kaum sitzen wir endlich, so fährt der Zug. – Die Fahrt nach Verona konnte für meine Erschöpfung nicht lang genug sein. Und anfangs verweigere ich auch die Annahme der Mittagsration.
In Verona entschlossen wir uns noch im letzten Augenblick, an der ersten kleineren Station auszusteigen. Wir sehen uns auf einem freien, aber ziemlich unbelebten Platz. Nur die Bahnhofslungerer sind da und wir haben die gewohnte Unannehmlichkeit, sie los zu werden. Nach einiger Überlegung, der Baedeker gab uns hier wenig Hilfe, entschloß Simon sich mit einem (ungefähr 16jährigen) Hoteldiener vorauszugehen. Katz und ich warteten und nach fünf Minuten waren beide wieder zurück; das Hotel war gewählt. Durch die Porta Nuova, ein schönes antikes Portal sieht man einen Corso. Eine breite Straße, deren niedrige bunte Häuser wenig Schatten geben. Und das ist das erste Stadtbild, das ganz deutlich »Italien« sagt. In dieser Straße liegt nicht weit vom Tor unser Gasthaus. Ein italienisches Gasthaus, der Bahnhofsdiener – und er schien der Geist der Wirtschaft zu sein, radebrecht das Deutsche gerade soweit, um mit Heimatklängen Fremde zu gewinnen. Durch eine dunkle Stube gehn wir hinein. Kleine Tische mit weißen Tischtüchern und Servietten stehen da und überall sitzen Fliegen. Es geht 2 kurze enge Treppen und einen ganz schmalen Gang im Dunkeln entlang. Ein Zimmerchen mit 2 Betten, Fenster nach der Straße nehmen Katz und ich. Simons Zimmer habe ich nicht gesehen. Wir verlangen Wasser und ruhen einen Augenblick. Es klopft. In der Tür erscheint ein schmutziger Junge, der einzige Gast, den wir eben im Speisezimmer bemerkten, und hält eine Zigarrenschachtel mit Postkarten. Man befördert ihn hinaus. – Wir sind bald im Freien, denn die Zimmer verlocken nicht. Dagegen wecken sie mein Mißtrauen und ich schütte Mengen von Insektenpulver unter das Laken.
Die breite Straße, an der unser Hotel liegt, erstreckt sich von der Porta nuova zum Amphitheater. Nachmittags erfüllen Müßiggänger sie. An einer kleinen Kirche vorbei, die mit einem Vorhang gegen die Straße abgeschlossen ist, gelangen wir auf den Platz. Die gewöhnlichen Anlagen, ein Springbrunnen, spielende Kinder mit ihren Mädchen. Ein großer dunkler steinerner Bau ragt auf: das Amphitheater. In einem Bogen ist der Stand für Postkarten und Billetverkauf. Wir treten ein und haben die Stille der großen aufsteigenden Arena vor uns. Nur an einer Stelle wird die Linie des Horizonts durch große Trümmerpfeiler unterbrochen, Reste eines Arkadenumbaus, der zu Goethes Zeiten noch stand. Treppen sind zwischen den meterhohen Absätzen geschlagen. Wir steigen hinauf bis zum Rand. Die Sonne senkt sich, vor uns haben wir Dächer, schmutzig und baufällig. Einige Kirchtürme erheben sich; die Anlagen der Forts auf den Hügeln sind schon in Abendnebel gehüllt. Doch ist es noch ganz hell. Wie wir hinuntersehen, bemerken wir besonders schwarz die großen Zugangsöffnungen, die in die Arena münden. Um ganz ruhig zu schauen, setzen wir uns oben auf den Rand. Die Fassungsgröße des Theaters wird abgeschätzt, dann berechnen wir und ich war am nächsten mit 40 000 Personen. Wir sitzen noch eine Zeit lang schweigend, dann gehen wir am Rande herum. Neben den Arkaden, die noch durch Steinbögen mit dem Arenabau verbunden sind, steigen wir hinunter, um uns die frühere Lage wiederherzustellen. Doch ist nicht alles klar. Immer die Dächer vor Augen, setzten wir den Rundgang fort, manchmal sehen wir in einen der Eingangsschlünde hinein. Leider können wir nicht warten, bis die Arena von der untergehenden Sonne wiederstrahlt, nur ihren obersten Rand sehen wir beleuchtet. Im Verlassen sehen wir eine Dame, die den Bau mit einem Führer besichtigt – wie winzig die Leute auf dem Grunde des steinernen Kraters sich bewegen. Wir gehen noch ein wenig in den äußeren Bogengängen umher und sehen die Keller und Gefängnisse für wilde Tiere und Menschen. Ein paar Postkarten werden gekauft.
Durch ein paar Straßen geht es auf den Marktplatz. Zwei Säulen mit alten Adelssymbolen erheben sich. Häuser umdrängen ihn ganz dicht. Die Marktbuden stehen, beherrscht von einem Holzgerüst für Musiker. Es ist späte Dämmerung. Hohe Häuser, schmal und eines mit breiter Palastfront, säulengegliedert mit dem regen aber undeutlichen Marktleben, verwirren uns stumm. Ich höre ungeduldig, wie Simon im Führer nach Namen sucht und Himmelsrichtungen feststellt. Hierher wollen wir gleich zurückkehren. Doch erst geht es zur Post, wo ich in dürftigem Italienisch Marken kaufe und zu meinem Erstaunen noch keinen Brief der Eltern vorfinde. Einen zweiten Platz müssen wir erst lange suchen. 2 Palastfronten und ein Tor mit Barockwappen, auf der Seite eine Einfahrtsmauer begrenzen ihn. Es gilt nur noch, den freien Vorbau eines Palastes mit dünnen Säulen und den gleichmäßigen Bogenrundungen zu sehen. Davor Taubenscharen. Und wie das Tor sich vom blauen Himmel abhebt. Es ist dunkel. Der Markt, zu dem wir zurückkehren, hat Budenlichter. Musikanten steigen mit ihren Instrumenten auf das Podium. Nicht weit davon setzen wir uns an einen Tisch vor dem Restaurant. Ich muß immer wieder die Dächer und den Himmel sehen; ein paar Frauen, die vorbeigehen. Eine Bude mit grünen, roten und gelben Getränken, die in der Nähe steht. Die ersten Klänge der Musik werden erwartet. Dann sehe ich beim Spiel der Kapelle Gehen und Stehen der dunklen Menschen auf dem dunklen Platz wie rhyt(h)misch geordnet. Der Kellner betrügt mich um einen Lire; Gegenstand vieler Scherze als wir schließlich nach Hause gehen. Dabei schieben wir unsere in der Wärme des Abends sich dehnende Begier an den Cafés vorbei. Ich mit der stärksten, halte die anderen mit Spott zurück. Jetzt finde ich keine andere Antwort, wie: aus Sparsamkeit und gespielter gleichgültiger Enthaltsamkeit.
Der nächste Morgen bot uns gefällig die italienische Sonne unserer Reise. Ich kam zuletzt in das Entree, das Eßraum ist. An meinem Platz stand ein dickes Täßchen Chokolade. Ist das alles? Ja. In einem Schluck trinke ich aus. Kleines Gebäck, lächerlich gering. Etwas Butter bleibt beim Schmieren übrig. Ärgerlich will ich es in meiner Butterdose mitnehmen. Simon wehrt. Die Rechnung zeigt widerliche Geldschneiderei. Simon läßt sich verdächtige Summen analysieren. Es kommt Schwindel heraus. Beschwerde bleibt erfolglos. Da wird die bisher unsichtbare Instanz, der Wirt hergeholt. Hilflos müssen wir zusehen, wie der Wirt vom Piccolo italienisch instruiert wird. Als wir zu Wort kommen, verweigern wir 1 Lire, die das Factotum für Koffertragen verlangt. Simon wird energisch. Der Piccolo ergreift einen Besen und verstellt den Ausgang. Ein paar anwesende ebenfalls deutsche Touristen bleiben neutral. Im Wunsche eine Streiterei zu vermeiden, zahlen wir den Lire und entfernen uns fluchend.
Am Bahnhof geben wir das Gepäck für 3 Stunden ab und gehen zwischen Stadt und Befestigungen auf der Landstraße auf S. Maria Maggiore zu. Seltsam wirken diese Hügelwallungen, diese bald steilen, bald abgeschrägten Mauern, die manchmal so geringen Höhenunterschiede der Anlagen – alles von feinem Sinn, doch ganz verborgen für den Laien. Ein wuchtiges dreiteiliges Festungsportal allerdings überrascht in seinem Giebelschmuck und seiner Breite. – In der Folge wird mein Gedächtnis von den einzelnen Bauwerken nur noch sehr unvollkommenes berichten können. Am ehernen zweiflügeligen Portal von St. Maria Maggiore sind ganz primitive Reliefs aus der biblischen Geschichte. Innen gibt vor allem eine hölzerne rote und goldene Balustrade, von holzgeschnitzten Aposteln gekrönt, die Gliederung des Baus. Unter der Balustrade, die sich 4 Meter über dem Boden mit Stufungen erhebt, führen Stufen in die Krypta. Wir fuhren mit der elektrischen Bahn durch die Stadt und sahen noch andere Gebäude. Die Haltestellen der Bahnen sind unbestimmt oder schlecht bezeichnet, man steigt von anderer Seite ein als bei uns, ich bin an diesem Vormittag wohl 3 Mal der Bahn nachgelaufen, während die anderen schon darin saßen. Als wir zum 2 ten Male am Markt frühstückten, entschlossen wir uns noch, das Teatro Romano, das ursprünglich nicht in unserm Plane lag, anzusehen. Auf dem Wege dahin gingen wir über eine Holzbrücke. Man sieht die Stadt und den Fluß hinunter und die Berge mit den Castellen. Häuser in allen Farben scheinen über einander geschichtet und grenzen an den Fluß.
Das Teatro Romano ist von der Straße aus eine abgezäunte Bau- oder Trümmerfläche. In der Verwalterbude wie gewöhnlich ein kleines Museum von Funden auf dem Platze. An dem Theater selbst ist das eigenartigste sein Verfall. Deutlich bemerkt man, wie ein Teil der verfallenden Mauer nach dem anderen in die Häuser, die hier gebaut wurden, als Mauerwand eingefügt wurde. Einige Bühnenpfeiler sind, glaube ich, noch erhalten, die Marmorstufen in Resten. Der gesamte Anblick ist ganz ungegliedert, die vollkommene Trümmerstätte. – Wir fahren zur Porta Nuova zurück, von dort mit der Eisenbahn zum Hauptbahnhof, wo wir den Zug nach Vicenza bekommen.
In Vicenza ist ein verstaubter, grüner heißer Platz am Bahnhof. Am Rande eines breiten Kiesweges eine Bank. Wir setzten uns und das selbstverständliche Mittagsbrot (es muß noch einmal genannt sein) Sardellenbutterbrot, Wurstbrot, Bonbons wird von Simon bereitet. Über uns liegt auf der Rasenanlage ein Junge, halbnackt auf dem Bauch, der ab und zu sein Bein hochstreckt und danach greift; die einzige Bewegung. Ein paar andere winken ihm, nach lange gewechselten Rufen steht er auf. Sie spielen und klettern auf einen Baum. Wurstschalen, die wir auf den Boden geworfen haben essen sie ab; ich rauche eine Zigarette an, lege sie auf die Bank. Dann gehe ich und sehe, wie sie sich darum balgen. Bis zum Eingangstor von Vicenza geht man 3 Min auf einer breiten Vorstadtstraße, langweilig, von kleinen Häusern und von einem Park begrenzt. An einem Gebäude kleben Theaterplakate. Hinter dem Tor öffnet sich bald nach rechts eine Straße und in drei Säulen steht das erste Fragment palladischer Größe da. Eine ganz schmale hohe Fassade, deren schönstes 3 Säulen sind, die unbekümmert um horizontale Gliederungen aufsteigen, am Kapitäl durch zwei Blattranken verbunden. Nicht rein, aber deutlich erscheint hier gerade durch das Bizarre, Unvollendete Palladios Absicht; denn was man sieht, ist nur ein kleiner Teil der geplanten Fassade, dessen Höhe die Säulen stärker betont, als es der vollendete Bau getan hätte.
Ein paar Nebenstraßen weiter steht die Basilika Palladiana. Erhabener kann kein architektonischer Eindruck sein, als die doppelhohe marmorne Bogenreihe, mit der undurchdringlichen Dunkelheit des Innern. Der Farbeindruck, des in allem Schmutz immer noch leuchtenden Marmors und der dunklen Bogentiefen macht die Gewalt des Eindruckes und die Höhe und Ausdehnung dieser Bogenreihen nimmt dem Bilde alles Romantisch-unklare; so daß hier im Ungeheuren und Deutlichen zugleich das Erhabene erscheinen muß.
Auf dem Platz stehen auch auf der Gegenseite alte Gebäude, doch ohne Schönheit. Man geht durch Bogengänge auf die andere Seite – in die Hallen selbst kann man nur mit besonderer Erlaubnis (scs Geld) – sie ist einfacher – es riecht überall schlecht in den Winkeln – Obstfrauen sitzen mit Körben herum. An den Fronten zweier Paläste, aus dem 12 ten Jahrhundert glaube ich, eines gotischen und eines romanischen vorbei, durch Nebenstraßen, die zum größten Teil von schiefen und baufälligen Häusern in klassischen Stilen gebildet werden, kommen wir zum Museo civico. Für mich als Laien ist der Bau gleichförmig und wenig anziehend. Während wir uns auf einer Bank ausruhen beginnt es von dem dicht bedeckten Himmel zu regnen. Wir gehen auf das Teatro Olimpico, einem Rundbau dem Museo schräg gegenüber zu, wo ein Müßiggänger uns empfängt und für sein Trinkgeld den Pförtner herausklingelt. Palladio hat ein Theater für klassische Aufführungen gebaut und jedes Jahr einmal wird der Raum auch zu diesem Zwecke benutzt. Von rechts, von der Bühnenseite betritt man einen hohen ungefähr halbrunden Saal, den wir durch Reparaturen verdunkelt fanden. Die Zuschauerreihen, hohe hölzerne Stufen steigen in 13 Reihen steil amphitheatralisch an. Ein Einschnitt und darauf eine sehr breite Rampe trennen sie von der Bühne, die nur von einem kleinen Teil der Plätze ganz überschaut wird. Am Ende der Rampe erhebt sich ein Torbogen in palladianischer Architektur, hinter dem sich der sehr weite Prospekt einer Straße zeigt. Eine außerordentliche starke perspektivische Illusion ist durch ein allmähliches Ansteigen des Bühnenbodens erreicht worden. Zwei kleinere Logenöffungen zu beiden Seiten öffnen entsprechende kleinere Ansichten. Das Theater ist in der Geschlossenheit des Raumes schön, bedeutend aber wird es, indem augenscheinlich die Möglichkeit gegeben ist, den Übergang von der Straße in das Haus auf offener Scene zu geben, indem der Schauspieler aus dem Straßenprospekt vor die sehr ausgedehnte Tor-Architektur, die als Zimmerwand betrachtet werden kann, sich begibt. Damit ist eine neue Möglichkeit für die Aufführung, ja für das Drama gegeben.
Als wir aus dem Theater heraustraten, standen wir Schutzlose im stärksten Regen, und trotzdem wir unentwegt die alten Gebäude der Stadt aufsuchten – den Strohhut nahm ich unter den Arm, war die Betrachtung in der klebrigen Nässe und der Umschau nach Zufluchtsorten gestört. Zwar sind mir noch Straßenbilder, aber nicht mehr Paläste in ihren architektonischen Einzelheiten im Gedächtnis geblieben. Peinlich war die erfolglose Suche nach einer berühmt-häßlichen Jesuitenkirche.
Einen großen Teil der 5 Stunden, die wir uns für Vicenza vorbehalten hatten, mußten wir wegen des starken Regens lesend und Karten schreibend in der Bahnhofshalle zubringen. So sahen wir die Villa Rotonda, die weit außerhalb der Stadt liegt, nicht.
Stärker als an anderer Stelle werden Mängel sich bei der Erinnerung an Venedig ergeben wegen der Menge und Gleichartigkeit der Eindrücke, die nicht jeden Tag völlig gegen den vorherigen veränderten. – Auf einem Damm in einer unabsehbaren Wasserfläche, die nur durch Pfosten und andere Dammbauten unterbrochen wird, fährt der Zug nach Venedig ein. Es hieß schnell aussteigen, um den Dampfer zu erreichen. Simon und Katz sind darauf, ich werde zurückgehalten, da ich meine Lire wechseln muß, der Dampfer fährt ab und ein paar heftige Armbewegungen nützen wenig, ihr Schreien verstehe ich nicht. Ich warte auf das nächste Boot und überlege. Vermutlich sind sie an der nächsten Haltestelle ausgestiegen, um auf mich zu warten. Wenn nicht, werden sie mich an unserer Absteig-Stelle empfangen. Zur Not: welche Hotels hatten wir ins Auge gefaßt. Ich erinnere mich nur unbestimmt. Das Schiff kommt; um besseren Überblick an den Stationen zu haben, stelle ich mich an die Spitze. Mein staunendes Schauen wird unangenehm durch die Unsicherheit der Lage abgelenkt. Es dämmert und der Himmel ist bezogen. Ein breites graues Wasser am Rande links noch große Hotels, rechts schon graue, braune gleichgiltige Häuser, von denen manchmal ein dunkles Gold leuchtet. An der nächsten Station stehen sie nicht, der Dampfer fährt stampfend ab. Die Reihe der Paläste – alles hier sind alte Paläste – bricht sich an einer Ecke. Das Wasser ist unwahrscheinlich; im Innern verstehe ich nicht das natürliche Sein der Menschen auf dem Schiff und das Wasser. Dagegen kann ich die Paläste fast ohne Verwunderung annehmen. Das Seltsamste ist, daß sie im Wasser wurzeln. Es wird dunkler und die Fahrt lang. Wie klangreiche Namen die Stationen haben: Bragora, St. Zaccaria. Ich muß Anschluß an die Reisenden suchen. Dem Gespräch einiger Deutscher höre ich zu. Ich nehme nicht ohne Absicht einen etwas hilflosen Ausdruck an. Ein alter Hoteldiener, auf der schmutzigen Mütze den Vermerk »Aurora« führt seinem Hotel ein paar Touristen zu und will mich mit nehmen. Ich frage ihn nach einigen Hotels, in denen Simon und Katz vielleicht sein konnten. Er weiß nicht recht was ich meine. Ich behalte die Deutschen im Auge. Endlich steige ich doch in der fremden Stadt mit dem Mann von der »Aurora« und seinen Touristen aus. Doch in dem Hotel sind sie nicht. Ich versichere mich, ob eventuell für die Nacht ein Zimmer zu haben ist; man verfehlt nicht, zu bejahen, noch das letzte sei frei; dann frage ich nach dem Markusplatz, wo das eine der Hotels war, in denen ich Simon und Katz vermutete. Es ist dunkel, die Laternen und Lichter brennen. Mit meinem Koffer gehts die Riva degli Schiavoni entlang, angerufen von Gondolieres, verfolgt von Straßenjungen; einer, dem ich mein »niente« erwidere, stößt meinen Koffer mit dem Fuß. Ich muß schnell gehen, wenn ich lange ausruhte, würden sie in Scharen kommen. Ich stolpere müde aber energisch über die Brücken. Dann biege ich zum Markusplatz ein. Zuerst frage ich nach dem Hotel einen Schutzmann, (auf französisch) er weiß nichts und fragt einen Kellner. Ich bekomme eine unbestimmte Antwort, nach der ich mich nicht zurechtfinde. Von aller Schönheit um mich sehe ich nichts und will den Platz verlassen, zur »Aurora« zurückkehren. Plötzlich höre ich hinter mir unseren Pfiff. Simon. Katz ist noch einmal zum Bahnhof gefahren, um mich dort zu suchen. Wir warten auf der leise schwankenden Anlegestelle auf ihn. Vereint gehen wir ins Hotel Sandwirth, Riva Schiavoni, wo schon Zimmer gemietet waren. Bald gehe ich zum spärlichen Abendbrot hinunter, bei dem wir Fritz Bale, dem wir schon in Basel begegnet waren, treffen. Schließlich gingen wir glaube ich noch ein paar Schritt an der Riva am Kanal auf und ab.
Morgens durften wir niemals spät aufstehen. Unser Frühstück bekamen wir für ca 1 L in einem Café 3 Minuten vom Hotel entfernt an der Riva. Es war selten so sonnig, wie ich es mir zu einem Frühstück am Canale grande gewünscht hätte. Nach dem Frühstück begann sofort das Tagesprogramm und bei allen Kunstbetrachtungen war ein Führer von Semrau für die venezianischen Kunstdenkmäler unentbehrlich. Ich geriet zufällig in einer Buchhandlung, in der ich mir mehrere englische Bücher vorlegen ließ, auf ihn und er nützt mir noch jetzt, um mir Erinnerungen wachzurufen. Später schaffte auch Katz ihn sich an. – Nach dem Kaffee sahen wir uns auf dem Markusplatz um. Ich erstaunte, eine helle, nüchterne Realität zu finden. Ein Feriengefühl durchzuckte mich: Spaziergänger und Tauben, die nicht die unwahrscheinlich maßgebende Rolle spielen, die Reisemythen ihnen gegeben haben. Arme Venezianer stehen herum und verkaufen Tüten mit Taubenfutter, die sehr lang sind und wenig zu enthalten scheinen und müßige Damen schütten die Tüten aus, eine plumpe Bewegung. Wie anmutig dagegen die Kinder, die ihre Freude in der Bewegung mitteilen können. – Der Bogen unter dem Uhrturm geht auf eine enge dunkle Geschäftsstraße, die sehr belebt ist. Wir wollen die Frarikirche sehen und das ermüdende Laufen und Suchen, an das wir uns in Venedig zu gewöhnen hatten, beginnt. Als wir dann nach Fragen, hin- und her Irren und Sackgassen, die auf kleine Kanäle führen, die Frarikirche vor uns hatten, da war auch das für mich charakteristisch venezianisch, daß man der Kirche in ihrer verbauten Umgebung nur mit Mühe eine vernünftige Frontansicht abgewinnen kann. Als wir sie hatten, folgten wir aufmerksam den kleinen Belehrungen, die Lübke über das Portal gibt. – Keine zweite venezianische Kirche haben wir im Innern so gewissenhaft betrachtet wie diese erste, die besonders lehrreich ist. Für die Geschichte des italienischen Wandgrabes findet man gute Beispiele, desgleichen für frühe venezianische Madonnenmalerei. (Vivarini – Bellini) Ein sehr schöner geschnitzter Mönchschor. Eine bemerkenswerte Scheußlichkeit, Grabmal Tizians, stellt plastisch einige seiner Gestalten dar.
Am gleichen Vormittage besuchten wir die ersten Säle der Accademia. Im zweiten Saale, der Stätte der »Assunta« und des »Wunders des heiligen Markus« von Tintoretto hörten wir die gute Erklärung des Leiters einer deutschen Kunst-Schule mit an, der wir noch öfters begegneten. Die Schüler saßen am Boden oder standen. Besonders fiel mir bei einer späteren Begegnung ein schrecklich schwarz-grau angezogenes Mädchen auf, das ich im Dogenpalast bei der Erklärung der Deckengemälde ausgestreckt am Boden liegen sah. Ein Streit über die Gestalt des Markus auf Tintorettos Bilde führte die ästhetischen Konflikte zwischen Simon und mir von der Poesie auf die Malerei über, wo mich seine Gedanken manchmal fast zur Raserei brachten. Da er Katz und meine Art, die Bilder sehr genau zu betrachten, nicht teilte, trennten wir uns für die Besichtigungen oft. Aus diesen Sälen Bilder zu nennen, mag nicht viel Sinn haben: immerhin nenne ich die beiden Gemälde der Accademia, die mich nach der Erinnerung am tiefsten ergriffen haben: Pitatis Gastmahl des Reichen und Tizians Pietà. Beide vor allem in ihren Farben, Pitatis glühende Sonnigkeit der Farben, während Tizians Gemälde dämmerig verschattet ist, so daß Semrau an Rembrandt erinnert.
Das Mittagessen aus den üblichen Bestandteilen wird auf dem Zimmer gegessen, dazu etwas Siphon bestellt, in den man Zitronensaft schüttet. – Mit einer Gondel fuhren wir quer über den Kanal nach der Redentore-Kirche. Krüppel und Müßige, die Centesimi haben wollen helfen bei an und ausbooten, machen die Kirchentür auf und empfangen uns wenn wir herauskommen mit vorgestreckter Hand. Die Kirche ist, soweit ich mich erinnere als Rundbau von sehr klarer Gliederung im Innern gebaut. Die Seitenschiffe werden zu Kapellen. Ich glaube, es war diese Kirche, deren Nischen anstatt durch Heiligen-Statuen durch bemalte Pappkulissen ausgefüllt waren. Der Raum schien mir würdig, doch wie so viele italienische Kirchen entspricht er nicht deutschen Begriffen von der heimlichen Stimmung eines Anbetungsortes. Durch abgelegene Gegenden, aus denen wir oft freien Blick über das Lagunenmeer hatten, kamen wir zur St Maria del Gesuita »sinnlos prächtig«, wie Semrau schreibt, überladen mit eingelegtem bunten Marmor.
Von dort gingen wir ein paar Minuten auf einem schmalen Steinpflaster dicht an einem kleinen Kanal vorbei, zum Platze des Colleoni-Denkmals. Zuerst sahen wir uns die Kunstdenkmäler der Kirche S. Giovanni e Paolo an, die an diesem Platz liegt. Leider hatten wir uns durch eine ungeschickte Einteilung des Führers täuschen lassen; in dieser Kirche, die wir nur flüchtig besuchen wollten, fanden wir neben der Markuskirche eine der bedeutendsten Venedigs, wie der Führer denn auch bei näherer Durchsicht angab. Die Zeit war in doppelter Beziehung ungünstig zum Besuch. Erstens brach die Dämmerung ein und zweitens waren wir durch die Eindrücke der Accademia und Frari-Kirche am Vormittag schon hinreichend beschäftigt. Dennoch mußten wir uns entschließen hineinzugehen, da wir vielleicht ohne große Opfer an Zeit in diesen entfernten Stadtteil nicht wieder gekommen wären. Die Besichtigung war neben der Beleuchtung durch Restaurationen, die den Platz der Gemälde wohl teilweise verändert hatten, erschwert. Neben Gemälden besitzt diese Kirche, wie die Frari-Kirche viele bedeutende Wandgräber. – An der Fassade der Scuola di S. Marco, die wir kurz betrachteten, nachdem wir die Kirche verlassen hatten, fielen mir primitiv gebildete Löwen auf, die in flachen Nischen standen, die durch perspektivische Bemalung tief wirken sollten. Höchst naive Darstellung! – Dem Colleoni-Denkmal widmeten wir die intensivste Betrachtung. Unaufhörlich betrachteten wir es von allen Seiten, machten uns auf immer neue Leistungen der Darstellung aufmerksam. Wir bemerkten vorzüglich die Vollendung des Denkmales, Simons Fernglas ließ uns vieles sehen, was dem bloßen Auge entgangen wäre. Man sieht nicht den Platz, auf dem die Kinder spielen und vergißt die Dunkelheit. Blick und Bewegung des Colleoni haben die unvergleichlichste Realität und eine brutale Kraft. Die Geschlossenheit der Erscheinung ist von jeder Seite, sogar vom Rücken höchst ausdrucksvoll. Selten werden Fremde so lange vor dem Colleoni gestanden haben, wie wir. Vielleicht ¼ Stunde. Unser Abendbrot wird wohl im Café Bavaria eingenommen worden sein und es wird wohl in Spaghetti bestanden haben – wie fast immer. – Am gleichen Abend sah ich das große Schauspiel der Illumination des Markus-Platzes. Ich werde nicht diese erste Illumination zu schildern versuchen, sondern eine zweite, an die ich mich besser erinnere.
Der Vormittag des zweiten Tages galt dem Markus-Dom. Durch unsern Führer wurden wir befähigt, mit etwas Verständnis zu sehen. Am Markus-Dom besteht das Verständnis nicht nur im Entdecken der Schönheit, sondern auch in der Unterscheidung grellbunter, pathetischer Mosaike auf prallem Goldgrund von der steifen Mäßigung der Bewegung und den gedämpften Farben der alten Mosaike, die eben durch diese neuen stellenweise recht unglücklich ergänzt sind. Im Innern scheiterte eine vollständige Besichtigung an dem hohen Eintrittsgeld, das man für die Besichtigung des Chors und einzelner Kapellen nimmt. – Am Nachmittag fuhren wir nach Chioggia hinaus. Auf dem Dampfer kam ich mit einem sehr geweckten italienischen Arbeiter ins Gespräch. Er hörte an unserer Unterhaltung, daß wir Deutsche waren, und da er selbst mehrere Jahre in Deutschland und in deutschen Sprachgebieten gearbeitet hatte, interessierten wir ihn. Er konnte soviel Deutsch, daß eine notdürftige, mit Mißverständnissen gewürzte, Unterhaltung zu stände kam. Ein Interviu jedoch, das ich über den Tripoliskrieg versuchte, um mich über die Stimmung »in den niederen Schichten« zu unterrichten, mißlang. Der Italiener lobte sehr die deutschen Verhältnisse, vor denen der Schweiz, Österreichs und vor allem Italiens. Er nannte die hohen Preise Venedigs für Kleider und Schuhe, die geringen Löhne und hohe Arbeitszeit. Von deutscher Sprache schien er am besten einige erotische Gassenhauer zu beherrschen, die er uns vergnügt vorsang, in der Erwartung, auf viel Verständnis zu stoßen. In einem schmutzigen Fischerdorf stieg er aus, viele Menschen, hauptsächlich Frauen standen am Landungsplatz. Von seinem Elternhaus, wo er wohnt, bis zu seiner Fabrik hat er 18 km mit dem Rad zu fahren. – Die Fahrt nach Chioggia begleiten in der Entfernung Dämme, auch Kastelle. Man sieht Lagunen, hinter denen das offene Meer liegt. Gegen Ende der Fahrt, wo wir allein auf dem Verdeck waren, gab es Balgerei, bei der ich mit dem Schiffstau gefesselt wurde. Von der Einfahrt sieht Chioggia aus, wie eine kleine Stadt. Am Ufer hat man sogleich ein kleines Hotel zur rechten Hand. Ein Mann steht davor, und ruft mit »Caffè, chioccolata« zum Besuch an. Simon hat wieder die Ruhe unter dem »Gondola« Geschrei der Schiffer seinen Plan im Baedeker zu studieren. Wir gehen über eine Brücke, auf der schmutzige Menschen in den widerlichsten Haltungen sitzen – manche haben verschwollene Gesichter. Die aufdringlichen Anerbietungen beginnen wieder. Die Brücke geht auf eine dunkle Gasse, durch die man mit ausgestreckten Armen wohl kaum gehen könnte. Widerlicher Geruch. Vor den Türen hocken auf dem Pflaster netzflickende Weiber. Ein paar Kinder liegen herum. Wir endigen vor einem kleinen Kanal mit Brücke. Simon glaubt sich geirrt zu haben: wir müssen noch einmal zurück durch die schauderhafte Gasse über die Brücke. Dann noch einmal, weil unser erster Weg doch richtig war. Über eine Brücke gehen wir und werfen einen Blick in eine dunkle Kirche. Zurück und am Rande des kleinen Kanals entlang. Durch Torbogen sieht man in dunkle Gassen. Das Bild der schmutzigen Weiber und schmutzigen Kinder ist immer das selbe. Auf dem Pflaster liegt ein Mann; man muß um ihn herum gehen. Simon fragt: »Hast Du schon einen Mann hier gesehen, der vorn die Hosen geschlossen hatte?« Manche Frauen haben unaufgebundenes Haar. Man kann nur von Lappen reden die sie irgendwo angesteckt haben. Wir hatten uns vorgenommen, noch einmal durch eine der kleinen Gassen zu gehen und tun es auch. Dann haben wir die breite Hauptstraße Chioggias vor uns. Wir gehen hindurch. Der Geruch ist wegen der großen Breite nicht so schlimm. Einzelne hübsche Kinder sind zu sehen. Vor ein paar Rasenflecken mit schmutzigen Bänken steht auf einem Schild »Giardino publico«. Ein Mädchen mit Kindern ist darin. Am Ende der breiten Straße ist ein Tor mit einem verwaschenen Marienbild in einer Nische. Dahinter ein freier Platz. Es findet vielleicht Kartoffel-Markt statt. Man sieht Wagen, Menschen, sehr viel Kartoffelsäcke. Hier kehren wir um und gehen durch die Hauptstraße zum Schiff zurück. Auf dem Weg spreche ich mit Simon etwas über Literatur; mich hat mancher Anblick von Chioggia an Zeichnungen Kubins erinnert. – Auf der Rückfahrt vertiefe ich mich mit Simon ganz in ästhetische Gespräche. Den letzten Teil der Fahrt sitzen wir in der Kabine, da es schon kalt und dunkel ist. Es gelingt mir, ihm meine Ansicht vom Kunstgenuß begreiflich zu machen, ohne daß er sie annimmt. In Venedig essen wir (ausnahmsweise und zum letzten Male) in unserm Hotel schlecht und teuer. Danach (?) gehen wir noch an der Riva auf und ab, und führen unser Gespräch, an dem nun auch Katz teilnimmt, zu einem Ende. Wir erkennen eine grundlegende Zweiheit im ästhetischen Urteil: Das Urteil über das Werk, das zeitlos und über den Meister, das zeitlich bedingt ist.
Am folgenden Vormittag sahen wir den Dogenpalast. Schon im Hofe auf der Gigantentreppe sahen wir die Kunstschule von der Accademia kommen. Den Vorträgen des Führers folgten wir bei den Wandgemälden oft mit Gewinn. Seinen Schülern hatte sich auch der unangenehme Freiburger Student, Korach, angeschlossen. Durch eine sehr kühle Begrüßung vermied ich alles weitere. – Unangenehm ist es, wenn man bisweilen die plapperig-gelehrigen Erklärungen eines »Fremdenführers« hört, der mit allen mythologischen Namen die Bilderscenen erklärt. Der Mann sprach manchmal in einem Raum mit dem Führer der Kunstschule unbekümmert laut. – Gegen ein besonderes Eintrittsgeld sahen wir zuletzt den Flügel des Palastes, an dem die Seufzerbrücke liegt, nachdem wir vorher, ohne es zu ahnen, in den Bleikammern gewesen waren, die jetzt zu einer Galerie von Bildnissen des Dogenpalastes und Markusplatzes geworden sind. In diesem zweiten Flügel sind die Schlafzimmer des Dogen, mit schönen Marmoröfen, alte geographische Karten und Globus, Münz- und Gemmensammlungen und eine Glyptothek mit interessanten und z. T. wenig bekannten Köpfen römischer Kaiser. Kurz vor dem Aufgang zur Seufzerbrücke hängt ein unvollendeter oder schon etwas verblaßter Christophorus von Tizian, der mir den unheimlichen Eindruck vieler Darstellungen dieses Heiligen gab. Dann besichtigt man die Seufzerbrücke, d. h. man bringt seinen Körper in einen dunklen Gang, in dem viele jämmerliche und mutige Menschen gestanden haben. Bei der übrigen Aufzeichnung des Tages laufen mangels genauer Erinnerung oder Aufzeichnung vielleicht chronologische Ungenauigkeiten mit unter. Am Vormittag sahen wir vielleicht noch St. Maria Formosa mit Palmas schönem Bilde der Hl. Barbara, S. Giovanni Crisostomo und S. Salvatore, an die ich trotz Abbildungen im Semrau nicht die geringste Erinnerung mehr bewahre. – Nachmittags nahmen wir uns mit umständlichem und pünktlichem Vertrag eine Gondel. Es dauerte nicht lange, bis der Mann mit Murano begann. Simon wehrte mit Hilfe des italienischen Wörterbuches energisch ab. Nach einiger Zeit hielt die Gondel natürlich doch vor der Fabrik. Wir stiegen nicht aus, sondern riefen dem Mann, der auf die Fremden lauert, auf italienisch zu, daß wir nichts brauchten. Darauf winkte er dem Gondoliere ab, der in wüstes Schimpfen ausbrach. Er nahm Rache und fuhr uns nicht zu der Kirche, die wir gewünscht hatten, sondern durch viele schöne Nebenkanäle. Nach einer Stunde dieser, bei aller Schönheit aufreibenden Fahrt, wünschten wir auszusteigen. Doch setzte uns der Mensch trotz dringender deutlicher Bitten erst einige Minuten nach Ablauf der Stunde ab. Die Absicht war klar. Aber wir verweigerten die Mehrforderung des Mannes, der für eine Fahrzeit über eine Stunde tarifmäßig 3 L forderte, unterstützt von umstehenden Gondolieren. Er ging mit uns zum Schutzmann. (Es war in belebter Gegend am Rialto.) Der Gondoliere trägt die Sache dem Schutzmann italienisch vor, wir beklagen uns französisch. Es bildet sich ein Auflauf. Der Schutzmann fordert uns zum zahlen auf. Wir weigern uns und beginnen von neuem. Aus der umgebenden Menschenmenge tritt ein gebildeter Herr vor, der die Sache augenscheinlich verfolgt hatte. Als er den Schutzmann zur Rede stellt, drängt sich der durch den Haufen und läuft fort. Durch heftiges Winken und Rufen holt der Herr ihn zurück. Nun klärt sich alles. Der Schutzmann hat sich geirrt; selbstverständlich. Der Gondoliere verstummt, empfängt durch Simon seine 2 Lire ohne das übliche Trinkgeld und entfernt sich fluchend. Mühsam irrten wir durch die Straßen und endigten in einer Buchhandlung, wo wir einen vorzüglichen Plan von Venedig kauften, der durch das Los später mir zufiel. – Vom Rest des Tages weiß ich nichts mehr.
Es fiel mir auf, wie schnell Venedig mich als etwas ganz Reales und ganz Selbstverständliches umgab, wie sehr ein 2 oder 3tägiges Leben auch das Fremdeste und Schönste zum Angenehmen oder Unangenehmen, Praktischen oder Widrigen macht. Dabei mag der immerhin großstädtische Zug venezianischen Lebens, das dem Großstädter vertraut entgegen kommt, mitwirken.
Vielleicht fand die geschilderte Gondelfahrt, die wir mit einer Besichtigung von St. Maria Salute unterbrachen, auch erst am folgenden Tage statt und es wäre dann anstatt dieser Fahrt einer Dampferfahrt auf dem Canale grande zu gedenken, auf der wir während der Hin- und Rückfahrt die Paläste des Canale nach dem Führer einigermaßen kennen lernten. Wir versäumten, kurz vor der Endstation auszusteigen, so daß wir die Besichtigung einiger Fresken Tiepolos in einem Palast oder einer Kirche, die wir sonst vielleicht unternommen hätten, versäumten. – Am Nachmittage fuhren wir mit einem Bekannten Simons, den wir getroffen hatten, nach dem Lido. Von der Landungsbrücke aus geht eine breite schattenlose Straße, die man in jedem deutschen Badeort finden könnte, gerade auf das Badeetablissement zu. Auch durchfährt eine Elektrische diese Villenstraße. Vor dem Restaurant-Eingang des Lido hat man Eintritt zu zahlen. Dann hat man eine Art Wintergarten vor sich, in dem Strohmöbel für die Wartenden stehen – zu beiden Seiten des Raumes öffnen sich Bazare. Hinter diesem Raum liegt das Café und weiter die Terrasse mit dem Blick auf das Adriatische Meer. Nach dem Kaffeetrinken und einem kleinen Aufenthalt jenseits des Badestrandes, bekam einer nach dem anderen beim Anblick des stark bewegten Meeres und der Badenden selbst zum Baden Lust. Ich entschloß mich als letzter, da ich sah, daß meine Weigerung die anderen nicht hinderte und ich nicht allein warten wollte. Vorher hatte ich einige Bedenken wegen meiner Gesundheit gehabt und das Bad strengte mich denn auch sehr an. Es war starker Wellenschlag, der Himmel aber bedeckt und wenn man aus dem Wasser an den Strand kam sehr kalt. Am nächsten Tage badeten Katz und ich allein – soweit ich mich entsinne. Es war etwas wärmer, bevor ich ins Wasser ging lag ich nackt im Sande, warf mich auch wieder auf den Boden, als ich aus dem Meere herauskam und wurde über und über so mit Sand bedeckt, daß ich zur Säuberung noch einmal ins Wasser mußte. Diesmal tranken wir nach dem Baden Kaffee – wobei man starken Hunger mit kleinen teuren Kuchen stillen muß. – Zum Abend hatten wir uns alle vier in einem Bierrestaurant verabredet, als aber Simon und ich nach viertelstündigem Warten (und nachdem wir eine Tüte Kirschen gegessen hatten) die anderen nicht fanden aßen wir allein in der Capello Nero. Es war an diesem Abend die zweite, zugleich, wie wir hörten, letzte Illumination des Markus-Platzes. Am Tage bemerkte man an den Fassaden Glühlampen, die die Säulen, Logen, Fenster und Gesimse umgaben. Diese Einrichtung stammt noch von der Feier der Wiedererrichtung des eingestürzten Kampanile, soll aber jetzt beseitigt werden. Als wir aus der Merceria auf den Platz hinaustraten, herrschte das Bild, das wir schon kannten. Lange irrten wir auf der Suche nach einem günstig gelegenen Tisch vor einem der beiden großen Cafés am Markusplatz. Als wir ihn endlich gefunden, trennte ich mich von Simon, aus dem Bierrestaurant die anderen zu uns zu holen. Ich fand sie. – Es war schwer über den Platz zu kommen, der voller Menschen ist. In der Mitte sitzt auf einer hölzernen Tribüne die Militärkapelle, die mit der Nationalhymne eröffnet. Darauf: die Aufforderung zum Tanz. Hundertstimmiges Johlen und Pfeifen übertönt die ersten leisen Takte. Die Kapelle beginnt von neuem ... dasselbe erfolgt. Niemand weiß, worum es sich handelt. Aber das Volk beruhigt sich nicht, bis die Nationalhymne wiederholt wird. Auch dann störte sie wieder das Webernsche Stück. Die Kapelle spielt 5 mal hintereinander die Nationalhymne und darauf ein lautes, schwerer zu störendes, anderes Stück. – Wir trinken nach einem Vorsatz, der auf der ganzen Reise uns begleitet hatte, eine Flasche Asti. Simon trinkt bescheidener mit, trotz unseres Zuspruchs, denn er ist knapp mit dem Gelde. Heute brennen vor den drei Eingangsbogen der Markuskirche nicht 3 rote Feuer, die während der ersten Illumination einigemale aufleuchteten. Nur unter dem Dach des Kampanile glühen unsichtbare rote Birnen. Der Platz ist übertaghell, der Himmel scheint dicht über ihm in ganz tiefer Schwärze zu liegen. Man glaubt in einer Stadt zu sein, die zum Saal geworden ist. Die Leute bewegen sich in dieser Helle wie in einem Fest. Neben unserem Tisch sitzen Deutsche, Breslauer, mit denen wir ein wenig sprechen. Von Zeit zu Zeit erlöschen alle Birnen auf einige Sekunden. Ein betrübtes Murmeln durchläuft den Platz, lautes Johlen, wenn alles wieder aufleuchtet. Weiße Glühbirnen erleuchten die Fassaden bis auf den Mittelstock des Atrio, dessen Bogenöffnungen stets mit braunen Portieren verhängt sind; braun-gelbe Glühbirnen kränzen jetzt diese Bogen. An den Tischen laufen Jungen vorbei, die Karten von der Illumination verkaufen. Die Bilder geben natürlich garkeinen Eindruck von der Helligkeit des Platzes. Vor 12 Uhr erloschen die Lampen. Simon holte seinen Koffer aus dem Hotel. Katz und der andere Herr waren noch einmal zum Marktplatz gegangen, um Simons Badezeug, das er vom Lido dorthin gebracht und vergessen hatte, zu holen. Ich stand allein an der Riva und wie oft in einer plötzlichen und im Zusammenhange der letzten Tage seltenen Einsamkeit, wurde ich wieder der Ungewißheit meiner Studentenzeit und meines späteren Lebens bewußt. Die anderen kamen mit dem Badezeug, Simon mit seinem Koffer. Er ließ sich zu dem großen Dampfer übersetzen, der um 1 Uhr nach Triest abfuhr. Katz und ich kehrten ins Hotel zurück.
Am nächsten Morgen fuhren wir zur Accademia herüber, besichtigten die letzten Säle, wobei leider bei Neuordnungen unser Führer nicht immer ausreichte und trafen für kurze Zeit auch wieder Simons Freund. Da wir nach langem Suchen kein Brotgeschäft fanden, aßen wir diesen Mittag in der Kapello Nero Risotto. Am Nachmittag fuhren wir zum Lido heraus und nach der Rückkehr fuhren wir noch nach S. Giorgio maggiore hinüber, um den Kampanile zu besteigen. Er gibt einen schönen Blick über Forts, die in der Nähe liegen, Stadt und Lagunen. Der Abstieg war unangenehm, da bis zur Schließung der Kirche nur noch wenige Minuten waren, und wir es nicht mit Treppen, sondern einer Art abschüssiger Hühnerleiter zu tun hatten, die in sozusagen eckigen großen Spiralwindungen durch vollständige Dunkelheit führte. Am Abend wurde gepackt.
Wir waren sehr früh am nächsten Morgen am Bahnhof, tranken dort noch Kaffee und ich verständigte mich mit einem Beamten über Zuschlagfahrkarten, die wir wegen der Verbindung zwischen Venedig und Padua brauchten. Im Coupee mit uns saßen entzükkende Hochzeitsreisende, gegen die ich mich liebenswürdig erwies, indem ich meist zum Fenster hinaussah. In Padua fanden wir uns mit einiger Mühe zurecht, an einer Brücke orientierten wir uns am Stadtplan und standen bald in der Madonna dell' Arena, die ihren Namen wohl von dem Platz hat, den jetzt noch Trümmer eines alten Theaters auszeichnen. Die Kirche ist nichts als ein Tonnengewölbe, das bis hoch hinauf von Giottos Bildern bedeckt ist. Ein Mann sitzt an einem Tisch, auf dem 2 große Bücher mit den Photographien der Fresken liegen, langweilt sich, empfängt die Fremden und gibt ihnen eine Tafel, auf der der Name der Vorgänge und ihr Bildplatz an der Decke zu finden sind. Auch gibt er ihnen einen Karton, der das Suchen erleichtert, indem er Licht abhält. Man muß stets aufwärts blicken und die Betrachtung ist anstrengend. – Nach dem Plan gingen wir weiter zum Gattamelata mit einem Abstecher zur Universität, die in belebterer Gegend liegt.
Wir kauften Kirschen. Kurz vor der Universität sah ich ein Cigarrengeschäft, das ich aber im Zurückgehen, als ich mir ein paar Zigaretten kaufen wollte, nicht mehr fand. Die Universität ist von außen wohl kaum mehr als ein gleichgültiges altes Gebäude. Im Hof sind an der Steinwand die schwarzen Bretter, soweit ich mich erinnere auch ein paar alte Wappen – wir hielten uns nicht lange auf. Von dort verirrten wir uns ein wenig, fanden bald wieder und standen in greller Sonne auf einem weitläufigen, leeren Platz vor dem Gattamelata. Wir hatten diesmal kein Fernglas mit. Neben allem erschwerte der blendende Himmel sehr die Betrachtung, wir krochen an winzigen Schattenflecken herum, einmal setzte ich mich auf eine niedrige Mauer. Von einer verständigen Würdigung war keine Rede. Der Gattamelata erschien mir als feiner pfäfischer Diplomat und ich bemerkte nichts von der Wucht des Colleoni. – In unserer Tageseinteilung waren wir schwankend geworden, da die Stadtbesichtigung bis jetzt viel weniger Zeit, als veranschlagt, gekostet hatte. Wir entschlossen uns in irgendeinem Hotel oder Restaurant ein Kursbuch zu verlangen, wenn möglich einen früheren Zug als beabsichtigt zu nehmen, sonst aber noch weiter in die Stadt zu gehen, wo eine von Baedeker bezeichnete Kirche lag. Nach einem Hotel, das in der Nähe läge, suchten wir im Baedeker vergebens. Wir gingen zurück und kamen an einer kleinen Osteria vorbei. Mutig ging ich mit Katz hinein, stöberte in einem Hof hinter dem Haus die Wirtsfrau auf, bestellte limonata gazzosa und verlangte orario. Auf einem Fetzen, den die Frau mir reichte, waren nur Lokalzüge zu ersehen. Ich ging in den dunklen Küchenraum zurück und flehte: orario Milano, Padua-Milano. Ein Mann, vielleicht ihr Sohn stellte sich ein, zog einen Fahrplan aus der Tasche und gab mir Auskunft. Ein früherer brauchbarer Zug fuhr. Wir bezahlten und gingen in der Richtung des Bahnhofs um eine letzte Kirche mit Fresken Mantegnas zu besichtigen. Die Kirche im Innern der Stadt gaben wir auf; nachher ärgerte ich mich darüber, da wir bei den geringen Entfernungen Paduas auch sie noch hätten sehen können. Unsere letzte Kirche, ein öder Bau, enthält in einem Seitenraum die plastisch und mächtig gemalten Fresken, zum Teil sehr beschädigt. Besonders wuchtig die Architektur auf diesen Bildern, die Farben sind stumpf und starke Schatten heben die Bilder hervor. Im gleichen Raum ist ein altes Grabmal deutscher Studenten, die in Padua studierten. Ein lateinischer Vers, uns nur teilweise verständlich, beklagt die Dahingegangenen. Der Küster bekam sein Trinkgeld und bald waren wir wieder am Bahnhof. Wir fuhren mit dem Personenzuge nach Mailand, gleichmäßige Fruchtfelder unter bedecktem Himmel bilden die Landschaft. – Ein Italiener aus dem Volke saß neben mir und versuchte eine Unterhaltung – doch er konnte nicht deutsch, ich nicht italienisch und es kam eine stokkende Gebärdensprache heraus. Kurz vor Mailand stiegen viele Arbeiter und Frauen ein, der Wagen war überfüllt und doch ging es anständig zu. Ein Geistlicher verteilt einen kleinen violetten Zettel. Der Hausdiener vom Helvetia-Hotel, das wir von der Hinreise her kannten, war nicht am Bahnhof. Nach kurzem Zögern ließen wir das Handgepäck an der Bahn und gingen zu Fuß zum Hotel. Von hier ab rechneten wir ängstlich mit dem italienischen Gelde, um möglichst ohne nochmals zu wechseln, auszukommen. So hatte Katz ein bescheidenes Abendbrot.
Sehr schön war die Rückreise des nächsten Tages, auf einer Strecke, die uns zum großen Teil noch fremd war. Ein interessantes Gespräch, das ich über allgemeine Bildung führte, klärte mir halb unbewußte Ideen, indem ich sie aussprechen mußte. Die Fahrt war voller Zweifel. Durch einen letzten Tag am Vierwaldstättersee wollten wir den Übergang von Italien zu Freiburg mildern und in ganz anderer Umgebung unsere Eindrücke zur Ruhe kommen lassen. Doch dachten wir nur an einen Aufenthalt bei gutem Wetter. Die Reise aber führte durch regnerische Gebiete. Immerhin war bis zum Gotthard alles ungewiß. Und als wir aus dem Tunnel herauskamen versprach wirklich die Sonne schönstes Wetter. Ich ging in den Speisesaal, um mein letztes italienisches Geld auszugeben; bekam für 35 cts. einen Sandwich, irrte mich, indem ich zuviel Trinkgeld gab und bekam vom Kellner einen wertlosen Schweizer Frc. zurück. Wutschnaubend ging ich, den letzten Bissen noch im Munde, in meinen Wagen zurück, denn Altdorf war nahe. Im Wagen erfuhren wir, daß der Zug entgegen dem Fahrplan, der uns in Venedig vorgelegen hatte, in Flüelen hielt. Unser Plan war dadurch umgestoßen: wir hatten die Möglichkeit noch an diesem Nachmittag bequem nach Brunnen zu gehen, während wir ursprünglich in Altdorf übernachten und am nächsten Morgen nach Brunnen oder bis Tellsplatte gehen wollten, um am Abend in Freiburg zu sein. Nun stiegen wir in Flüelen aus und gingen die Axenstraße hinauf. Nur ganz kurze Zeit hatten wir den schönsten Blick auf Flüelen. Sehr schnell zogen schwere Wolken herauf, die die Sonne verdeckten und uns den Weg verdarben. Bei dieser Wendung des Wetters entschlossen wir uns, wenn möglich noch am gleichen Abend mit dem letzten Zug in Freiburg zu sein. Da wir einen Dampfer auf die Teilsplatte zusteuern glaubten, liefen wir hinunter. Wir hatten uns getäuscht, sahen den Fahrplan nach und stellten fest, daß vor kurzer Zeit der Dampfer abgefahren war, der uns die schnelle Rückkehr nach Freiburg noch ermöglicht hätte. Ein wenig verstimmt durch die Tücke des Wetters, das uns durch ein paar Sonnenstrahlen aus dem Zug gelockt hatte, warteten wir. Ich rauchte eine Zigarette und studierte überlegen eine gleichfalls wartende Touristenfamilie. Höhnisch langsam fuhr das Schiff an, das spitze Riel sah aus, als wüßte es, daß gerade dieser Dampfer uns nichts mehr nutzen könne. Letzte Möglichkeiten wurden erwogen. Aber die direkte Fahrt nach Luzern war uns genommen, da ich meinen Handkoffer von Flüelen nur nach Brunnen aufgegeben hatte und ich ihn nicht liegenlassen wollte. In Brunnen gingen wir, soviel ich weiß in den Schweizer Hof. Ich habe mich doch sehr nach deutscher Sprache und deutschen Aufschriften und Menschen gesehnt, denen man etwas sicherer gegenüberstände. Katz aß ein wenig, wir gingen spazieren. In einem Geschäft kaufte ich ein paar Karten (vergebens versuchte ich, den schlechten Franc los zu werden) setzte mich ans Ufer und schrieb ein paar Zeilen an Dora und Sachs. Ich kaufte Zigaretten. Wir gingen am See entlang bis zum Ende des Ortes. Es dämmerte schon. Als wir über eine Bretterbrücke gingen hatten wir die Mythen vor uns. Im Ort ging ich erst in eine kleine Bäckerei, nachher in ein größeres Geschäft und kaufte viel Chokolade, die ich schmuggelte. Im Hotel gab es ein sehr gutes Abendbrot; ein älterer Herr saß am Tisch mit uns. Nach dem Essen gingen wir noch auf eine halbe Stunde fort, die Axenstraße hinauf. Es war ganz dunkel und unterdessen war schönes warmes Wetter gekommen. Auf der Höhe über Brunnen setzten wir uns auf die Mauerbrüstung und sahen hinab. Die Lichter des Ortes lagen rechts unter uns an der Bucht, wie ein blitzender Hering schoß ein- oder zweimal ein Scheinwerfer aus den Bergen. Wir waren sehr froh, daß ein Zufall uns die Rückkehr verwehrt und hier festgehalten hatte und ich konnte mich schwer auf den Weg machen zum Hotel zurück.
Vor 8 Uhr waren wir am nächsten Morgen auf dem Schiff. Es war schlechtes Wetter, der Himmel wolkig, die Berge halb verhängt. Irgendein katholischer Festtag war, zur Feier wurden Böllerschüsse gelöst. Während der Fahrt über den See entstand ein Gespräch über Ästhetik zwischen Katz und mir, das wir auf der Fahrt von Luzern nach Basel wieder aufnahmen. In Luzern war Zeit, über die Brücke an der Promenade entlang zu gehen. Ich beobachtete fast ungläubig Reisende, die schon jetzt eintreffen. Solange man in der Schule ist, scheint alles natürliche Leben an allen Orten auf die Ferien beschränkt. Ein Menschenstrom und Gesänge machten uns auf eine Prozession aufmerksam. Wir standen und sahen eingekeilt auf einer breiten hohen Kirchentreppe viele weißgekleidete Kinder, sie werden aufgestellt. Unter Gesängen, mit frommen Fahnen kommen andere Züge. Eine Nonne führt sie herauf. Auf der Treppe steht Militair. Ein Zug Priester, wieder Kinder, dann Nonnen. Es ist nicht abzuwarten. Die Häuser zeigen Kruzifixe und Blumen vor den Fenstern, aus denen die Menschen sehen. –
Auf der Fahrt fürchte ich, mein Schmuggel würde entdeckt. Ich verabrede alles umständlich mit Katz. Schließlich in Basel kommt ein Beamter in den Wagen und fragt nur, ob ich Großgepäck habe.
Wie wir nahe bei Freiburg sind überkommt mich schon ein bißchen Ekel und Sehnsucht nach Italien. Am frühen Nachmittag kommen wir an.