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In jenem heißen August, da die Cholera in Hamburg herrschte und mehr Menschen die Kühle des Grabes brachte, als je ein heißer Sommer zuvor, konnte man, immer zur nämlichen Abendstunde, einige Tage lang eine hohe schöne Frau in einer kaum auffälligen und doch so merkwürdigen Verkleidung und Verstellung eine der stillen und vornehmen Villenstraßen an der Alster dahinschreiten sehen, daß man sich unwillkürlich noch mit dieser Erscheinung beschäftigte, nachdem sie längst dem Auge entschwunden war. Von den wenigen, die dort gingen, hat wohl niemand ihr nachzublicken gewagt, denn ihre Art erlaubte das nicht; aber nachgesonnen hat ihr wohl jeder, der sie begegnend ins Auge faßte. Es war sicherlich nicht die Zeit zu Vermummungen, während die Seuche täglich gieriger wurde und ihr Hunderte von Menschenopfern nicht mehr genügten; als ich aber das Gebaren dieser Frau sah, welche mit einer inneren Schwere ohnegleichen einen vorgeschriebenen Weg zu gehen schien, ergriff es mich, als ob das Leben in einer Art Wettstreit hätte zeigen wollen, daß es grausamere, blutigere Menschenopfer fordere, als jener dörrende Tod.
Mit diesem Schlüssel bin ich ihr nachgegangen, ohne daß sie etwas davon gemerkt hat; und unsichtbare Spuren erzählten mir ihre wundervolle Geschichte.
Das Besitztum, aus dem die schöne Frau an jenen Abenden zu ihrem Gang hervortrat, war das ihres Vaters, welcher einen der besten Namen der bürgerstolzen Stadt und, damit in einer nutzbaren Dreieinigkeit verbunden, das beste englische Tuch und die Würde eines Senators auf seiner Person vereinigt trug. Denn die Stadt hält es für tunlich, von ihren Besten Alter des Namens, Wohlstand und Würde zugleich zu verlangen, und fördert klüglich von sich aus diese sich durchdringende Verbindung. Wie ein unveränderlicher Dreiklang lagen diese drei Worte über Haus und Garten, schwangen als eingestimmte Grundtöne in den Bewohnern wie den Besuchern, denen sie sich sofort mitteilten, sobald sich das große, langweilig-kunstvolle schmiedeeiserne Tor der Besitzung, gegen das dennoch nichts einzuwenden war, vor ihnen auftat und in dem peinlich gepflegten Garten hinter still niederhängenden Blutbuchen und Gruppen seltner hoher Nadelhölzer die unerbittlich weiße Hausfront mit den geschlossenen Fenstern sichtbar wurde; und das ganze System des Daseins dieser Menschen und Dinge wäre offenbar in Unordnung geraten, wenn irgendwo oder irgendwann ein neuer fremder Ton sich den wohlangemessenen alten zugesellt oder die Stimmung nur um eine Schwebung hätte verschoben werden sollen.
Unter diesem Dreiklang, den er voll auf sich wirken ließ, betrat auch, etwa fünf Jahre vor jenem Sommer, Albrecht Froben das erstemal das Haus seines Oheims, des Senators. Jedoch galt nicht diesem die ein wenig bange Spannung, mit welcher Albrecht den breiten Weg vom eisernen Tor zur Haustür schritt, sondern, wie er sich nicht verhehlte, seiner Cousine Octavia, die damals als einzige von drei Töchtern noch im Hause war. Denn ihr war es, der ein unausgesprochenes Gelöbnis, eine fast absichtlich im Traumhaften gehaltene Schwärmerei seiner Jünglingsjahre gehörte, während welcher er etliche Winter mit ihr in der Garnison seines Vaters im Westen vertanzt und ein paar Sommer verritten und verjagt hatte. Das war wohl zehn Jahre her, und er hatte in ihnen mit einer befreierischen Freude und mutwillig samt andern Träumen und feinen Neigungen seiner Jugend auch diese vernunftlos zerstört und sich am sogenannten Leben geflissentlich zu verhärten und vergröbern gesucht; aber aus all den Wirklichkeiten und all den starken Lieben und Leidenschaften, mit denen er sich umgeben zu haben glaubte, stieg doch, als ein seltsames Gewissen, bei jeder Enttäuschung und selbst in seinen Freuden das Bild Octavias wie in einem verschleierten Spiegel vor ihm auf.
Trotzdem hatte er nie recht darauf geachtet, noch das wiederkehrende Bild auch nur recht zu betrachten für nötig befunden, da er es in jenen Jahren nicht eigentlich für männlich hielt, zurückzublicken. Die Erscheinung war vielmehr jedesmal bald von der Helligkeit eines neuen Tages verdunkelt oder überstrahlt. Jetzt aber gedachte er daran und, der leibhaftigen Gestalt jenes Bildes so nahe, wollte es ihn bedünken, jene Mahnungen seien häufiger und stärker gewesen, als er sich früher einzugestehen gewagt hatte.
Als sich die überdachte Haustür mit den schweren geschliffenen Scheiben so geräuschlos vor ihm öffnete wie die Tür eines Kassenschranks; als er in die dämmerige Unverrückbarkeit der Eingangshalle trat, wo eine hohe, kaum sichtbare Uhr so langsam und gravitätisch tickte und ihr langes Pendel bewegte, als ob selbst sie empfände, wie es hier nicht am Platze sei, unruhig hin und her zu hüpfen und zu nicken, schien selbst das einzige, was er in einem kleinen jugendlichen Widerstandsbestreben einst an seiner Cousine gespreizt, ja lächerlich gefunden, sich in das Gegenteil davon zu verwandeln. Denn ihr römischer Name, der ihm früher in der bezeichneten Weise zu schaffen gemacht hatte, verkehrte sich in der Strenge, die hier herrschte und atmete, zu einer Unauffälligkeit. Er mußte sich sagen, daß sein Oheim es sich leisten konnte, seinen Töchtern erlesene Namen zu geben; und als in demselben Augenblick Octavia ihm in unverhohlener und doch gedämpfter Freude aus dem Musiksaal, wo ihr der Diener den Besuch des Vetters gemeldet, zur Bewillkommnung entgegentrat, fand er, daß es ihr anstand, ihren erlesenen Namen zu tragen.
Octavia war sicherlich eines der vollkommensten Frauenwesen, die damals mit Anstand über den Jungfernstieg gehen konnten. Sie war herrlich anzusehen in ihrer durch Vornehmheit gekühlten Schönheit, in ihrer Größe, Gelassenheit und unachtsam gemessenen Haltung.
»Nun«, sagte sie fröhlich und ergriff seine beiden Hände, die den ihren begegneten; »eine Rückkehr nach zehnjähriger Irrfahrt?« – Es war nur ein scherzendes Wohlwollen, kein Spott, in ihren Worten, denn sie wußte wohl, daß Albrecht lediglich in einer Art von unbeholfenem Trotz und Auflehnung gegen das Herkommen und die verhaßte menschliche Ordnung der Dinge sich all die Jahre in wechselnden Kreisen und Wirbeln umgetrieben hatte, was alles sie wohl verstand und verzieh.
»Wenn du willst, eine Rückkehr«, sagte er, indem sie langsam hineingingen; »ich dachte freilich mehr an das Erreichen eines neuen, wenn auch stilleren Landes, das vor mir läge.«
Octavia neigte lächelnd den Kopf hin und her, als ob das nach ihrer Auffassung kein rechter Unterschied sei; und in diesem Augenblicke erschien Albrecht sein Hiersein selbst mehr wie eine Rückkehr, weil sie es so genannt. Dennoch war es ihm ganz klar, daß sie nicht von einer Rückkehr zu ihr gesprochen; denn sie hatte sicher nicht auf ihn gewartet, obwohl sie es immer gewesen, die in den Jahren, während welcher er sich seiner ganzen Verwandtschaft überheben zu können glaubte, für ihn tapfer gegen die Ausbrüche und die Spötteleien focht, welche gelegentlich mit der Befriedigung einer gerechten und zugleich ungefährlichen Beschießung von ihrem Vater und ihren Brüdern auf ihn abgefeuert wurden. Sie kannte ihn aus jenen unbefangenen Gemeinsamkeiten früherer Jahre besser als selbst seine Eltern und Geschwister und verstand ihn; sie liebte sicherlich weniger ihn als seine Art, seine Frische, seinen Mut, seine nach tausend jungen Torheiten doch immer wieder besinnliche Kraft. In ihrer Begrüßung fühlte Albrecht ihr ungemindertes, ja gesteigertes Verstehen, und in diesem wiederum erblickte er einen klarsichtigen, sich nach seinen Irrfahrten freundlich darbietenden Ankergrund, den er dankbar anlief.
Obwohl Octavia nunmehr siebenundzwanzig Jahre zählte, hatte auf diesem Ankerplatz, der vor der tiefen Bucht ihres Herzens lag, noch niemand sich anzulegen gewagt. Denn sie hütete die Einfahrt durch die Klippen ihres Stolzes und ihrer Überlegenheit, und es stand immer eine abweisende kühle Brandung davor. Sie wußte wohl nicht, daß sie für ihren glücklichen Vetter selbst den Lotsen durch Brandung und Klippen gespielt und er bereits an einem bedrohlichen Platz vor den stillen Gewässern ihres Herzens hielt.
An jenem Tage freilich blieb Albrecht geruhig liegen, wo er hingelotst war, und guckte noch mit keinem Blick nach der schönen Bucht hinüber, die ihm wohlverwahrt schien.
Während die beiden in einem stundenlangen freimütigen Erzählen beieinandersaßen und Octavia einen kleinen Imbiß vor den niedrigen Sesseln, die sie festzuhalten schienen, auftragen ließ, bemerkte weder er, daß er vergaß, auch nur eine Frage nach Oheim und Tante zu stellen, noch sie, daß sie einer mehrtägigen Abwesenheit ihrer Eltern auf deren Landgut im Holsteinischen Erwähnung zu tun unterlassen hatte.
Schon am folgenden Tage verließ Albrecht den ihm gebotenen Ankergrund vor der Sperre von Octavias Herzen, um, wie er meinte, munter mit dem frischbewimpelten Fahrzeug seiner Neigung hineinzugleiten. Denn über Nacht schien es ihm unter dem Eindruck der Begrüßungsworte seiner Cousine klar geworden, daß er, schon ehe er sie wiedergesehen, mit einer Hoffnung gekommen war. Die Unauslöschlichkeit ihres Bildes in seinem Innern, die in Wahrheit nichts mehr war, als ein selbstgeschaffener Halt an dem einzigen weiblichen Herzen, das ihn nach seiner Vorstellung voll verstand und wert hielt in Zeiten, als andere gering von ihm dachten, dessen Stelle auch wohl eine verstehende Mutter oder Schwester hätte einnehmen können, bewies ihm die Tiefe und Dauer einer Neigung, die vielleicht der gestrige Tag erst geboren hatte. Die ruhige geklärte See, welche sich ihm hier zeigte, dünkte ihm nun plötzlich verheißungsvoller, als alle die schäumenden und verrauschenden Wellenschläge, die ihn früher schaukelten, und im Anblick des Hafens vergaß er Wind und Wogen, die er einst geliebt. Zudem hatte er gerade den rechten Mut, ein Glück für sich zu erobern, das manchem andern, der es begehren mochte, zu aufrecht und stolz daherschritt, als daß er die Hand danach auszustrecken gewagt hätte.
Da somit aus seiner Landung eine Brautfahrt geworden war und er die Dinge gern beim rechten Namen nannte, auch vor Octavia gar keine Heimlichkeiten haben mochte, zögerte er nicht, das schwerbeladene Schifflein seines Herzens vor ihr auszuschütten, das urplötzlich infolge eines geheimen Lecks seine Last nicht mehr tragen zu können schien. Die Ehrlichkeit strahlte golden aus seinen Augen, und eine nie gefühlte Ergriffenheit bemächtigte sich Octavias, da sie, ihn ruhig anblickend, seine Botschaft entgegennahm. Sie dachte nur an ihn, nur an das Schicksal, das sich für ihn gestalten sollte, als sie ihn, wie wenn sie seine Beraterin und Fürsorgerin in dieser Sache sei, gütig über die Hand strich und sagte:
»Wirst du denn mit dieser Frau glücklich werden?« Und dabei sah er einen Zweifel in ihren Augen – um seinetwillen.
»Ich bitte dich,« sagte er beinahe erschrocken, »es handelt sich ja doch um dich! um dich, Octavia!«
Sie schüttelte lächelnd den schönen Kopf: »Nein,« sagte sie bestimmt, »es handelt sich um dich. Es ist mir, als suchtest du eine Meeresstille und gedämpftes Licht, während Wind und Wellen, Sonnenglut und Sonnenlust deine Elemente sind.«
Er begriff nicht, was sie sagte. Es galt auch nicht, zu begreifen, sondern diese Bedenken zu überrennen, ehe sie sich noch höher erhoben.
»Gewiß suche ich bei dir die Stille und das ruhige Licht!« warf er eifrig ein. »Ich habe genug von Sturm und Glut, und sie haben keine Macht mehr über mich.« – – »Ob du mich liebst, muß ich wissen«, setzte er leise und dringend hinzu, während er sich vorbeugte.
»Ja«, sagte Octavia, die keine ungeklärten Gefühle in ihrem Herzen duldete.
Er war aufgesprungen in seiner Freude, um sie in seine Arme zu schließen; sie aber saß in ihrem Sessel und streckte ihm lächelnd die Hände zum Kuß entgegen. Als er ihren Mund suchte, war es ihm, als küsse er eine schöne, tauige Rose. Und dennoch liebte ihn diese Frau, und nie hat er erfahren mit wie großer Liebe.
In dem Augenblicke freilich verzischte der kühle Tau, welcher über ihr lag, an dem guten warmen Mut und der Aufrichtigkeit seines Herzens, so daß er ihn nicht empfand. Er riß sie zu sich empor und verlangte von ihrer gefestigten Selbständigkeit kein ungewohntes Anschmiegen. So stand sie bei ihm, aufrecht und groß wie er, und ihre ausgestreckten Arme, die eines auf des andern Schultern gelegt hatte, trennten sie. Aber ihre klaren festen Blicke liefen über diese Verschränkung wie zwei sich begegnende Leuchtfeuer. Da sahen sie, daß es ein heller Grund war, aus dem die beiden Feuer hervorbrachen.
Es ist ein heißer Sommer, und wieder, wie vor fünf Jahren, als sie ihr Geschick aneinander banden, sind Albrecht und Octavia allein in dem vornehmen Hause an der Alster. Denn die Eltern sind wieder auf ihrem Landgut im Holsteinischen, wie es für die heiße Zeit ihre würdevolle Gewohnheit ist. Sie haben bereitwillig Octavia und ihrem Gemahl das Stadthaus überlassen, solange es diesen gefällt; denn Octavia fühlt sich darin wohl, und Albrecht gesteht sich, daß sie nie so schön, so innerlich ausgeglichen, so gelassen ist, wenn er sie in seinem eigenen Wirkungskreis sieht, der fern von Hamburg in einer kunstfrohen Stadt des Westens liegt. Auch Octavia empfindet das, und es ist ihr ein kleiner immerwährender Schmerz; denn sie hat Mut und Absicht, sich in anderes zu schicken um Albrechts willen, und kennt ganz und gar kein unfreisinniges Hervorkehren und Festhalten ihres Herkommens. Aber es gelingt ihr nicht; es ist etwas von der Unverrückbarkeit des strengen Hauses an der Alster in ihr, wo sich die Türen noch immer so geräuschlos und langsam öffnen wie die eines Kassenschranks, wo noch immer die hohen Uhren wissen, daß sie langsam und leise zu schwingen haben, wo jeder Eintretende dem Geist des Hauses verfällt.
Unverrückbar scheint auch Octavias Schönheit. Sie ist fast die eines lebenden schönen Bildes. Octavia ist so jung wie vor fünf Jahren und wird nach fünf Jahren nicht älter sein. Sie lebt, als ob sie wachend dennoch einen Zauberschlaf schliefe, der sie vielleicht von Leidenschaft und Schmerz träumen läßt, aber ihr das Erleben erspart. Sie lieben sich, Albrecht und Octavia, wie vor fünf Jahren; aber, wie damals, ist es, als ob er die aufgewölbten tauigen Blätter einer Rose berühre, wenn er ihre Lippen küßt; und es scheint, wie damals, eines Armes Länge zwischen ihren Leibern zu sein.
Albrecht wird während des Aufenthalts in dem sommerstillen Haus ein kunstwissenschaftliches Werk vollenden, zu dem er die Vorarbeiten gesammelt und gesichtet hat; denn sein Wort hat Geltung unter den Verständigen, obwohl er, um frei seine eigenen Wege zu gehen, nur eine beigeordnete öffentliche Stellung an einer der staatlichen Kupferstichsammlungen angenommen hat. Wenn er die schon abgeschlossenen Abschnitte seines Werkes überliest, so mag er sich an der kristallenen Fassung seiner Gedanken erfreuen, die so ruhig daherschreiten, wie seine Frau unter den hängenden Blutbuchen des Gartens; aber die Worte scheinen ihm keine rechte Wärme zu haben, und wenn er andere in einem besseren Feuer schmieden will, so kommen sie nicht minder kalt daraus hervor.
Wenn er des Morgens zu seiner Erfrischung hinausreitet, um den beiden starken, langschrittigen Vollblutpferden, die Octavias Vater ihnen geschenkt hat und die sie nach ihrem Aufenthalt heim nehmen werden, Manieren beizubringen, so sitzt er wohl noch so leicht und frei über ihrer Schulter, wie je. Aber er reitet langsamer und um ein weniges schwungloser. Nicht, daß er es nicht mehr vermöchte. Aber er hat so wenig den Drang zu einem pfeifenden Galopp in den Wind, den er einst so geliebt, wie die hohe Uhr in der Eingangshalle das Gelüste hat, ihren Gang zu beschleunigen.
In dem kleinen Kanal, zu dem die Rasenflächen des Gartens auf der der Straße abgewendeten Seite des Anwesens sanft hinabsteigen und überhängende Bäume ihre begehrlichen Äste zum Wasser niederneigen, liegt ein rennmäßiges Boot zu stetem Gebrauch bereit. Wenn Albrecht auf ihm zur offenen Alster hinausrudert, so sind seine Schläge noch so stark, wie je, als er seinen Körper aus Lust an seiner Kraft stählte. Aber es kommt ihm nicht in den Sinn, sich in einen befreienden Schweiß hineinzurudern. Nicht, daß er der sorglichen Mahnung Octavias gedächte, sich zu schonen, – denn er belächelt sie sogar ein wenig – aber es ist ihm nicht um einen befreienden Schweiß zu tun.
Alles das weiß Albrecht, und er seufzt manchmal. Aber dennoch wüßte er nicht zu benennen, was ihm fehlt noch was ihn quält. Deshalb denkt er wohl, er seufze aus einem Zuviel von Behagen und Sorgenlosigkeit, und gibt sich zufrieden.
Da, an einem Maienabend, als sein leichtes Boot nach heißem Tag noch spät unter dem lautlosen Baumgewölbe, von dem das Mondlicht ins Wasser träufelte, der Alster zuglitt und die langen Ruder lässig die Fläche streiften, begab es sich, daß Albrecht einen kleinen Widerhalt zu gewahren glaubte, der die Schnelligkeit seines Fahrzeuges um ein weniges hemmte. Es war, als ob ein schwerer Körper an dem festgestellten Steuer hinge und sich mit fortziehen ließe. Einige kräftige Ruderschläge, die das Boot nicht wie sonst dahinfliegen machten, überzeugten ihn, und da er zugleich in die hellbeschienene freie Alster hinausschoß, gewahrte er die Finger einer kleinen braunen Hand, welche die hintere Schweifung seines Steuers umfaßt hielten. Es war ein sorgloses Festhalten, kein ängstlicher Griff, der nach dem Rand des Bootes verlangt hätte; und da bemerkte er auch schon fast in der Linie des Kielwassers einen blitzenden weiblichen Körper, welcher zu der kleinen braunen Hand gehörte und nahe der Wasserfläche hinter dem nun langsamer gleitenden Boot dahinfloß. Die Gestalt lag auf dem Rücken gestreckt, und die dem Kiel nachstrebenden wieder zufallenden Wellen spielten über sie hinweg. Den Kopf und den anderen Arm, der wohl das Steuer von unten umgriff, vermochte Albrecht nicht zu sehen, denn der gewölbte Rand des Bootes verbarg sie.
Bald aber, da er unwillkürlich mit Rudern innehielt, hörte er eine kleine befehlende Stimme voller Ungeduld.
»Ah! weiter!« rief es; und unter einem seltsamen und dennoch unfühlbaren Zwange tauchte Albrecht die Ruderschaufeln von neuem in die überflimmerte Flut. Es war ihm recht eigentlich wohlig, außer der eigenen Schwere einen Widerstand zu überwinden, was ihm plötzlich wie eine lange Entbehrung vorkam, und er brachte das Fahrzeug bald in einen schwungvollen Flug. Das schien dem schlanken Fischwesen, welches ihm anhing, sehr wohl zu behagen, denn es verhielt sich ganz stumm und rauschte wohlgefällig in seinem fließenden Wellengewand, das der Mond mit glitzernden Säumen und Litzen besetzte, hinter ihm her. Albrecht war so völlig im Bann dieser kraftvollen und prächtigen Spielerei, daß er erst nach einer Weile inneward, wie nun doch, da sie inmitten des weiten Beckens dahinglitten, für das zarte Wesen mit den schlanken braunen Fingern eine Gefahr entstanden sei, wenn anders sein Leib wirklich in keinem Fischschwanz endete.
»Können Sie denn schwimmen?« fragte er auf einmal erschrocken und setzte einige Ruderschläge aus.
Sie schien die Frage zu mißachten und antwortete nur herauf: »Das Wasser streichelt mich so besser.« – »Wenn Sie übrigens das Rudern einstellen, wird mein Wellenkleid zu durchsichtig und ich muß Sie verlassen!« setzte sie drohend hinzu.
Albrecht ließ, um die seltene Gefolgschaft nicht zu verlieren, gehorsam das Boot von neuem dahinfliegen. Während von neuem die langvermißte Freude am Einsetzen seiner ganzen Körperkraft seinen Leib durchlief und in ein leises Glühen brachte, standen seine Gedanken wie unter dem wiedererwachenden Zauber einer längst vergangenen Zeit, auf die er sich gleichwohl erst besinnen mußte. Es war nicht, daß er je ein ähnliches Abenteuer erlebt oder dieses mit früher erlebten verglich; aber es wehte ihn vertraut an aus den Worten der schwimmenden Gestalt, deren Stimme er dennoch nie zuvor gehört: ›Das Wasser streichelt mich so besser.‹ Warum spielte sich die Zärtlichkeit und Kraft, die geeint darin lag, in sein Herz hinein, wie die Zärtlichkeit und Kraft einer sonnigen, tändelnden Meereswelle in die kleine Höhlung eines Gesteins? Diesen Empfindungen war er so ganz hingegeben, daß er nicht im leisesten neugierig auf die Lösung des Zaubers war; und es erging ihm nicht anders als jedem Menschen, der sich einer Gaukelei während ihrer Dauer gern und ohne Fragen überläßt und erst, wenn sie vorüber ist, begierig nach ihrer Erklärung fragt. So ruderte er mit seiner Last schweigend dahin, als ihn die Stimme unter dem Bootrand aus seinen sich entfernenden Gedanken riß.
»Ich werde jetzt umkehren«, rief es von unten herauf; »und Sie werden mir nicht folgen, wie einer wirklichen Hexe!«
In demselben Augenblicke schoß das Boot, unerwartet von seiner Last befreit, durch den nächsten Ruderschlag so pfeilschnell ins Weite, daß Albrecht fast rücklings von seinem Sitz fiel und im Augenblick viele Meter von einem rundlichen dunkeln Ball entfernt war, welcher sicher und gleichmäßig dem Ufer in der Richtung zustrebte, aus der er gekommen war. Das war alles, was er von der schwimmenden Gestalt noch gewahrte, und als er einen Augenblick versucht war, das Boot zu wenden und ihr nachzurudern, schämte er sich dieses Gedankens sofort wie einer Undankbarkeit und ließ das Fahrzeug ohne Schlag gleiten, bis es von selbst auf dem Wasser still lag. Da konnte er auch den Kopf des Wesens über der matt flimmernden Fläche nicht mehr unterscheiden.
Tief in der Nacht kettete Albrecht sein Boot an dem Landungssteg in dem versteckten Kanal an; denn er war noch lange still draußen auf der freien Alster liegen geblieben, wie man nach einem schönen Traum noch eine Weile stille liegt. Nun trat er in das Schlafgemach Octavias, welche die laue monderhellte Nacht nur in einem leichten Schlummer hielt. Das Abenteuer hatte ihn wohl mehr erregt, als er wußte, die durch es entzauberten Empfindungen ihn verwirrt, und so drängte es ihn zu den klaren ruhigen Gefühlen dieser Frau, welche ihn noch immer verstanden hatte. Er setzte sich auf den Rand ihres Bettes, und das nächtliche Dämmerlicht des Raumes war ihm hell genug.
»Hier gibt es also leibhaftige Nixen,« sagte er, »und solche von der schlimmsten Art, nämlich in Menschengestalt.« Und dann erzählte er der lauschenden Frau sein Abenteuer.
Die Schilderung mochte seltsam ausgefallen sein; denn Octavia rief lachend, als er geendet: »Du bist ja ganz begeistert! – Was übrigens die Nixe anlangt, so kenne ich sie: Joie ist wieder im Lande; der Streich schmeckt ganz nach ihr. Wenn sie aber im Lande ist, so wohnt sie nicht weiter von uns, als im Nachbarhause kanalabwärts, welches ihrem verstorbenen Stiefvater gehörte. Wie sie eigentlich heißt, weiß ich nicht; wir nannten sie in der Schule schon alle Joie, und wenn sie auf den Namen nicht getauft ist, so ist es doch der, welchen allein sie tragen müßte. Denn sie ist die prächtigste freudestrotzende Weibsperson, welche die Sonne bescheint. Nur –«, und hier zögerte Frau Octavia, »nur vermochte ich ihr nie nahezukommen; ich konnte, wie man zu sagen pflegt, nie ganz mit ihr mit.«
Albrecht erinnerte sich nun, daß er schon wahrend des Hinausgleitens des Bootes aus dem kurzen Kanal die hemmende Last gespürt, und zweifelte keinen Augenblick, daß er das Wesen hinter sich hergezogen hatte, welches, wie Octavia zugab, mit Fug und Recht Joie hieß.
»Du hast mir aber von Joie noch nie etwas gesagt«, erwiderte er, und der Name schien ihm für seine Nixe sehr zu gefallen.
»Ah«, machte sie; »es geschah sicher nicht, um sie dir vorzuenthalten. Aber erstens ist sie selten in der Stadt, und zweitens kennt man sich doch, wie du weißt, hier nicht, selbst wenn man Zaun an Zaun wohnt. Weißt du vielleicht, ob das Nachbarhaus bewohnt ist, oder nicht? und doch liegt es nicht einmal so weit von der Straße ab und nicht so im Garten versteckt als das unsere. Sie geht ihre eigenen Wege, die mich nicht kümmern. Wenn du sie aber sehen willst, so brauchst du nur früh genug aufzustehen; denn ich bin sicher, daß sie ihre Pferde mit sich hat und einen ganzen Tierkreis dazu.«
»Morgen wird sie wohl von ihrer Schwimmübung ausruhen«, sagte Albrecht, indem er sich erhob. Rasch und leicht ging er in sein Gemach und warf sich in einem wundervollen Gemisch von Gehobenheit und Erschlaffung zum Schlafe nieder.
Am frühen hellen Maienmorgen, zu dem Albrecht sich nach seiner Ruhe erhob, kam ihm freilich, trotzdem er sich auf jede Kleinigkeit besann und die Worte Octavias über Joie wie ein gerngehörtes Lob, das ihn etwas anginge, noch in seinen Ohren lagen, sein Abenteuer so ganz unglaubwürdig vor, daß er zuvörderst an den Landungssteg hinunterlief, als könne das Boot ihm eine Gewißheit geben. Aber es gluckste nur neckend auf dem leichtbewegten Wasser, und Albrecht wandte sich ärgerlich von ihm ab. Wenn er geglaubt hatte, indem er seinen eigenen Morgenritt aufgab, noch früh genug zu kommen, um seine Nixe in eine Amazone verwandelt aus ihrem Besitztum reiten zu sehen, so fand er sich auch darin getäuscht; denn der offene Torweg des nachbarlichen Parks, der ihm wie verwunschen vorkam, da er ihn nie zuvor bemerkt hatte, wies ihm zierliche runde Hufspuren, die ins Freie führten.
So wanderte er ungeduldig und ein wenig beschämt darüber, wie es ihm einfalle, einer fremden Dame derart aufzulauern, die einsame Straße auf und nieder, wo Backwerk und Milch austragende Frühwesen sein zu dieser Zeit unberechtigtes Dasein mit erstaunten Blicken zu mißbilligen und zu dulden schienen. Schon begann diese stumme allgemeine Verurteilung ihm lästig zu werden, als er alles über dem Anblick einer in die Straße einbiegenden Gestalt vergaß, um deren Besitz bei jedem Schritt ihres Pferdes tausend bunte Schatten und Lichter, die sich durch die hohen Bäume der Gärten drängten, zu spielen und zu werben suchten. Nichts von einem Wildfang oder auch nur von einem Übermut, nichts von einem tollen Kinde, wie er vielleicht nach dem nächtlichen Abenteuer erwartet haben mochte, hatte diese Frau an sich, und keine einzige ausschweifende Bewegung störte die vollendete Haltung ihres Leibes. So knapp und schwang wie ein Haselzweig am Stamm saß sie über einem schwingenden Pferderücken, in den die Natur selbst sie eingelassen zu haben schien, und ein feines, aufmerksames Ohrenspiel des frei ausschreitenden, edelblütigen Tieres huldigte der Regentin seines Willens. Das Herz lachte Albrecht im Leibe, als sie einige Schritte von ihm, ohne auch nur die Zügel anzuziehen, wie in einer scheinbaren inneren Einigung mit ihrem Pferde, plötzlich still hielt; denn er mußte sich gestehen, daß er nie etwas Vollendeteres in der von ihm geliebten und mit Stolz geübten reiterlichen Kunst gesehen hatte.
Aber diese Kunst war ihr offenbar so eingeboren wie das helle Lachen, mit dem sie zu ihm heraufgeritten war. Denn sie hatte ihn sofort erkannt und schien von seinem Warten ebensowohl befriedigt als belustigt.
»Sie haben recht, Herr Froben, sich den unterlassenen Dank für Ihre Schleppdienste einzuholen,« sagte sie weit weniger befehlerisch, als ihm die Stimme gestern klang; »oder wollen Sie auch noch einen Lohn?« Und dabei blitzte sie ihn unbefangen seltsam zärtlich an.
Obgleich es keineswegs wie eine Herausforderung lautete, machte sich Albrecht ihre letzten Worte zunutze, um nur ja gleich von schnell wieder abreißenden Fäden des Zufalls unabhängig zu sein und ein schickliches Band anzuknüpfen, an dem er nur zu ziehen brauchte, um sie erscheinen zu machen.
»Wenn es Ihnen gleichgültig ist,« antwortete er, »so nehme ich lieber den Lohn!« Und er bedang sich aus, sie auf ihren Frühritten begleiten zu dürfen, bis sie seiner überdrüssig sein würde.
»Mit dieser Einschränkung bin ich es zufrieden,« sagte sie lächelnd; »um sieben Uhr müssen wir wieder daheim sein; denn da beginnt das Leben einer alten blinden Frau, die ich liebe.« Dabei deutete sie mit der Krücke ihres Reitstocks nach ihrem Hause und setzte ihr Pferd sanft in Gang.
»Und wie soll ich Sie nennen?« fragte Albrecht, neben ihr hergehend.
»Ach,« machte sie geringschätzig, »nennen Sie mich Joie, wie die andern. Zudem ist mir der Name eine liebe Erinnerung an meine Großmutter, die ihn mir gab. Denn wenn ich den Namen zu Recht trage, so muß es wohl von ihr sein, daß ich allzeit froh bin. Sie war eine Picarde und wurde in dieses große Handelshaus meiner hiesigen Vorfahren verpflanzt wie eine fremde gute Rebe in einen wohlgepflegten Weinberg. – Aber es ist, als sei der ganze Saft in mich allein gefahren!«
Als ob ihr das fremde Rebenblut in ihren Adern selbst manchmal zu viel zu schaffen mache, schlug sie bei diesen letzten lustig-ärgerlichen Worten nach einem Lindenblatt, das klatschend zerriß, und trabte ohne weiteren Gruß über den Kiesweg des Gartens, bei dem sie jetzt angelangt waren, dem in der Tiefe verborgenen Stall zu.
Albrecht schien ihre rasche Art schon zu kennen und erwartete von ihrem Abschied kein hilfloses Hängenbleiben mit allgemein üblichen Worten und unnötigem Herumtreten auf dem nämlichen Fleck. Trotzdem hatte er, als sie ihn dergestalt aufgab, eine ähnliche Empfindung wie gestern, da sie ihn plötzlich auf seinem Boote ins Weite schießen ließ. Es war keine Härte in ihrer Raschheit, und er fühlte nur etwas von einer zarten Unerbittlichkeit, ähnlich wie die der Sonne, welche sich sanft und unweigerlich von einem freundlichen Haus zurückzieht, das sie dennoch seine Zeit so zärtlich erwärmt und angelacht hat.
Albrecht nahm seinen Lohn, reichlich und täglich. Denn an jedem frühen Morgen ritt er mit Joie hinaus ins Land. Sie ritten, wenn die Sonne schien und wenn die Nebel grau hingen; sie ritten, wenn es regnete und wenn es blies; sie ritten, wenn die Erde dampfte und wenn sie duftete; sie ritten und lachten. Schnell waren Joies Pferde, ein machtvoller Vollblutrappe und ein starker edeler Pony vom Schlage der Galloways; die trugen sie abwechselnd. Nie, daß die beiden im Sattel wild oder auch nur übermütig umherjagten; aber es gab voll ausgreifende Galopps, daß der Wind in den Schnallen der Zügel pfiff und der Atem der Reiter schnell ging; und sie trabten dahin, als schwänge die Erde sie von sich ab. Das war für Albrecht, wie einst, und er begriff nicht, wie er es hatte vergessen können. Aber an jedem Tage, zur gleichen frühen Stunde verschwand Joie nach dem Ritt wie ein unerbittliches Gestirn. Sie habe dann für die blinde Frau zu sorgen und zu tun, für sich und für andere Dinge, die sie angingen, sagte sie, und kam nicht wieder zum Vorschein. Des Abenteuers, als sie an seinem Boot hängend in die Nacht hinaus schwamm, erwähnte sie wohl gelegentlich, aber sie zeigte kein Verlangen, es zu wiederholen oder überhaupt irgendeines zu gestalten und absichtlich herbeizuführen. Alles, was sie tat und sagte, war ungemacht, unbewußt, unbeabsichtigt wie irgendein Vorgang in der Natur: ein Regen, ein Sonnenschein, eine Quelle, ein Erdsturz – und doch auch wieder von derselben Bewußtheit, von derselben geheimnisvollen Absicht, wie etwa ein Regen, ein Sonnenschein, eine Quelle.
Seit sie in sein Leben trat, war Albrecht wie verwandelt. Seine Arbeit ergriff er mit einer freudigen Wut, und da er wohl fühlte, wie ihm eine Einleitung zu seinem Werk, die er in diesen Tagen wie in einem Sonnenrausch entworfen, wohl gelungen war, so stürzte er jetzt einen Gedanken nach dem andern in die gleiche Schmelze und zog ihn in einer nie erkaltenden Glut wieder daraus hervor, in welcher er ihnen die kühnste Fassung zu geben vermochte. Eine entschlafene Kraft ohnegleichen schien in seinem Körper neu erwacht; nichts mehr, was ihm fehlte, ihn quälte, ihn auch nur ermüdete. »Diese ganze glückhafte Herrlichkeit«, sagte er zu sich, »hat sich also im Dunkel meines Herzens aufgehalten wie ein Diamant in einem lichtlosen Schrein. Kaum aber fällt die Sonne auf ihn, so blitzt er in allen Feuern und braucht das Leuchten und Strahlen nicht zu erlernen.« Aber während er so dachte, fielen ihm die Worte Octavias ein, die sie einst zu ihm sprach: »Es ist mir, als suchtest du eine Meeresstille und gedämpftes Licht, während Wind und Wellen, Sonnenglut und Sonnenlust deine Elemente sind.« Und er erschrak. Damals hatte er die Worte, weil er sie nicht begriff, fast überhört. Heute, im Vollgefühl einer ungeahnten Verwandlung, begriff er sie, und sie ergriffen ihn. War sie nicht wie Wind und Welle, Sonnenglut und Sonnenlust? war er dem allen nicht schon verfallen wie einem Schicksal? Noch hoffte er; und es beruhigte ihn, daß er gar kein Verlangen hatte, heimliche Blicke nach ihr hinzuschicken noch mit verliebten Gedanken sie zu umspielen, sondern sie offen anzuschauen, wie ein wundervolles Stück der Natur, an dem sich ein jedes Herz freut, wenn es den richtigen Takt geht. Aber zugleich fühlte er, daß diese Beschwichtigung nicht recht verfange.
Eines Morgens, als sie von einem heißen Ritt durch warm duftende Kornfelder heimkamen, bat ihn Joie, einmal in ihren Stall herüber zu kommen und ihren Rappen anzusehen, der sich bei einem verwegenen Sprung verletzt hatte. Albrecht brachte sein Pferd in seinen Stand und ging hinüber. Joie stand in dem Gang des kurzen Stallbaues vor der geöffneten Tür einer Box, aus der der Rappe halb herausgetreten war und nun Nase und Stirn in einem unaufhörlichen Bohren und Auf und Nieder an Brust und Schoß seiner Herrin schabte, daß die feinen glänzenden Haare davonstäubten, sofern sie nicht an der rostroten langen Leinenjacke oder dem schwarzen Reitrock hängen blieben. Sie ließ sich das lächelnd gefallen, als ob sie eine Liebkosung, die sie einem Tiere erweisen könne, nicht unterbrechen dürfe. Die Zärtlichkeit des Pferdes war jedoch ein wenig zu ungestüm und unbemessen, so daß sie auf den Saum ihres Kleides zurücktreten mußte und dadurch beinah zu Fall gekommen wäre. Albrecht, der hinter sie getreten war, scheuchte das Tier mit einer Bewegung zurück und fing sie, nicht ohne eine leichte Erregung, in seinen Armen auf. Da entzog sich Joie dieser neuen Berührung ebensowenig wie der des schmeichelnden Tieres. Denn sie empfand sogleich ihre Zartheit und Kraft, als habe sie ihr ein von Körper zu Körper überspringender Funke angezeigt. Sie hielt ihr stand mit aller der selbstbewußten Wehrhaftigkeit ihres Frauentums und gab sich ihr hin mit allem köstlichen Selbstherrenrecht desselben. So lag sie, den Kopf zurückgeneigt, an seiner Brust und sah ihm in die Augen.
»Wir lieben uns, mein Freund,« sagte sie langsam und leise ohne die geringste Unsicherheit oder Angst, daß sie sich täuschen könne; »und es wird schlimm.« –
»Schlimm!« rief sie klagend wie in einem gelinden Zorn über etwas Unabwendbares. Sie richtete sich auf und wendete sich von ihm ab. »Schlimm«, wiederholte sie wie für sich und stampfte hilflos mit raschen Füßen den Steinboden.
Da wußte Albrecht, daß er Wind und Welle, Sonnenglut und Sonnenlust verfallen war, und als er in die Unverrückbarkeit, das dämmrige Licht und die Kühle des stillen Hauses trat, das Octavia wie eine Wohltat umfing, fröstelte ihn.
Octavia hatte die werkfreudige Kraft, die in Albrecht erwacht war, seine Gehobenheit, seinen Schwung, der ihm aus den Tagen seiner Freiheit nachgesagt wurde, aber irgendwo Schiffbruch gelitten zu haben schien, nicht nur wohl bemerkt und freute sich ihrer für ihn, sondern es fiel von seinem Strahlen und Erglühen gleichsam auch ein Glanz auf sie. Denn aus der Fülle, die er täglich mit ins Haus brachte, aus dem Lachen, das in ihm war, aus dem Frohmut seiner Gedanken bekam sie nun ein täglich verschwenderischer gehäuftes Maß in ihren Schoß geschüttet. Alles das ließ sie sich voll lächelnder Dankbarkeit zwar gern zuwenden, hörte auch, wenn Albrecht freimütig und begeistert von Joie erzählte, in einer Art von Bewunderung für eine ihr fremde Macht dieses seltsamen Wesens willig zu; sobald er aber den Versuch machte, sie selbst mit fortzureißen, sobald er sie aufforderte, früh mit hinauszureiten, das Segelboot zu einer Spritzfahrt zu dreien zu rüsten, Joie zu sich herüberzubitten, dann stockte sie, als müsse sie damit eine Grenze überschreiten, welche ihr eigenes Wesen ihr zöge.
»Ich habe sicher keinerlei Abneigung gegen Joie,« sagte sie; »denn ich kenne sie als eine prächtige Person, so recht geschaffen, die Freude eines Mannes zu sein. – Aber, du weißt: ich kann nicht mit ihr mit. Ich würde nicht in eure frohe Art passen und ein wenig beiseite stehn. Das aber möchtest du doch nicht.«
Wenn sie so sprach, gedachte Albrecht ihrer Versuche, sich in den Kreis der Menschen und Dinge in der Stadt seines Berufs zu schicken, und mußte ihr recht geben. Er mochte sie nicht quälen. Es ist wahr, sagte er zu sich, sie würde zu uns stimmen wie ein Stern in den Tag, oder wie jene wunderbaren großen Blumen, die auf der schwarzen Stille amerikanischer Flüsse ruhen, in die von Lachen gekräuselten Wellen des Meeres. Und dann trat er wohl zu ihr und küßte sie, die ihn verstand, sanft auf die reine Stirn.
Da sich dergestalt alle Dinge und besonders diejenigen, welche auf Albrecht Bezug hatten, klar in ihr spiegelten, dieser auch ganz und gar kein Verlangen trug, dem kristallenen Gewissen und Spiegel, den er besaß, irgend etwas zu verhehlen, so gewahrte Octavia an jenem Tage, als Joie in seinem Arm gelegen und ihr beider Gefühl mit einem gültigen Wort benannt hatte, eine ernste Qual und einen stillen hoffnungslosen Kampf in seinem Innern. Und sie beschloß, ihm in seiner Qual und seinem Kampf beizuspringen. Denn es war ihre Art, für den Mann, den sie liebte, alles zu tun, was sie vermöchte; darum traute sie sich in der wundervollen Unanfechtbarkeit ihres Wesens auch zu, dieses Mannes Schildträger in dem Streit seiner Gefühle zu sein.
Da geschah es, daß Albrecht, in der Hilflosigkeit eines doppelten wundersamen Schmerzes sich trennender Gefühle, den Gegenstand seiner Mannesleidenschaft mit dem seiner unaufhörlichen Verehrung zu vergleichen begann. Er sträubte sich vergebens dagegen, indem er sich tausendmal sagte, daß er sie beide herabsetze, wenn er sie sozusagen gegeneinander abwäge, er sie vielmehr hinnehmen müsse wie zwei wirklich unvergleichliche Wesen. In diesem Empfinden suchte er dann beiden wieder Genugtuung zu bieten und sie gegeneinander zu erhöhen, indem er die gerade in seinen Gefühlen unterliegende gegen die obsiegende in Schutz nahm und ihr so lange an gewichtigen Vorzügen zulegte, bis sich die Wage umkehrte und er nun rasch der andern wieder beispringen mußte. Aber was nutzte es ihm, zu wissen, daß Octavia schöner, wohl auch besser, vielleicht edler und aufopfernder war als Joie; diese war froher, wärmender, schwunghafter, glücklicher, und es wurde ihm wohl in ihrer Gegenwart.
So schwankte er unter einem Wechsel von seliger und unseliger Beschwerung dahin, als Octavia helfend zu ihm trat. Er saß spät am Abend im Rahmen seines Fensters, das der Mond nicht erleuchtete, und blickte im stillen Rausch einer Sehnsucht über den Garten seiner Freundin nach der offenen Alster hinaus. Da nahte sich ihm aus dem Dunkel des Raums die Frau, die ihn verstand, und legte ihre Hand auf die seine, ebenso gütig und besorgt wie damals, als er um sie warb.
»Ist es denn gar so schwer?« fragte sie, indem sie ihm jedes Geständnis, wie das nun alles gekommen sei, ersparte.
Er sah sie dankbar an. Und während er sie ansah, nickte er; denn die Sprache versagte ihm. Da strich sie ihm mit ihrer guten Hand über die Schläfe, und ihre andere Hand ließ nicht nach, auf der seinen zu ruhen, und sie drängte sich mit keinem Laut in seinen Schmerz; lange, lange, bis sie zugleich mit seiner Stirn auch den Weg der Worte geglättet zu haben schien.
»Sieh,« sagte er endlich, »ich war so ehrlich damals, als wir uns in die Augen sahen; und nun soll es dennoch ein Verrat gewesen sein!«
»Kann nichts Schlechtes sein,« tröstete sie und scherzte mühsam ein wenig, »wenn es meinem Gemahl eine Kraft und eine Freude und einen Flug gibt, wie ich noch nie an ihm gesehn. Soll ich ihn darum weniger lieben?«
Es war wieder wie damals, daß Albrecht fast erschrak und ihr erwidern wollte. Aber wie damals wehrte sie mit einem Schütteln ihres schönen Kopfes ab. »Nein –, es handelt sich um dich«, sagte sie wie damals, und es war, als ob sie selbst gegen jede Erschütterung ihres Herzens gefeit sei.
Eine unaussprechliche Dankbarkeit und Ergriffenheit hieß ihn, sie stumm an sich zu ziehen, als er wie von einem Zauber getroffen innehielt.
Denn durch die regungslose Sommernacht flutete, wie ein Strom der ihn suchte, das Licht von einer schimmernden weiblichen Gestalt zu ihm hinauf, die aus dem Dunkel des Nachbarhauses auf die helle Terrasse getreten war, und nun auf schwarzen und weißen Fliesen am Rand in den Garten hinabführender Stufen stand. Es war Joie. Ein schweres seidenes spanisches Tuch von mild-gelblichem Weiß, das sie in einem unnachahmlichen Griff gerafft hielt, umfloß ihren rankenhaft kraftvollen Leib und vertiefte durch seinen Glanz das warme Braun des Gesichts, des leichten Nackens und der Hand fast zu einem indischen Dunkel. Sie wußte ohne Zweifel nicht, daß sie beobachtet wurde, noch konnte sie auch nur die Nähe ihres Freundes ahnen. Denn Albrecht hatte ihr am Morgen jenes Tages, als sie sich nach ihrem Ritt trennten, gesagt, er würde mit Octavia für die Nacht einer Einladung ihrer Eltern auf ihr Landgut folgen und aus diesem Grunde am folgenden Tage nicht zu dem gewohnten Frühritt kommen. Erst Octavia hatte ihn bestimmt, in der Stadt zu bleiben, damit ihm die Freude seines Morgens nicht entginge.
Ohne daß sie sich zu rühren wagten, hingen Albrechts, hingen Octavias Blicke an einem wundervollen Schauspiel, das sie Hand in Hand erleben sollten. Lange stand auch Joie ohne Bewegung und blickte in den Mond, dem sie voll zugewandt war. Aber das Leben einer inneren Erregung wellte über ihren Körper, und sie war nicht um des milden Mondes willen hier herausgetreten, sondern zu irgendeiner Befreiung, zu einem Siege vielleicht. Ein Blitzen war in ihren Augen, und sie preßte Lippen und Zähne aufeinander, damit sie das Jauchzen nicht verrieten, das aus ihrer Brust zu ihnen emporstieg. Da machte sie plötzlich das Tuch an ihrer Hüfte fest. Und wie zu einem wunderbaren Raub hob sie die Arme strack empor in das zauberische Dunkel, spreizte die Finger weit zum Griff und riß sich zwei Hände voll Nacht heraus aus der Fülle, in der sie stand.
»Ah! wundervoll!« hauchte sie glühend und schien den Raub in ihren Händen im Spielen ihrer Kraft erwürgen zu wollen, »wundervoll!« Dann wendete sie sich und ging, während das Tuch von ihrer Schulter glitt, langsam hinein.
Albrecht wußte nicht, ob er einem Licht oder einem Lied gelauscht hatte, das von ihr ausging. Octavia aber erschauderte leise. Sie drückte kaum merklich seine Hand, die sie immer noch hielt. Dann ging sie. Sie ging; doch nicht wie eine Besiegte, sondern wie eine Königin, die eine fremde Königin gesehn; eine fremde Königin, welche sich zwei Hände aus der Nacht herausreißen und mit in ihre Kammer nehmen durfte.
Die Nacht brachte in Octavias Brust ein Weh, das der Morgen nicht fortnahm. Es war ihr, als sei jene Frau, die sie erschaudern machte und die sie dennoch starren Auges bewundert hatte, den geheimnisvollen innersten Gewalten der Erde näher als sie. Und sie wäre ihnen doch so gerne gleich nahe gekommen, obschon es sie überlief, wenn sie daran dachte. Aber sie wußte sich keinen Rat.
So wandelte sie sinnend und gesenkten Hauptes durch den Garten, wohl hundertmal dieselben sanftgewellten Wege. Sie sah Albrecht, den sie liebte, sich entgleiten wie ein kleines Stücklein magnetischen Eisens, das sie einem andern Magneten überlassen mußte, da ihr selbst jene anziehende Kraft mangelte, die es gehalten hätte. Sie sah ihn, wie er sie nicht aufgeben wollte und dennoch aufgeben mußte. Aber es war kein Vorwurf, kein Hader, keine Klage in dieser Frau, und die Klarheit ihres Schmerzes machte sie fast ruhig. Da hörte sie, als sie gerade nahe dem die beiden Anwesen trennenden Gebüsch entlangging, wie Joie, offenbar im Begriff das Haus zu verlassen, einem Diener noch einen Befehl zurief. Eine unbestimmte Hoffnung ergriff Octavia wie zu einem Entschluß, den sie im nächsten Augenblick wieder belächelte. Aber dennoch, nach einem kurzen Zögern, folgte sie ihrer Eingebung gleich einer augenblicklichen Erlösung, wie man wohl ein Betäubungsmittel nimmt, von dem man weiß, daß es die Ursache des Schmerzes nicht beseitigen wird. Als Joie in diesem Augenblick auf der Straße an dem Gartengitter entlang der Stadt zuging und in halbem Suchen hereinschaute, blieb Octavia in der Wendung des Pfades stehen, bis jene ohne sie zu bemerken vorüber war.
Und dann ging diese stolze Frau in ihrem Leid jener frohen auf ihrem Wege nach, als werde sie ihr das Geheimnis ihrer Macht entlocken können, bei ihr heimlich in die Schule gehen dürfen zum Erlernen einer ihr fremden Kunst. Sie brauchte nicht ängstlich zu sein, entdeckt noch aufgehalten zu werden, denn Joie wandte sich nicht um, und ein tieferes Neigen ihres Hauptes unter dem breitrandigen Gartenhut verbarg Octavias Gesicht erkennenden Blicken. Als sie auf der Fährte ihres seltsamen Wildes war, hörte ihr Zaudern auf und sie verwandte kein Auge von der sorglos vor ihr dahineilenden Gestalt. Das Ziel ihres Ganges schien sie vergessen zu haben und kein anderes Begehren erfüllte sie, als jener zu folgen.
So gingen sie lange. Ab und zu bemerkte Octavia, daß ein Kind, welches Joie wohl im Vorbeieilen angeblickt hatte, dieser zulachte; wenn sie aber dann selbst das Kind mit einem Blick streifte, wurden die lachenden Züge ernst. Es geschah auch wohl, daß ein Mann sich umwandte, um ihrem Wilde nachzuschauen; dann sah sie, daß auch in dieses Mannes Gesicht ein Lachen war, ähnlich dem des Kindes. Ihr aber, so schön sie war, blickte keiner nach.
Joie hatte den Hafen erreicht, von dem aus sie irgendein Ziel zu suchen schien. Octavia war wohl selten an diesem Ort gewesen, wo alles in einen Rauch von Lärm gehüllt war, wo ein Gestöhn aus eisernen Rippen und das Geheul aus eisernen Mäulern ihr entgegengellte, wo unbarmherzig Mast bei Mast ragte und den Rahen nicht die Luft gönnte, wo schwarze Riesenleiber nach schwarzer Nahrung brüllten, welche Menschenknechte in ihren Schlund schaufelten, wo das Wasser schmutzig war von wühlenden Kielen und der Himmel in einem braunen Qualm unterzugehen schien. Das alles verlegte ihr gleichsam den Weg. Joie indessen sprang leichtfüßig über schwere Ringe und sich spannende Taue, und auf einer der hohen gemauerten Landungsrampen, die eben durch die Ausfahrt eines Kolosses frei lag, trat sie nahe an das Wasser und schaute eine Weile hinab. Unzählige Möwen kreischten gierig über der bewegten Fläche, erhoben sich aus ihr und fielen in sie zurück. Sie freute sich an ihrem gewandten Flug und dachte ihnen in einem plötzlichen Einfall eine ihrer Zärtlichkeiten zu. Suchend schaute sie sich um, und da sie in einiger Entfernung eine seßhafte Hökerin gewahrte, die für die Hafenarbeiter einfaches Backwerk feilhielt, kaufte sie rasch ein paar Stück und zog ihre langen Handschuhe ab, um das Brot zu Futterbrocken zu zerkleinern. Dann stellte sie sich von neuem an den Rand, und indem sie aus ihren Händen zwei zierliche, lebendige Futtertröglein machte, erhob sie sie lächelnd mit den Brocken gefüllt bis zur Höhe ihrer Schultern. Da war sie im Nu von Schwärmen schwebender Möwen umflattert, die im gleitenden Flug einen Augenblick vor den freundlichen Trögen stillstanden und behutsam und sicher, ohne auch nur einen Finger mit Schnäbeln, Krallen oder Flügeln zu berühren, einen Brocken nach dem anderen herauspickten. So stand sie in einem wundervollen, starken, wehenden Fächerspiel, das sie wie eine Liebkosung entgegennahm. Als ihr Vorrat zu Ende war, schien sie mit einer leichten Bewegung den sie noch immer umkreisenden Vögeln wie für eine Huldigung zu danken.
Octavia schaute voll Bewunderung und zugleich in einer kleinen Angst, daß dennoch den schlanken gebräunten Fingern Joies von den kurz umgebogenen Schnabelspitzen eine Verletzung drohe, auf dieses neue Schauspiel. Aber als ob sie durch dieses an das der vergangenen Nacht gemahnt worden wäre, fühlte sie wieder, warum sie jener Frau gefolgt war, und Mut- und Hoffnungslosigkeit befiel sie von neuem. In sich selbst verdunkelt, sah sie nur helle Flügel von kreisenden Vögeln und verharrte so eine Weile in einem halben Traum. Als sie sich wie mit einer Anstrengung von ihm losmachte und Joie suchte, sah sie sie nur in der Ferne in eine Seitenstraße biegen. Sie hatte genug der Verfolgung. Aber in einer seltsamen Anwandlung ihr nachzutun, trat sie zu der seßhaften Hökerin und kaufte wie Joie ihr einige Stück zum Futter der Möwen ab. Sie hatte sie zerkleinert und hielt nun zaghaft und zitternd, wie vor einem Gottesurteil, ihre gefüllten Hände empor. Aber keiner der Vögel nahm etwas daraus. Wohl nahten sie alle; doch wie vor einer unsichtbaren Wand, die ihnen wehrte, machten sie alle in einer gewissen Entfernung wieder kehrt, sooft sie auch heranprallten. Octavia wünschte sie herbei und doch schauderte sie, daß sie ihr näher kommen sollten. Da kehrte sie traurig ihre verschmähten Hände um und leerte sie ins Wasser. Die Brocken hatten noch nicht die Fläche berührt, so waren sie verschlungen.
Da war nun ein schwerer stummer Stein in das klare Brünnlein ihres Herzens gefallen, den Octavia still mit sich herumtrug. Täglich warf Albrecht, wie ein unachtsamer Knabe, noch ein paar Sandbrocken dazu, wenn er ihr von Joie erzählte und wie alles so herrlich sei. Aber er konnte immer von ihr sprechen, ohne daß sich ein Wölkchen der Trübung an der Oberfläche des Quells zeigte oder der Aufruhr in der Tiefe ihn überlaufen machte. Denn Octavia wußte wohl, daß er sie nicht täusche, daß alles das männlich war und gut. Sie konnte sich sogar einer Art von Freude beim Anblick seiner Lust nicht entziehen. Und dann war es ihr wie ein Rühren an einem fremden Glück, wenn sie sich hätte für sich wehren wollen.
Albrecht und Joie aber ritten hinaus; unbeschwert, wissend nun, daß sie sich liebten, und die Freude an der Größe und der Kraft einer alles fordernden und dennoch ungestillten Leidenschaft blitzte aus ihren Augen.
Das Korn der Felder, das der heiße Sommer zu einer frühen Reife gebracht, lag schon in Garben, und ihre Pferde galoppierten über die ersten weichen Stoppeln, als Joie eines Tages in einer ihrer plötzlichen Eingebungen auf ihrem behenden Pony von ihm fortflog, ehe er sein Pferd recht in Schwung bringen konnte, um an ihrer Seite zu bleiben. Sie jagte ein langes Feld nach einer kleinen Anhöhe hinauf, wo Garben gehäuft durcheinander lagen. Offenbar hatte sie sich den Platz zu einer kurzen Rast ausersehen. Denn sie knüpfte noch im Lauf die Zügel lose in eine von ihr ersonnene Schlaufe am Sattel, so daß sie sich nicht verwirren konnten, glitt, während der Galloway noch nicht ganz zum Stillstehen gekommen war, von ihm herab und ließ ihn, der gewöhnt war zu ihr zurückzukehren, frei laufen. Während sie zu dem Ährenlager schritt, nahm sie, als ob sie nicht ohne etwas zu sein vermöchte, das sie liebkosen konnte, ein spät brütendes Rebhuhn vom Rand eines Feldrains auf, wo es die Schnitter samt einigen Ähren verschont hatten. Das saß über seinen eben ausgekommenen Küchlein und ließ sich von der tiergewandten Hand, von der es keine Gefahr spürte, ruhig greifen. Mit dem Tiere auf dem Schoß ließ sie sich in die offenen duftenden Enden des gebundenen Korns nieder, und die rotbraunen flinken Hühnchen folgten dem mütterlichen Lockruf, so daß bald das Getrappel eines kleinen Aufruhrs den Schoß ihres Kleides erzittern machte. Bald indes breitete die Henne über das Gedränge ihre beruhigenden Flügel und nahm unter den sie schattenden Händen Joies ihr neues warmes Nest, ohne Vorwurf einer Unterschiedlichkeit von dem alten, für sich und ihre Brut an.
Dies Bild betrachtete, sein Pferd am Zügel haltend, aus einiger Entfernung Albrecht, der unterdessen herangeritten und abgesessen war. Wie sie nun so vor ihm saß mit ihrem lachenden Gesicht, mit ihren nun lustvoll in die seitlichen Garben greifenden Armen, deren Fülle sie an sich heranziehen zu wollen schien, mit dem braunen vielköpfigen Leben in ihrem schwarzen Schoß, das sich leise hob und senkte, da sah sie wie die leibhaftige Fruchtbarkeit aus, strotzend von Kraft und Farbigkeit. Sie hatte ihren Hut weggeworfen: schwarz stand das in vollen Schnecken über den Ohren festgemachte Haar auf dem goldenen Korn, braun die Stirn, auf der eine lustige Narbe wie ein kleiner heller Blitz herablief, über glanzvollen blauen Augen und dunkelrot ihre Leinenjacke vor dem schattigen Gelb der Garben, an denen sie lehnte.
Da fühlte Albrecht in sich ein mannhaftes Begehren nach diesem Wesen aufsteigen gleich einem sehnsuchtsvollen Strom in seinem Blut. In diesem Augenblick erschien sie ihm wie das Köstlichste, das er auf dieser Welt erringen könnte, und er zitterte vor ihr. Eine Wolke von Leid aber flog über das Antlitz Joies, als sie ihn so sah; denn sie wußte um sein Herz, wie zwei Liebende voneinander wissen, auch wenn sie schweigen. Sie senkte das Haupt.
»Mein Freund«, sprach sie – und ihre Stimme war so voller Leid wie das Klagen eines Wildes – »mein Freund, dir ist mein Herz und dir ist mein Sehnen. Aber die Wünsche meines Schoßes sollen dir nicht mehr sein. – Und wären doch dein gewesen, unberührt, mit tausend Freuden! Einst wurden sie verschenkt, ach! auch wohl mit tausend Freuden, und dennoch: heute, heute – – weine ich um sie.«
Kaum noch ein Ton war in ihrem letzten Wort, das dahinflatterte wie ein fallendes Blatt im Hauch des Herbstes. Ihr Haupt wankte vor Tränen, ihre Finger hielten sich in den Garben, die sie eben noch voller Kraft an sich gerissen hatte, wie zu einer Stütze, und heiße Tropfen fielen auf die unschuldige, flügelregende Fruchtbarkeit in ihrem Schoß.
So saß sie lange und ließ die Tränen laufen. Albrecht aber vermochte vor ihrem Schmerz kein Wort hervorzubringen, noch auch nur mit einer Bewegung ihr beizustehen; er preßte die Lippen aufeinander, und seine Augen wurden feucht. Endlich aber schüttelte Joie ihren Kopf zurück, entließ die Rebhühnlein mit einer leichten scheuchenden Bewegung, sprang auf und griff ihren Pony, der an einer der Garben ihres Lagers zupfte. Wortlos nahm sie den Beistand Albrechts an, welcher hinzugetreten war, um ihr in den Sattel zu helfen.
In einer Wolke von Leid ritten sie davon. Mit langen Hälsen gingen die Tiere dicht beieinander über die Felder und Wege, aus denen sie gekommen waren, und fanden keinen Zügel, der sie lenkte. Denn auch Albrecht war, so sehr ihn in den ersten Augenblicken die seltsame Trauer Joies überrascht hatte, dennoch in sie hineingerissen worden wie auf einen tiefen fremden Grund, den dieses unermeßliche Herz plötzlich auftat. Bald aber erlabte ihn ein Gefühl des Stolzes über dieses nämliche Herz, welches sein war und darüber bittre Tränen vergießen konnte, für ihn nicht eine Krone zu haben, die es einmal verschenkte. Da litt er die Wolke nicht mehr um sein und seiner Freundin Haupt. Er streckte seine linke Hand offen aus und Joie schlug mit ihrer rechten hinein, wie zur Bekräftigung eines Pakts. Ein lachendes Gesicht wandte sich dem seinen zu.
Da beugte sich Albrecht zu ihr hinüber, und Joie neigte sich zu ihm, und er legte seinen Arm um ihren Hals zu einem langen Kuß. Der schmeckte nach Salz und Blut und war mit einem Wenig von Bitterkeit gewürzt. Und dann ritten sie heim, als müsse das alles so sein.
Am Abend dieses Tages ruderte Albrecht in die offene Alster hinaus und lag dort lange still. Er gedachte der beiden Frauen, deren Häuser er am Ufer nebeneinander liegen sah. Und wie zu einem wehmütigen Abschiednehmen kamen ihm Octavias Worte in den Sinn. Wohl war bei ihr die Wohltat der Stille und des gedämpften Lichtes; wohl rollte die Hoheit, die Gnade, der Adel in ihren blauen Adern. Mochte es sein! Er wußte es und gab es mit Schmerzen auf. Hier aber strömte die Kraft, das Feuer, das Licht, die Freude rot aus dem Herzen; hier waren die Gewalten der Elemente, die Lust der Frühe, die Frische des Quells, der warme Geruch des Korns und der würzige der Haselnuß, der Rausch der Sternennacht und die im Sonnenfeuer geläuterte Glut des Sommertags. Und hier war auch die köstliche Verschwendung des Frühlings und die dennoch schwermütige Trauer über die gefallenen Blütenblätter.
So entglitt Octavia das Herz dieses Mannes, und es blieb ihr nichts in den Händen als eine märchenhafte Gestalt, die mit ihr lebte, zu ihr sprach, von Joie und andern Dingen; die freundlich zu ihr war und sie nicht kränkte, und die doch kein Herz hatte.
Da verfiel fast, zu der gleichen Zeit, als die ersten Fälle der Cholera beobachtet wurden, Joie einem schweren Scharlachfieber, und die Frühritte hörten auf. Die Krankheit warf sich mit all dem Ungestüm auf sie, mit der sie gegen besonders kraftvolle Menschen sich in einen Kampf einzulassen liebt. Damals vermochte Joie wohl eine Woche nicht nach ihrem Freunde zu fragen. Dann verlangte sie ihn zu sehen. Aber noch hielt sie das Fieber in heißen Armen, denn die weichende Krankheit hatte eine Herzentzündung zurückgelassen. Da nun aber der Arzt, der mehr noch als das Leiden seiner Kranken diese selbst verstand, sah, wie sie sich quälte, das anfänglich völlige Versagen ihres Wunsches sie erregte und das Fieber offenbar unterhielt, glaubte er ihr wenigstens etwas davon gewähren zu sollen. Daher erlaubte er, daß sie von einem ans Fenster geschobenen Liegestuhl ihn täglich einmal sehen solle und ihm zunicken dürfe, wenn er am Gartengitter vorüberginge. Das nahm sie denn an, genügsam, wie ein erstes Wassersüppchen, das man einem Genesenden reicht. Der Arzt aber ging selbst hinüber zu Albrecht und bat ihn, täglich gegen Abend, wenn das Licht den Augen schon Ruhe gab, einmal an Joies Haus vorüberzugehen und seiner Freundin einen Gruß zur Nacht zu senden.
Und täglich saß Joie um dieselbe kurze Abendstunde am Fenster, und täglich ging Albrecht still vorüber, sah zu ihr hinauf und grüßte sie, indem er die Hand halb aufhob, wie es ihre Sitte auf ihren Morgenritten gewesen war, wenn sie sich trennten; und obwohl es nun heiße Tage waren, eine lange Reihe, so trug doch Albrecht zu diesen Gängen einen leichten weiten englischen Reitmantel von rostroter Farbe, in dem sie ihn einst gern gesehen: wie man einer Kranken selbst mit einer kleinen Sinnlosigkeit, wenn sie nur für sie einen besonderen Sinn hat, gern eine Freude macht. Dann lächelte Joie matt und dankte ihm mit einem Blick. Aber sie war noch sehr krank und nicht außer Gefahr; und wenn ihr der Arzt dies Mittel verschrieb, so wußte er, was er tat. Denn als er einmal versuchte, sie desselben zu entwöhnen, sagte ihm ihr Herz noch zur selben Stunde deutlich genug, daß er ihr Leben damit aufs Spiel gesetzt hätte. So ließ er ihr das Mittel. Er verhehlte Albrecht nicht, was es damit für eine Bewandtnis habe, und bedeutete ihn, sie nicht in Gefahr zu bringen. Aber es war wohl keine Not, daß er sich jemals versäumte.
Da erhielt, nur wenige Tage später, Albrecht einen kurzen Brief von Joie, der in hastigen Zügen geschrieben war. Ihr Diener brachte ihn herüber.
»Mein Freund, ich darf nicht schreiben, aber ich muß.
Eine Seuche wütet in der Stadt, die sie mit einem schrecklichen Namen benennen, – ich weiß es.
In Gefahr ist ein Kind, mein Freund, ein Kind, das ich liebe. Die Frau, die es pflegt, ist diese Nacht erlegen, der Mann erkrankt. Dovenfleth,« (dies ist eine alte Flethgasse in der Nähe des Hafens) »im zweiten Hause links durch den abschüssigen Torweg, dann die Treppe geradeaus, eine Stiege hoch. Es ist reinlich dort.
Nimm das Kind; man wird es Dir geben, wenn noch jemand lebt, der es geben kann. Bring es, wohin Du willst; nur fort aus der Gefahr.
Wenn Du heute abend bei mir vorübergehst, werde ich wissen, ob es gerettet ist.
Als Albrecht diese Zeilen Oktavia zuwarf, um sich rasch zu rüsten und von ihr einen Rat zu erhalten, wohin er das Kind, wenn er es fände, verbringen solle, bezeichnete sie die Wohnung eines früheren Gärtners ihres väterlichen Hauses, dessen verwitwete Frau ihr ergeben war. Albrecht machte sich auf. Es gelang ihm durch das Gewicht des Namens der Familie, sich eines der Desinfektionstrupps zu versichern, welche in dem von Joie beschriebenen Gebiet der Seuche zu tun hatten. Denn er gedachte, das Kind wenn möglich sofort an Ort und Stelle von den Keimen der Krankheit befreien zu lassen, die ihm durch Berührung mit den befallenen Pflegeeltern oder mit dem eigentlichen Träger der Seuche, dem Wasser der Wohnungsleitung, äußerlich anhaften mochten. Wenn es noch nicht erfaßt war, so sollte es auch alles dahinten lassen, was ihm die Krankheit nachschleppen konnte.
Unschwer fand Albrecht den abschüssigen Torweg, der nach einem tief gelegenen Hof führte. Er stieg die alte sauber gehaltene Treppe hinauf und öffnete die Tür zu einer kleinen Wohnung, deren Ansehen und Anordnung ihm auf den ersten Blick die Behausung eines Seemanns verriet, welcher beständig an seinem Schiff zu putzen liebt und die unentbehrliche Gewohnheit auch auf dem Land an seinem Obdach nicht lassen mag. Alles in dem Zimmer schien wie abgewaschen, festgemacht, aufgeräumt, beinahe ausschließlich von solcher Nutzung in Anspruch genommen und verbraucht.
Während sich Albrecht in einem behaglichen Erstaunen einen Augenblick dem Anblick des Raums überließ, wurde aus einem anstoßenden Zimmer eine Türklinke niedergedrückt, schnappte wieder empor, und zwei runde Kinderarme drückten die Tür behutsam auf. Das besorgte Gesichtchen eines vielleicht vierjährigen Mädchens, das auf der Schwelle stand, hellte sich sogleich auf, als es Albrecht erblickte. Es ging auf ihn zu, nahm seine Hand und schien von ihm zu erwarten, daß er ihm in den Raum folge, aus dem es herausgetreten war. Da nahm Albrecht das Kind in einer inneren Bewegung vom Boden. Ein kleiner Arm legte sich mit einer seltsamen Zärtlichkeit um seinen Hals, die er schon anderswo gesehen hatte, und er küßte die leichte Hand, als sie an seinen Lippen vorüberstreifte.
Ein Blick in den Schlafraum, aus dem die Kleine gekommen war, sagte ihm, daß dort keine Arbeit für ihn sei. Ein schmales Bett, in dem wohl noch vor wenigen Stunden eine Tote gelegen, war leer und abgezogen; in einem zweiten lag ein Mann, schwer atmend, bewußtlos, halb aufgedeckt. Er überließ ihn den eintretenden Leuten, welche die Kranken angingen, und barg sein gerettetes Gut. Rasch entkleidete er es in dem Hof, und ein reines Leinentuch, das der Ausrüstung des Desinfektionstrupps entnommen war, trat an die Stelle der zurückgelassenen kindlichen Kleidung. Das Mädchen war gesund, und er lachte dankbar und beruhigt, als es ihm traurig klagte, man habe ihm die gute Mutter weggetragen und es habe wohl den ganzen gestrigen Tag und noch heute nichts gegessen und getrunken. Die Gärtnersfrau, zu der er es nach Weisung Octavias brachte, stillte Hunger und Klagen.
Am Abend zur gewohnten Stunde ging Albrecht an Joies Fenster vorüber und zweimal hob er die Hand halb auf in der von ihnen geübten Art. Da wußte Joie, für wen er den zweiten Gruß zu ihr heraufsandte.
Während der Nacht aber erkrankte Albrecht und starb an der Cholera, bevor der Tag graute. Octavia saß bei ihm, solange noch Leben in ihm war, und ihre Hand lag still auf der seinen nach ihrer Weise. Sie hätte sich über ihn werfen mögen in einem letzten gewaltsamen Ausbruch einer Liebe, die wie das Feuer in einem schneebedeckten Vulkan war. Aber auf ihm lag die Seuche und wehrte ihr den Mund, den sie suchte. Es war, als ob eines Armes Länge zwischen ihren Leibern bleiben müßte bis zum Ende. Wohl dankte Albrecht ihrer verhaltenen Liebe und ihrer fühlbaren Güte mit der letzten Kraft in seiner Hand und seinem Auge: seine letzten Worte aber, bevor ihn die Sinne verließen, galten seiner Freundin.
»Nun wird auch Joie sterben,« sagte er, »wenn ich meine Pflicht versäume. Keiner wird die Hand grüßend zu ihr erheben, wenn der Abend kommt.«
Octavia wußte um die allabendlichen Gänge ihres Gemahls; aber sie legte ihnen nicht mehr Bedeutung bei als die einer Liebkosung eines Kindes zur Nacht, ohne die es keinen Schlaf fände.
Albrecht war tot, als der Arzt kam. Es war der nämliche, welcher über Joies Leben wachte.
»Durch einen unglücklichen Zufall müssen Krankheitserreger in seinen Mund geraten und verschluckt worden sein«, sagte er. »Aber es ist müßig, diesem Zufall nachzuforschen. – Wie man es indes seiner Freundin sagen soll, das macht mir Sorge! Und wenn man es ihr nicht sagt, wie es ihr fernhalten?«
Octavia hatte keine Antwort, und der Arzt erwartete keine von ihr. Er entfernte sich.
Octavia aber ließ sich in einen hohen Sessel sinken, der in ihrem Zimmer stand. Und trockenen Auges sann sie in die Ferne, als ob ihre Gedanken auf etwas Seltsames gerichtet seien. So verharrte sie den ganzen Tag. Ab und zu erhob sie sich und ging mit stillen und doch bestimmten Schritten auf und nieder, als müsse sie sich sammeln zu etwas Außerordentlichem. Dann saß sie wieder und starrte trockenen Auges in die Ferne.
Und als der Abend nahte, da nahm diese Frau den rostroten Reitmantel Albrechts und schlüpfte hinein; sie setzte den schwarzen steifen Hut, den er zu tragen pflegte, auf den Kopf und drängte ihr Haar fest in seine Wölbung hinauf; und sie ergriff seinen kurzen Rohrstock, den er mit der Linken halb in die weite Tasche des Mantels zu versenken liebte.
Und dann verließ diese Frau das Haus, und für einen Toten, den sie geliebt, ging sie an dem langen eisernen Gitter des nachbarlichen Gartens vorüber von einem Ende bis zum andern; und vor Joies Fenster hob sie die Hand halb auf zum Gruß, wie es die Art des Toten war.
Joie sah die Gestalt, die sie erwartete, und ließ sich täuschen. Zu abgelegen war der Gedanke einer Stellvertretung und Verkleidung, als daß er ihr jemals in den Sinn hätte kommen können. Arglos folgte das Auge der geliebten Erscheinung und beseelte sie mit den Zügen, die sie in sich trug. Die ersten Schatten des Abends füllten Garten und Straße, und der Steinsockel des eisernen Stabgitters verbarg die Frauentracht, die unter dem weiten rostroten Reitmantel hervortrat und die Gestalt hätte verraten können.
Octavia wankte, wenn sie den schützenden Pfeiler und das Gebüsch erreichte, das sie vor den sie begleitenden Blicken deckte, und sie sank aus der männlich-freien Haltung, die sie nachahmte, fast zusammen. Aber dreimal, an drei aufeinander folgenden Tagen, tat sie ihren Gang. Am vierten jedoch versagte ihre Kraft, und sie brachte es nicht über sich, das Haus zu verlassen.
An jenem vierten Tage aber erwartete Joie nicht mehr das Erscheinen und den Gruß ihres Freundes. Denn am Morgen hatte ihr Arzt, da er sie gebessert und ruhig fand, einem ungeschickten Zufall und einem neuen Verlangen nach einem Heilmittel, das ihm nicht mehr zu Gebote stand, vorbeugen wollte und es vorzog, für den Fall eines gefahrvollen Ausbruchs ihres Schmerzes sofort zugegen zu sein, ihr zu sagen gewagt, daß mit Tausenden auch Albrecht der Seuche zum Opfer gefallen sei. Aber sie hat nie erfahren, wessen Hand es war, die ihm den Tod gab.
Joie schrie gellend auf und warf sich zurück, ins Herz getroffen; denn sie fühlte wohl, daß dies die Wahrheit sei. Dann richtete sie sich starr empor und sah ihm ins Gesicht.
»Er grüßte mich doch noch gestern abend?« fragte sie bang.
Der Arzt schüttelte traurig den Kopf. Er fürchtete eine Wahnvorstellung seiner Kranken.
»Er starb vor vier Tagen und ist seit zweien begraben; draußen, auf dem großen Friedhof von Ohlsdorf.«
Da wurde Joie ganz still. Es war, als ob eine rätselhafte Macht ihr ganzes Denken ablenke von ihrem Schmerz und ein kühler Strom sich zwischen ihm und ihrem Fühlen hindurch ergösse; ein stummes, fremdes Bewundern breitete sich über ihr Gesicht. Sie bat den Arzt, sie zu verlassen. Wer sie gegrüßt hatte, sie wußte es.
Von dem Augenblicke an war ihr Schmerz gewissermaßen überboten durch eine Tat, deren Größe sie ganz erfüllte und ein herrliches Aufrichten in ihr gebar.
Und da hat Joie etwas wie eine Pflicht gefühlt, gesund zu werden, und hat sich Ruhe und Überwinden erkämpft, damit der Opfergang einer edeln Frau nicht vergebens gewesen sei.