Carl Albrecht Bernoulli
Ull
Carl Albrecht Bernoulli

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Drittes Kapitel

1

In der Haupthalle wurde eine neue, wunderbar gebaute Maschine ausgestellt. Ein langgestrecktes stählernes Tier mit hundert Schenkeln, Gelenken, Klappen, Zehen. Arbeiter in ihren blauen, abgenutzten, unsauberen Überzugskleidern hatten sie soeben ausgepackt und zusammengesetzt. Zwischen ihnen, wie immer peinlich angezogen, stand Karl Godwein und schaute sich alles genau an. Bei Tisch hatte der Vater davon erzählt. Da erbat er sich die Erlaubnis, dabei sein zu dürfen – und auch Ull zu benachrichtigen.

Der Primaner Karl Godwein beschäftigte sich nebenher mit technischen Liebhabereien. Entweder er entwarf Baupläne oder bastelte an Maschinen herum. Die Architektur liebte er leidenschaftlich, allem rein Mechanischen mißtraute er mit einem verschwiegenen Hasse, als ob in einer Maschine der Teufel stecke. Eines Tages verfiel er plötzlich darauf, eine alte Schreibmaschine, auf der er sich versuchte, bis auf das letzte Glied anseinanderzunehmen, so daß mehr als hundert Bestandteile nebeneinander lagen. Dann begann er sie wieder zusammenzusetzen. Er schwitzte Blut, aber es gelang ihm. Es ließ sich wieder darauf anschlagen wie zuvor, kein Mangel meldete sich. »Hab ich dich durchschaut, du Luder,« zischte er vor sich 81 her. »Mich kriegt ihr nicht dran, ihr leblosen Laster.« Er litt wie unter einem Verfolgungswahn am ›Prinzip‹ der Maschine – daß auf mechanische Weise vom toten Werkzeug geleistet werden konnte, was einst der Mensch auf seelischem Wege gefunden hatte.

Nun war auch Ull da. Beide bestaunten das eherne Wunder. Nach den erforderlichen Vorbereitungen gelangte das Tier zu seinem vorgetäuschten Leben. Es zischte, schnatterte, trommelte, schlug aus, griff um sich. »Diese Maschine ersetzt Ihnen zwanzig Arbeiter,« beteuerte der beaufsichtigende Vertreter der liefernden Firma im Brustton, »diese Maschine bedient ein einziger Techniker bequem, sie leistet den Ertrag von fünfzig Menschenhänden in einem Zehntel der nämlichen Zeit.«

Ull und der junge Godwein umkreisten beständig das gewaltige Gefüge, musterten seine Bestandteile, spähten unter die stoßenden Kolben, zwischen die sich hebenden und senkenden eisernen Fangarme. Ihre Mienen wurden verdrossen. Einige Bedienstete fingen ihre Blicke auf und verstanden sie. Unwirsch und dumpf ging ein Schweigen auch durch die Reihen der zuschauenden Arbeiter. Das fiel dem Vertreter des Lieferanten – wie das schöne deutsche Wort lautet – auf. »Gewiß, jetzt findet die Abnahme statt, falls etwas an der Maschine nicht in Ordnung befunden werden sollte – ich stehe zur Verfügung.«

Ull murmelte ab und zu etwas gegen Karl. Als er die Blicke auf sich gerichtet sah, erhob er die Stimme wie in einer Ansprache. »Die deutschen Werkstätten sind sechs-, ja siebenmal zu groß für den Markt, er kann diese Leistung nicht aufnehmen. Alle Betriebe sind überrationalisiert. Es wird einfach ins Blaue hinaus gebaut und konstruiert, im blinden Vertrauen auf unsere berühmte deutsche Tüchtigkeit und ihre selbstverständliche Ertragskraft. Uns täuscht die Scheinblüte. Die guten Geister sind böse Gespenster geworden. Die erbarmungslose Wirklichkeit verlangt ihr Recht. Ein Mensch steht am Hebel der Maschine, sie ist gut geölt, dafür haben jene 82 fünfzig Arbeiter nichts zu essen, sie macht sie überflüssig. Ihr baut euch die Maschinen selbst zuleid, baut euch die eigenen Guillotinen – eine wahrhaft teuflische Zwickmühle. Andere Völker geraten ins Unglück, weil sie zu wenig arbeiten. Unser Unglück ist der zu viele Fleiß, die zu große Tüchtigkeit. Wir haben alles, was sein muß, in Überfülle – Gehirne, Arme, Rohstoffe, eine Landwirtschaft, die uns alle nähren kann, ohne ein Salzkorn von draußen, – haben die ersten und besten Fabriken der Welt – und gehen zugrunde, weil wir tüchtiger sind als alle andern.« Ull brach in ein schrilles Gelächter aus, nahm sich aber gleich zusammen: »Nun, vielleicht machen wir überdies noch ein bißchen zu viel unnötigen Lärm mit unsern Vorzügen und fallen auch damit den neidischen Nachbarn auf die Nerven.«

Ein spürbares Erstaunen rundherum riß ihn aus dem Selbstgespräch. Auch Karl machte verwunderte Augen. Ull sprach vor sich hin, als stände er vor allen Industriekapitänen und Reichsgenerälen und den streitbaren Reihen der vereinigten Ordnungsparteien. »Erlauben Sie mal, Sie wollen uns wohl beleidigen, da hört schon Verschiedenes auf,« schrie der übergebende Ingenieur, »sind Sie wirklich für die Leitung zuständig? Ich muß das ja melden.«

Im Erwachen aus seiner Anwandlung, die ihn überfiel, entdeckte Ull, daß die Arbeiter an seinen Lippen hingen. Auf ihren Gesichtern malte sich glimmende Leidenschaft. Er mußte natürlich abblasen. »Entschuldigen Sie,« verbeugte er sich leicht gegen den Herrn, der nochmals hervorhob, Witze seien hier durchaus unangebracht. »Sie haben recht, das gehört nicht hierher, ich habe laut gedacht. Wer übernimmt die Maschine – wer wird sie bedienen?«

Da trat ein etwa zweiundzwanzigjähriger Kerl vor sie hin. Er hatte immer schon Hand angelegt und war flink mit dabei gewesen. Einer aus der Schicht, wie sie alle waren, kräftig im schlanken, geschmeidigen Gliederbau, mit den schwellenden zwei Muskelköpfen am Oberarm. Glatte gebräunte Haut. Ein gut geschnittenes, 83 schönes Männergesicht, noch frei von Falten. Aber mit einem verbotenen Ausdruck drin. Die Augen wußten nicht – guckten sie, guckten sie nicht . . .

»Ihr Name?« heischte Ull.

»Röde,« knurrte der Arbeiter.

Es ereignete sich das nachmittags drei Uhr.

 

2

Nebenan schallte das Walzwerk. Am wichtigsten war zur Zeit die dritte Walze. Dort hantierten die stärksten Männer. Der Ofen glühte und stand offen. Rote Glut legte sich auf die Gestalten dort. Manche kamen, sahen zu, gingen wieder. Die, welche beständig herumstanden, hatten den Oberkörper nackt. Ihre Haut glänzte vor Schweiß.

Der Oberbetriebsmeister Fritz Schultze kam an die dritte Walze und ging wieder von ihr weg. Er hatte das in diesem Nachmittage schon viermal getan. Und hatte nichts bemerkt. Und jetzt kam er zum letztenmal vor dem Feierabend – und wäre heute nicht mehr gekommen. Und nun sah er es. »Möglich ist es ja,« sagte er sich nach einem leichten Ruck seiner Schultermuskeln. »Ich will einmal annehmen, er sei es nicht. Ich kann mich erkundigen. Wozu haben wir unsere gute Ordnung?«

So ließ er sich vom Meister dieser Schicht Bericht geben: »Ist das Oskar Keueler? Sie wissen, daß er aus dem Zuchthaus kommt. Er saß einige Jahre ab. Wegen Mordes. Wie kommt er hierher?« – Als Schichtarbeiter hatte ihn der Walzmeister ohne Oberkontrolle einstellen können. Das war erst vor wenigen Stunden, am Nachmittag geschehen.

Schultze gab seinem Unmut Ausdruck, das Mißtrauen behielt er für sich. Das war das erstemal, daß er über einen Neuling mehrere Tage hatte im Ungewissen gehalten werden können. Der vor ihm stehende Meister an den Walzen galt für einen Kommunisten, und 84 zwar für einen ihrer Treiber, wenn auch hintenherum. Es konnte ein abgekartetes Spiel vorliegen mit versteckter Spitze gegen ihn. »Holen Sie mir den Mann sofort her!« An der Art, wie der andere bei diesem Befehl stutzte, ehe er ihn ausführte, schloß Schultze auf die Richtigkeit seines Verdachts: ein gegen ihn ausgeheckter Vorstoß!

Keueler hatte sich die blaue Jacke über den nackten Oberkörper gestreift. Sein erhitztes Gesicht sah verwittert drein, ohne Furcht oder Scham, doch auch nicht ausgesprochen frech. Ein natürlicher Ausdruck vor dem Selbstverständlichen, das man erwartet hat.

Auch Schultze behielt kaltes Blut, befand sich in voller Ruhe, fast überwog die Neugier, zu erfahren, wie das um den anderen jetzt stand. »Warum tauchen Sie gerade in meiner Nähe wieder auf? Sie können sich doch ausrechnen, daß ich Bedenken trage, Sie um mich zu behalten.«

»Weiß ich selbst nicht, Herr Schultze, das ist eben so,« erwiderte Keueler. Schultze verspürte nicht einmal Unbehagen, als er die Stimme wieder vernahm.

»Ist gut. In einer Viertelstunde wechselt die Schicht. Fragen Sie nach mir, ich bin auf dem Hofe.«

Die Begegnung fand in der Halle statt, beim grellsten Lampenlicht. Weißbeleuchtet, mit harten Schatten, zeichneten sich die beiden kräftigen Gestalten auf dem Boden und an der getünchten Wand ab.

Schultze trat auf die Schwelle, um ihm zuzusehen, beobachtete ihn noch von hinten an der Arbeit. Entblößten Oberkörpers packte er mit der stoßenden Stange und den Hebeln, um sich der in Weißglut zischenden Eisenklötze zu erwehren, mächtig zu, sie auf die Roste zu schieben, die ratterten, bis die Walzen ächzend anfaßten, einklemmten, plattdrückten! Und den hatte er damals anzufassen gewagt, hatte ihn überwältigt! Nein, Schultze konnte nicht finden, daß ihn das unvermutete Zusammentreffen ängstigte. Er wartete im Hof auf Keueler. Unter den dunklen Gestalten hob sich ihm der rote Oskar von dazumal leicht kenntlich ab.

85 Er trat heran, die Mütze in der Hand. »Bedecken Sie sich nur,« grüßte Schultze. »Aus bloßem Zufall sind Sie nicht eingetreten. Es geschah mit Absicht. Sie haben es auf mich abgesehen.«

Keueler drückte sich die Mütze tief ins Gesicht, sah zu Boden, antwortete nicht. Alsbald schritt Schultze vor ihm her. »Kommen Sie ein paar Schritte mit.« Er trat von der Bogenlampe weg, die überflutete beide weiß mit ihrem Licht. Sie kamen an der Pförtnerei vorüber, aus dem Mauerbezirk des Werkes traten sie in die Finsternis hinaus. Schultze schlug einen ziemlich unwegsamen Richtpfad ein.

»Sie hassen mich,« fing Schultze an, »darum haben Sie da Arbeit genommen, wo ich erreichbar bin.«

Er hörte neben sich sagen. »Ich hasse nur noch Sachen und Zustände, keine Personen mehr. Ich habe mir das angewöhnt und hatte ja Zeit dazu.«

»Kann man das?« Der glaubte vermutlich selbst nicht, was er sagte!

»Ich kann es, Herr Schultze. Ich bin doch unter die Ausnahmen geraten – Sie waren ja dabei.«

»Eben, Keueler – Sie hassen zum Beispiel den Zustand der Freiheitsberaubung. Wie könnten Sie sich da von dem Gedanken unabhängig machen, daß Sie durch mich in diesen Zustand versetzt worden sind? Da liegt, glaube ich, die Täuschung, wenn Sie in Abrede stellen, der Haß auf mich tue nichts dazu.«

»Das war natürlich längere Zeit der Fall.« Keuelers Stimme klang in völliger Ruhe. »Ich war gegen Sie erbittert. Es war gut für Sie, daß ich hinter den Stäben saß. Schultze ist schuld, tobte es lange genug – schuld, daß du im Gefängnis sitzest! Dann aber kam ich dahinter – es waren weniger Sie, als die Ansichten schuld, die Sie mit unzähligen andern teilen. Mich haben wirklich nicht so sehr Ihre Hände, als diese Ansichten ins Zuchthaus gebracht.«

Schultze, im Gehen durch die Nacht: »Hören Sie mal, Keueler 86 – Sie dürfen nicht auskneifen. Sie sind hierhergekommen, um sich an mir zu rächen.«

»Natürlich will ich mich rächen. Aber doch nicht an Ihnen! Das würde wenig abtragen. Ich hasse Sie? Gewiß tue ich das. Aber nur den braven Mann in Ihnen, verstehen Sie mich jetzt! Das Unkraut tilgt man nicht, wenn man eine Wurzel ausreißt. Gesetzt den Fall, ich hätte die Absicht, Sie zu töten, und es gelänge mir, was wäre damit geholfen? Brave Leute gäbe es auf der Welt nach wie vor genau soviel wie Flöhe auf einem Hund, auch wenn man einen davon gefangen und auf dem Fingernagel geknackt hat. Ich habe es nicht auf Sie abgesehen. Das Ziel ist nicht groß genug. Mein Ehrgeiz nicht damit befriedigt. Es darf keine braven Leute mehr geben auf der Welt – überhaupt keine mehr.«

Schultze lief sich bei seinem starken Leibe immer warm. Jetzt schwitzte er kalten Schweiß den Rücken hinauf. »Na, wie war's denn im Zuchthaus?« Ungeschickt und taktlos gefragt – er mußte sich Luft schaffen!

Keueler lachte. »Da kommt man bei mir vor die richtige Schmiede. Ich weiß, wie's im Zuchthaus war. Wenn Sie erfahren wollen, wie's im Himmel aussieht, so werden Sie aus naheliegenden Gründen niemanden finden, der schon dort war. Für den Menschen, der am Leben ist, für den gibt es nur ein Jenseits – und das heißt: Zuchthaus. Gegen ein altes Schellenwerk gehalten, geht es an, wie's heute betrieben wird. Die Jenseitigkeit ist dieselbe geblieben. Nur brave Leute bauen Zuchthäuser. Mit den Zuchthäusern wird das Jenseits auf Erden verschwinden. Dann ist es um die Religion geschehen. Nur brave Leute haben Religion. Sie sehen, ich singe das Lied vom braven Mann – aber ich singe es auf meine Weise. Das macht Ihnen wohl Magenbrennen, Herr Stadtverordneter, was ich da verzapfe – was?«

»Mein Gott,« stöhnte Schultze und verstellte sich nicht länger. »Wie kommen Sie dazu? Die Lektüre wird beaufsichtigt in den 87 Strafanstalten, soviel ich weiß. Und in der Bibel steht so was wohl nicht zu lesen. Das stammt doch nicht etwa aus Ihnen selber?«

Der Schwerarbeiter stolperte über eine Scholle und fluchte im Wanken; dann klang es zischend: »Was meinen Sie denn? Entweder man geht vor die Hunde hinter dem Fenstergitter und stirbt dem Leben ab, oder man lernt denken. Mit dem, was ich mir dort drinnen ausgedacht habe, kommt kein Professor mit. Das können Sie sich nicht vorstellen – und doch, so ist es.«

Jetzt fand der Betriebsleiter endlich den Einwand. »Kein Wunder, Keueler, deshalb trieb es Sie in meine Nähe. Sie meinten es gut mit mir. Sie wollten mich belehren. Ich soll wohl von Ihnen richtig denken lernen?«

Der ehemalige Strafgefangene hatte zu viel am unmittelbaren Umgang mit Menschen eingebüßt, um sich nicht von einer solchen Bemerkung geschmeichelt zu fühlen. In der Einzelhaft stirbt zuerst der Sinn für Ironie ab. Er beteuerte lebhaft, damit sei der Beweggrund zum Eintritt in das Walzwerk aufgedeckt. Er hätte über Herrn Schultze immer anständig gedacht. »Bis dann eben – ja, nun!« –

Aus dem Mörder von dazumal war ein Weltverbesserer geworden! So hakte Schultze noch einmal kräftig ein: »Warum haben Sie damals die Lina umgebracht? Vor Gericht wollten Sie nicht mit der Sprache herausrücken.«

»Jetzt läßt sich aber der Herr Betriebsmeister auslachen. Weil sie ein Luder war und mit einem andern schlief, als sie mir schöntat. Darum! Da kennt sich ein Mann erst richtig aus. Da hört dann das Bravsein auf. Ist Ihnen nicht passiert? Kann Ihnen immer noch blühen – Sie sind ein stämmiger, großer Mann. Würden Sie so eine leben lassen? Das glaub ich nicht. Das könnten Sie gar nicht.«

Schultze wurde wieder kopfscheu. Der Richtpfad führte aus der Zone der Finsternis hinaus, der Werkmeister näherte sich seiner Wohnung. Taghell war das Innere des Transformatorenhauses 88 erhellt, und auch außen erleuchteten einige turmhoch schwebende Weißlichtlampen die Gegend weitherum. Keueler hatte wieder seinen richtigen roten Bart.

Sie mündeten in den Fahrweg, dessen Schleife der Richtpfad abkürzte. Keueler stand still.

Schultze behielt den Hut auf dem Kopf, als jener die Mütze zog, reichte die Hand nicht; nur die wippende Haltung wie vor einem Vorgesetzten blieb nicht gänzlich aus.

 

3

Er bewohnte im Stromerzeugungshause eine sauber gehaltene Wohnung von vier Zimmern. Fast zu jeder Zeit des Tages kam Sonne herein. Witwer ohne Kinder, eine Schwester besorgte ihm den Haushalt.

Auch heute hielt Fräulein Schultze Kaffee bereit und Kuchen dazu und deutete aber gleich auf den Stapel Zeitungen. Die Dohm nahm den gewohnten Eckplatz im Sofa der guten Stube ein und schickte sich an, ein wenig mit dem Rotstift und der Schere zu lesen. Ihr geübter Scharfblick stöberte nach kurzem Überfliegen ihre Ausschnitte auf. Sauber losgetrennt und nach roten Anfangsbuchstaben eingeordnet – man nennt das rubrizieren, weil das ›rot‹ heißt, erklärte sie der Frida! –, kam Häuschen neben Häuschen zu liegen. Für seine Mappen. Er war ein eifriger und pflichtbewußter Parteischriftwart. Frida Schultze ging ihr dabei zur Hand und kam den erhaltenen Anweisungen nach. An früheren Abenden hatte sie sich auf diese Beschäftigung eingeübt. Sie klapperte drauflos mit der Papierschere und nahm es auch mit dem erwünschten Stillschweigen nicht allzu genau. Ja, auf Ordnung halte allerdings der Bruder wie keiner. Der Wachtmeister, der er gewesen sei, gehe ihm immer noch nach. Daß er einmal ein Beinkleid wechsle, ohne es auf dem Stuhl straff in die Bügelfalte zu legen, wenn nicht gerade ein Hosenstrecker bereithänge, das gäbe es nicht.

89 Hilde Dohms Blicke wanderten nach der Kuckucksuhr, die hatte heute schon wacker geviertelt und vollgeschlagen. Endlich hörte man den Schlüssel im Schlosse drehen.

Schon an dem Abendgruß, an Stimme und Gesichtsausdruck wurde ihr klar, heute gelte es auf der Hut zu sein.

»Wenn sie wirklich prüde wäre und nicht nur so täte, so würde sie ja gar nicht in meine Wohnung kommen.« Mehr als je stand das dem Eintretenden auf dem Gesicht geschrieben.

»Nun, was gibt's denn Neues, Fräulein Dohm,« schmunzelte er, »haben Sie sich schon durch den Berg gebuddelt? Es reißt nicht ab mit der Druckerschwärze.« Er setzte sich. Flink gingen die Zettelchen von Hand zu Hand, manchmal berührten sich ihre Finger.

Frida brachte behutsam eine bedeckte Schüssel herein, durch die Ritze des Deckelrandes quoll Dampf. »Was sagt ihr nun? Warmes Abendbrot! Das paßt euch wohl grade?« Aber ihre Fürsorge wurde nicht recht gewürdigt. So was! Wann waren die wohl endlich stille? Anstatt dankbar zu sein, daß man in einer warmen, aufgeräumten Stube saß und etwas zu beißen hatte! Das alte Mädchen sah noch eine Zeitlang zu. Sie war gar nicht vorhanden für die beiden da. Sie langten nicht einmal ordentlich zu. So hatte sie umsonst Feuer gemacht und gekocht? »Ich gehe gleich ein bißchen nach oben, bis man mich wieder wünscht!« Sie verschwand in der Türe, ohne mehr als ein flüchtiges Kopfnicken des Bruders einzuheimsen.

Die beiden saßen sich allein gegenüber, waren mittendrin in der Hitze der Auseinandersetzung. Fräulein Dohm nahm ihn aufs Korn. Er ging ordentlich mit. Sie hatte sich warm geredet.

Schultze war restlos begeistert. Er klatschte knallend in seine harten Hände. »Das ist ja großartig, wie das Frauenzimmer redet! Sie rabiate Hexe! Ein Staatsminister kann dem Reichstag so etwas nicht klarer darlegen. Wer hat Ihnen das nur alles so tüchtig hinter die Ohren gesteckt?«

90 »Herr Generaldirektor,« sagte sie, ohne zu zögern, und errötete nicht.

Schultze tat einen tiefen Atemzug. Er erhob sich vom Tisch. Es litt ihn nicht mehr in sitzender Stellung.

»Amen!« Er kannte die Grenzen seiner Gutmütigkeit. »Das Geständnis genügt mir. Entfernen wir uns von dem hohen Herrn. Wir sind neben ihm auch noch möglich.« Eine Pause entstand. Und sie dachte bei sich: »Er ist ein braver Mann, ich will gleich ein bißchen Geschirr zusammenlegen.« Sie trug es sogar nach der Küche hin, und er wehrte ihr erst, als kaum noch etwas auf dem Tische stand. Dann trat sie vor sein wohlbesetztes Büchergestell. Ihr im Rücken ging er auf und ab, nachdem er sich die Kurzpfeife gestopft und um Erlaubnis gebeten hatte, sie anzünden zu dürfen.

Der Tabaksqualm mischte sich ihrem Atem bei. Sie tat einen bewußten Zug. Vom Kraut ließ sich auf den Mann schließen. Arbeiterknaster war das nicht. Es roch wohlschmeckend und beizte bei aller Milde etwas die Schleimhaut.

Er blieb stehen. Sie schloß die Augen, die mit den Bücherrücken beschäftigt gewesen waren. Geschah etwas? Hatte sie irgendeine Freiheit von ihm zu gewärtigen? Und was tat sie dann? Wenn zum Beispiel sein Arm gerundet sich ihr um den Nacken legte als ein sanftes Joch? Ihre Augenlider klappten hoch, sie gewahrte, daß sie vor Goethes Gesammelten Werken stand. Und jetzt blieb er wirklich stehen, dicht hinter ihr.

»Fräulein Dohm,« hörte sie ihn sagen, »nehmen Sie es nicht übel, muß es denn immer der Generaldirektor sein, wenn Sie Rat brauchen? Lieben Sie nicht auch Abwechslung?«

»Warum sagen Sie das?« fragte sie, ohne sich umzuwenden. Und bei sich selber dachte sie, als sie das Blut am Halse klopfen spürte: »Nur immer langsam mit den jungen Pferden!«

»Warum? fragen Sie auch noch,« tönte es ihr am Ohre, aber aus einer auch jetzt nicht zudringlichen Nähe. »Ich habe ein eigenes 91 Warum Ihnen vorzutragen! Es lautet: Warum immer der?«

Jetzt – spürte sie, jetzt muß er eine Antwort haben, daß er auf der Stelle verstummt und all sein Widerstand ihm gespitzt in den Boden hineinfährt! Sonst ist es um dich geschehen, Hilde Dohm! Auf dem einen Leinwandrücken der Goetheausgabe flammte ›Faust‹. Sie riß den Band heraus und fingerte emsig die Seiten um. »Hier steht's drin, warum. Sie sollen Ihre Antwort bekommen schwarz auf weiß, wie Sie's wünschen und verdienen.« Und einhaltend, den Band gegen's Gesicht hebend: »Passen Sie auf – hören Sie zu –

Wir nehmen das nicht so genau,
Mit tausend Schritten macht's die Frau –
Doch wie sie auch sich eilen kann:
Mit einem Sprunge macht's der Mann.

Nein – nein – bin noch nicht zu Ende – was denken Sie – Geduld! Weiß genau, wo's steht – hab's schon, hier – hören Sie auch das –

Du lieber Gott, was so ein Mann
Nicht alles, alles denken kann –
Beschämt nur steh ich vor ihm da
Und sag zu allen Sachen ja –«

Sie klappte zu und hielt das Buch verdutzt in der Hand. Ihr war, als wäre ihr ein Faden, den sie zwischen ihren Fingern festklemmte, abgerissen, und sie hielte das Endchen in der Hand und wüßte nicht weiter. Und so dachte sie nur noch: Jetzt bin ich verloren. Da kann er gerade anknüpfen. Er wird mir einen Denkzettel verabfolgen.

Aber Herr Schultze knüpfte gar nicht an. Es gab auch keinen Denkzettel. Er schlug den Blick zu Boden. Und sagte nichts und dachte sich nichts. Nur sie dachte eben noch: Gottlob, daß er mir noch diese Freiheit läßt – und so stelzte sie denn auf ihrem Absatz, der ihr den modischen Stöckelschuh in ganz respektabler Höhe 92 damenhaft abschloß, rechtsum und schob den ›Faust‹ wieder in die Lücke zurück.

Er hatte sie herumschwenken sehn, lustig und seidendünn, wie ein Fähnchen um seine aufrechte Stange. Nein, Fritz Schultze wußte, was er an Hochachtung dem weiblichen Wunder schuldig war wenn es zwei Schritte entfernt vor ihm stand. Er paffte wie besessen drauflos. Nun nahm er die Pfeife aus dem Munde und schickte sich an, ihr Feuer mit dem Stopfer zu löschen. »Wollen wir nicht ein Fenster öffnen? Entschuldigen Sie, ich habe ja einen gräßlichen Qualm verführt. Das ist unverzeihlich in Gegenwart einer Dame. Sie werden das eine Woche lang nicht aus den Kleidern bringen. Hätten Sie es mir lieber verboten.« – »Keineswegs,« bestritt sie. Tabakrauch atmen, passe ihr, und frische Luft wirke angenehm. Sie zog wohlig die schmalen Schultern hoch und erschauerte in der nächtlichen Kühle. Rasch klärte sich das Zimmer, und Schultze schloß die Fenster wieder.

Wie es nun mit einem kühlen Trunk wäre, da sie dem Abendbrot gar nicht so recht habe zusprechen mögen? Er hätte ein sehr schönes, doppelt eingebrautes Bier kalt stehen.

»Ach nein,« dankte sie, »lieber nicht. Mir wird nur heißer.«

»Auf mich ist auch schon einmal ein Gedicht gemacht worden,« begann er alsdann und legte ein Album auf den Tisch. Es zeigte an der aufgeschlagenen Stelle eine leicht kenntliche, unbeholfene Karikatur seiner Person. Darunter las sie die Verse und las sie auf seinen Wunsch laut:

»Fritz Schultze, wie er geht und steht,
Ein braver ist's und deutscher Mann.
So oft er aus der Jacke geht,
Nachher zieht er sie wieder an.«

Sie freute sich – meinte, es sei da ein typischer Zug an ihm festgehalten, seine Gutmütigkeit hinter einer energischen 93 Männlichkeit! Er entzog ihr das Album, als sie blättern wollte. Es sei nichts mehr drin, würdig ihr unter die Augen zu kommen!

Sie war enttäuscht. Er konnte sich sogar beherrschen! Sie kannte ihn bisher immer etwas auf Drähtchen gezogen – er ging an der Leine – wippte leicht – oder stand stramm. Und so, wie er sich jetzt gab, war erst recht nichts mit ihm anzufangen. Ein verfehlter Abend! Stimmung wollte nicht aufkommen. Sie müsse gehen – es sei ja schon viel später, als sie dachte. Und als das peinliche Schweigen immer mehr um sich griff, da geschah es – der schwere feste Mann brach vor ihr in die Knie. Der Boden schütterte und ließ das Geschirr und die Scheiben klirren. Mit den schwach erhobenen Händen schlug er scheu die Luft.

»Aber um Himmels willen, Herr Schultze – was soll denn das? Kommen Sie zu Verstande! Stehen Sie doch auf! Begleiten Sie mich ein paar Schritte durch die Luft – das hat wirklich keinen Sinn.« Sie verließ die Stube, um sich draußen anzukleiden. Alsbald kam Schultze auf die Füße, wischte sich die Kniegegend mit der Handfläche rein und stand im Flur, um ihr in den Mantel zu helfen.

 

Auf der Straße kamen sie in ein gleichgültiges Gespräch. Das sollte nun vorüber sein, was eben gewesen war. Man sprach nicht mehr davon.

Plötzlich nahmen sie merkwürdige Anzeichen im Arbeiterquartier wahr. Sollten dort Unruhen ausgebrochen sein?

Dann meinten sie, es habe in der Winternacht gewetterleuchtet. Sie hielten an, drehten sich um, stellten fest, daß es sich um bestimmte und beabsichtigte Lichtzeichen handelte. »Sehen Sie dort jenen Punkt, der regelmäßig aufzuckt – ein Stern ist es nicht – dafür liegt er zu tief. Auch flimmert er nicht, sondern erlischt und ist wieder da, und zwar in bestimmten Abständen – sehen Sie, jetzt weg – eins, zwei, drei, vier, fünf – wieder da – eins, zwei, drei, 94 vier, fünf – weg – wie telegraphiert. Es muß oben auf dem Schlot sitzen. Das werden wir bald haben! Nur müssen wir näher gehn.« Sie nahmen sofort den zurückgelegten Weg in der entgegengesetzten Richtung auf.

»Untergehakt oder nicht?« fragte Schultze aus Ritterlichkeit. Bei Nacht mußte eine Dame geführt werden!

»Dann meinetwegen untergehakt.« Er griff sachte nach ihrem linken Arm; der bog sich ihm in einer leichten Rundung entgegen. »Man muß zusammenhalten,« gab sie zu. »Gefahr im Verzug. Männlicher Schutz erwünscht! Können es verabredete Signale sein?«

Er zählte noch einmal die Leuchtunterbrechungen ab, wiederum stimmte es. Bis fünf dunkel, bis fünf hell. Die Geheimpolizei war dem schon lange auf der Spur, aber diesmal konnte es irgendwie geklappt haben. »Also los, wenn's dem gnädigen Fräulein beliebt!« Er schlug Stechschritt an, daß sie darob in ein verdreifachtes Hüpfen verfiel. »So etwas macht einen doch munter.« Die Scheu war verschwunden, die sie noch eben an der Berührung ihrer Körper verhinderte.

Hörte man nicht eine Sirene heulen? – nur fern, aber eine Sirene? Um diese Zeit! Genau in der abgerissenen Stoßweise, die für das Sturmzeichen gilt! Da mußte ein Wächter überrumpelt worden sein, wenn ein Jungbursche die Schrillpfeife bedienen kann.

»Die Kerle sind von Sinnen. Nun, länger wie zwei Stunden treiben sie es nicht. Der Putsch ist bald zusammengeschlagen. Dazu genügt unsere Stallwache – brauchen nicht einmal die Sipo anzurufen!« Die Dohm hatte aber doch den Eindruck, er sei mächtig erregt und besorgt. Er strauchelte im Gehen, sprach seine Sätze nicht zu Ende.

Der Gegenstoß der Ordnung setzte wohl schon ein, denn die Glühlampe zuckte nicht mehr oben am Schlotrande. Auch kreuzten sie Fußgänger, die ihnen zuriefen, Revolution sei ausgebrochen.

»Hat sich was mit Revolution,« murrte Schultze und sichtete 95 rastlos in der Luft herum. Die Sirene gab neue, jetzt deutliche Stöße. Es klang schauerlich. Die Bannmeile des Vororts ging in die Stadt über. Auf einer der ersten Straßen fuhr ein Löschzug der Feuerwehr rasselnd und läutend im rechtwinkligen Ausbruch ihnen voraus.

»Also alarmiert ist schon! Daß mir nichts gemeldet wurde – noch schöner!« Er drückte die Knie durch – dieselben Knie, auf denen er soeben vor ihr auf dem Fußboden gelegen hatte! – Forsch lief er vor und schlug dröhnend die Sohlen am Asphalt auf. Das Mädchen hing sich an ihn, sein eiserner Arm hob und trug sie. Unerschrocken ins gemeinsame Schicksal! Irgendwie ging es ja um Gonßen AG. in diesen nächsten paar Stunden. Da gehörte sie doch mit dazu, sollte man denken. Hilde blieb nicht dahinten!

 

4

Wenige Stunden zuvor hatte Karl Godwein, der Primaner, in der Mitte der Stadt die Straßenbahn bestiegen. Er ging auch im Winter barhaupt durchs Freie. An den Händen trug er neue braunrote Lederhandschuhe und über den Anzug die helle, kurze Windjacke.

Er fuhr nach Hause. Die Stunden mit Ull waren gegenwärtig die Lichtpunkte. Die letzten Wochen fürs Abiturium brachen an; bald war der ›Zimt‹ überstanden.

Die Bahn saß voller Leute. In der vordersten Ecke, ihm schräg gegenüber, kauerte eine Frau, der armseligen Kleidung nach zu schließen eine Bettlerin. Sie sah nicht alt aus. Manchmal hob sich ihr bleiches Gesicht ihm zu. Dann war es, als suchte ihr Blick den seinigen und als lächelte ihr Mund. Wo konnte er diese Gesichtszüge schon gesehen haben? Er wurde nicht klug, wo er sie unterbringen sollte, blickte weg und stieg bei der nächsten Haltestelle aus.

Da schlüpfte das Weiblein ihm nach und stellte sich unter der nächsten Straßenlampe vor ihn hin. Oli Fay! Entweder hatte er sie mit ihren leichten luftigen Tanzkostümen in Erinnerung oder in kostbaren, orientalisch oder griechisch zugeschnittenen 96 Prunkgewändern. Er musterte ihre Lumpen. Salonproletarierin? Seine hellen Augen spähten schärfer: die berühmte Künstlerin, als Hallenweib verkleidet!

»Sie kehren heim, Karl – in Ihre warme Stube und werden warm zu Abend speisen?«

»Das ist allerdings meine Absicht. Ich hoffe, es ist geheizt. Wollen Sie mitkommen und sich zu uns setzen – Mama und Papa würden Spaß haben, Sie in diesem Aufzuge zu sehen. Höchstens ein Familiengast noch.«

»Ich kenne diesen Hausgast, der immer mit dazugehört. Nun – das sind alles abgebrühte alte Leute – von denen läßt sich keine Sinnesänderung mehr erwarten.« Mit dem Tritt einer Katze trat sie dicht an ihn heran. Ihr Gesicht schrumpfte ein, die schwarzen Kugelaugen leuchteten. Heiser hauchte sie: »Eine weiche Seele wie Sie, Sie müssen die Not des Volkes kennenlernen, es hungert. Ich will sie Ihnen zeigen. Noch diesen Abend. Die Jugend soll wissen, wo sie hingehört.«

Karl begriff blitzschnell. Er stotterte ihr Ausflüchte ins Gesicht und bemühte sich, verlegen und hilflos auszusehen. Gottergeben stand er vor ihr und suchte mit seinem Blick den Boden.

Sie ging ihm aufs Eis, verfiel in plumpen Vorwurf: »Noch so jung und schon feige.« Die klare Stirn färbte sich ihm rot; doch klang es höflich:

»Gnädige Frau – ich bin minderjährig – sättige mich an der Futterkrippe des Vaters. Wie kann ich zu einem Parteigänger seiner Feinde werden wollen! Sie wissen doch, die Arbeiter hassen meinen Vater.« Da kreischte sie: »Ah! Wer das Blut der armen Leute aussaugt!«

War sie betrunken? Roch sie nach Schnaps? Nein! Die Verwahrlosung ihres Äußeren war nur vorgespiegelt, und so schauspielerte sie auch diese Beschimpfungen. Aber sein Vater war im Spiel. Das machte ihn schlagfertig.

97 »Sie beschimpfen Papa – Ihren Wohltäter, Ihren hilfsbereiten Freund, er hat Ihnen durchgeholfen, sonst lägen Sie mit der Schule längst auf der Straße.« Der Jüngling legte sich in seine Schultern zurück. »Ich weiche nicht von der Stelle. Verlassen Sie mich. Pfui!«

»Vatersöhnchen also?« bedauerte sie in langgezogenem Mitleidstone. »Ihre Schwester saß an derselben Krippe. Sie ist nicht so mutlos – hat sich aufgerafft – wird bald ein großes Weib werden. Reden Sie einmal mit ihr über den Generaldirektor Godwein. Da tönt es anders.«

Die Tänzerin verfiel ihrer üblichen Zerstreuung. Die Augen erloschen, der Kopf drehte sich zur Seite. Soeben kehrte der Tramwagen auf seiner Stadtfahrt zurück und hielt. Sie schlüpfte auf die andere Warteinsel und sprang auf das Trittbrett, er sah durch die Scheiben nur noch ihren Umriß und wie sie sich auf dem Eckplatz niederkauerte. Ein durchgehender Wagen – er führte in halbstündiger Fahrt mitten ins Arbeiterquartier.

An der Haustür verfehlte er, in tiefes Nachdenken versunken, wiederholt das Schlüsselloch, bis er ärgerlich mit dem Fuße stampfte.

Langsam ging er den Treppenflur entlang. Sein Mut hob sich. In dieses schöne Haus gehörte er hinein, hier war er ältester Sohn. Er hatte ein Dach über dem Kopf! Und was für eines! Er stieg in den Mansardenstock empor, zündete in seinem Büchergang alle Lampen an, empfing den Eindruck einer Galerie. Er legte sich auf den Diwan und wartete auf Ull. Leichte Tritte kamen an die Tür. Das war Ull nicht.

 

Die Mutter trat bei ihm ein.

Er sah in ihrer Hand die Bronzeschale. Die barg, wußte er, das abgeschnittene Haar seiner Schwester Ottilie.

»Bleib so stehen!« rief er ihr zu. »Wie schön du bist, Mutter!«

Er beschattete seine Augen mit der Handfläche. »Und du machst dir's bequem, wie mir scheint,« rief sie in 98 Mutterlaune. Wohlerzogen erhob er sich in sitzende Stellung. Aus seinen Augen leuchtete die Freude an ihrer Wohlgestalt, er zog ein liebes, ihr ergebenes Gesicht.

Frau Elisabeth neigte leicht ihren Kopf. Prüfend beobachtete sie ihn. Es entging ihr nicht sein kauerndes, geducktes Benehmen. Als ob er einen Krampf niederwürgte! »Was ist dir?«

Da schwieg er nicht länger. »Nicht, daß du dir wunder was denkst.« Die lauernde Hexe, die aus dem Wagen schlüpfte und wieder in den Wagen zurücksprang, stellte er ihr greifbar vor Augen!

»Dieses Schandweib!« stieß sie hervor, »das ist sie ganz! Die Beute von hinten her anpacken – und schon zappelt sie ihr in den Klauen! Was hat sie überhaupt verloren in der Stadt? Ist ihrer Schule wieder einmal davongelaufen. Zu Studienzwecken? Das kennt man! Überläßt die Mädels ihrem Schicksal, so oft sie die Laune dazu anwandelt. Was will sie im Arbeiterviertel, wenn nicht deinem Vater Verlegenheit bereiten? Lassen wir sie! Wir sind dieser Person noch lange gewachsen.« Der Ärger über die Übergriffe einer Fremden in ihr Familienbereich wich dem Wohlgefallen und dem Anblick des Sohnes.

»Bist gut gekleidet, Karl! Wirklich, man kann dich gehen lassen. Du achtest auf dich.« Sie trat an ihn heran, prüfte mit den Fingerspitzen das Tuch seines Anzugs. Die Jugend gefiel sich neuerdings darin, gehäuselte oder geschlängelte Muster auf dem Leibe zu tragen, etwa einen braungrauen, mit bunten Fäden durchzogenen Stoff, man sucht ihn eher an einem Teppich als an einem Kleide. Ein schlanker Körper sah dann in solcher Hülle mehr eingewickelt als angezogen aus. Das Gewebe rötlicher und grünlicher Garnwolle auf grauem Unterton ähnelte einer Schlangen- oder Fischhaut, märchenhaft, geradezu phantastisch!

»Siehst aus wie geschuppt – es krabbelt an dir wie Gewürm!«

Aber, um alles in der Welt, sie mußte jetzt schleunig hinunter, sich zurechtmachen, der Geheimrat kam! 99

 

5

Karl verfiel spinnenden Gedanken. Eigene Einfälle oder halbbewußte Körpergefühle rannen mit Erinnerungen an die Außenwelt formlos zusammen. In diesem wohlig bänglichen Durcheinander plätscherte sein dämmernder Geist wie in einem lauen Bade. Die letzte Wahrnehmung, der Anblick seiner Mutter, verlor die festen Ränder bereits. Ungeheure Empfindlichkeit überkam ihn, entwaffnete alles, was Wille und beharrendes Vermögen an ihm war. Er fühlte sich weder krank noch niedergeschlagen noch schwach – atmete ruhig, ihm fehlte nichts. Er war wunschlos. Bis an den spülenden Grenzstrich um ihn herum, gleich Seewasser um das vorspringende Ufer. Es klopfte.

»Guten Abend, Karl – ich möchte Ihnen meinen Hölderlin schenken,« sagte Heinrich. Er zog ein schmales Bändchen aus der äußeren Rocktasche, ehe er sich setzte. »Es hat einen gewissen Reiz, sich zu sagen, auch dieses Buch hat schon etwas mitgemacht, dessen sich nicht jeder Mensch rühmen darf. Es ist bei einem richtigen Unglück mit dabei gewesen. Vielleicht hat es mir damals den Tod ferngehalten – wer weiß! Man legt sich dergleichen Bewahrungen hinterher gern zurecht. Hölderlin als Schutzengel, nun ja! Hier!« Und sich von seinem Sitz wieder halbwegs erhebend, reichte er das Bändchen Karl weiter.

Dieser machte Augen wie ein Fünfjähriger unter dem Weihnachtsbaum. »Aber Sie sind zu liebenswürdig!« Zaghaft kam es heraus.

Unverzüglich blätterte er in dem Geschenk. »Und Sie wissen nicht mehr, was Sie gerade lasen, als das Unglück sich ereignete?«

»Doch,« rief Heinrich, »denken Sie, Karl, ich weiß es noch. Soll ich? Wollen Sie die Strophe hören?« Sein schwebender Sprechton hielt sich auf der einmal angeschlagenen Tonhöhe, langsam und feierlich:

»Furchtlos bleibt aber, so er es muß, der Mann
Einsam vor Gott, es schützet die Einfalt ihn, 100
Und keiner Waffen braucht's und keiner
Listen, so lange, bis Gottes Fehl hilft.«

»Wie schön! Wie wundervoll!« würgte es aus Karl. Tränen standen nahe. Heinrich sah sie unter den Wimpern schimmern. Er ließ ihn langsam zu sich kommen.

Karl dachte: Soll ich's ihm sagen? Doch, ich sag's. Besser, er weiß es. Als er sein Sprechvermögen wieder in der Gewalt hatte, begann er: »Wie war eigentlich die Mirjam Lanz damals – erinnern Sie sich ihrer? Immer Seite an Seite mit Ottilie, nicht wahr?« Er fragte in einem Tone, als läge ihm daran, Ulls Meinung über Mirjam zu erfahren. Dieser kam zu keiner eigentlichen Erinnerung. Ihn umfing damals ausschließlich das Bild Ottiliens.

Diese Andeutung genügte Karl: »Ja, sie hat schwarze Haare, Ottilie braune. Mirjam ist mir zum Schicksal geworden. Ich habe an sie meine Unberührtheit verloren – ich kann sagen, sie hat sie mir geraubt. Durch sie wurde ich wissend. Was heißt wissend? Ich habe eine Spannung gegen die andere getauscht. Das dumpfe, unbestimmte Suchen von früher war wertvoller als diese halbwache Neugier, immer noch mehr zu erfahren, als man nun weiß. Ich sehe, Sie wundern sich über meine Art, mich auszudrücken. Ich habe über alles viel nachgedacht, um es loszuwerden. Ich wollte wieder in den früheren Zustand hinein. Aber das ist ja eben nicht möglich. Man kann da nicht zurück. Das Rad läßt sich nicht mehr andersherum drehen. Ich habe also das Weib geschmeckt. Ich habe bei Mirjam geschlafen. Nur bei ihr, noch bei keiner andern, nein. Aber bei ihr schon einige Male. Und ich werde ihr wohl wieder anheimfallen. Doch nicht mehr für lange. Vielleicht nachher noch einmal ein anderes Verhältnis. Und dann heiraten. Das wird der Lauf der Dinge sein bei mir. Sie wissen es nun. Darum bin ich immer leicht traurig – und doch wieder nicht unzufrieden, ich möchte sagen, ich bin gesättigt – ich habe es nun eben erfahren. Aber es ist etwas von mir weggewischt. Vielleicht war es doch zu früh. 101 Man sollte Zwanzig sei. Oder?« Er machte eine Pause, dann beschleunigte sich seine Beredsamkeit. »Jetzt, wo es dem Frühling entgegengeht, taucht sich mir die Welt in Hoffnung, ohne bestimmte Wünsche. Ich werde meinen Weg gehen. Und wo ich auch gehen mag – namentlich aber im Gang durch die Natur, wird sich in mir etwas lösen. Es wird anders sein, anders noch als letztes Frühjahr. Es wird nicht mehr so dumpf sein. Ich glaube auch, ich werde irgendwie meine eingebüßte Jungfräulichkeit wieder zurückgewinnen. Sie wird mir von außen her zukommen, aus der Natur, aus dem Gang der Welt, aus jeder Teilnahme. Wie das sein wird, das weiß ich natürlich nicht! Das läßt sich nicht vorhersagen! Aber mir ahnt, ich habe irgendwie vom Leben Güte zu erwarten. Was machen Sie nur für ein Gesicht? Ich weiß, ich rede einher wie ein Greis – wie ein zahnloser Schwätzer – aber das ist nun nicht anders. Da macht man sich dann eben Gedanken, um darüber wegzukommen. So sagen Sie doch etwas zu mir! Machen Sie um Gottes willen nicht immer ein solches Gesicht, Sie Studienrat! Ich habe Sie einen Blick tun lassen, wie es um mich steht.«

Ull wollte etwas sagen, aber er brachte kein Wort über die Lippen. Er war verlegen. Er wußte nicht, wie lange er vor sich hinsann!

»Herr Ull, Herr Ull!« Die Stimme klang überhell. »Ich muß Sie um etwas bitten – Sie sind vielleicht erstaunt. Es geht nicht anders, ich muß es tun –« Und nach hörbaren Atemzügen ermattet: »Herr Heinrich, geben Sie mir einen Kuß!«

Ull erhob sich rasch, stand auf den Füßen vor der Stuhlmuschel, sein Zögling sah zu ihm empor. Wieder war der Eulenspiegel in ihm aufgerufen. Einen Kuß geben, weil ein minderjähriger Junge das so wollte? Gestern erst hatte er auf dieselbe Weise einen Kuß eingeheimst, ebenfalls mir nichts, dir nichts. Von einer Frau – und hatte doch der Dohm gar nichts Derartiges nachgefragt! Er sollte seine Lippen, die das rechte Wort nicht fanden, die also schuld waren, 102 daß solch ein artiger kleiner Unsinn stattfand, niedersenken auf eine pfirsichzarte Knabenwange, über die noch niemals ein Schermesser gekommen war! Der Spaß ließ sich hören.

Aber aus Karls Augen, diesen blanken, eisgrauen Augen der Godweins, leuchtete das Licht wie in einem Heiligtum. Sein Gesicht verlor alles Verlangen, alle Anstrengung. Im Mundwinkel löste sich stille Zärtlichkeit – scheu, zutraulich! Zugleich glitt der Knabe vom Rande seines Sessels, an dessen Kante er nur noch geklebt hatte, lautlos vor ihm auf die Knie – ein Liebender.

Heinrich trat Freude in die Augen. Er neigte sich leicht dem Schüler entgegen, ergriff dessen aufstrebende Arme, hob ihn sanft zu sich empor und drückte einen zarten Kuß auf seine linke Wange. In diesem Augenblick gab das Herz der beiden jungen Leute unhörbar nur einen Schlag. Eine warme Blutwelle sandte ein Gefühl von Wohlbehagen durch die Körper. Kein unreiner Gedanke erregte sie. Es steigerte nur die Empfänglichkeit des einen für den anderen. Der gütige Kuß öffnete ihnen besser als jedes wörtliche Gelübde die Freundschaft. Ein tiefes Schweigen senkte sich in den Raum. Sie vermieden das erste Wort, das den stummen Bann der Weihe aufheben mußte.

Nach einer Weile dankte Karl für den empfangenen Kuß. »Aus Not bat ich Sie darum. Es ist eine abscheuliche Sitte aufgekommen zwischen manchen meiner Mitschüler. Ich mag nicht davon sprechen. Heute lesen alle alles. Und da dachte ich, wenn mich Heinrich Ull küssen wollte?«

Ull zog die Brauen hoch. »Zwischen uns geht das stiller vor sich. Wir schneiden uns nicht die Adern auf – trinken uns nicht die Blutsbrüderschaft aus dem entblößten Arm. Aber es wird sich schon weisen, daß wir einander treu sind. Wir brauchen uns fürs erste nicht einmal ›Du‹ zu sagen, um vor Ihren Eltern nicht aufzufallen. Denn wie oft verzischt im Überschwang die Glut! Ist es Ihnen recht so, Karl?« Einen Augenblick senkte sich ernst und tief Blick 103 in Blick. Dann erhoben sie sich und gingen im Büchergange auf und nieder.

Heinrich wurde einer Bibel ansichtig, griff sie sich herunter. Die Geschichte vom Tode des Königs Saul tat es ihm von Jugend auf an. Er las Karl das Klagelied Davids auf den gefallenen Königssohn vor: »Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan! – Deine Liebe zu mir war süßer als Frauenliebe.« Er stieß die Bibel in ihre Standlücke zurück. Und entdeckte die Nische darüber, in der Frau Elisabeth eine Stunde früher die antike Bronzeschale gestellt hatte. Er erkannte sie sofort, schaute Karl fragend an.

»Die Haare meiner Schwester liegen noch darin. Was meinen Sie dazu? Im Sommer, wenn die Fenster offenstehn, da werden die Vögel auf den alten Bäumen rings ums Haus herum das gute Baumaterial entdecken – Vogelnester aus Mädchenhaar! Arger Kitsch, ich weiß es. Und die Rosse von Mars-la-Tour – Sie sehen sie täglich bei meiner Großmutter hängen – ebenso arger Kitsch! Wer bessert's?«

Sie waren hoffnungslos vernünftige Jünglinge inmitten der heutigen Jugend! Das stellten sie fest unter Lachen und Seufzen. Dann wandten sie sich einer Ode des alten Tempeldichters Pindar zu. Sie hatten sich das für heute vorgenommen.

 

6

Frau Elisabeth war einmal von einer hortreichen Amerikanerin gefragt worden, wie oft sie während eines Tages die Ringe wechsle. Drüben sei es bei den vornehmen Damen Mode, so etwa nach jeder Tasse an den Seitentisch zu treten und sich die Finger mit Juwelen frisch zu bestecken, damit der Gast die Güte des Hauses nicht unterschätze. Sonderbare Prahlerei! Sie nahm sich aber doch vor, heute abend die Wahl mit Überlegung zu treffen.

Ein dunkles Abendkleid, dazu rote Steine. Nichts an ihr schimmerte weiß oder auch nur hell, als was an Hals und Armen frei 104 lag. Die Last ihres nachgewachsenen rotbraunen Haares bändigten Kämme mit Kanten aus Platin. Sie mußte das Lobhudeln ihrer Kammerzofe ertragen. Das Mädchen war aber in der Arbeit so tüchtig, daß sie die Schwätzerin um sich litt. Die Jungfer nahm den Frisiermantel zurück: »Gnädige Frau sind heute göttlich schön.« »Sagen Sie so etwas nicht, Elise,« wehrte sie, »göttlich schöne Frauen kommen nur in den ganz schlechten Romanen vor.«

Als sie in ihrem Wohnraum den Gast erwartete, trug der Diener einen großen Meißener Napf herein mit einer Garbe dunkelroter Rosen. Ein vorwurfsvoller Seitenblick auf sein Geschenk grüßte Gonßen: »Jedesmal beschämen Sie uns!« Sie sah, trotz der Selbsteinladung im kleinsten Kreise trug er sich groß. Seine Hemdenbrust war mit je einem Smaragd geknöpft, den umrahmten kleine Perlen. Godwein erschien im gestreiften Beinkleid, es fiel gut in die Falten. Sie genoß gewählte Umgebung, Gatte und Hausfreund – und erzählte die Zumutung der Oli Fay. »Sie blendet euch alle! Ein Schandweib! Ein Schandweib!« Der Geheimrat ließ sich nicht beirren: »Im Eckplatz der Straßenbahn – o ich sehe sie da sitzen – kauernd, eingesunken, nach nichts ausschauend, wie das erste beste Volksweib. Fahl, vergrämt, sorgenvoll – für jeden, der sie nicht kennt! Geht mir – ich weiß, wie sie ist.« Von Höflichkeit erfüllt gegen verehrte Menschen, bot er ihr, als sie sich beim Eintritt des Dieners erhob, um zu Tische zu gehen, in vollkommener Haltung den Arm.

An der Tafel wurde über den Besuch der Herren von der Reichswehr im Geschäft gesprochen. Die Hausfrau kannte den General, er war in seiner frühen Laufbahn ein Regimentskamerad ihres Vaters gewesen und hatte in ihrem elterlichen Hanse verkehrt. Sie war elektrisiert – Gonßen sah es. Früher herrschte das Heer über das Volk – die Ansichten des königlichen Offizierkorps waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Sie brachte es immer noch nicht über sich, dem Wandel der Zeit entsprechend, an Stelle der Armee 105 die Industrie zu setzen. »Blut kann sich wohl Geld heranholen und den Reichtum sich zur Auffrischung dienen lassen, aber Geld kann niemals zu Blut werden. Es ist ausgeschlossen, daß Plutokratie die Aristokratie ersetzt. Tüchtigkeit ist nicht auch schon Adel. Nein, sie ist das Gegenteil von Adel, ganz gewiß. Dem Tüchtigen freie Bahn – heißt für mich soviel als: Hinweg mit jeder Höchstbegabung! Die Tüchtigkeit hat uns die Proleten gebracht – da könnt ihr mir sagen, was ihr wollt.« Und rief noch hinterher: »Ich will nicht umsonst im Tattersall groß geworden sein. Mir ist von Kind auf der Unterschied zwischen Vollblut und Halbblut geläufig. Er gilt nicht nur für den Stall.« Sie spürte, wie sie die ganze Weile über in der kühlen Glut des geheimrätlichen Blickes lag. Dem Enkel eines klugen, vom Glück begünstigten Hammer- und Hufschmieds sagte sie nichts Neues. Ruhig grüßte ihn ihr Blick, einige gute Sekunden hielt er es aus und senkte dann den seinen in müder Ergebenheit.

»Weißt du, Elisabeth, wenn du auch lange von den Quitzows abstammst, ich finde deine Sprache unerhört,« griff Godwein zu. Das rasche Einvernehmen zwischen Gast und Frau entging ihm nicht. Dieses Einverständnis verstimmte ihn jedesmal, so oft zwischen ihnen die älteren Beziehungen erwachten. Der nie völlig erloschene Funke von einst begann dann leise zu knistern: »Lassen wir's gut sein,« beschwichtigte er, »ich werde nach wie vor mit allen Kräften für euch sorgen.« Vor dem Aussprechen des ›euch‹ hielt er zögernd den Atem an. So klang dieses Wort leicht überbetont und dadurch etwas anzüglich. Nicht das werktätige Volk, wie die Proleten schrien, ließ die bürgerliche und gar erst die adlige Gesellschaft leben, wohl nur die paar wenigen gaben Arbeit und verstanden zu verkaufen.

Der Diener goß die letzte Marke der Weinfolge ein. Frau Godwein erhob das Glas. »Ich halte es mit Ihnen,« nickte sie Gonßen zu. Der rote Trank war am Rhein gewachsen. Vor zwölf Jahren hatte hier am Tische ein Minister denselben Tropfen gekostet, als der Ausbruch der Revolution die letzten Vertreter des bürgerlichen 106 Regiments über Bord wischte. Daran dachten sie jetzt wieder, da sie alle drei Zeugen der ausbrechenden Melancholie des damaligen Regierungsmitgliedes gewesen waren. »Ein Land, ein Volk, das einen solchen Wein erzeugt, kann nicht untergehen,« hatte der erschrockene Herr gestammelt und in die Neige des schräggehaltenen Bechers gestarrt. Der Rheinwein als vergnügliche Begründung der nationalen Widerstandskraft! Man hatte glücklicherweise nicht erfolglos noch zu anderen Kraftquellen gegriffen.

Als Gonßen nach aufgehobener Tafel befragt wurde, wo er den Kaffee zu trinken wünsche, entschied er sich für den Salon der Dame. Ein riesiger Lampenschirm streute unter einem rotgeblümten Holzbogen gedämpftes Licht, das andere versank am Rande des Scheinkegels im Halbschatten. Die Unterhaltung wurde fast nur noch vom Gast und der Dame bestritten. Godwein war schweigsam, doch hörte er mit Aufmerksamkeit hin.

So, als der Geheimrat sich zur Herrenmode äußerte, auf die Elisabeth zu sprechen kam: »Die Art und Weise, mich anzuziehen, macht es mir möglich, in meinem Äußern nach Vollkommenheit zu trachten, meinem innern Leben blieb sie stets versagt. Die Mode nötigt uns wie ein launischer Wettergott zu der einen oder andern Körperhülle. Es ist kaum nur Eitelkeit im Spiel. Ich putze mich nicht nur, um den Damen zu gefallen. Es ist wohl selbstverständlich, daß man an seinem Anzug nichts verabsäumt, – das leidenschaftliche Mitmachen der Mode kann nur den wirklich reizen, der weiter nichts besitzt als seinen geehrten Kadaver. Und es versteht sich, die Mittel besitzt, sich um seine Hülle zu kümmern!« Elisabeth sprach dann von den modernen krausen Tuchen. Ihr Karl trage solche. »Ja, das sind die Vogelaugen oder auch die Fischgräten, wie man's nennt,« bestätigte der Geheimrat.

Da trat der Diener mit dem tragbaren Sprechapparat ein. Godwein zog die Stirn in Falten und erhob sich. Er wollte in seinem Zimmer sprechen. »Bis nachher,« grüßte er und verneigte sich leicht. 107 Sein Blick ruhte auf dem belichteten Ausschnitt des sonst dunkeln Raumes. Seinen Freund, seine Frau – bewußt verließ er sie.

Gonßen scheuchte die Stille, ehe sie zu drücken begann, mit einer freien Aussprache über seinen Geschäftsfreund. Zielstrebigkeit war gar nicht Godweins Stärke. Er konnte an Lappalien Zeit und Fleiß vergeuden, erkannte und gestand einen Fehlgriff als erster. Nein, als Willensmensch kam Alfred Godwein eigentlich nicht in Betracht. Die bewußte, unbeirrbare Berechnung, die zum Willen gehört, war ihm gar nicht so sehr eigen, wie man es von einem erfolgreichen Manne in seiner Stellung sonst annimmt. »Beständige Bereitschaft – das ist's!« so schloß Gonßen etwas befangen, weil seine Zuhörerin auffallend einsilbig wurde.

Erschreckt fuhr sie auf. Die Uhr schlug wieder eine Viertelstunde. Wo blieb er? Sie klingelte. Der Diener säumte. Sie schellte nochmals. Gonßen ging nach der Tür und öffnete sie. Jakob kam, völlig verstört.

 

Inzwischen hatte sich folgendes begeben. Der Generaldirektor war nach zwei Minuten aus seiner Arbeitsstube getreten und hatte Jakob befohlen, ihm rasch beim Anlegen alter Kleider behilflich zu sein.

Solche lagen immer schon in einer abseitigen Schublade, in gebügeltem Zustande, bereit. Der Herr Generaldirektor habe auch nach seinem Rasierzeug verlangt und sich in unglaublich kurzer Zeit, gleichsam mit zwei Zügen, den Schnurrbart von der Oberlippe weggeschabt, so daß er sozusagen unkenntlich aussah, auch für seine Angehörigen. Er habe dann noch aus einem Schranke auf den ersten Griff von einem hinteren Nagel einen alten Überzieher abgehängt und sogleich angezogen, und eine alte, durchgetragene graue Mütze vom Schaft genommen und sie sich tief in die Stirn gezogen.

Stotternd, fassungslos erzählte Jakob noch, der Herr Generaldirektor habe ihm darauf befohlen, unter strenger Androhung, daß 108 ihn Ungehorsam um seine Stelle bringen werde, frühestens eine Viertelstunde nach seinem Verschwinden vom Vorgefallenen Bericht zu erstatten. Endlich habe er sich noch genau erkundigt, wo sein lange nicht mehr benütztes Fahrrad stehe – und wo das Motorrad. Ob die Reifen am Kraftfahrzeug nachgesehen, die Laternen und Schellen für die Nacht in Ordnung und ob Benzin nachgefüllt sei.

Vor dem Hause erschallte Motorgeknatter, man vernahm Kurbel und Auspuff und das abstreichende Geräusch der erfolgten Wegfahrt. Gleichzeitig kamen Ull und Karl aus dem Obergeschoß. Sie hatten das Licht im Raum so abgedämpft, daß nur die Seiten der aufgeschlagenen Bücher in ihrer Hand bestrahlt waren. Und da war es ihnen gewesen, als zucke von außen durch die Dachfenster künstliches Lichtzeichen herein. Bei gänzlicher Verfinsterung des Büchergangs hatte sich das sofort einwandfrei bestätigt.

Gonßen ließ sich mit dem Polizeipräsidium verbinden. Mehr als Zusammenrottungen an zwei oder drei Stellen des Fabrikviertels sei nicht gemeldet, diese alle mit beschränktem Herde und von offensichtlichem Zufallscharakter. Heinrich wies, vom Geheimrat befragt, auf die Haltlosigkeit einer Arbeiterunruhe hin, wenn sie nicht von einem Lohnkampfe ihren Anfang nehme.

Ein Anruf in der Pförtnerloge des Geschäfts ergab, daß soeben von einem Unbekannten das Motorrad des Generaldirektors in dessen Auftrag im Radpark des Hofes eingestellt worden sei. Godwein hatte sich also nicht zu erkennen gegeben. Wo befand er sich nun?

Der Geheimrat, dem Jakob in seinen kostbaren Gehpelz half, sagte nur: »Ist es nicht erstaunlich, wie Godwein auch diesmal wieder Bereitschaft bewies?«

 

7

Oli Fay strich nicht zum ersten Male im Arbeiterviertel herum. Als sie aufs Geratewohl in den ›Kohlenkeller‹ trat, hatte Oskar 109 Keueler eine Zuhörerschaft um sich versammelt. Oli wandte sich enttäuscht ab. Dazu saßen sie nun da beieinander, um ihr eigenes Elend zu bewitzeln!

Lauernd sank sie in sich zusammen. Der Aufwärter stellte ihr das gebrannte Wasser hin, vom billigsten. Sie verschluckte sich gleich und mußte aushusten: Das war ein furchtbarer Fusel, dieses Gläschen des armen Mannes!

Welch ein Dunst und Stank! Die armen Leute! Irgendwo drehte sich ein Ventilator in sausendem Geräusch. Die schlechte, verbrauchte Luft mit dem kalten Rauch und dem stickigen Eßgeruch legte sich ihr auf die Nerven. Es war düster und unsauber hier. Im Schlunde spürte sie ein Würgen. Sie richtete sich auf und rührte im Glase mit dem Löffel den Kaffee kühler.

Das Lokal war zu einem Drittel besetzt. Und der da hinten erzählte immer noch. Sie spitzte ihre Ohren wieder. Was ein Mensch, der ins Zuchthaus kam, erleben mußte, hörte sie da.

Hinter ihr wurde das Grammophon angelassen. Es spielte den bekannten französischen Schlager. »Schritt – Schritt – Pariii – Schritt – Schritt – et üne blongde – Schritt – Schritt – ki pläät – Schritt – Schritt – a tu le mongde – Schritt – Schritt.« Das Zuchthaus versank. Sie summte mit. Eine Erinnerung umstrickte sie. Madame Mistinguette, die Schöpferin dieses berühmten Chansons, hatte ihr von der Bühne herab zugelacht – nach dem Fauteuil, auf den sie sie eingeladen, und neben ihr hatte Yvette Guilbert gesessen. Diese beiden großen Pariser Kolleginnen waren eigentlich mit schuld, daß sie jetzt hier saß. Deren erschütternde Dirnen- und Zuhälterballaden!

Der ehemalige Insasse des Zuchthauses hatte seine Unterhaltung ebenfalls eingestellt. Die Schallplatte schrillte ihm zu dicht ans Ohr. Da nahm er sich ein Herz und setzte sich mit seinem Glase zu ihr hin. »Gestatten Sie gütigst?« – Erst zusehen, was würde! Sie hauchte nicht unfreundlich: »Bitte! Sie haben sich das Zuchthaus 110 aber gründlich angesehen, – darf ich fragen, wie Sie hineingekommen sind?« Er kokettierte etwas mit seinem Berlinisch: »Weil mir Fritz Schultze uf die Löhr verraten hat!«

Der Dünkel des brutalen Kraftmenschen, der sich als Märtyrer fühlt, ging mit ihm durch. Auch glaubte er, eine Genossin vor sich zu haben; er versuchte sie zu duzen.

»Was denken Sie? Ich bin keine Arbeiterin. Aber ich habe ein Herz für euch.« Keueler kniff sich die Augen klein. Das erzählte man einem anderen als ihm, daß eine vornehme Frau in Lumpen gehe und sich in einer Spelunke herumtreibe! Er, der schöne rote Oskar, widerstand der Eitelkeit nicht, sich bewundert und gefürchtet zu glauben. Er fuhr mit seinen Redekünsten fort. Süßliche Wendungen und seichte Plumpheiten. Dieser Zuchthäusler schlug Töne an, die sie so noch nicht vernommen hatte.

Sie ließ ihm ein großes Glas Bier kommen, bestellte ihm auch zu essen. Ihn das rotsaftige Stück Schweinsrippe auf Sauerkraut, das er sich wählte, schneiden und schlürfen und schlingen zu sehen, unter schnalzenden Geräuschen und der unvermeidlichen Mithilfe des Messers im Munde drin, das verschaffte ihr, so sehr sie sich auch überwinden mußte, eine gewisse Genugtuung. Ein armer Teufel aß, von ihr eingeladen! Ein richtiger Verbrecher sogar! Das Blut im Kopfe, dunkle Tupfen auf Stirn und Wangen. Doch, es war gut, daß sie sich hier befand! Die Wucht der Massen vollzog sich unverkennbar um sie herum. Es speicherte sich Kraft auf, bereit, sich zu entladen.

Keueler fluchte nun auf alle braven Leute und schwor ihnen den Untergang. Der zerlassene Backstein von Münsterkäse auf seinem Teller, der nach dringlicher Bestellung wirklich ›gut durch‹ abgeliefert wurde, roch fürchterlich. Auch das trug dazu bei, daß Oskar Keueler kriegerischen Mut fühlte. Hatte er einst nicht ein Weib umgebracht? Ach ja, die hatte ihr Teil bekommen! Nun das der da noch erzählen! Gruseln mußte es ihr, wenn sie erfuhr, wie er 111 es damals fertiggebracht hatte, – mit einem Wort: zu töten. Er hatte getötet, jawohl.

Sie merkte ihm die Unruhe an. Mit der Wucht der Massen war es vielleicht doch nichts. Es gab nur die Auflösung der Massen, die Zurückführung des Kompakten auf seine lebendigen Ströme und Linien, zum Klumpen eingedickt. Also das, was sie wollte und lehrte, sie, die Oli Fay, und wofür sie zum Ruhme gelangte, das war und blieb das Richtige.

Sie erkannte nun mit einiger Deutlichkeit das Ergebnis ihrer plötzlichen Aufwallung. Ein vernünftiger Junge, dieser Karl Godwein, daß er ihr nicht gefolgt war!

Wie war sie nur an den Jungen geraten? Er sollte ihr für den Vater herhalten. Auf den Vater war es abgesehen. Alles in ihr zielte auf Alfred Godwein. Ihn haßte sie – haßte ihn tief. Er war doch schuld an diesem entsetzlichen Treiben hier, an diesem gepfropften Menschenpferch mit dieser Luft, die zum Ersticken war. Als Typus, als Vertreter des Prinzips! Rücksichtslos – schonungslos! Deswegen haßte sie ihn. Oh, das tat sie! Warum trat er nicht hier ein, wie vorhin sie? Warum besaß er nicht ihren Mut?

»Wenn jetzt Schultze daherkäme,« sagte Keueler kauend, »er müßte mir knien. Er fände keine Gnade. Es wäre um ihn geschehen.« Und spülte mit Bier nach.

»Wenn jetzt Godwein daherkäme,« sann sie, »ich würde ihm an die Gurgel fahren, würde ihn anspeien. Seht da, den Bluthund! Ich will ihn für euch erwürgen.«

Was ging da mit einem Male vor? Dort hinten, am anderen Ende, durch den Qualm, nur wie ein Fleckchen zu erkennen, stand einer auf dem Tisch und redete. Schrie und fuchtelte. Zu verstehen war nichts. Es schrien und sprachen alle. Auch der Zuchthäusler, ihr Kumpan und Gast noch eben, sprang auf den Stuhl und von da auf den Tisch. Ihr vor der Nase sah sie die zerfransten Enden seines Beinkleids, die mit Schmalz gesalbten groben Stiefel, breite 112 Füße steckten darin. Das Oberleder war geplatzt. Einer brüllte, es war Keueler: »Blut – Blut – jetzt muß Blut vergossen werden.«

Arbeiter lachten. »Den haben Sie zu gut bewirtet – Sie haben ihn besoffen gemacht,« wurde ihr bedeutet. Was ging vor? Woher bewaffnete Beamte? Schutzpolizei von zwei Seiten. Ein Blaurock schwang sich seitlings auf die Tischplatte, rannte zwei Schritte auf Keueler zu, stieß ihm die Faust wuchtig vor die Brust, so daß der Grobschmied einen Schritt nach hinten tat, den Rand verfehlte und überkippte, um gleich von drei anderen Polizisten halb aufgefangen, zu Boden zu sacken. Sobald er lag, wurde er gefesselt. Als er stand, warf er einen toten Blick in die Runde: »Ich werde das Fenstergitter wieder von hinten sehn.« Wo war die Frau hingeraten, die ihm zu essen und zu trinken gab?

Ein Schutzpolizist hatte beim Angriff auf Keueler mit seinen Ellenbogen die immerhin zierlich gegliederte Oli Fay vom Stuhle gefegt. Sie setzte sich auf den Boden und rieb sich schmerzverzerrt den Arm. Keueler wurde hinausgeschleppt. Er leistete keinen Widerstand. Niemand trat für ihn ein.

 

8

Als Godwein, ohne erkannt worden zu sein, sein Motorrad beim Pförtner des Hauptgeschäfts abgegeben hatte, begab er sich zu Fuß in östlicher Richtung. Er sah am Ende der Gasse helle Metallstücke über der Menge blinken – Helme einiger Schutzpolizisten.

»Hören Sie, Herr Generaldirektor,« versetzte der Polizeioffizier, an den er herantrat, »die Lage ist nicht ganz ungefährlich.« Er rief einen Schutzmann heran mit dem Auftrag, ›diesen Arbeiter da‹ auf dem kürzesten Weg nach der Hauptmannschaft zu bringen.

Halbwüchsige Burschen hatten von einer erhöhten Mauernische aus den Vorgang beobachtet. Sie schlichen nach. An einer dunkeln Straßenecke sah sich der Schutzmann mit seinem Begleiter von den Kerlen umzingelt. Diese Jungburschen wollten ihren Kameraden 113 befreien. Er sollte nicht ins Gefängnis. Godwein bewahrte seine Rolle und sagte den angeblichen Genossen in ihrem Rotwelsch, untermischt mit den geläufigsten und neuesten Schimpfwörtern, alle Schande. Auch der Schutzmann konnte keiner anderen Meinung sein, als daß er hier einen einflußreichen Arbeitervertreter nach der Wache bringe, damit dieser dort über die friedliche Beilegung der Unruhen verhandele.

Vom Polizeihauptmann unter vier Augen vernommen, wollte Godwein die einzige Gelegenheit nützen und die Arbeiterschaft im eigenen Bau belauschen, wenn sie sich unbeobachtet wähnte. Dazu bedurfte er der behördlichen Auskunft. »Stegreifrevolution, was? Strohfeuerchen!«

»Amtlicherseits festgestellt ist so viel,« wurde ihm eröffnet, »daß wahrscheinlich, wie Herr Generaldirektor vermuten, ein derber Ulk den Ausgang bildet. Wer die Funkanlage auf den Simskranz der Schlotmündung hinaufgetragen hat, wird sich ja wohl finden. Gefaßt wird der Tausendsasa heute oder morgen.«

Godwein hörte mit halbem Ohre hin. Er hatte zu Hause gehört, Oli Fay sei auf Abenteuer ausgegangen. Wo mochte sie sich befinden? Wo traf er sie?

»Die Beamten stehn Kette beim ›Kohlenkeller‹. Sie können sich meinen Leuten anschließen, können unbemerkt in das Lokal eintreten. Vielleicht geht es jetzt dort ganz lehrreich zu,« sagte der Polizeihauptmann noch.

 

Godwein trat in die Schenke ein, kurz ehe Keueler auf den Tisch stieg. Oli konnte ihn unmöglich sehen, er befand sich in ihrem Rücken. Er sah dann die Ungeschicklichkeit des Polizisten, der bei der Verhaftung Keuelers die Frau vom Stuhle wischte. Er durfte sich ihr nicht gleich nähern, man hätte ihn erkannt.

»Was wird sie tun?« Er war tief erregt, sie so zu sehen. Der Tumult im Saal steigerte sich bei der Herausschaffung des 114 Verhafteten. Das anwesende Publikum wurde aufgestellt und gespalten von vier uniformierten Polizisten, – jeder regungslos an seiner Stelle, einer Säule gleich, wie eingerammt. Da konnte sich aufgespeicherte Wucht und Wut nicht binden.

Oli dachte im Kehricht hockend an Godwein. Es stieg ihr an die Kehle, daß sie um die Luft kam. Sie preßte sich den Schrei ab: »Godwein will unser aller Blut.« Der Schutzmann, drei Meter von ihr, verstand die hingepurzelte Person nur halb. Er warf ihr einen scharfen Blick zu. Das Durcheinander schützte sie. Sie wollte nicht mundtot sein. Es mußte noch einmal heraus. An den Pranger mit dem Schuldigen, unter dem sie alle litten! Spitz, durchdringend gellte sie: »Godwein! Godwein! Nieder mit Godwein!«

»Bitte!« sagte der Angerufene und trat vor sie hin. An der Stimme sowie an einer unbeschreiblichen Spielart seiner Körperhaltung erkannte sie ihn sofort. Übrigens hatte er auch in den Tagen ihres Zusammenlebens keinen Schnurrbart getragen. – »Alfred!« Er beugte sich zu ihr hinab, um sie zu sich emporzuziehen.

Der Schutzmann hätte sich wahrscheinlich jetzt mit ihr befaßt. Aber er sah, daß sich ein Arbeiter näherte und ihr aufhalf. Er brauchte seinen Posten nicht zu verlassen – leicht hätte er dann den Überblick verloren, in seinem Rücken wäre der Krawall losgebrochen! »Beschleunigen Sie Ihren Feierabend etwas!« kommandierte er mit blecherner Stimme, »es sind zu viel Leute hier drinnen. Wir müssen sonst räumen lassen.« Mit dem Weibe war es in Ordnung, es wurde von dem Arbeiter unter den Arm gefaßt und an die Tür gebracht. Es gab auch unter der besitzlosen Klasse vernünftige Elemente, die waren den Behörden behilflich. Er schwenkte mit einem Ruck rechtsum. Seit der Wegschaffung des roten Schreiers war der kritischste Punkt überschritten. Die Unruhe ebbte ab.

»Um Gottes willen, Oli, Sie hier? Was machen Sie für Geschichten? Schnell, raus, sonst nimmt Sie der Blaue noch beim Schlafittchen. Er hat schon nicht schlecht nach Ihnen geäugt.«

115 Sie traten ins Freie. Ein mit Schnee untermischter Regen färbte die Gasse schwarz und trostlos. »Bring mich zum Bahnhof, Alfred. Ich muß zu den Mädels zurück.« Es war keine Fahrgelegenheit am Wege, als er sich danach umsah. Gleichgültig, sie hatte die Regenkappe übergezogen. So gingen sie nebeneinander her. Es gab ein Umherirren in Winkeln und Gäßchen, sie mußten sich zurechtfragen. Dann bestand sie darauf, daß sie ihrem Kostüm treu blieben – im Warteraum Dritter Klasse.

»Da hilft kein Trennungsgelübde, wie du siehst, lieber Freund. Wir waten zusammen im Kot – aber eben zusammen. Was wird uns der Sommer bringen?« Es bestanden lebhafte Pläne, – zu einer Gonßenschen Erbteilung gehörte ein verlassener Park, der war nun von der Güterschlächterei bedroht. In dem dazugehörigen möblierten Landhause sollte die Tanzschule die Monate ohne ›r‹, Mai bis August, zubringen. Die Sache war ins Stocken geraten.

Er sagte: »Würde heut abend der Mond scheinen, wären wir zusammen in den Park gegangen. Wir hätten uns auf eine Ruhebank gesetzt, wie ein junges, verliebtes Paar, und hätten uns vielleicht gehörig erkältet. Wir entthronten Götter! Sprich zu mir, Oli! Wer weiß, wie lange es dauert, bis ich deine Stimme wieder höre.«

Kauernd saß sie neben ihm. Leicht nach vorn gebeugt. Sie war es zufrieden. Sie nahm ihn in sich auf. Er saß neben ihr. Was einst zwischen ihnen gewesen war, lebte frühlingswarm auf. Sie hob den Kopf seitwärts gegen ihn unter der Kapuze hervor. Ihr bleiches Gesicht empfing den gelben Schimmer einer Deckenlampe.

»Weißt du, was ich nicht fassen kann? Ich war doch so sehr gegen dich von Haß erfüllt, als du schon im Lokal drin standest, ohne daß ich eine Ahnung davon hatte. Das Elend schrie mich an. Ich hatte die Kneipe aufgesucht in der Absicht, die Zustände an Ort und Stelle kennenzulernen. Ich hörte die Leute auf euch schimpfen.«

»Und nanntest mich Bluthund, wolltest mich auf der Stelle 116 morden,« warf er ein, »ich machte mich darauf gefaßt, dir ein Messer aus der Hand zu winden.«

»Scherze nicht, Alfred,« versetzte sie, »die Sekunde war fürchterlich. Ich weiß es nun für alle Zeiten – lau wirst du mich niemals lassen. Liebe ist für mich heimgekehrter, erloschener Haß – zu dir gibt es für mich nur das heiße, ungekühlte Gefühl.« Und im selben Atemzuge: »Ja, wie steht's nun im Sommer? Könntest du nicht endgültig mit Gonßen sprechen? Ich sollte einmal Bescheid wissen. Ich muß mich doch einrichten.«

Hatte sie nicht immer zu rechnen verstanden? Im ersten Aufzucken berührte ihn dieser Gedanke häßlich. Dieser Frau neben ihm dankte er den großen Schwung, er hatte ihn über manchen Abgrund hinübergepeitscht! Oh, doch, sie war schon die Frau seines Lebens gewesen, welche sonst, wenn nicht sie! Im Hafen der Ehe kam erst der Greis zur Ruhe. Die Wildwasser der Liebe zu einem solchen Wesen waren das wahre Element für einen Starken mitten im Treiben der Welt.

Auch jetzt noch der Liebe? War das Leidenschaft? War es nicht Narretei, Snobismus, öde Flause? Das durfte man niemandem erzählen. In keinem Kitschroman würde man so etwas zu schildern wagen. Und sie beide nahmen es ernst – brachen nicht in grinsendes Gelächter aus über die verlogene heroische Pose. Reisende Dritter Klasse – er und seine Geliebte? Nach einem märchenhaften Stelldichein in der Arbeiterschenke! Kein Wort mehr davon! Wenn das ruchbar wurde! Er konnte sich nicht mehr sehen lassen!

Oder doch? Durfte er tun, was andere längst nicht durften? Jetzt erst recht! Mitten unter die Leute! Er sprang auf. »Komm, Oli – hast noch Zeit. Pulle Sekt und Kaviar! Kannst auch eine halbe Languste haben. Dazu reicht's schon noch«

»In diesem Aufzug?« zögerte sie, stand aber auf.

»Laß mich machen.« Als er sie durch die Drehtüre in den Erfrischungsraum Erster Klasse eintreten ließ, erspähte er schon durch 117 die Scheiben einen Tisch mit bekannten Herren, darunter Ferdinand Ettram. Oli stutzte. Aber er: »Du denkst wohl, ich meide die. Wir dürfen uns wohl zeigen!« Er schritt geradeswegs auf die Leute zu und schob gleich einen Stuhl für seine Begleiterin zurecht. »Habe mich soeben ein bißchen unter das werktätige Volk gemischt.« Er verneigte sich in bester Form.

»Sie leisten sich ja eine großzügige Betriebsreklame – bei Ihnen ist Revolution, hören wir,« kam es zurück.

»Gewesen!« Er saß jetzt und unterhielt sich weiter rückwärts über die Schulter. »Das geht für eine Redoute am Karneval – kommunistisches Nachtwächterkostüm, wie Sie sehen. Mahlzeit!«

»Das ist nun schon die Höhe,« murmelte Oli, bereits erhielt sie die versprochenen Leckerbissen von dem zur Eile ermahnten Kellner vorgesetzt. »Du bist ein Lebenskünstler! So was macht dir keiner nach. Aber das sage ich dir. Ich falle nicht aus unserm Stil. Ich fahre dritter Güte nach Hause. Nicht, daß du mir Schlafwagen bestellst.«

Der Sekt schäumte. Aller Augen waren auf sie gerichtet, sogar lorgnettiert wurde, und er überbot sich in galanter Aufmerksamkeit. So kam er zum Glück um die Sentimentalität einer Unterhaltung zwischen Liebenden. Das wäre unerträglich geworden. Alles andere konnte ihm gleichgültig sein. Und der Oli hatte er ihre Bolschewistenschrullen wohl fürs erste ausgetrieben! Die sog und schnabulierte an ihrer Hummerschere herum. »Prost, Oli! Dir stehen die Lumpen fabelhaft. Warst nie schöner.« Damit war, wie er's wollte, der Gesprächston auf die platten Nichtigkeiten heruntergeschraubt.

Eigentlich ist sie ein passives Wesen, erwog er zwischenhinein. Sie hat neben mir gesessen im Wartesaal, ohne ein Wort zu sagen. Und nun verlustiert sie sich wie ein Backfisch am ersten Ball. Immer nur auf ihre Bequemlichkeit bedacht, gute Zerstreuung und Unterhaltung. Vielleicht war sie in ihrem Landnest ausgerissen aus sträflicher Langeweile. War er je schon so leichtsinnig gewesen? 118 Erotische Ausgiebigkeit, wie er sie für sein Emporkommen und zur Befestigung seiner Macht einst benötigte, wird zur Not nachgesehen bis zum Schwabenalter. Er hatte es hinter sich.

Eines stand fest. Morgen lief der Skandal wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Elisabeth verzieh ihm eine Ehetrübung nicht ein neues Mal. Wenn es sein mußte, zeigte sie ein hartes Gemüt. Einmal zur Scheidung entschlossen, ging sie unerbittlich vor. Übrigens, konnte sich sein Los nicht schon entschieden haben? Als er vor zwei Stunden vom Diener Jakob aus ihrem Wohnraum weggerufen wurde und auf der Schwelle noch einen Blick zurückwarf, da war das Einvernehmen nicht mehr zu übertreffen, rein als zufälliger Anblick gedeutet, der Geheimrat und sie im Streukegel des Lampenlichts einander gegenüber. Das konnte er geltend machen – sogar vor dem Richter. Das Mißverhältnis ließ sich nicht mehr aufhalten. Sie verachteten ihn. Er mußte zuvorkommen.

»Du mußt gehn, dein Zug fährt.« Wiederum ironisch übertriebene Abschiedshöflichkeit nach dem Kollegentisch! Im Flur draußen händigte sie ihm auf seinen Wink den Schein für das Handgepäck aus, und als er mit der Tasche vor ihr stand, schickte sie ihn auch noch zum Fahrkartenschalter mit der Bitte, ihr lieber Zweite Klasse zu besorgen, da sie doch gern die paar Stunden Fahrt zu schlafen versuchen möchte.

Sie hatte nun wieder einmal reibungslos alles erreicht, was sie wollte – er war der Gewickelte. War das jemals anders mit ihr? So oft ein Abenteuer zwischen ihnen zu Ende ging, mußte nicht allein sein Geldbeutel die Zeche zahlen. Sie hatte die Stirn, ihm das auf den Kopf zuzusagen. »Ich bin zufrieden mit dir, Alfred, du hast deine Sache brav gemacht.« Jetzt konnte sie plappern. Die Schleusen waren aufgezogen. Noch aus dem Rechteck des Wagenfensters benahm sie sich nichts weniger als wortkarg. Der Zeiger der Bahnsteiguhr zuckte von der Minute weg. »Natürlich, Ottilie grüßen, versteht sich doch von selbst.« Wann war denn endlich 119 Abfahrt? Er hatte ganz einfach genug von ihr. »Zurücktreten!« Er reichte noch die Hand hinauf.

Über die verschiedenen Treppen der Unterführungen herunter und hinauf gewann er den Ausgang nach der Stadt. Er bog in eine Straße ein. Hier brannten noch Gaslaternen. Um jede flimmerte ein Hof in den Regenbogenfarben. Der Asphalt glänzte. Der Fisselregen spritzte ihm ins Gesicht. Das kühlte. Die kalte Luft erfrischte. Nur nicht sich an ein Weib binden! Und wenn darüber die Welt in Stücke ging. Und immer diejenige, die dem Blute zu seinem besten Sauerstoff verhalf. Bald mochte das diese sein, bald jene.

Im Blute lag ihm jetzt seine Sekretärin Hilde Dohm. Er atmete gründlich ein und trieb im Gegenstoß lange Hauchschwaden in die Nachtluft. Verfügte er nicht bereits über Beweise ihrer Gunst? Der Widerstand war verhältnismäßig rasch gewichen. Er hatte die Macht über dieses weibliche Wesen längst nicht ausgekostet. Für vollgewogen galt ihm die Begierde nach dem Weibe nur, bis dieses ihm zur Beute fiel. Im täglichen Umgang mit seiner Geschäftsdame verspürte er die Lockung nach ihr, – ein hüpfender, hilflos hoffender, arglos zuversichtlicher Vogel. Auch ihr geistiges Gehaben schoß in die Bahnen seines Willens ein. Sie war von der Kraft und Tragweite seiner Entschlüsse blindlings überzeugt. Eine Frau ist einem tätigen und erfolgreichen Manne von vornherein untertan, wenn er in ihr das Bewußtsein rege hält, daß ihre Mitwirkung ihn den Sieg schneller und sicherer erreichen lasse.

»Wenn ich jetzt Ernst mache und nicht nachgebe, bis Hilde mir zu Willen ist, dann wird mir auch in meiner Arbeit alles geraten. Ich muß böse sein, sonst hole ich nicht das Letzte aus mir heraus.« Er wollte doch sehen, ob er sich täuschte, ob nicht Hilde Dohm noch nachts spät nach dem Geschäft rannte, in unruhigen Stunden gab es ja immer Arbeit für sie. Als er um die letzte Ecke bog und über den Platz weg das Geschäftsgebäude der Gonßen AG. in gespenstischen Umrissen drüben in die Luft aufragen sah, erschrak er, weil 120 der ganze Flügel mitsamt dem Treppenhaus hell erleuchtet war. Die Dohm hätte für sich allein niemals so viel Helligkeit beansprucht.

 

 

9

Der Oberbetriebsmeister Schultze und Fräulein Dohm konnten kaum sich Zutritt zur Portiersloge erzwingen am Hauptzugang zur Fabrik. Dann aber: »Oh, gewiß, Herr Stadtverordneter!« und so saß Schultze im Wohnzimmer der Portiersleute. Neben ihm am Tisch getreulich Hilde Dohm, mit Block und gespitztem Blei versehen.

»Was – der? Wird mir einfallen, den springen zu lassen. Dem traue ich den Schabernack zu.« Er legte seine Untersuchung gleich so an, daß sie um den Verdacht auf diesen Jungburschen kreiste. Nach einer Stunde fügte sich ihm etwa das folgende Bild zusammen:

Er hieß Julius Röde und war in der ganzen Belegschaft der Gonßen AG. bekannt, mit diesem Burschen konnte man noch einmal etwas erleben. Der geborene Gruppenführer, erzog er die Jugend um sich herum zum proletarischen Standesbewußtsein. »Ihr sollt mir keine öden Radaumacher werden,« – ging aus seinem Munde herum. »Zusammenschlagen soll man erst, wenn man ganz genau weiß, was man auf den kahlen Fleck hinstellt.« Dabei gleich ihnen allen ein eifriger Besucher der Kinos, aber gerade in dieser Eigenschaft nicht ohne Anwandlungen eines guten Geschmacks, so daß die Leitung im Konzern der Kinobesitzer schon dahintergekommen war, daß minderwertige Filme mit einer gewissen Verminderung des Besuches von seiten der bisher blinden Jungmannschaft beantwortet wurden, während Filme mit unbestreitbarer künstlerischer Note sofort von derselben Seite her sich einer spürbaren Unterstützung zu erfreuen hatten. Er besaß einen unkündbaren Einlaßschein in alle Lichtspielhäuser, pflegte aber trotzdem seinen Obolus zu erlegen und dafür dann auf seinen Freiplatz irgendeinen 121 armen kleinen Jungen mitzunehmen. Bei ihm und seinesgleichen schlug neuerdings das Beispiel der Fassadenkletterer ein. Jedes einsame Mäuerchen draußen im Gelände wurde zum Gegenstand des Wetteifers im Anspringen der Rampe sowie sorgfältigster Ausnützung aller Unebenheiten und winzigsten Stützpunkte. Die mächtige Vertikale der Fabrikschlote bildete natürlich ein lockendes Versuchsfeld. Oft scharte sich eine kleine Gruppe um Röde und schaute gespannt und berechnend an der ziegelroten Rundsäule empor. Als einmal eine Besteigung durch einen Techniker nötig wurde, war Röde ihm als Handlanger beigegeben worden. Da sah er, auf welche Weise die Außenleiter für gewöhnlich unterbrochen war und wo sich das heruntergelassene Zwischenstück wieder hochklappen ließ zum Aufsteigen. In einer taghellen Mondnacht, mit der Blechbüchse für die Instrumente behängt, gelangte er oben an, verklammerte sich am Rande gemäß den Erfahrungen eines Fachmanns und montierte in immerhin anderthalb Stunden acht Glühbirnen in einer Lichtstärke von je hundert Kerzen, ohne von den Nachtwächtern bemerkt zu werden. Die Einrichtung mit den Trockenbatterien zu ebener Erde wußte er ebenfalls in die Wege zu leiten.

Als er dann mit allem so weit war, sicherte er sich einen versteckten Ort hinter der Schuttablage. Zugleich hatte er die drei zuverlässigsten Mitglieder seiner geheimen Garde wenige Tage vorher eingeweiht, nämlich zu einer Bedienung der Dampfsirenen als Sturmpfeifen. Röde war zwei- oder dreimal auch mit Keueler zusammengewesen, legte aber keinen Wert darauf, sich näher mit ihm einzulassen, da er nur ein unsystematischer Krakeeler sei. Es wurde also das Gerücht verbreitet, wenn die Lichtsignale leuchteten, habe eine Kundgebung stattzufinden in Form eines raschen Auflaufs und einer Zusammenrottung aus freien Stücken, daß man sich aber zurückzuziehen und zu zerstreuen hätte, sobald die Behörde Wind bekomme und Gegenmaßnahmen treffe. Aufs Geratewohl gab er diese Befehle aus, getrieben von unaussprechlichem Ehrgeiz nach einer 122 phantastischen Betätigung seiner Unzufriedenheit mit dem Leben, nach einem Durchbruch aus der Dumpfheit und Enge seines Proletarierdaseins zu einer allgemeinen Geltung.

Die Sache glückte nur allzusehr! Er nistete sich in einer verborgenen Ecke hinter dem Müllplatz, ziemlich zu Füßen des Hauptschlotes, ein und drückte in Erwartung der Dinge an dem Steckbrettchen auf die Taster. Ihm war, als ob am wenig belichteten Himmelszelte zu seinen Häupten plötzlich ein paar Sterne aufblinkten und wieder verschwanden, sobald er die Hand vom zauberhaften Ösenbrett wegzog. Die Bestätigung ließ nicht auf sich warten. Ohrenbetäubend traten die Sirenen in den Wettbewerb ein. Diesen verdammten Kerlen hätte er es gar nicht zugetraut, das stöhnte und brüllte und dröhnte ja gottssträflich. Das hatte der Satan gesehen – wenn nur nicht gleich die ganze Welt in Trümmer barst! Jedenfalls wußte der tapfere Röde, was er zu tun hatte. Er hatte sich in die Nesseln gesetzt, – nun also vorerst wacker ausharren! Eine gute Viertelstunde fingerte er an den Zapfen des Drahtbrettchens herum, und es bestand für ihn wahrlich kein Zweifel mehr, daß dieses Klavier töne! Außer dem Grundbaß in den Lüften entfaltete sich das Gewirr von Oberstimmen zu ebener Erde.

Zunächst rannten die Hofwächter und Stoppuhrbeamten vor dem Schutthaufen hin und her. Dann vernahm er die Signale einer Trompete und Kommandorufe. Es wurde die Tür am Schlotfuße berannt und mit Axtschlägen bearbeitet, – wenige Meter von ihm entfernt. Er erkannte einzelne Stimmen der fluchenden Männer. Dann wurde ihm der Boden zu heiß. Er erwischte den richtigen Zeitpunkt und huschte an den Gruppen vorbei. Mit Recht vermutete er, die einzige rechtmäßige Ausgangsmöglichkeit an der Pförtnerloge würde baldigst polizeilich verriegelt werden.

Wie groß war dann im Pförtnerstübchen das Erstaunen sowohl Schultzes als der Dohm. Immer wissender bohrte sich sein Blick in die verwirrten Züge des jungen Arbeiters. »Nun aber, bitte, nicht 123 lange gefackelt – sprich dich lieber gleich richtig aus, mein Junge!« Kleinlaut und sichtlich erschrocken ließ sich Röde den vor der Pförtnerloge aufgestellten Wachleuten übergeben.

»Das gibt ein Fressen für die Presse in den nächsten Tagen,« erleichterte sich Schultze. »Sollte man so etwas denken! Dieser Bengel! Wenn er glatt durchkommt, dann ist er ein gemachter Mann überhaupt. Bin nur gespannt, wer seine Helfershelfer waren!« Er würde das Verhör weiter ausgedehnt haben, hätte die Dohm nicht mit aller Entschiedenheit zum Aufbruch gedrängt. Sie mußte noch ins Geschäft! Es stand dem Oberbetriebsmeister frei, sie dahin zu begleiten. Schultze murrte. Mitternacht rückte heran, und morgen sah sie ihre Arbeit früh genug wieder. Sie maß ihn mit einem stummen Blicke. Der warf ihm vor, aber nun gleich wieder auf Godwein eifersüchtig zu werden, das lasse sie ihm einfach nicht hingehen. So winkte er einen Taxameter herbei. »Ja, was ist denn das?« Spähend streckte die Dohm ihren Kopf gegen die Scheibe. »Der Geheimrat im Pelzrock, Frau Generaldirektor, der junge Godwein und auch Herr Ull mit dabei? Vielleicht wollen sie etwas von mir wissen, oder es ist etwas mit unserm Chef geschehen.« Sie stürmte hinaus, Schultze folgte ihr zögernd.

Oben mußten sie Rede stehen, taten es nur vorsichtig, indem sie andeuteten, der Anstifter des Unfugs sei ihnen bekannt und werde soeben der Polizei übergeben. Dafür erfuhren nun sie, warum die Herrschaften sich so spät noch hierher bemühten. Wer wußte etwas vom Verbleiben Godweins in den letzten anderthalb Stunden? Aber da ging unten schon die Tür, die Stimme war unschwer zu erkennen, leichten Fußes kam Godwein die Stufen hinaufgeeilt.

»Was sehe ich?« rief er aufgeräumt und sah sich im Kreise um, »da seid ihr ja alle miteinander. So pünktlich zur Stelle, wie hierher bestellt! Aber wollen wir es uns nicht bequem machen? Ich bringe Neuigkeiten.« Er nötigte alle, sich in den bequemen Sesseln des Empfangsraums niederzulassen. Dann aber erklärte er, er müsse 124 jetzt noch mindestens zwei Stunden arbeiten. Zugleich richtete er schweigend von unten her einen langen Blick auf seine Sekretärin. Sie erklärte sich bereit, sein Diktat aufzunehmen. Eine Pause entstand.

Gleich darauf erhoben sich die anderen, und man wünschte sich allerseits gute Ruhe.

 

10

Am übernächsten Morgen erhielt Heinrich in seiner Wohnung unter der Anschrift ›bei Frau Witwe Godwein, Wäscherei‹, einen Brief zugestellt mit dem Aufdruck ›Gesellschaft Industriering. Oberleitung‹.

»Der Tausend, ja,« kratzte er sich hinterm Ohr, »was mag das sein? Ich soll doch nicht etwa Gonßen AG. jetzt schon abgemietet werden?« Er versuchte es noch am selben Vormittag, vorzusprechen, und es traf sich, daß Dr. Ettram selbst zugegen war. Er wurde sofort vorgelassen.

Der Raum war von modernster Sachlichkeit. Kein Bild an der Wand, dafür kostbare Originalreliefs von Künstlerhand, eingemauert. Gonßen also bereits altmodisch, sann er im Gedanken an den Burgsaal. Dr. Ettram grüßte vom Schreibtisch aus. »Schön, daß Sie zu mir kommen, Herr Ull, ich habe etwas auf dem Herzen. Was? Sie wissen von nichts? Und Fremden zwingt er aufdringlich diese widerliche Komödie auf.«

Nachdem Heinrich einigermaßen ein Bild gewonnen hatte, was auf dem Bahnhofe mit Godwein vorgegangen war, vermochte er dieses Bild in seinen Rahmen zu stellen. Und nachdem er ihn hatte reden lassen, wußte seinerseits Ettram, wie das alles möglich war und aus persönlichen Hintergründen hervorging.

»Einerlei. So tanzt man der Welt nicht auf der Nase herum, solange man in ihr noch etwas bedeuten will. Lassen wir's! Schließlich geht es mich ja nichts an. Echt Godwein, mehr sage ich nicht. 125 Aber wie lief denn Ihre aufgeplusterte Revolution ab? Was fangt ihr mit dem Schlingel an?«

Heinrich wollte bloße Gerüchte nicht weitergeben. Er hatte auf heute nachmittag eine Vorladung erhalten. Morgen füllten die Zeitungen ihre Spalten mit Berichten über die tolle Sache.

»So? Dann ist's gut – werde mich aufs Morgenblatt stürzen. Der Hauptmann von Köpenick ist ein Waisenknabe. Der falsche Prinz Domela kann sich ebenfalls begraben lassen. Vom blinden Passagier auf dem Zeppelin nicht zu reden! Wann sieht Hanhagen Sie wieder?« Als er Heinrich an den Flur geleitete, durchfuhr es diesen: »Kürzlich Gonßen – jetzt Ettram – lassen mich kommen, bringen mich an die Tür – und da soll der Mensch bescheiden bleiben?«

 

Im Sitzungssaale. Ein älterer Herr trat in die Tür. »Er kommt manchmal zu uns, aß schon mit Gonßen bei uns. Deshalb haben sie ihn geholt, – er kann am besten raten, ob man es mit Güte versuchen soll,« berichtete Karl halblaut.

Röde mußte sich mit dem Zivilpolizisten an die Wand setzen. Der Untersuchungsrichter fragte ihn: »Was haben Sie sich eigentlich bei dem Unfug gedacht? So eine kleine Hauptprobe der Revolution – was? Mal sehen, wie weit man's treiben kann? Erzählen Sie! – Reden Sie!«

Der Verhaftete versagte. Es war nicht aus ihm klug zu werden – war er verstockt – war er niedergeschlagen – reute es ihn oder machte er sich über die Langmut der Bürger lustig. »Wenn das alles ist, was Sie hervorbringen, so läuft es darauf hinaus, daß Sie die Antwort verweigern. Dann hat es nicht den geringsten Zweck mehr, daß Sie hier dabei sind.« Der Detektiv verzog sich mit dem Jungburschen.

Dann sagte der Mann der Behörde noch, Herr Godwein erblicke in dem Schelmenstreich gewissermaßen eine Talentprobe. Vielleicht stecke ein Erfinder in dem Nichtsnutz.

126 »Verzeihung!« meldete sich Godwein mit aufgehobener Hand, »ich frage mich, lassen sich aus dem Kommunismus tüchtige Kräfte zu uns herüberziehen? Ein Lümmel ist so ein Kerl – fragt sich's, ob er's bleiben soll. Im Laboratorium gelingt manchmal erst die allerletzte Probe, und dann gleich glänzend. Sozial verhält es sich kaum anders.«

Sowohl sein Sohn Karl als auch Ull hatten ja Röde an der tadellosen Bedienung der schwierigen Maschine beobachten können, wenige Stunden vor dem längst geplanten Handstreich. Hier lagen also Tüchtigkeit und Zerstörungstrieb noch nebeneinander. Es lohnte sich, daß man den fähigen Burschen erzog.

Der Beamte wandte sich an den Sachverständigen: »Soviel ich weiß, ist Herr Lehramtsinspektor ersucht worden, den Herren hier zu raten. Wollen Sie sich vielleicht äußern, Herr Erziehungsrat?«

Es war ein Mann schon in vorgerückten Jahren, mit einem gestutzten grauen Bart und etwas gebückt. Doch sobald er die Augen aufschlug, hatte er nichts Gealtertes an sich. »Ja, meine Herren, dieser Röde machte uns schon vor Jahren Kopfzerbrechen. Ich empfahl ihn damals hierher. Möglich, daß sein Schelmenstreich ihm Luft schafft für eine Entwicklung zum Bessern, wenn er nicht länger die trostlos proletarische Tretmühle vor sich sieht. Vielleicht wächst auch da der Mensch mit seinen höhern Zwecken.«

Gonßen nahm nun die Zügel in die Hand. »Es liegt ein handgreiflicher Anlaß vor. Herr Godwein würde seinen Sohn mit in unsere Betriebe schicken. Das Volk lernt man nur im Volk kennen. Der Oberbetriebsmeister Schultze würde beaufsichtigen. Und auch Herr Ull würde ein bißchen zum Rechten sehen. Aber, bitte, Herr Erziehungsrat!«

»Ich mache kein Hehl daraus,« sagte dieser mit etwas sorgenvollem Gesichtsausdruck, »das Schicksal der Welt wird im Kommunismus liegen. Ich war auch geneigt, hier eine Gefahr unter 127 andern zu erblicken. Jetzt glaube ich – es ist die Gefahr. Ich bin alles andere als ein Grübler oder gar ein Phantast, ich sehe, was da ist.«

»Bitte!« bemerkte Gonßen verbindlich.

»Ich bin nämlich überzeugt von dem echten Idealismus der Kommunisten, ich glaube an ihre fanatische Selbsteinsetzung. Auf einer Reise ins Ausland staunte ich über die Verblendung der saturierten Neutralen. Der Bolschewismus ist denen weiter nichts als das ausgespuckte Teufelswerk, denn es macht nicht einmal halt vor dem heiligsten Gute der Nationen, vor dem Geld. Wie steht es hingegen in Wahrheit mit dieser sogenannten Hefe des Volkes?« Er erzählte nun. »Ich habe im Jahre neunzehnhundertzweiundzwanzig eine kriegsstarke Kompanie der Rotfront gesehen. Mich beherrschte noch die übliche Vorstellung vom Kommunismus. Arbeitslose, Jungwähler, ungelernte Arbeiter, oder vielleicht ein bißchen weniger kraß, eben die besitzlose Klasse. Ich war zu Hause Strohwitwer, fuhr zur Abwechslung wieder Rad, der gesunden Bewegung halber. Eines Abends radelte ich etwas später weg als gewöhnlich. Da hörte ich vor meiner Straße Trommeln und Pfeifen. Neugierig radle ich hin und hole einen großen Trupp ein. Trommler und Pfeifer voraus – tadellos ausgerichtet, im Gleichschritt, Stöcke über die Schulter, Chargen an der Spitze und an der Seite, eine Kompanie Rotfront rückte zu einer Nachtübung aus. Die Kolonne verhielt sich ernsthaft, war ganz bei der Sache. Lauter große, schwere Männer, Dreißiger und Vierziger, – hatten wohl alle den Krieg mitgemacht. Das waren andere Arbeiterbataillone als das grüne Volk und der Janhagel bei den Massenumzügen auf der Straße. Bei Gott, keine Phrasendrescher von Werbern und Hetzern. Das war eine Kerntruppe der Revolution. Wie ein Schauer der Erkenntnis kam es über mich – schon damals, vor Jahren.« Der Herr verstummte fast verlegen.

Gonßen kam auf Röde zurück. Wies er etwas von der 128 Charakterfestigkeit des Stoßtrupps auf? Er wandte sich an einen Fabrikaufseher.

Etwas großspurig meinte der junge Mensch schnarrend: »Nee, Herr Geheimrat, wenn Sie mir gestatten, da kann ich nur warnen. Einem geschniegelten Salonrowdy ist ein fauler Witz geraten. Seines Zeichens Schürzenjäger. Höher ist er nicht einzuschätzen. Pfiffiger, geiler Bursche, – tut groß, solange er sich sicher glaubt. Sollten Herr Generaldirektor auf den Hochstapler hereinfallen wollen? Nehmen Sie dieses Früchtchen ernst?«

»Nun, hereinfallen, ernst nehmen?« hemmte Gonßen, »Herr Godwein erlaubt sich dann und wann den Luxus, seine Mitmenschen zu idealisieren! Was meint Herr Schultze zu dem Plan?«

Schultze war ein wenig überrascht. Er sah der Dohm zu, wie sie stenographierte. »Ach, doch – man soll den Kommunisten das Wasser abgraben, wo man kann. Er wird sich schon machen, wenn wir ihn in die Finger nehmen.«

Godwein, den Ellbogen auf dem Tisch, das Kinn in der Hand, ließ seine Augen zwischen der Sekretärin und dem Betriebsmeister wandern. Es klang von oben herab: »Ob es nun gerät oder schiefgeht – wir lassen's drauf ankommen. Röde hat etwas los. Es ist eine Gelegenheit, daß mein Sohn und Herr Ull sich mit einem Jungburschen auseinandersetzen. Ich verlasse mich dabei vor allem auf Herrn Schultze, er ist ja, wie er sagt, dafür.«

 


 


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