Otto Julius Bierbaum
Von Fiesole nach Pasing
Otto Julius Bierbaum

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Otto Julius Bierbaum

Von Fiesole nach Pasing

1908

Fiesole und Pasing haben mancherlei gemeinsam. Z. B. mich, der ich im Winter Fiesolaner, im Sommer Pasinger bin. Aber damit läßt sich kein Staat machen, und, wenn ich nicht so schrecklich eitel wäre, würde ich es garnicht erwähnt haben. Bedeutsamer und interessanter ist, daß beide Städte eine Art Anhängsel zu einer großen Nachbarin sind. Sie verhalten sich je zu Florenz oder München etwa so, wie sich Charlottenburg zu Berlin verhält. Aber, während Charlottenburg jünger als Berlin ist, sind Fiesole und Pasing älter als ihre großen Nachbarinnen.

Fiesole zumal ist ganz schrecklich alt: so alt, daß es sich den Luxus eines mythologischen Gründers leisten kann: jenes etruskischen Königs Atlas, den Giotto in der Spanischen Kapelle zu Santa Maria Novella in Florenz als den Erfinder des Festungsbaus verewigt hat. Als er die riesigen Quadern aufeinander türmen ließ, von denen es einige bis auf den heutigen Tag gebracht haben, war von Fiorenza längst noch nicht die Rede, geschweige denn von Firenze. Die stolzen Florentiner müssen sich die historische Wahrheit gefallen lassen, daß ihre Stadt aus einem Komplex von Magazinen hervorgegangen ist, die die Bürger von Faesulae unten am Arno angelegt haben, wo die Händler von Nord und Süd passierten.

Mit so alten und gewichtigen Historien kann sich Pasing freilich nicht schmücken. Seine Gründer haben keinen Mythologen und keinen Giotto beschäftigt, und München ist aus keinen Pasinger Magazinen hervorgegangen; aber vor Isar-Athen ist es dagewesen, und der bajuwarische Name Pasing ist einmal römisch ausgesprochen worden, wenn ich bitten darf. Dort, wo jetzt die Englischen Fräulein junge Mädchen in Gottesfurcht, Weisheit und Klavierspiel unterweisen, steht noch ein altes Gewölbe aus jener vormünchnerschen Vergangenheit, und es gibt in der Bannmeile Pasings eine ganze Masse von Gräbern alter, toter Heiden, während München bloß lebendige Heiden hat, die zu nichts weiter zu gebrauchen sind, als Zeichnungen und Gedichte für unartige Zeitschriften zu machen.

Auch die Pflege der Kunst und des Rebenbaues haben Fiesole und Pasing gemeinsam, doch bleibt Pasing, wenn auch vielleicht nicht in der Kunst (worüber allein die Nachwelt füglich urteilen mag) so doch in der Weinkultur hinter seiner südlichen Parallelerscheinung zurück. Daß niemand auf die frevelhafte Idee kommen kann, Pasinger Wein zu keltern, versteht sich ohne weiteres von selbst, denn Essig läßt sich billiger herstellen, aber auch die Pillen, in denen das Produkt des Pasinger Weinbaues ausschließlich konsumiert werden kann, sind von einer erstaunlichen Winzigkeit und Härte. Sie ähneln mehr Wachholder als Weinbeeren. Aber Wachholderbeeren schmecken süßer.

Völlig gleich sind sich Fiesole und Pasing dagegen in der Leidenschaft des Parteigeistes, der ihre Bürger erfüllt, und sowohl in der alten Stadt des Nordens wie in der des Südens sind es allen anderen voran die Sozialdemokraten und die Klerikalen, die das Interesse an den politischen Problemen der Gegenwart nicht einschlafen lassen. Nur ist die Pasinger Leidenschaft mehr innerlicher Natur und äußert sich nicht gleich fäustlings, wie in Fiesole, sondern, wenn ich so sagen darf, mündlings. In Fiesole habe ich es einmal mit angesehen, wie die Teilnehmer an einer Prozession, angegriffen von einer Schar jener wenig angenehmen Straßenpolitiker, die man in Italien teppisti nennt (Gesinnungsstrolche auf deutsch), sich mit ihren großen Kruzifixen zur Wehr setzten. Derlei begibt sich in Pasing nicht. Aber mit Worten drischt man einander windelweich.

Natürlich gibt es auch einige Punkte, in denen die beiden Städte sich unterscheiden. So hat Pasing kein römisches Theater und Fiesole keine Bierbrauerei; in Fiesole wachsen Oliven, Artischocken, Feigen, in Pasing Kartoffeln, Rüben, Rettiche; in Pasing kann man Schlitten fahren, wenn man in Fiesole einen Sonnenschirm braucht; in Fiesole ist man so weit in der Kultur zurück, daß kein Mensch seinen Nachbarn durch Klavierspiel erfreut, während sich in Pasing jede Waschfrau für eine Barbarin halten würde, ließe sie nicht wenigstens ihrer Tochter den Walzer aus der Lustigen Witwe auf dem Fortepiano (aber weniger piano, als forte) beibringen.

Mit alledem glaube ich meine Objektivität genügend erwiesen zu haben, um nun ein kleines Loblied aus den »Uebel abwehrenden Felsen von Fiesole« (Ruskin) anstimmen zu dürfen.

Hier ist das edelste Werk getan
Allerlebendigster Kunst:
hier ist Kunst und Natur ganz eins.

Nichts verlor die Natur an die Kunst auf diesen Terrassen,
Die sich ihr fügten, indem sie sie edel
Faßten: Steine aus deinem Kern,
Fels von Fiesole.

Feld und Garten ist eins: es schlingt,
Wachsend aus gleicher Furche mit ihm
Zwischen den üppigsten Halmen des Korns,
Wolluststark sich die Rebe empor,
Keine Räuberin: Geliebte,
Hoch in den Ölbaum.

Alles umarmt sich hier: Rose den Lorbeerbaum,
Efeu die Eiche, die
Nie ihr Blatt verliert.

Engelwurz flicht sich sanft,
Liebevoll, Schmuck, ins Grün
Steiler, schwarzer Zypressen. Es hängt,
Gleich einem riesigen Bacchusgelock,
Blau der Glyzine Blütentraube
Schwer vom Säulengebälk der Villa.

Iris und Tulpen säumen das Garten-Feld;
Ueberall Sterne und Glocken im Gras,
Seltsame, feurige: namenlos
Nordischer Zunge.

Nichts scheint wild hier; alles ist Zucht;
Aber es ist die edelste Freiheit.
Dienerin wurde Natur dem Geiste,
Der aus ihrem Geist regiert.

Hier erkannt ich die Kraft
Und die herrliche Ewigkeit,
Hellas und Rom, des Sinns
Eurer Zeiten: hier
Lebt noch die Herrscherin Kunst, die alles
Bindet und hebt und verklärt und den Menschen
Wirklich zum Herren der Erde macht.

*

Ich bitte, diese Rhythmen nicht mit den Ueberschwenglichkeiten deutscher Hochzeitsreisepaare in eine Reihe zu stellen, die, aus Italien zurückkehrend, sich wohl ähnlich begeistert äußern. Ich mochte meinen armen Versen (in aller Bescheidenheit) den Vorzug vindizieren, daß sie ihre Entstehung nicht einem vorübergehenden Seelenzustand von mehr oder minder konventioneller Hochspannung verdanken, sondern von einem Menschen herrühren, dem die Voraussetzungen für eine allgemeine Italienschwärmerei leider abhanden gekommen sind. Es fehlt mir vor allem dazu jene Blindheit, die heute noch Italien so »sieht«, wie es früher von Dichtern und Malern gesehen worden ist, deren Suggestionskraft bis auf den heutigen Tag fortwirkt, obwohl in Wahrheit tatsächlich das Italien von heute ganz anders aussieht, als etwa das Land, das Goethe verkündet hat. Es hat noch immer viele Schönheiten, aber die alte Schönheit hat es nicht mehr. Seine Städte (nur wenige, wie Venedig, ausgenommen) sind modern verhunzt. Man muß sich, an allen Ecken und Enden geniert, mit Einzelheiten begnügen, wo früher ein reines Ganze rein erfreute. Es ist ein ästhetisch trauriges Verhängnis, das, als Folge volkswirtschaftlich sehr erfreulicher Umstände, unabwendbar scheint. Das Regno entwickelt sich mit der ganzen Lebhaftigkeit seiner höchst begabten und keineswegs in einem Rückgang seiner Lebenskräfte (ausgenommen die ästhetischen) befindlichen Bevölkerung zu einem Staate, der zu seinem Fortschritte derselben modernen Mittel bedarf, wie alle übrigen. Die Fremdenindustrie allein tut's nicht; er braucht auch andere. Und so braucht er z. B. elektrische Anlagen, braucht Fabrikschlöte. Aber die tausende elektrischer Drähte erdrosseln die Schönheit seiner Architekturen, und der schönste Kampanile büßt an ästhetischer Wirkung ein, wenn ihm ein Fabrikskamin benachbart wird.

Dies sind nur Andeutungen. Es widerstrebt mir, das Thema auszuführen. Denn ich liebe Italien noch immer und möchte niemand die Freude daran vergällen, der es in Ferienbegeisterung mit wohltätiger Blindheit besucht. Es wird ohnehin bald der Tag kommen, wo selbst Flitterwochenreisenden die Augen aufgehen werden. Hoffentlich sehen sie dann nicht bloß das, worauf man ästhetisch das Byronwort anwenden muß: »Schlecht und modern«.

Auch wird eins ja wohl immer bleiben: die italiänische Landschaft mit ihrem unendlichen Schönheitsreichtum. Vom Heroischen bis zum Idyllischen ist schlechterdings alles in dieser Landschaft vertreten: sogar der »deutsche« Wald.

*

Doch ich muß nach Fiesole zurückkehren, um in der Erinnerung noch einmal von ihm Abschied zu nehmen.

Daß ich es verließ, geschah aus force majeure. Hyperboräer meiner Corpulenz sind nicht dazu geschaffen, der toskanischen Sonne länger als bis zum Mai standzuhalten. Was hilft mir der schönste Garten, wenn ich ihn bei Tage nicht betreten kann? Und das angenehmste Landhaus wird unsympathisch, wenn es, von wegen der Hitze, die es umbrütet, zum Gefängnis wird, das man nur unterm Schutze des kühleren Mondes verlassen darf.

Also nahm ich meine Bilder von den Wänden der Villa Bardi, rollte meine Teppiche zusammen, machte ein Brettergehäuse um meinen hochherrlichen Schreibthron und griff zum Wanderstabe.

»Mit andern Worten: Du nahmst ein Reisebillett?«

Doch nicht. Ich hatte wirklich die romantische Idee, zu Fuße nach Pasing zu pilgern.

Was Seume konnte, Hesse kann,
Das kann ich auch. Es lebe,
Hip, hip, der deutsche Wandersmann.

Aber meine Frau packte schweigend den Wanderstab ins Schirmfutteral und machte jeden Widerspruch zunichte, indem sie mir eine Fahrkarte nach Bologna überreichte. Also sprechend: »Diese Idee ist gut, wie alle deine Ideen. Ja, sie gehört sogar zu jenen besten deiner Ideen, die du nie ausführst. In diesem Falle mit Recht. Denn, gesetzt, du würdest sie wirklich ausführen: was wäre die Folge? Da würdest genau um die Zeit nach Pasing kommen, wo wir wieder von dort nach Fiesole reisen müssen.« Hyperbeln entwaffnen mich immer, denn es sind kondensierte Wahrheiten. Ich machte, das eheherrliche Prestige wenigstens formell zu retten, einige Einwendungen, die mit der Drohung endigten, ich würde also meine Wanderschaft von Bologna aus antreten, ließ mich aber ohne reellen Widerstand vors Tor bringen, wo mich auch schon (denn alles war schnöde Abkartung) Pietro, Fiesoles schönster Vetturino, mit seinem dicken Pferdchen erwartete, das auf den schönen Namen Palle hört, den man deutsch mit »Bällchen« übersetzen könnte.

»O Pietro,« sagte ich zu ihm, »wirst du dich nicht ganz verwaist fühlen, wenn dein treuester Fahrgast nicht mehr zurückkehrt?«

»O Signor Giulio,« antwortete er und sah dabei düster drein, »ich werde Sie nie vergessen, zumal, wenn Sie mir manchmal eine Ansichtspostkarte aus Deutschland schicken. Aber, bitte, immer mit Schnee.«

Pietro glaubt nämlich, daß es in Deutschland immerzu schneit.

»Warum gehen Sie eigentlich in dieses Land zurück?« fragte er dann, als wir, der Steilheit der alten fiesolaner Straße wegen, neben Palle herschritten. »Signor Bockeli« (so pflegte er Boecklin ins Fiesolanische zu übersetzen) »hatte immer den Schnupfen, wenn er aus Deutschland kam. Ich glaube, Deutschland ist das Vaterland des Schnupfens.«

»Aber auch meines, Pietro,« entgegnete ich, »und man muß doch zuweilen in sein Vaterland zurückkehren.«

Doch Pietro schüttelte den Kopf: »Signor Bockeli hat mir gesagt, daß dort ein Wein wächst, der ganz sauer ist. Ich würde so ein Vaterland so schnell als möglich verlassen und immer in Italien bleiben. Es kann unmöglich gesund sein, in einem Lande zu leben, wo es immerzu schneit und kein richtiger Wein wächst.«

»Aber Pietro,« sagte ich, »wer wird denn sowas glauben! Immerzu schneien! Im schlimmsten Falle vom November bis zum April.«

»Dio mio!« rief er aus, »es ist also wirklich wahr?«

»Nein, bloß halb!« rief ich entgegen, ganz verblüfft über diese arithmetikwidrige Folgerung. Aber es ist die Logik des Landes, und Pietros Arithmetik war überhaupt von der Art, daß Verdoppelungen als die Regel anzusehen waren.

So hatte ich (um ein lehrreiches Beispiel anzuführen) mit ihm einen Fahrpreis ausgemacht, der allerdings nur die halbe Höhe dessen hatte, den die »forestieri« zahlen müssen; aber, da ich ihn beinahe täglich zahlte, stand sich der Palle Zügler doch ganz gut dabei. Indessen wurmte es ihn doch täglich, daß dieser schnöde Akkord unser Verhältnis regierte, und so suchte er mich langsam dahin zu erziehen, daß ich aus Beschämung und von Edelmut übermannt eines Tages freiwillig sagen sollte: Nein, Pietro, ich kann diesen billigen Preis nicht länger ertragen, – von heute ab zahle ich den doppelten. Das machte er so: Wenn wir abends von Florenz herauffuhren und die Zeit vorüber war, da er auf die elektrische Trambahn aufpassen mußte, legte er sich bäuchlings über den Kutscherbock weg, sein rundes Gesicht zu mir, das andre Runde seiner Leiblichkeit aber zu Palle gewendet: eine Pose, die Vertrauen zu seinem Pferdchen und Vertraulichkeit mit dem besten seiner Fahrgäste gleichermaßen ausdrückte. Und er begann zu reden:

»War Signor Bockeli sehr reich?«

–: »So, so.«

»Dann war er von Natur splendid.«

–: »Hm.«

»Wissen Sie, was er mir für eine Fahrt nach Florenz und zurück zahlte?«

–: »Nein, aber ich glaube es auch nicht.«

»Nie unter . . .« und er streckte beide Hände einige Male aus.

–: »Ach?«

»Ja! Und wenn er gut und viel getrunken hatte, sogar noch mehr!«

–: »Der Trunk ist ein Laster, Pietro.«

»Alle Deutschen trinken.«

–: »Ich nicht.«

Also: abgeschlagen.

Aber Pietros Phantasie hatte ein großes Repertoire. Einmal fragte ich ihn: »Kennst du die Gräfin Montignoso?«

Antwort: »Ich habe sie mehr als zehnmal zu Signor Toselli gefahren.«

–: »Ist sie hübsch?«

»Hm . . . na . . . nicht mein Geschmack. Aber: splendid ist sie. An ihren Trinkgeldern erkannte man die kaiserliche Hoheit. Nie unter zehn Lire!«

–: »Bloß Trinkgeld?«

»Bloß Trinkgeld!!«

–: »Weißt du was, Pietro?«

Er spitzte, denn er glaubte, daß ich endlich beschämt sei: »Nun?«

–: »Ich würde an deiner Stelle nur verliebte kaiserliche Hoheiten fahren, denn nur kaiserliche Hoheiten in diesem Zustande sind so verrückt.«

Wieder nichts also.

Sein stärkstes Stück war dies. Eines Abends blieb er länger schweigend, als es seine Art war. Er dachte offenbar heftig nach und disponierte den Angriffsplan. Endlich hub er an: »Signor Giulio: Sie sind ein Dichter.«

–: »Nur manchmal.«

»O nein: Sie sind ein studierter Dichter.«

–: »Gott bewahre!«

»Doch! Zwei deutsche Damen haben es mir heute erzählt. Ein Illustrissimo sind Sie.«

–: »Bloß auf den Briefkuverts.«

»Ich bitte um Verzeihung, Signor Giulio. Die Damen haben Bücher von Ihnen gelesen.«

–: »Ich kann es ihnen nicht verbieten.«

»Und sie haben mir gesagt, daß die Bücher sehr schön zu lesen seien.«

–: »Es waren liebenswürdige Damen.«

»Ungemein liebenswürdige Damen. Sie haben mir zehn Lire Trinkgeld gegeben.«

–: »Wirklich?«

»So wahr ich hier sitze.«

–: »Aber du liegst ja auf dem Bauch.«

Er setzte sich sofort in Kutscherpositur, ließ mir aber auch weiterhin den Anblick seines Antlitzes und fuhr fort: »Als ich mich höflich bedankte, – wissen Sie, was sie da sagten?«

–: »Addio!«

»Nein, Signor Giulio. Sie sagten . . .« (und jetzt stockte er doch) ». . . sie sagten: Sie haben Glück, daß Sie diesen Herrn fahren dürfen. Er ist nicht nur ein berühmter Dichter, sondern auch sehr reich, und er gibt . . .«

–: »Pietro, du bist ein Birbante und hältst mich für einen asino illustrissimo. Weißt du nicht, daß Dichter nie reich sind? Hast du nicht gelesen, daß euer erhabener Gabriele, der hundertmal berühmter ist, als ich, kürzlich seine Pferde hat versteigern lassen müssen? Und ich habe nicht einmal Pferde! Ich bin so arm, Pietro, daß ich mich sogar für meine Gedichte bezahlen lassen muß, und das ist eigentlich eine Gemeinheit. Gerade so gut könnte man sich für seine Küsse bezahlen lassen.«

»O,« meinte Pietro, »das ist noch lange nicht das schlechteste Geschäft. Ich kenne eine schöne Dame, die brillant davon lebt. Sie gibt mir regelmäßig . . .«

»Schweig!« schrie ich. »Soll ich mit Putanen konkurrieren, du Schurke?«

Kurz: Pietro hat es nicht erlebt, daß ich seine imaginären Trinkgelder ins Reich der gemeinen Wirklichkeit übersetzte. Doch kam er trotzdem nicht zu kurz. Ich spendete ihm alte Anzüge, in denen er sich wie ein Gott vorkam, und von denen er, wie ich erfahren habe, zu erzählen pflegte, sie stammten von einem unsinnig reichen Deutschen her, der allein für Bier täglich zwanzig Lire ausgab, jeden Tag zweimal betrunken war und in der Zwischenzeit Verse machte, die man ihm so hoch bezahlte, daß er damit einen derartigen Lebenswandel bestreiten konnte. – Am stolzesten aber erregte meinen phantastischen Freund eine Mütze mit den Farben und Buchstaben der Hamburg-Amerika-Linie. Von dieser hat er ganze Gedichte in Umlauf gesetzt. »Solche Mützen trägt der Kaiser von Deutschland.« »Diese Mütze war schon dreimal in Amerika.« »Nur die höchsten Beamten dürfen in Deutschland solche Mützen tragen, denn es ist das kaiserliche Wappen darauf.«

Sein Traum war, sich in dieser Mütze photographieren zu lassen. Aber ich sollte diesen Traum bezahlen, und dessen weigerte ich mich, da mir an Träumen gerade das sympathisch ist, daß sie nichts kosten.

Ich verabschiedete mich von Pietro, indem ich ihm, da es das letzte Mal war, wirklich 10 Lire Trinkgeld gab. Seine Quittung lautete: Evviva la Germania!. – Und so verließ ich Florenz mit dem Hochgefühle, zur Popularität des Dreibundes in Italien Wesentliches beigetragen zu haben.

*

Ich weiß heute noch nicht, aus welchen eisenbahntaktischen Finessen es geschah, daß zwei Schnellzüge beinah gleichzeitig nach Bologna abgingen; bekannt und unvergeßlich ist mir aber die Tatsache, daß ich bei dem, den ich mir zur Fahrt auserkoren hatte, vergeblich auf den Facchino mit meinem Gepäck wartete; daß ich ihn, alle Facchinos von Florenz fürchterlich verfluchend, abfahren ließ; daß ich heiligen Zornes voll, ins Bahnhofsvestibül stürzte, fest entschlossen, den Pflichtvergessenen coram publico eine brutta bestia zu heißen; daß mir der Portier phlegmatisch erklärte, der Mann werde am »anderen« Schnellzug stehen, und daß dieser, als ich meinen Träger erreicht hatte, eben abfuhr.

Ha! Wie prachtvoll habe ich geflucht! Nicht im mindesten habe ich mich daran gekehrt, daß der Erzbischof von Florenz an allen Anschlageplätzen auf riesigen Plakaten männiglich des eindringlichsten ersuchte, das häßliche bestemmiare zu unterlassen. Ich mußte dieses Ventil öffnen. Donnert ja doch auch der liebe Gott, wenn zuviel Elektrizität in der Luft ist. Ein wahres Glück, daß mir das Blitzen versagt war. Jener Facchino wäre sonst heute eine Leiche, und im Fieramosca hätte es eine scheußliche Neuigkeit zu lesen gegeben unter dem Titel: »Brutalität eines deutschen Barbaren«. – Als ich mich ausgedonnert hatte, begab ich mich nach Santa Maria Novella und verrichtete in der Spanischen Kapelle meine Andacht vor dem hochheiligen Giotto, bis der nächste Omnibus nach Bologna ging.

Treno omnibus heißen in Italien die Bummelzüge. Ein ehrlicher und passender Name. Doch würde sich ein Autobus die Anzüglichkeit verbitten. – Bei meiner Vorliebe für langsame Verkehrsmittel befreundete ich mich mit dem Omnibus bald. Ich hatte mich vorsorglich mit einer schweren Last von Strozzibrödchen versehen (von mir so benannt, weil diese köstlichen mit Trüffelpaste bestrichenen Weißbrode gegenüber dem Palazzo Strozzi verkauft werden), führte Viktor Hehns »Italien« bei mir und hatte außerdem einen Bologneser Rechtsanwalt zum Reisebegleiter. Wie hätte ich mich da langweilen können? Nein, das tat ich gar nicht. Am wenigsten dann, als mich der Advokat angesprochen hatte. Er erzählte mir die ganze Geschichte der armen Contessa Murri, und ich fand wieder einmal, daß mein »Prinz Kuckuck« ein erbärmlich harmloser Roman ist. Zur Revanche erzählte ich ihm den Prozeß Eulenburg (den zweiten der unter der Firma Harden–Moltke gehenden). Ich werde mich hüten, wiederzugeben, welche Meinungen der italiänische Jurist über die Prozeßführung äußerte. Nicht verschweigen aber möchte ich, daß auch dieser gebildete Italiäner (wie schon manche vor ihm) mir bekannte, die Päderastie für eine Art weitverbreiteten deutschen Gesellschaftsspiels zu halten.

Ich verteidigte natürlich die Sitten des Vaterlands, fand aber wenig Glauben. Der Advokat meinte sonderbarerweise, die Sache hinge mit dem Militarismus zusammen. »Als ich zum ersten Male preußische Husaren sah«, sagte er, »war ich erstaunt, mit welcher Naivität die Militärverwaltung es zuläßt, daß diese verfänglichen Neigungen gewissermaßen Uniformzuschnitt erhalten.« Ich dachte an das Exterieur des Herrn von Podbielski und lachte lauter, als höflich war. Ein anderes Argument des Bolognesers war ernsthafter. Er behauptete, daß es in Florenz zwei Hotels gäbe, die zu homosexuellen Stelldicheins benutzt würden, und die Kundschaft dieser sonderbaren Vergnügungsetablissements bestehe zu drei Vierteln aus Deutschen, zu einem Viertel aus Engländern. Daß ich davon auch schon in Florenz gehört hatte, verschwieg ich ihm und stellte mich sehr erstaunt. Tat überhaupt, im Vertrauen darauf, daß er den »Prinzen Kuckuck« zuversichtlich nicht kannte, recht naiv und erzählte ihm dann, was ich (aus meinem Roman) von Neapel gehört hätte. »Das ist wahr,« bekannte er, »aber die Hauptstadt der Päderastie ist jetzt nicht mehr Neapel, sondern Leipzig.« – Itzt entgeistert saß ich da. »Lipsia?« flüsterte ich, von Erstaunen übermannt. »Lipsia!« bekräftigte er mit festester Betonung. Da konnte ich nun nichts weiter denken, als: Ei Herrjeeses!

*

Um ja nicht in ein Spezialitätenhotel zu geraten, stieg ich in Bologna in der alten ehrwürdigen Casa Brun ab, die viel zu schweizerisch-solid ist, als daß sie irgendwelchen unpassenden Rendezvous offen stehen sollte. Meine Moral hat auch nicht im geringsten dort gelitten, aber mein Portemonnaie fand, daß die moralische Sicherheit etwas teuer erkauft sei. Indessen, was tut man nicht der Moral zuliebe? Ich für mein Teil bin zu jedem Opfer bereit, zumal dann, wenn die Küche eines Hotels so gut ist wie seine sittliche Solidität. Und dies darf der Casa Brun noch immer nachgerühmt werden.

Ich hatte eigentlich vor, in der Umgebung Bolognas eine Villa für den nächsten Winter zu suchen, aber ich fand, daß es ein Fiesole dort nicht gibt, und so beschränkte ich mich auf den Besuch des wunderschönen Friedhofs und des Oratoriums Santa Cecilia. Beides kannte ich noch nicht. Nun ich es kenne, erkläre ich: der kennt Bologna nicht, der es unterlassen hat, die heilige Cäcilie und den Friedhof zu besuchen. Der Friedhof von Bologna ist nicht so großartig gelegen und angelegt wie der Genuas, hat auch nicht so viele moderne Kuriositäten wie dieser, aber er besitzt einige entzückende Skulpturen aus der Zeit des Empirestiles, die zu betrachten ein großes Vergnügen ist. Besonders die »verschleierte Dame« ist mir in der Erinnerung geblieben: eine trauernde Grazie, aber nicht aus der Mythologie, sondern aus dem Leben. O anmutvolle Melancholie! Ich mochte einen Abguß davon haben, der in einer beschnittenen Lorbeerlaube stehen sollte, eine Bank darunter mit der Aufschrift:

Wagt euch nicht her, Lärm und gemeine Lust,
Geklimper und Geschrei!
Hier träumt, umschleiert Angesicht und Brust,
Melancholei.
Sie will das Leben nur durch Schleier sehn
Und weit von ihm entfernt.
Sie kennt die süße Ruh: in sich zu gehn,
Und hat der Wehmut großes Glück gelernt.

Von ähnlicher Art ist der Trost, den die Kunst Lorenzo Costas und Francesco Francias im Cäciliengebethaus spendet. Früher versuchte ich, solche Bilder nachzuerzählen. Heute weiß ich, daß das im besten Falle Dazudichterei ergibt. Jugend mag das immerhin besorgen. Warum soll man sich mit 20, 25, auch 30 Jahren nicht auch mal in eine gemalte Cäcilie verlieben? Treibt man mäßigen Windes den Fünfzigern entgegen, so tut man besser, die Hand von solchen Liebhaberkünsten zu lassen und sich damit zu bescheiden, daß man zu sich sagt: Was in Linien und Farben einmal voll ausgesprochen worden ist, läßt sich in Worten nur übertreiben; nimm, was du siehst, Mann, ganz in dich auf und warte, ob es bei Gelegenheit einmal seine Auferstehung im Verse erlebt, ohne daß du weißt, woher dir dieses Glück geschieht. – Hier aber sage ich nochmals: geht zur heiligen Cäcilie, wenn ihr nach Bologna kommt. Sie wohnt zwar schlecht, in einem etwas verwahrlosten Raume, aber ich hoffe, daß es euch damit geht, wie mir: mich ergreift Schönheit um so mehr, wenn man sie sich selber und dem Reize ihrer alten durch keine Restauration vermodernisierten Umgebung überlassen hat. Noch eine Weile, und die Tüncher kommen oder die Freskenabsäger. Ich für mein Teil werde die holdselige Cäcilie weder besuchen, wenn die Wände ihrer Umgebung in stilgerechter blitzblanker Buntheit prangen, noch wenn sie selber zwischen Plüschsofas in einem königlich italiänischen Museum steht. (Daß man sie selber jetzt schon etwas »ausgebessert« hat, ist schade; man wird in Italien und anderswo so lange an den alten Kunstwerken herumrestaurieren, bis der Zukunft nichts weiter überliefert ist, als jeweilig moderne Nachpfuscherei. Ist es nicht ein Zeichen pöbelhaftem Frechheit, seine Hände selbst an Heiligtümer zu legen? Und ein Schwindel ist es obendrein.)

*

Nachdem ich wiederum die erstaunliche Fertigkeit der bologneser Eßwarenhändler bewundert hatte, die Riesenkugeln der nicht genug zu preisenden Mortadella di Bologna in papierdünne Scheiben zu zerlegen (wodurch der Wohlgeschmack dieser Wurst der Würste erst ganz zur Geltung kommt) machte ich mich, wohl versehen mit Mortadella und, damit die Nase auch was habe, mit Acqua di Felsina, auf und fuhr nach Venedig.

Venedig! Ich wünschte, daß ich einen Ausruf erfinden kannte, der wie ein Schrei der Lust alles das verkündete, was mir diese Stadt ist. Dieser Wunsch kennzeichnet den Zustand von Faulheit und Entzücken, in dem ich mich fast immer befand, wenn ich in Venedig war. – Ja, ich liebe diese Stadt mehr, als irgend eine andre: es ist eigentlich die einzige Stadt, die ich liebe. Vermutlich deshalb, weil es keine Stadt gibt, die so ganz Stadt wäre, wie diese: so ganz Kunst. Denn ich liebe das Entschiedene.

Mag sein, daß auch das Verfallende an Venedig mir so lieb ist, und das völlig Extraordinäre. Nicht zu vergessen seine göttliche Ruhe auf den Kanälen und entlegenen Plätzen, vor allem seine Freiheit vom Gerassel der Wagen: seine Trambahnlosigkeit zumal.

Ihr verdankt es diese wunderbare Stadt auch, daß man sich an ihrer Architektur noch erfreuen kann, ohne durch dicke Drahtlinien geniert zu werden, die nun auch in Italien die architektonischen Bilder zerreißen.

Die Hauptsache aber ist: Venedig ist arm, Venedig hat keine Möglichkeit, Industrie im großen Stile zu beherbergen: reich und häßlich zu werden.

Das ist den Venezianern natürlich sehr unangenehm. Auch sie möchten gerne alte schöne Paläste einreißen und dafür Fabriken bauen. Bei allen Teufeln: ich freue mich innig, daß das nicht geht.

Jetzt sind sie dabei, einen Straßendamm über die Lagunen weg zur terra firma zu errichten. Ist diese Straße mal da, so hoffen sie, daß draußen Fabrikquartiere erstehen werden. Meinetwegen. Wenn nur die alte edle Venezia selber bleibt, was sie ist: die Stadt der verfallenden Paläste, der verschwiegenen Winkel, der graziösen Brücken, der engen Gassen, der lautlosen braunen Kanäle, der schwarzen Umschlagtücher, der schwarzen Gondeln.

In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sollen die Stadtväter Venedigs ernstlich den Plan erwogen haben, den großen Kanal sowohl wie die nächstgelegenen kleinen zuzuschütten, um einen neuen Stadtkern zu bilden. Auch ein paar Dutzend der alten Paläste sollten daran glauben. Die, im Laufe der Jahrhunderte eisenhart gewordenen Pfähle, auf denen diese stehen, sollten, so heißt es, an amerikanische Pianofortefabrikanten verkauft werden, da ihr Holz das beste für den Pianofortebau sei. Diese Legende ist wohl eine Satire. Aber sie ist gut erfunden. Es hat in der Tat eine Zeit gegeben, wo die Venezianer höchst unglücklich darüber waren, keinen Boulevard, sondern den gran canale, keine großen Mietshäuser, sondern Paläste zu haben. Heute wissen sie ihre Spezialität besser zu schätzen. Da sie keine andere Industrie erheblichen Umfangs besitzen, haben sie die Fremdenindustrie im großen Stile ausgebildet. – Wer dürfte es ihnen verdenken? Es geschieht im ganzen auf liebenswürdige Manier, und das Geschmacklose, das damit einhergeht, läßt sich vermeiden, wenn man, zumal des Abends, den großen Kanal vermeidet. Wer aber ganz unbehelligt davon bleiben will, der besuche Venedig im Winter. Um diese Zeit ist die Lagunenstadt nicht bloß miasmen-, sondern auch fremdenrein.

Diesmal begann der Zufluß der Hochzeitsreisepaare eben, als ich dort war. Nun, es ließ sich ertragen. Die eigentliche Heuschreckenplage beginnt erst im Mai, der noch immer der beliebteste Honigmond ist. Auch fehlten die Gesellschaftsreisenden noch gänzlich, als welche gerade in Venedig mit einer Scheußlichkeit auftreten, die man als nationale Gefahr für den Ruf der Deutschen im verbündeten Italien bezeichnen muß. Ihnen verdanken wir es, wenn in italiänischen Blättern selbst intelligenter Herkunft noch von »deutschen Barbaren« geredet wird. Es fällt mir nicht ein, dies Geschwätz zu verteidigen, so weit es nichts als nationalistische Phrase derer ist, die, mit Gott weiß wie viel germanischem Blute im Leibe, von der Herrlichkeit der »lateinischen Rasse« (einem Unsinn) reden und, mit Wissen äußerst wenig beschwert, das Vaterland Goethes für eine Art europäischen Indianerterritoriums zu halten scheinen, wo man säuft, exerziert und in schwerfällige Banausenschädel mühsam stopft, was von der Herren Latiner Kulturtafel gefallen ist. Dieses dumme Zeug ist nicht der Beachtung wert. Jeder wirklich gebildete Italiäner zuckt die Achseln darüber. Wenn sich aber italiänische Journalisten darüber mokieren, daß deutsche Touristen in Venedig mit der Lodenjoppe erscheinen, eine Adlerfeder auf dem Älplerhute, in der Hand den Bergstock, an den Füßen genagelte Stiefel, so haben sie ganz recht. Schon wird in venezianischen Volksstücken diese Sorte Deutscher lächerlich gemacht; diese und eine andere, noch weniger erfreuliche: die der Vaterlandsprotzen. Ich sah solcher einmal fünf Gondeln voll den Grankanale entlang fahren, schwarz-weiß-rote Fähnchen schwingend und dazu die Wacht am Rhein gröhlend. Das ist nicht bloß geschmacklos, sondern lümmelhaft und hahnebüchen dumm.

Diesmal genoß ich eines eleganteren Anblicks. »Il gran cancelliere dell' impero germanico« weilte in Venedig und ging fleißig spazieren in den engen Gäßchen hinter seinem Hotel. Da ich in demselben Hause wohnte (das zwar Hotel Britannia heißt, aber ganz deutsch ist), so hatte ich verschiedene Male Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, daß Fürst Bülow ein sehr munterer Reichskanzler ist, der witzig zu erzählen und seine Erzählungen dramatisch zu beleben weiß, so zwar, daß er Stimmen und Bewegungen gleichermaßen gut imitiert. Ich denke mir, daß auch diese Begabung ihn bei S. M. beliebt macht. Doch möchte ich diese Bemerkung nicht als abschätzig genommen sehen. Zur Diplomatie gehört auch die Kunst, denen zu gefallen, auf deren Mitwirkung man wesentlich angewiesen ist, und die es in der Hand haben, sich andere Partner auszusuchen. Zu den Gefahren der Monarchie gehört es, daß Genies, denen diese gefällige Kunst nicht eignet, der öffentlichen Wirksamkeit entzogen werden können, weil sie nicht imstande sind, sich nach Bedürfnis einzuspielen. Das staatsmännische Genie ist meist (nicht immer) heroisch beschränkt, es läßt sich zu vielen Rollen nicht gebrauchen; es ist vielmehr geneigt bei aller Loyalität selbst der höchsten Stelle die Rollen zu diktieren. Wenn aber die höchste Stelle selber durchaus nur nach dem Heroenpart verlangt, so muß die Peripetie eintreten und das ungefällige Genie wird ausgeschaltet. Ein Glück, wenn dann wenigstens ein Talent an seine Stelle tritt, das die Gefälligkeit nur so weit treibt, als es ohne Gefährdung der Interessen möglich ist, die noch höher stehen als die höchste Stelle. Es hat unter Umständen die Pflicht, auch contre coeur weiter zu spielen: dann, wenn es weiß, daß nichts Besseres nachkommt. Wenn man den Fürsten Bülow immer wieder daran erinnert, daß er kein Bismarck ist, so sollte man nicht vergessen, daß auch Wilhelm der Zweite nicht Wilhelm der Erste ist, und wenn man sich dies recht deutlich ins Bewußtsein nimmt, so wird man wohl zu dem Schlusse gelangen müssen, daß nicht viel damit gewonnen wäre, wenn sich der Husar kürassiermäßig gebärdete. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß das Drama geendet und ein Salonstück begonnen hat, in dem für Heroen kein Platz ist. Seien wir froh, wenn in hervorragender Rolle ein Mann von Geist darin beschäftigt ist, der deplacierte Entgleisungen ins Heroische abwendet und dafür sorgt, daß nicht gar ein Intrigenstück daraus wird. Mehr können wir, wie die Dinge (und Personen) stehen, zurzeit kaum verlangen und erwarten. Doch tun alle die ein gutes Werk, die nicht müde werden, daran zu erinnern, daß in einem großen Volke heroische Gefühle und Bedürfnisse wohl einmal schlummern aber nicht einschlafen dürfen, und daß man auf einen Wechsel des Repertoires vorbereitet sein muß.

»Ein garstig Lied, pfui, ein politisch Lied!« Es ist aber nicht bloß der Kanzler des Deutschen Reiches daran schuld, daß ich mich, von Venedig redend, einer politischen Ruine, dazu verlocken ließ, sondern auch der gran cancelliere della poesia italiana. Doch würde Gabriele d'Annunzio mit diesem Titel keineswegs zufrieden sein. Wenn Nikolaus der Friedliche jetzt Zar aller Reußen ist, so ist Gabriele der Kriegerische heute Cäsar aller Lateiner. Die Höhe seines Ehrgeizes wird nur von der seiner Stehkragen erreicht. Alles an ihm ist glorios. Fällt ein Stück von ihm durch, so erhebt er den Durchfall noch in sublime Regionen, indem er ein Manifest erläßt, worin er seine Kritiker betrunkene Sklaven nennt. Stets ist er aktuell: wenn nicht in der Literatur, so durch Amouren, und wenn er wirklich einmal pausiert, so phantasieren ihm seine lateinischen Untertanen Legenden an, die lorbeerraschelnd durch die Zeitungen laufen. Ha: Gabriele ritt jüngst nackt ins Meer auf einem schwarzen Hengste (Preis 50 000 Lire) und ward, zum Strande kehrend, von seiner Geliebten (Preis 50 000 Lire) mit einem purpurnen Linnen abgetrocknet. Ha: Gabriele besitzt 50 Hunde, 20 Pferde, einen nach Maaß gemachten Marmorsarg und ein Lesezeichen, aus einer japanischen Schiffsfahne gefertigt, die beim Untergang der russischen Flotte mit dabei war. Ha: Gabriele erhielt kürzlich von einem betrogenen Ehemann (herzoglichen Geblütes) drei Ohrfeigen, sechs Nasenstüber, fünf Tritte gegen den Magen (Arztkosten 10 000 Lire). Ha: Gabriele entließ einen Kammerdiener, weil dieser es gewagt hatte, ihm ein Nachthemd zu reichen (Preis 500 Lire), das schon einmal gebraucht war. – Das kann man komisch finden, aber es ist vielleicht nicht komischer, als mancher Hofbericht in Deutschland, der sich manchmal mit weniger interessanten Erlebnissen weniger interessanter Personnagen beschäftigt. Dagegen fand ich sehr schön, daß in Venedig, als »La Nave« aufgeführt worden war, die Verse d'Annunzios das Stadtgespräch bildeten; aber nicht so, wie man wohl auch bei uns von Versen redet: kritisch, abwägend, silbenstochernd, sondern gleichsam in einer Wolke von Enthusiasmus. In jedem Kaffeehaus hörte ich sie; man kostete sie aus, überbot sich darin, sie schön vorzutragen. Und Ruderklubs luden den anwesenden Dichter ein, ihre Ruder poetisch zu segnen.

Dieser Ueberschwang war indessen doch nicht rein poetischer Natur, sondern politisch tingiert, wie, allem Anscheine nach, (denn ich kenne es nicht) das Drama von der Gründung Venedigs selber. Wenn ich die Zeitungen richtig verstanden habe, so besorgt d'Annunzio mit La Nave unter anderem auch das, was bei uns der Flottenverein tut: »Das Schiff« fordert mehr Schiffe. Daß Gabriele seinen Lateinern nebenbei auch die Weltherrschaft reklamiert, halte ich für sicher. Zu ihm gehört jeglicher Größenwahn. Ohne seine Megalomanie wäre er nichts weiter als ein glänzender Dekorateur. Man kann sagen, daß bei ihm der Größenwahn das Genie ersetzt. Die instinktive Sicherheit des ästhetischen Urteils bei den Italiänern zeigt sich darin, daß sie die große Wortkunst ihres Gabriele zwar nach Verdienst schätzen und mit Kennergefühl preisen, sich aber durch seine blendende Diktion nicht dazu hinreißen lassen, ihn zu ihren großen Poeten zu stellen. Ich habe mich anfangs sehr darüber gewundert, denn ich glaubte, ein Dichter wie d'Annunzio müßte von ihnen geradezu als eine Art Inbegriff des Genies ihrer Rasse vergöttert werden. Weil der Italiäner sich leichter als der Deutsche zur Begeisterung hinreißen läßt, glauben wir, er besitze weniger Urteil als wir, die wir uns für die geborenen Kritiker halten, weil sich bei uns Kunstwerken gegenüber Enthusiasmus schwerer einstellt. Das ist ein Irrtum. Die große Empfänglichkeit der Italiäner für starke Kunstäußerungen beruht keineswegs auf einem Mangel an ästhetischer Kritik. Der Italiäner besitzt nur nicht jenes eigentlich unästhetische kritische Bedürfnis, hinterher die Gründe seines Enthusiasmus zu zergliedern. Wo er einmal ja gesagt hat, bleibt er mit Leidenschaft dabei. Aber er sagt durchaus nicht zu allem ja, – auch dann nicht, wenn er damit in den Ruf eines auserlesen Verständigen kommen könnte, der seiner Zeit voraus ist. Der Snob ist in Italien so gut wie unbekannt, weil es dort eine alte ästhetische Kultur gibt, die dem Typus des Kulturparvenus nicht günstig ist. Nur in der Musik scheint sich eine Art Snobismus herausbilden zu wollen.

Ich hatte Gelegenheit, in einem Tearoom zu Venedig (keine italienische Stadt ohne Tearooms) zwei junge venezianische Adelige, deren Namen ich zufällig erfuhr, über die Salome von Strauß reden zu hören, die sie in Mailand genossen hatten. Sie sahen genau wie junge Engländer aus und flochten auffällig viele englische Wendungen in ihre Reden ein.

»Ich habe«, sagte der eine, »die Empfindung gehabt, daß das gar nicht mehr Musik war, sondern verrücktgewordene Natur in Tönen. Eine unglaubliche Sache. Nicht eigentlich angenehm; eher beängstigend, aber höchst eindrucksvoll.«

»Es ist Musik«, sagte der andre, »aber barbarische. Diese Germanen streifen alle Fesseln der edleren Form ab und führen ihre alten Kriegstänze auf.«

»Ganz falsch!« war die Antwort. »Die Deutschen sind dekadent. Ihre Natur ist krank, wahnsinnig, hilflos. Sie haben keine Kraft mehr für die Form. Sie können nur noch heulen, stammeln, wiehern, kreischen. Aber es geschieht, wenn auch krank, so doch mit einer Inbrunst, daß man erschüttert wird und hinterher jede noble Form wie etwas Schwächliches empfindet. Es ist das Ende der Musik.«

Wieder der andre: »Aber jeder Musiker sagt dir, daß es nie eine Musik gegeben hat, die sich mit dieser an Kunst vergleichen läßt, oder besser: an Technik. Aber das ist doch schließlich dasselbe. Gewiß ist, daß Verdi nicht ausdrücken konnte, was Strauß ausdrückt, und daß Strauß ausdrückt, was wir empfinden. Wenn du das dekadent nennst, so sind wir eben auch dekadent, denn sonst könnten wir es nicht verstehen und mit Beifall begrüßen.«

So, präziser gefaßt, als es gesprochen wurde, der Extrakt des Gespräches. – Ich ging dann hinaus, zum Markusplatz, und der Zufall wollte es, daß die Kapelle einmal ausnahmsweise lauter ältere italienische Musik spielte: Musik, die meist schon zum Gassenhauer geworden ist, oder uns so vorkommt, weil sie uns keine Rätsel mehr aufgibt.

Da ich kein Renommee als Musikkritiker zu verlieren habe, darf ich ruhig bekennen, daß mir diese Musik sehr wohl tat. Sie erheiterte mich, war wie eine Aufforderung zum Tanze mit dem Leben. Ich wurde leichtsinnig und begann ein Gespräch mit einer kleinen Rothaarigen, die wohl nur einen Lord Byron bedurfte, um sich als eine Marianna zu entpuppen und eine guerra di landia aufzuführen, falls ihr eine Margueritta aufoktroyiert worden wäre. Aber ich bin viel zu bescheiden, als daß ich auch nun auf diesem Gebiete mit dem großen Lord wetteifern wollte. Es ging schon deshalb nicht, weil mir der venezianische Dialekt, den er beherrscht hat wie die Grazien, noch immer nicht eingegangen ist. Ich begnügte mich damit, der Kleinen zu eröffnen, daß sie ein hübsches Mädchen sei, wofür sie mich mit der Erwiderung beglückte, ich sei ein liebenswürdiger Fremdling.

»Was machen Sie denn tagsüber?« fragte ich.

»Blumen aus Perlen,« sagte sie.

»Das muß ja sehr reizend sein,« sagte ich.

»Aber es wird schlecht bezahlt,« sagte sie.

»Das ist nun so,« sagte ich, »die hübschesten Sachen werden meist am schlechtesten bezahlt. Mir geht's auch manchmal so.«

»Ach,« meinte sie, »Sie sehen nicht so aus, als ob Sie sich mit Polenta und Käse ernährten.«

Schon wollte ich ihr Bonbons kaufen, da erschien ihr Bräutigam und scheuchte mich mit einem Blick von dannen, der wie ein Dolchblitz funkelte. »Felicissima notte«, sagte ich.

Er empfahl mich der Madonna zu einem Geschäfte, das mich der Hölle überliefern würde, wollte ich es auch nur in Gedanken erwägen.

Darin sind die Popolanen Venedigs nämlich von einer blasphemischen Phantasie, die an Ruchlosigkeit und Schmutz unmöglich überboten werden kann. Ich glaube, die geringe Anzahl von Delikten gegen Leib und Leben, durch die sich Venedig auszeichnet, kommt daher, daß das venezianische Volk so fürchterlich mit dem Maule sündigt. Aber schrecklich ist es doch, derlei anzuhören. Worte können so furchtbar sein wie Taten. »Hüte deine Zunge!« ist eine Mahnung, die von frühauf einem jeden immer vorgehalten werden sollte. Die gute Kinderstube, die das besorgt, macht sich um Seele und Zukunft des Kindes sehr verdient. Wer seine Zunge im Zaume hat, hat meist sich selber in der Kandare. – Wenn nur nicht die Nerven wären, diese zitternden Sehnen, von denen die bösen Worte allzu schnell und allzu scharf fliegen. Ich habe es mir seit einiger Zeit zur Gewohnheit gemacht, in Augenblicken, wo die Nerven vibrieren und ein böses Wort abschnellen wollen, vor mich hin zu sagen: M. h. M! Dieses Geheimsiegel bedeutet: Mensch, halt's Maul! – Hätte ich darnach immer gehandelt, so würde ich mir, und was mehr ist: geliebten Menschen viel Unangenehmes erspart haben.

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