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II

Drum da gehäuft sind rings, um Klarheit,
Die Gipfel der Zeit,
Und die Liebsten nahe wohnen, ermattend auf
Getrenntesten Bergen,
So gieb unschuldig Wasser,
O Fittige gieb uns, treuesten Sinns
Hinüberzugehn und wiederzukehren.

Hölderlin

 

Wenn jedes Werk so wie die Wahlverwandtschaften des Autors Leben und sein Wesen aufzuklären vermag, so verfehlt die übliche Betrachtung dieses um so mehr, je näher sie sich daran zu halten glaubt. Denn mag nur selten eine Klassikerausgabe versäumen, in ihrer Einleitung es zu betonen, daß gerade ihr Gehalt wie kaum ein anderer aus des Dichters Leben einzig und allein verständlich sei, so enthält dies Urteil im Grunde schon das πϱϖτου ψεύδοϛ der Methode, die in dem schablonierten Wesensbild und leerem oder unfaßlichem Erleben das Werden seines Werks im Dichter darzustellen sucht. Dies πϱϖτου ψεύδοϛ in fast aller neuern Philologie, d. h. in solcher, die noch nicht durch Wort- und Sacherforschung sich bestimmt, ist, von dem Wesen und vom Leben ausgehend die Dichtung als Produkt aus jenen wenn nicht abzuleiten, so doch müßigem Verständnis näher zu bringen. Insofern aber fraglos angezeigt ist, am Sichern, Nachprüfbaren die Erkenntnis aufzubauen, muß überall, wo sich die Einsicht auf Gehalt und Wesen richtet, das Werk durchaus im Vordergrunde stehn. Denn nirgends liegen diese dauerhafter, geprägter, faßlicher zutage als in ihm. Daß sie selbst da noch schwer genug und vielen niemals zugänglich erscheinen, mag für diese letztern Grund genug sein, statt auf der genauen Einsicht in das Werk auf Personal- und Relationserforschung das Studium der Kunstgeschichte zu begründen, vermag jedoch den Urteilenden nicht zu bewegen, ihnen Glauben zu schenken oder gar zu folgen. Vielmehr wird dieser sich gegenwärtig halten, daß der einzige rationale Zusammenhang zwischen Schaffendem und Werk in dem Zeugnis besteht, das dieses von jenem ablegt. Vom Wesen eines Menschen gibt es nicht allein Wissen nur durch seine Äußerungen, zu denen in diesem Sinn auch die Werke gehören – nein, es bestimmt sich allererst durch jene. Werke sind unableitbar wie Taten und jede Betrachtung, die im ganzen diesen Satz zugestände, um ihm im einzelnen zu widerstreben, hat den Anspruch auf Gehalt verloren.

Was derart der banalen Darstellung entgeht, ist nicht allein die Einsicht in Wert und Art der Werke, sondern gleichermaßen diejenige in das Wesen und das Leben ihres Autors. Vom Wesen des Verfassers zunächst wird nach dessen Totalität, seiner »Natur«, jede Erkenntnis durch die vernachlässigte Deutung der Werke vereitelt. Denn ist auch diese nicht imstande, von dem Wesen eine letzte und vollkommene Anschauung zu geben, welche aus Gründen sogar stets undenkbar ist, so bleibt, wo von dem Werke abgesehen wird, das Wesen vollends unergründlich. Aber auch die Einsicht in das Leben des Schaffenden verschließt sich der herkömmlichen Methode der Biographik. Klarheit über das theoretische Verhältnis von Wesen und Werk ist die Grundbedingung jeder Anschauung von seinem Leben. Für sie ist bisher so wenig geschehen, daß allgemein die psychologischen Begriffe für ihre besten Einsichtsmittel gelten, während doch nirgends so wie hier Verzicht auf jede Ahnung wahren Sachverhalts zu leisten ist, solange diese termini im Schwange gehen. So viel nämlich läßt sich behaupten, daß der Primat des Biographischen im Lebensbilde eines Schaffenden, d. h. die Darstellung des Lebens als die eines menschlichen mit jener doppelten Betonung des Entscheidenden und für den Menschen Unentscheidbaren der Sittlichkeit nur da sich fände, wo Wissen um die Unergründlichkeit des Ursprunges jedes Werk, sowohl dem Wert wie dem Gehalt nach es umgrenzend, vom letzten Sinne seines Lebens ausschließt. Denn wenn das große Werk auch nicht in dem gemeinen Dasein sich heranbildet, ja wenn es sogar Bürgschaft seiner Reinheit ist, so ist es doch zuletzt nur eines unter seinen andern Elementen. Und nur ganz fragmentarisch kann es so das Leben eines Bildners mehr dem Werden als dem Gehalte nach verdeutlichen. Die gänzliche Unsicherheit über die Bedeutung, die Werke in dem Leben eines Menschen haben können, hat dazu geführt, dem Leben Schaffender besondere Arten ihm vorbehaltenen und in ihm allein gerechtfertigten Inhalts zuzuordnen. Ein solches soll nicht von den sittlichen Maximen nur emanzipiert, nein es soll höherer Legitimität teilhaft und der Einsicht deutlicher offen sein. Was Wunder, daß für solche Meinung jeder echte Lebensinhalt, wie er auch in den Werken stets hervortritt, sehr gering wiegt. Vielleicht hat sie sich niemals deutlicher als Goethe gegenüber dargestellt.

In dieser Auffassung, das Leben Schaffender verfüge über autonome Inhalte, berührt sich die triviale Denkgewohnheit so genau mit einer sehr viel tieferen, daß die Annahme erlaubt ist, die erste sei nur eine Deformierung dieser letzten und ursprünglichen, welche jüngst wieder ans Licht trat. Wenn nämlich der herkömmlichen Anschauung Werk, Wesen und Leben gleich bestimmungslos sich vermengen, so spricht jene ausdrücklich Einheit diesen dreien zu. Sie konstruiert damit die Erscheinung des mythischen Heros. Denn im Bereich des Mythos bilden in der Tat das Wesen, Werk und Leben jene Einheit, die ihnen sonst allein im Sinn des laxen Literators zukommt. Dort ist das Wesen Dämon und das Leben Schicksal und das Werk, das nur die beiden ausprägt, lebende Gestalt. Dort hält es zugleich den Grund des Wesens in sich und den Inhalt des Lebens. Die kanonische Form des mythischen Lebens ist eben das des Heros. In ihm ist das Pragmatische zugleich symbolisch, in ihm allein mit andern Worten gleicherweise die Symbolgestalt und mit ihr der Symbolgehalt des menschlichen Lebens adäquat der Einsicht gegeben. Aber dieses menschliche Leben ist vielmehr das übermenschliche und daher nicht nur in dem Dasein der Gestalt, entscheidender vielmehr im Wesen des Gehalts vom eigentlich menschlichen unterschieden. Denn während die verborgene Symbolik dieses letzten bindend gleich sehr auf Individualem wie auf dem Menschlichen des Lebenden beruht, erreicht die offenkundige des Heroenlebens weder die Sphäre individueller Sonderart noch jene der moralischen Einzigkeit. Vom Individuum scheidet den Heros der Typus, die, wenn auch übermenschliche, Norm; von der moralischen Einzigkeit der Verantwortung die Rolle des Stellvertreters. Denn er ist nicht allein vor seinem Gott, sondern der Stellvertreter der Menschheit vor ihren Göttern. Mythischer Natur ist alle Stellvertretung im moralischen Bereich vom vaterländischen »Einer für alle« bis zu dem Opfertode des Erlösers. – Typik und Stellvertretung im Heroenleben gipfeln in dem Begriff seiner Aufgabe. Deren Gegenwart und evidente Symbolik unterscheidet das übermenschliche Leben vom menschlichen. Sie kennzeichnet Orpheus, der in den Hades steigt, nicht minder als den Herakles der zwölf Aufgaben: den mythischen Sänger wie den mythischen Helden. Für diese Symbolik fließt eine der mächtigsten Quellen aus dem Astralmythos: im übermenschlichen Typus des Erlösers vertritt der Heros die Menschheit durch sein Werk am Sternenhimmel. Ihm gelten die orphischen Urworte: sein Dämon ist es, der sonnenhaft, seine Tyche, die wechselnd wie der Mond, sein Schicksal, das unentrinnbar gleich der astralen Anagke, sogar der Eros nicht – Elpis allein weist über sie hinaus. So ist es denn kein Zufall, daß der Dichter auf die Elpis stieß, als er das menschlich Nahe in den andern Worten suchte, daß unter allen sie allein keiner Erklärung bedürftig gefunden wurde – kein Zufall aber auch, daß nicht sie, vielmehr der starre Kanon der vier übrigen das Schema für den »Goethe« Gundolfs dargeboten. Demnach ist die Methodenfrage an die Biographik weniger doktrinär, als diese ihre Deduktion vermuten ließe. Denn es ist ja in dem Buche Gundolfs versucht worden, als ein mythisches das Leben Goethes darzustellen. Und diese Auffassung erfordert die Beachtung nicht allein, weil Mythisches im Dasein dieses Mannes lebt, erfordert sie gedoppelt vielmehr bei Betrachtung eines Werkes, auf das sie seiner mythischen Momente wegen sich berufen könnte. Gelingt ihr nämlich diesen Anspruch zu erhärten, so bedeutet das, die Abhebung der Schicht, in der der Sinn jenes Romans selbständig waltet, sei unmöglich. Wo solch gesonderter Bereich nicht nachzuweisen, da kann es sich nicht um Dichtung, sondern allein um deren Vorläufer, das magische Schrifttum handeln. Daher ist jede eingehende Betrachtung eines Goetheschen Werkes, ganz besonders aber die der Wahlverwandtschaften, von der Zurückweisung dieses Versuches abhängig. Mit ihr ist zugleich die Einsicht in einen Lichtkern des erlösenden Gehalts gewiesen, der jener Einstellung wie überall auch in den Wahlverwandtschaften entgangen ist.

Der Kanon, welcher dem Leben des Halbgotts entspricht, erscheint in einer eigentümlichen Verschiebung in der Auffassung, die die Georgesche Schule vom Dichter bekundet. Ihm nämlich wird, gleich dem Heros, sein Werk als Aufgabe von ihr zugesprochen und somit sein Mandat als göttliches betrachtet. Von Gott aber kommen dem Menschen nicht Aufgaben sondern einzig Forderungen, und daher ist vor Gott kein Sonderwert dem dichterischen Leben zuzuschreiben. Wie denn übrigens der Begriff der Aufgabe auch vom Dichter aus betrachtet unangemessen ist. Dichtung im eigentlichen Sinn entsteht erst da, wo das Wort vom Banne auch der größten Aufgabe sich frei macht. Nicht von Gott steigt solche Dichtung nieder, sondern aus dem Unergründlichen der Seele empor; sie hat am tiefsten Selbst des Menschen Anteil. Weil ihre Sendung jenem Kreise unmittelbar von Gott zu stammen scheint, so wird von ihm dem Dichter nicht allein der unverletzliche, jedoch nur relative Rang in seinem Volke zugebilligt, sondern eine völlig problematische Suprematie als Mensch schlechthin und somit seinem Leben vor Gott, dem er als Übermensch gewachsen scheint. Der Dichter aber ist eine nicht etwa grad- sondern artmäßig vorläufigere Erscheinung menschlichen Wesens als der Heilige. Denn im Wesen des Dichters bestimmt sich ein Verhältnis des Individuums zur Volksgemeinschaft, in dem des Heiligen das Verhältnis des Menschen zu Gott.

Zu der heroisierenden Ansicht vom Dichter findet sich in den Betrachtungen des Kreises, wie sie Gundolfs Buch fundieren, höchst verwirrend und verhängnisvoll ein zweiter nicht geringerer Irrtum aus dem Abgrund der gedankenlosen Sprachverwirrung. Wenn auch dem der Titel eines Dichters als des Schöpfers wohl nicht angehört, so ist er doch bereits in jedem Geiste ihm verfallen, der jenen Ton des Metaphorischen darin, Gemahnung an den wahren Schöpfer, nicht vernimmt. Und in der Tat ist der Künstler weniger der Urgrund oder Schöpfer als der Ursprung oder Bildner und sicherlich sein Werk um keinen Preis sein Geschöpf, vielmehr sein Gebilde. Zwar hat auch das Gebilde Leben, nicht das Geschöpf allein. Aber was den bestimmenden Unterschied zwischen beiden begründet: nur das Leben des Geschöpfes, niemals das des Gebildeten hat Anteil, hemmungslosen Anteil an der Intention der Erlösung. Wie immer also die Gleichnisrede vom Schöpfertume eines Künstlers sprechen mag, ihre eigenste virtus, die der Ursache nämlich, vermag Schöpfung nicht an seinen Werken, sondern an Geschöpfen einzig und allein zu entfalten. Daher führt jener unbesonnene Sprachgebrauch, der an dem Worte »Schöpfer« sich erbaut, ganz von selbst dahin, vom Künstler nicht die Werke sondern das Leben für dessen eigenstes Produkt zu halten. Während aber im Leben des Heros kraft dessen völliger symbolischer Erhelltheit das völlig Gestaltete, dessen Gestalt der Kampf ist, sich darstellt, findet sich im Leben des Dichters nicht nur eine eindeutige Aufgabe so wenig wie in irgend einem menschlichen, sondern ebensowenig ein eindeutiger und klar erweisbarer Kampf. Da dennoch die Gestalt beschworen werden soll, so bietet jenseits der lebendigen im Kampf nur die erstarrende im Schrifttum sich dar. So vollendet sich ein Dogma, das das Werk, welches es zum Lesen verzauberte, durch nicht weniger verführerisches Irren als Leben wieder zum Werk erstarren läßt und das die vielberufene »Gestalt« des Dichters als einen Zwitter von Heros und Schöpfer zu fassen vermeint, an dem sich nichts mehr unterscheiden, doch von dem sich mit dem Schein des Tiefsinns alles behaupten läßt.

Das gedankenloseste Dogma des Goethekults, das blasseste Bekenntnis der Adepten: daß unter allen Goetheschen Werken das größte sein Leben sei – Gundolfs »Goethe« hat es aufgenommen. Goethes Leben wird demnach nicht von dem der Werke streng geschieden. Wie der Dichter in einem Bilde von klarer Paradoxie die Farben die Taten und Leiden des Lichts genannt hat, so macht Gundolf in einer höchst getrübten Anschauung zu solchem Licht, das letzten Endes nicht von anderer Art als seine Farben, seine Werke sein würde, das Goethesche Leben. Diese Einstellung leistet ihm zweierlei: sie entfernt jeden moralischen Begriff aus dem Gesichtskreis und erreicht zugleich, indem sie dem Heros die Gestalt, die ihm als Sieger zukommt, als Schöpfer zuspricht, die Schicht des blasphemischen Tiefsinns. So heißt es von den Wahlverwandtschaften, daß darin Goethe »Gottes gesetzliches Verfahren nachsann«. Aber das Leben des Menschen, und sei es das des Schaffenden, ist niemals das des Schöpfers. Genau so wenig läßt es sich als das des Heros, das sich selber die Gestalt gibt, deuten. In solchem Sinne kommentiert es Gundolf. Denn nicht mit der treuen Gesinnung des Biographen wird der Sachgehalt dieses Lebens auch, und gerade, um des darin Nichtverstandenen willen erfaßt, nicht in der großen Bescheidung echter Biographik als das Archiv selbst unentzifferbarer Dokumente dieses Daseins, sondern offenbar liegen sollen Sachgehalt und Wahrheitsgehalt und wie im Heroenleben einander entsprechen. Offenbar jedoch liegt der Sachgehalt des Lebens allein und sein Wahrheitsgehalt ist verborgen. Wohl lassen der einzelne Zug, die einzelne Beziehung sich aufhellen, nicht aber die Totalität, es sei denn auch sie werde nur in einer endlichen Beziehung ergriffen. Denn an sich ist sie unendlich. Daher gibt es im Bereich der Biographik weder Kommentar noch Kritik. In der Verletzung dieses Grundsatzes begegnen sich auf seltsame Weise zwei Bücher, die übrigens Antipoden der Goetheliteratur genannt werden dürften: das Werk von Gundolf und die Darstellung von Baumgartner. Wo die letztere geradenwegs die Ergründung des Wahrheitsgehalts unternimmt, ohne den Ort seines Vergrabenseins auch nur zu ahnen, und daher die kritischen Ausfälle ohne Maß häufen muß, versenkt sich Gundolf in die Welt der Sachgehalte des Goetheschen Lebens, in denen er doch nur vorgeblich dessen Wahrheitsgehalt darstellen kann. Denn menschliches Leben läßt sich nicht nach Analogie eines Kunstwerks betrachten. Gundolfs quellenkritisches Prinzip jedoch bekundet die Entschlossenheit zu solcher Entstellung grundsätzlich. Wenn durchweg in der Rangordnung der Quellen die Werke an die erste Stelle gerückt, der Brief, geschweige denn das Gespräch dahinter zurückgestellt werden, so ist diese Einstellung lediglich daraus erklärbar, daß das Leben selbst als Werk angesehen wird. Denn einzig einem solchen gegenüber besitzt der Kommentar aus seinesgleichen höhern Wert als der aus irgend welchen andern Quellen. Aber dies nur darum, weil durch den Begriff des Werkes eine eigene und streng umgrenzte Sphäre festgelegt wird, in die des Dichters Leben nicht einzudringen vermag. Wenn jene Reihenfolge fernerhin vielleicht die Trennung von ursprünglich schriftlich und anfangs mündlich Überliefertem versuchen sollte, so ist auch dieses nur der eigentlichen Geschichte Lebensfrage, indes die Biographik auch bei dem höchsten Anspruch auf Gehalt sich an die Breite eines Menschenlebens halten muß. Zwar weist am Eingang seines Buches der Verfasser das biographische Interesse von sich ab, doch soll die Würdelosigkeit, die oft der neuern Biographik eignet, es nicht vergessen machen, daß ihr ein Kanon von Begriffen zugrunde liegt, ohne den jede historische Betrachtung eines Menschen zuletzt der Gegenstandslosigkeit verfällt. Kein Wunder also, daß mit der innern Unform dieses Buchs ein formloser Typus des Dichters sich bildet, der an das Denkmal gemahnt, das Bettina entwarf und in dem die ungeheuren Formen des Verehrten ins Gestaltlose, Mannweibliche zerfließen. Diese Monumentalität ist erlogen und – in Gundolfs eigener Sprache zu reden – es zeigt sich, daß das Bild, das aus dem kraftlosen Logos hervorgeht, dem nicht so unähnlich ist, das der maßlose Eros schuf.

Nur die beharrliche Verfolgung seiner Methodik kommt gegen die chimärische Natur dieses Werkes auf. Vergebene Mühe ohne diese Waffe mit den Einzelheiten es aufzunehmen. Denn eine beinah undurchdringliche Terminologie ist deren Panzer. Es erweist sich an ihr die für alle Erkenntnis fundamentale Bedeutung im Verhältnis von Mythos und Wahrheit. Dieses Verhältnis ist das der gegenseitigen Ausschließung. Es gibt keine Wahrheit, denn es gibt keine Eindeutigkeit und also nicht einmal Irrtum im Mythos. Da es aber ebensowenig Wahrheit über ihn geben kann (denn es gibt Wahrheit nur in den Sachen, wie denn Sachlichkeit in der Wahrheit liegt) so gibt es, was den Geist des Mythos angeht, von ihm einzig und allein eine Erkenntnis. Und wo Gegenwart der Wahrheit möglich sein soll, kann sie das allein unter der Bedingung der Erkenntnis des Mythos, nämlich der Erkenntnis von seiner vernichtenden Indifferenz gegen die Wahrheit. Darum hebt in Griechenland die eigentliche Kunst, die eigentliche Philosophie – zum Unterschiede von ihrem uneigentlichen Stadium, dem theurgischen – mit dem Ausgang des Mythos an, weil die erste nicht minder und die zweite nicht mehr als die andere auf Wahrheit beruht. So unergründlich aber ist die Verwirrung, die mit der Identifizierung von Wahrheit und Mythos gestiftet wird, daß mit ihrer verborgenen Wirksamkeit diese erste Entstellung fast jeden einzelnen Satz des Gundolfschen Werkes vor allem kritischen Argwohn sicherzustellen droht. Und doch besteht die ganze Kunst des Kritikers hier in nichts anderem, als, ein zweiter Gulliver, ein einziges dieser Zwergensätzchen trotz seiner zappelnden Sophismen aufzugreifen und es in aller Ruhe zu betrachten. »Nur« in der Ehe »verneinten sich … all die Anziehungen und Abstoßungen, die sich ergeben aus der Spannung des Menschen zwischen Natur und Kultur, aus dieser seiner Doppeltheit: daß er mit seinem Blut an das Tier, mit seiner Seele an die Gottheit grenzt … Nur in der Ehe wird die schicksalhafte und triebhafte Vereinigung oder Trennung zweier Menschen … durch die Zeugung des legitimen Kindes heidnisch gesprochen ein Mysterium christlich gesprochen ein Sakrament. Die Ehe ist nicht nur ein animalischer Akt, sondern auch ein magischer, ein Zauber.« Eine Darlegung, die der blutrünstige Mystizismus des Ausdrucks allein von der Denkart einer Knallbonboneinlage unterscheidet. Wie sicher steht dagegen die Kantische Erklärung, deren strenger Hinweis auf das natürliche Moment der Ehe – Sexualität – dem Logos seines göttlichen – der Treue – nicht den Weg verlegt. Dem wahrhaft Göttlichen eignet nämlich der Logos, es begründet das Leben nicht ohne die Wahrheit, den Ritus nicht ohne die Theologie. Dagegen ist das Gemeinsame aller heidnischen Anschauung der Primat des Kultus vor der Lehre, die am sichersten darin sich heidnisch zeigt, daß sie einzig und allein Esoterik ist. Gundolfs »Goethe«, dies ungefüge Postament der eigenen Statuette, weist in jedem Sinn den Eingeweihten einer Esoterik aus, der nur aus Langmut das Bemühen der Philosophie um ein Geheimnis duldet, dessen Schlüssel er in Händen hält. Doch keine Denkart ist verhängnisvoller als die, welche selbst dasjenige, was dem Mythos zu entwachsen begonnen, verwirrend in denselben zurückbiegt, und die freilich durch die eben hiermit aufgedrungene Versenkung ins Monströse alsbald jeden Verstand gewarnt hätte, dem nicht der Aufenthalt in der Wildnis der Tropen eben recht ist, in einem Urwald, wo sich die Worte als plappernde Affen von Bombast zu Bombast schwingen, um nur den Grund nicht berühren zu müssen, der es verrät, daß sie nicht stehn können, nämlich den Logos, wo sie stehen und Rede stehn sollten. Den aber meiden sie mit soviel Anschein, weil allem, selbst erschlichenem mythischen Denken gegenüber die Frage nach der Wahrheit darin zunichte wird. Diesem nämlich verschlägt es nichts, die blinde Erdschicht bloßen Sachgehalts für den Wahrheitsgehalt in Goethes Werk zu nehmen, und statt aus einer Vorstellung wie der des Schicksals durch Erkenntnis wahrhaften Gehalt zu läutern, wird er verdorben indem Sentimentalität mit ihrer Witterung sich in jene einfühlt. So erscheint mit der erlogenen Monumentalität des Goetheschen Bildes die gefälschte Legalität seiner Erkenntnis, und die Untersuchung ihres Logos stößt mit der Einsicht in ihre methodische Gebrechlichkeit auf ihre sprachliche Anmaßung und damit ins Zentrum. Ihre Begriffe sind Namen, ihre Urteile Formeln. Denn in ihr hat gerade die Sprache, der doch sonst der ärmste Schlucker nicht völlig den Strahl ihrer ratio zu ersticken vermag, eine Finsternis, die sie allein erhellen könnte, zu verbreiten. Damit muß der letzte Glaube an die Überlegenheit dieses Werkes über die Goetheliteratur der ältern Schulen schwinden, als deren rechtmäßigen und größeren Nachfolger die eingeschüchterte Philologie nicht allein um des eigenen schlechten Gewissens sondern auch um der Unmöglichkeit willen, an ihren Stammbegriffen es zu messen, es gelten ließ. Doch der philosophischen Betrachtung entzieht auch die beinah unergründliche Verkehrung seiner Denkart ein Bestreben nicht, das selbst dann sich richten würde, wenn es nicht den verworfenen Schein des Gelingens trüge.

Wo immer eine Einsicht in Goethes Leben und Werk in Frage steht, da kann – so sichtbar Mythisches sich auch in ihnen bekunden mag – dies nicht den Erkenntnisgrund bilden. Wenn es jedoch sehr wohl im einzelnen ein Gegenstand der Betrachtung sein mag, so ist dagegen, wo es sich ums Wesen und um die Wahrheit im Werk und Leben handelt, die Einsicht in den Mythos auch in gegenständlicher Beziehung nicht die letzte. Denn in dessen Bereich repräsentiert sich vollständig weder Goethes Leben noch auch irgend eines seiner Werke. Ist dies, soweit das Leben in Frage steht, schlechthin durch seine menschliche Natur verbürgt, so lehren es die Werke im einzelnen, sofern ein Kampf, der im Leben verheimlicht ward, in deren spätesten sich bekundet. Und nur in ihnen trifft man Mythisches auch im Gehalt, nicht allein in den Stoffen an. Sie vermögen im Zusammenhange dieses Lebens wohl als gültiges Zeugnis seines letzten Ablaufs angesehen zu werden. Ihre bezeugende Kraft gilt nicht allein und nicht im tiefsten der mythischen Welt im Dasein Goethes. Es ist in ihm ein Ringen um die Lösung aus deren Umklammerung und dieses Ringen nicht weniger als das Wesen jener Welt ist in dem Goetheschen Romane bezeugt. In der ungeheuern Grunderfahrung von den mythischen Mächten, daß Versöhnung mit ihnen nicht zu gewinnen sei, es sei denn durch die Stetigkeit des Opfers, hat sich Goethe gegen dieselben aufgeworfen. War es der ständig erneuerte, in innerer Verzagtheit, doch mit eisernem Willen unternommene Versuch seines Mannesalters, jenen mythischen Ordnungen überall da sich zu untergeben, wo sie noch herrschen, ja an seinem Teil ihre Herrschaft zu festigen, wie nur immer ein Diener der Machthaber dies tut, so brach nach der letzten und schwersten Unterwerfung, zu der er sich vermochte, nach der Kapitulation in seinem mehr als dreißigjährigen Kampfe gegen die Ehe, die ihm als Sinnbild mythischer Verhaftung drohend schien, dieser Versuch zusammen und ein Jahr nach seiner Eheschließung, die in Tagen schicksalhaften Drängens sich ihm aufgenötigt hatte, begann er die Wahlverwandtschaften, mit welchen er den ständig mächtiger in seinem spätern Werk entfalteten Protest gegen jene Welt einlegte, mit der sein Mannesalter den Pakt geschlossen hatte. Die Wahlverwandtschaften sind in diesem Werk eine Wende. Es beginnt mit ihnen die letzte Reihe seiner Hervorbringungen, von deren keiner mehr er sich ganz abzulösen vermocht hat, weil bis ans Ende ihr Herzschlag in ihm lebendig blieb. So versteht sich das Ergreifende in der Tagebucheintragung von 1820, daß er die »Wahlverwandtschaften zu lesen angefangen«, so auch die sprachlose Ironie einer Szene, die Heinrich Laube überliefert: »Eine Dame äußerte gegen Goethe über die Wahlverwandtschaften: Ich kann dieses Buch durchaus nicht billigen, Herr von Goethe; es ist wirklich unmoralisch und ich empfehle es keinem Frauenzimmer. – Darauf hat Goethe eine Weile ganz ernsthaft geschwiegen und endlich mit vieler Innigkeit gesagt: Das tut mir leid, es ist doch mein bestes Buch.« Jene letzte Reihe der Werke bezeugt und begleitet die Läuterung, welche keine Befreiung mehr sein durfte. Vielleicht weil seine Jugend aus der Not des Lebens oft allzu behende Flucht ins Feld der Dichtkunst ergriffen hatte, hat das Alter in furchtbar strafender Ironie Dichtung als Gebieterin über sein Leben gestellt. Goethe beugte sein Leben unter die Ordnungen, die es zur Gelegenheit seiner Dichtungen machten. Diese moralische Bewandtnis hat es mit seiner Kontemplation der Sachgehalte im späten Alter. Die drei großen Dokumente solcher maskierten Buße wurden Wahrheit und Dichtung, der westöstliche Divan und der zweite Teil des Faust. Die Historisierung seines Lebens, wie sie Wahrheit und Dichtung zuerst, später den Tag- und Jahresheften zufiel, hatte zu bewahrheiten und zu erdichten, wie sehr dieses Leben Urphänomen eines poetisch gehaltvollen, des Lebens voller Stoffe und Gelegenheiten für »den Dichter« gewesen sei. Gelegenheit der Poesie, von welcher hier die Rede ist, ist nicht nur etwas anderes als das Erlebnis, das die neuere Konvention der dichterischen Erfindung zum Grunde legt, sondern das genaue Gegenteil davon. Was sich durch die Literaturgeschichten als die Phrase forterbt, die Goethesche Poesie sei »Gelegenheitsdichtung« gewesen, meint: Erlebnisdichtung und hat damit, was die letzten und größten Werke betrifft, das Gegenteil von der Wahrheit gesagt. Denn die Gelegenheit gibt den Gehalt und das Erlebnis hinterläßt nur ein Gefühl. Verwandt und ähnlich dem Verhältnis dieser beiden ist das der Worte Genius und Genie. Im Munde der Modernen läuft das letztere auf einen Titel hinaus, der, wie sie sich auch stellen mögen, nie sich eignen wird, das Verhältnis eines Menschen zur Kunst als ein wesentliches zu treffen. Das gelingt dem Worte Genius und die Hölderlinschen Verse verbürgen es: »Sind denn nicht dir bekannt viele Lebendigen? | Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen? | Drum, mein Genius! tritt nur | Baar ins Leben und sorge nicht! | Was geschiehet, es sei alles gelegen dir!« Genau das ist die antike Berufung des Dichters, welcher von Pindar bis Meleager, von den isthmischen Spielen bis zu einer Liebesstunde, nur verschieden hohe, als solche aber stets würdige Gelegenheiten für seinen Gesang fand, den auf Erlebnisse zu gründen ihm daher nicht beifallen konnte. So ist denn der Erlebnisbegriff nichts anderes als die Umschreibung jener auch vom sublimsten, weil immer noch gleich feigen Philisterium ersehnten Folgenlosigkeit des Gesanges, welcher, der Beziehung auf Wahrheit beraubt, die schlafende Verantwortung nicht zu wecken vermag. Goethe war im Alter tief genug in das Wesen der Poesie eingedrungen, um schauernd jede Gelegenheit des Gesanges in der Welt, die ihn umgab, zu vermissen und doch jenen Teppich des Wahren einzig beschreiten zu wollen. Spät stand er an der Schwelle der deutschen Romantik. Ihm war der Zugang zur Religion in Form irgend einer Bekehrung, der Hinwendung zu einer Gemeinschaft nicht erlaubt, wie er Hölderlin nicht erlaubt war. Sie verabscheute Goethe bei den Frühromantikern. Aber die Gesetze, denen jene in der Bekehrung und damit im Erlöschen ihres Lebens vergeblich zu genügen suchten, entfachten in Goethe, der ihnen gleichfalls sich unterwerfen mußte, die allerhöchste Flamme seines Lebens. Die Schlacken jeder Leidenschaft verbrannten in ihr, und so vermochte er im Briefwechsel bis an sein Lebensende die Liebe zu Marianne so schmerzlich nahe sich zu halten, daß mehr als ein Jahrzehnt nach jener Zeit, in welcher sich ihre Neigung erklärte, jenes vielleicht gewaltigste Gedicht des Divan entstehen konnte: »Nicht mehr auf Seidenblatt | Schreib' ich symmetrische Reime«. Und das späteste Phänomen solcher dem Leben, ja zuletzt der Lebensdauer gebietenden Dichtung war der Abschluß des Faust. Sind in der Reihe dieser Alterswerke das erste die Wahlverwandtschaften, so muß bereits in ihnen, wie dunkel darin der Mythos auch walte, eine reinere Verheißung sichtbar sein. Aber einer Betrachtung wie der Gundolfschen wird sie sich nicht erschließen. Sie so wenig wie die der übrigen Autoren gibt sich Rechenschaft von der Novelle, von den »wunderlichen Nachbarskindern«.

Die Wahlverwandtschaften selbst sind anfänglich als Novelle im Kreise der Wanderjahre geplant worden, doch drängte sie ihr Wachstum aus ihm heraus. Aber die Spuren des ursprünglichen Formgedankens haben sich trotz allem erhalten, was das Werk zum Roman werden ließ. Nur die völlige Meisterschaft Goethes, welche darin auf einem Gipfel sich zeigt, wußte es zu verhindern, daß die eingeborne novellistische Tendenz die Romanform zerbrochen hätte. Mit Gewalt erscheint der Zwiespalt gebändigt und die Einheit erreicht, indem er die Form des Romans durch die der Novelle gleichsam veredelt. Der bezwingende Kunstgriff, der dies vermochte und der sich gleich gebieterisch von seiten des Gehalts her aufdrang, liegt darin, daß der Dichter die Teilnahme des Lesers in das Zentrum des Geschehens selbst hineinzurufen verzichtet. Indem nämlich dieses der unmittelbaren Intention des Lesers so durchaus unzugänglich bleibt, wie es am deutlichsten der unvermutete Tod der Ottilie beleuchtet, verrät sich der Einfluß der Novellenform auf die des Romans und gerade in der Darstellung dieses Todes auch am ehesten ein Bruch, wenn zuletzt jenes Zentrum, das in der Novelle sich bleibend verschließt, mit verdoppelter Kraft sich bemerkbar macht. Der gleichen Formtendenz mag angehören, worauf schon R. M. Meyer hingewiesen hat, daß die Erzählung gerne Gruppen stellt. Und zwar ist deren Bildlichkeit grundsätzlich unmalerisch; sie darf plastisch, vielleicht stereoskopisch genannt werden. Auch sie erscheint novellistisch. Denn wenn der Roman wie ein Maelstrom den Leser unwiderstehlich in sein Inneres zieht, drängt die Novelle auf den Abstand hin, drängt aus ihrem Zauberkreise jedweden Lebenden hinaus. Darin sind die Wahlverwandtschaften trotz ihrer Breite novellistisch geblieben. Sie sind an Nachhaltigkeit des Ausdrucks nicht der in ihnen enthaltenen eigentlichen Novelle überlegen. In ihnen ist eine Grenzform geschaffen, und durch diese stehn sie von andern Romanen weiter entfernt als jene unter sich. Im »Meister und in den Wahlverwandtschaften wird der künstlerische Stil durchaus dadurch bestimmt, daß wir überall den Erzähler fühlen. Es fehlt hier der formal-künstlerische Realismus …, der die Ereignisse und Menschen auf sich selber stellt, so daß sie, wie von der Bühne, nur als ein unmittelbares Dasein wirken; vielmehr, sie sind wirklich eine ›Erzählung‹, die von dem dahinter stehenden, fühlbaren Erzähler getragen wird … die Goetheschen Romane laufen innerhalb der Kategorien des ›Erzählers‹ ab«. »Vorgetragen« nennt Simmel sie ein andermal. Wie immer diese Erscheinung, die ihm nicht mehr analysierbar erscheint, für den Wilhelm Meister sich erklären mag, in den Wahlverwandtschaften rührt sie daher, daß Goethe sich mit Eifersucht es vorbehält, im Lebenskreise seiner Dichtung ganz allein zu walten. Eben dergleichen Schranken gegen den Leser kennzeichnen die klassische Form der Novelle, Boccaccio gibt den seinigen einen Rahmen, Cervantes schreibt ihnen eine Vorrede. So sehr sich also in den Wahlverwandtschaften die Form des Romans selbst betont, eben diese Betonung und dieses Übermaß von Typus und Kontur verrät sie als novellistisch.

Nichts konnte den Rest von Zweideutigkeit der ihr verbleibt unscheinbarer machen, als die Einfügung einer Novelle, die, je mehr das Hauptwerk gegen sie als gegen ein reines Vorbild ihrer Art sich abhob, desto ähnlicher es einem eigentlichen Roman erscheinen lassen mußte. Darauf beruht die Bedeutung, welche für die Komposition den »wunderlichen Nachbarskindern« eignet, die als eine Musternovelle, selbst wo sich die Betrachtung auf die Form beschränkt, zu gelten haben. Auch hat nicht minder, ja gewissermaßen mehr noch als den Roman, Goethe sie als exemplarisch hinstellen wollen. Denn obwohl des Ereignisses, von dem sie berichtet, im Roman selbst als eines wirklichen gedacht wird, ist die Erzählung dennoch als Novelle bezeichnet. Sie soll als »Novelle« ebenso entschieden wie das Hauptwerk als »Ein Roman« gelten. Aufs deutlichste tritt an ihr die gedachte Gesetzmäßigkeit ihrer Form, die Unberührbarkeit des Zentrums, will sagen das Geheimnis als ein Wesenszug hervor. Denn Geheimnis ist in ihr die Katastrophe, als das lebendige Prinzip der Erzählung in die Mitte versetzt, während im Roman ihre Bedeutung, als die des abschließenden Geschehens phänomenal bleibt. Die belebende Kraft dieser Katastrophe ist, wiewohl so manches im Roman ihr entspricht, so schwer zu ergründen, daß für die ungeleitete Betrachtung die Novelle nicht weniger selbständig, doch auch kaum minder rätselhaft erscheint als »Die pilgernde Törin«. Und doch waltet in dieser Novelle das helle Licht. Alles steht, scharf umrissen, von Anfang an auf der Spitze. Es ist der Tag der Entscheidung, der in den dämmerhaften Hades des Romans hereinscheint. So ist denn die Novelle prosaischer als der Roman. In einer Prosa höhern Grades tritt sie ihm entgegen. Dem entspricht die echte Anonymität in ihren Gestalten und die halbe, unentschiedene in denen des Romans.

Während im Leben der letztern eine Zurückgezogenheit waltet, die die verbürgte Freiheit ihres Tuns vollendet, treten die Gestalten der Novelle von allen Seiten eng umschränkt von ihrer Mitwelt, ihren Angehörigen, auf. Ja wenn Ottilie dort auf das Drängen des Geliebten mit dem väterlichen Medaillon sich sogar der Erinnerung an die Heimat entäußert, um ganz der Liebe geweiht zu sein, so fühlen sich hier selbst die Vereinten von dem elterlichen Segen nicht unabhängig. Dies Wenige bezeichnet die Paare im tiefsten. Denn gewiß ist, daß die Liebenden aus der Bindung des Elternhauses mündig heraustreten, aber nicht minder, daß sie dessen innerliche Macht wandeln, indem, sollte selbst ein jeder für sich darinnen verharren, der andere ihn mit seiner Liebe darüber hinausträgt. Gibt es anders überhaupt für Liebende ein Zeichen, so dies, daß für einander nicht allein der Abgrund des Geschlechts, sondern auch jener der Familie sich geschlossen hat. Damit solche liebende Anschauung giltig sei, darf sie dem Anblick, gar dem Wissen von Eltern nicht schwachmütig sich entziehen, wie es Eduard gegen Ottilie tut. Die Kraft der Liebenden triumphiert darin, daß sie sogar die volle Gegenwart der Eltern beim Geliebten überblendet. Wie sehr sie fähig sind, in ihrer Strahlung aus allen Bindungen einander zu lösen, das ist in der Novelle durch das Bild der Gewänder gesagt, in denen die Kinder von ihren Eltern kaum mehr erkannt werden. Nicht zu diesen allein, auch zu der übrigen Mitwelt treten die Liebenden der Novelle in ein Verhältnis. Und während für die Gestalten des Romans die Unabhängigkeit nur umso strenger die zeitliche und örtliche Verfallenheit ans Schicksal besiegelt, birgt es den andern die unschätzbarste Gewähr, daß mit dem Höhepunkt der eigenen Not den Fahrtgenossen die Gefahr droht zu scheitern. Es spricht daraus, daß selbst das Äußerste die beiden nicht aus dem Kreis der Ihrigen ausstößt, indes die formvollendete Lebensart der Romanfiguren nichts dawider vermag, daß, bis das Opfer fällt, ein jeder Augenblick sie unerbittlicher aus der Gemeinschaft der Friedlichen ausschließt. Ihren Frieden erkaufen die Liebenden in der Novelle nicht durch das Opfer. Daß der Todessprung des Mädchens jene Meinung nicht hat, ist aufs zarteste und genaueste vom Dichter bedeutet. Denn nur dies ist die geheime Intention, aus der sie den Kranz dem Knaben zuwirft: es auszusprechen, daß sie nicht »in Schönheit sterben«, im Tode nicht wie Geopferte bekränzt sein will. Der Knabe, wie er nur fürs Steuern Augen hat, bezeugt von seiner Seite, daß er nicht, sei's wissend oder ahnungslos, an dem Vollzug, als wäre er ein Opfer, seinen Teil hat. Weil diese Menschen nicht um einer falsch erfaßten Freiheit willen alles wagen, fällt unter ihnen kein Opfer, sondern in ihnen die Entscheidung. In der Tat ist Freiheit so deutlich aus des Jünglings rettendem Entschluß entfernt wie Schicksal. Das chimärische Freiheitsstreben ist es, das über die Gestalten des Romans das Schicksal heraufbeschwört. Die Liebenden in der Novelle stehen jenseits von beiden und ihre mutige Entschließung genügt, ein Schicksal zu zerreißen, das sich über ihnen ballen, und eine Freiheit zu durchschauen, die sie in das Nichts der Wahl herabziehn wollte. Dies ist in den Sekunden der Entscheidung der Sinn ihres Handelns. Beide tauchen hinab in den lebendigen Strom, dessen segensreiche Gewalt nicht minder groß in diesem Geschehen erscheint, als die todbringende Macht der stehenden Gewässer im andern. Durch eine Episode des letzteren erhellt auch die befremdliche Vermummung in die vorgefundenen Hochzeitskleider sich völlig. Dort nämlich nennt Nanny das für Ottilie bereitliegende Totenhemd ihr Brautgewand. So ist es denn wohl erlaubt, demgemäß den seltsamen Zug der Novelle auszulegen und – auch ohne vielleicht auffindbare mythische Analogien – die Brautgewänder dieser Liebenden als umgewandelte und nunmehr todgefeite Sterbekleider zu erkennen. Die gänzliche Geborgenheit des Daseins, das zuletzt sich ihnen eröffnet, ist auch sonst bezeichnet. Nicht allein indem die Gewandung sie den Freunden verbirgt, sondern vor allem durch das große Bild des am Orte ihrer Vereinigung landenden Schiffes wird das Gefühl erregt, daß sie kein Schicksal mehr haben und da stehen, wohin die andern einmal gelangen sollen.

Mit alledem darf als unumstößlich gewiß betrachtet werden, daß im Bau der Wahlverwandtschaften dieser Novelle eine beherrschende Bedeutung zukommt. Wenn auch erst in dem vollen Licht der Haupterzählung all ihre Einzelheiten sich erschließen, bekunden die genannten unverkennbar: den mythischen Motiven des Romans entsprechen jene der Novelle als Motive der Erlösung. Also darf, wenn im Roman das Mythische als Thesis angesprochen wird, in der Novelle die Antithesis gesehen werden. Hierauf deutet ihr Titel. »Wunderlich« nämlich müssen jene Nachbarskinder am meisten den Romangestalten scheinen, die sich denn auch mit tiefverletztem Gefühl von ihnen abwenden. Eine Verletzung, die Goethe, der geheimen und vielleicht in vielem sogar ihm verborgenen Bewandtnis der Novelle gemäß, auf äußerliche Weise motivierte, ohne ihr damit die innere Bedeutung zu nehmen. Während schwächer und stummer, doch in voller Lebensgröße jene Gestalten im Blick des Lesers verharren, verschwinden die Vereinten der Novelle unter dem Bogen einer letzten rhetorischen Frage gleichsam in der unendlich fernen Perspektive. Sollte nicht in der Bereitschaft zum Entfernen und Verschwinden Seligkeit, die Seligkeit im Kleinen angedeutet sein, die Goethe später zum einzigen Motiv der »Neuen Melusine« gemacht hat?


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