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Noch nicht vierzig Jahre sind seit Julians Tod vergangen: wie anders sieht da die Welt aus! Der Vandale Stilicho hat als Generalissimus Roms den ganzen Okzident in Händen; Alarich zieht mit seinen Goten durch das Reich und plant, Rom zu nehmen. Constantin der Große, Constantius und Julian waren die letzten Kaiser gewesen, die das brüchige Gesamtreich noch in einer Hand zusammenhielten; jetzt ist Ostrom von Westrom endgültig losgerissen; die Zeit des Honorius und Arcadius, der Schattenkaiser, ist da, die in ihrem steifen Kaiserprunk hilflos dem Weltenschicksal zuschauen, das sich die Völker selbst bereiten. Ein Ruck noch, und Frankreich, Spanien, England lösen sich von Italien los, wie die Eisscholle des Polarmeeres, die sich im warmen Golfstrom mit Krachen spaltet, um sich nie wieder zu vereinigen. Die Reichsdiözesen füllen sich mit Germanen und werden zu Nationen, die sich ihre eigenen Staaten schaffen, den Nationalstaat aus sich erzeugen wie das Muscheltier im Meer, das sich eng in seine Muschel hüllt.
Was war inzwischen geschehen? Die tausend üppigen Städte im Reich, von Saragossa bis Antiochien, von London und Trier bis Sinope und Trapezunt, von Leptis bis Berytos lebten in den Tag hinein ihr Leben weiter, das sog. klassische Kulturleben, das sie nun seit 400 Jahren und länger gewohnt waren. Freilich, der Wert des Geldes sank und sank; das Leben wurde teurer; der Gegensatz von Arm und Reich nahm zu; aber die Provinzen im Reich versorgten sich immer noch im regen Handel wechselseitig mit Ware, und der Zuschnitt des Daseins blieb im wesentlichen derselbe wie unter Kaiser Julian und Constantin.
Nur war alles christlicher geworden. Großartige Neubauten gab es noch kaum irgendwo außer den Kirchen, deren Triumphbögen und Apsiden in Gold-Mosaiken strahltenVgl. z. B. Hieronymus Epist. 77, 11. Dazu kamen freilich Profanbauten in Constantinopel, der Residenz, wo Theodosius das goldene Tor schuf, einen Markt, eine Basilika, Bäder, Hallen, Gymnasien, Theater und Hafenbauten.. Im Frühling und Sommer schmückte man die Kirchen (wie noch heute) mit frischen Blumen, Baumlaub und RebenrankenHieronymus Epist. 60, 12.. Das Heidentum wurde stiller, resignierter und seine elegischen Klagen von der lauten Stimmenmasse der Kleriker übertönt. Die 273 biblische Frömmigkeit erobert sich jetzt mit tausend schreibseligen Händen den Büchermarkt, eine unermüdlich schwungvoll wortreiche Kirchenschriftstellerei. Das Volk lebt so ziemlich wie bisher, als es sich noch nicht christlich nannte, die Welt der Alltagsmenschen, die nicht aus ihrer Haut heraus können; aber auch sie führen halb gedankenlos und halbverstanden die Losungen der Kirchenparteien im Munde, so wie im modernen Parteileben beim Wahlakt heute die Stichworte der Demokraten oder Antidemokraten über die Straße schallen: die Unkundigen rufen immer am lautesten. Damals ging es immer noch um die heilige Dreieinigkeit. Der Arianismus verlor schon beträchtlich an Boden; das mystische Glaubensbekenntnis des streitbaren Athanasius hatte seinen Siegeszug schon begonnen. Ein frommer Zeitgenosse gibt uns davon eine humorvolle Schilderung. Menschen, sagt er, die gestern noch Schneiderei und Schusterei trieben, darunter böses Sklavengesindel, kaum der Peitsche entlaufen, sind heut auf einmal Theologen geworden. In den Säulengängen, auf den Märkten, bei den Geldwechslern und Hökern, überall trifft man solche Leute. Fragst du da jemanden, was der Laib Brot kostet, so antwortet er: der Vater ist größer als der Sohn. Sagst du: ich brauche eine Badezelle, so versichert er dir: der Sohn ist aus nichts erschaffen. Willst du Geld wechseln, so redet er von gezeugt und ungezeugtGregor von Nyssa; s. Baumgartner, Geschichte der Weltliteratur IV, S. 18 ff. (auch für das Folgende)..
Die Veredlung der Menschheit aber ließ immer noch auf sich warten, und so mehren sich die Auserwählten, die die Frömmigkeit zum Beruf erheben. Es galt jetzt, um sich sittlich rein zu halten, aus den Welthändeln zu flüchten. Weltflucht, Abtötung des Fleisches! Die Wüste rief, in die einst auch Jesus und Johannes der Täufer zog. Nur da, in voller Entbehrung und Einsamkeit, konnte man Gott wohlgefällig leben. Das Eremitentum hatte begonnen, der Ruhm der Wüstenheiligen. Sie sammelten Schüler; die Einsamkeit bevölkerte sich, und es entstand das Klosterwesen, das sich rasch organisierte. Basilius der Große, Bischof in Cappadocien, schrieb die erste Klosterregel, 274 nach der noch heute die griechisch-orthodoxen Mönche leben. Darin wurde jetzt das christliche Ideal gefunden: ein brünstig intensives Andringen an Gott, ein Berufsleben der Ehelosen, die für die halb verlorene Welt beten, für die Gottlosen da draußen Ersatzfrömmigkeit anhäufen und des Sturms der Weltgeschichte nicht achten; mag er über die Erde daherbrausen: er dringt nicht in ihre Zelle. Das Wort Mönch bedeutet den Isolierten, das Wort »Kloster« die Abgeschlossenheit (claustrum); coenobium heißt das Kloster dagegen von der Gemeinsamkeit des Lebens; das Kloster ist also ein Konvikt der Isolierten, eine Vergesellschaftung der Einsamen. Wer ahnte damals, daß diese Institution bis heute weit über ein Jahrtausend überdauern, die Mönche aus der Weltverlorenheit und andächtigen Einsiedlerstille zu einer Hauptkampftruppe des Papsttums werden sollten?
Beneidenswert, wer nur seinem Gott leben kann! Alle Staatspflichten fallen von ihm ab, und die Seele wird durchhellt und leicht wie Äther. Da hören wir denn auch lyrische Töne; sie setzen voll ein, und es klingt zu uns her wie fernes Glockenhallen. Das Innenleben findet neuen Ausdruck, Gesänge der Inbrunst und tiefster Innerlichkeit. Das Absingen der Psalmentexte, das rituell in den Kirchen geschah, genügte nichtVgl. Cassian II, 5: es war Sologesang; ein einzelner in der Versammlung stand auf und sang den Psalm, dann erhob sich ein anderer, und so ging es der Reihe nach; und zwar morgens zur Terz, Sext und None, ebenso zur Vesper und zur Mitternachtsmette. Vgl. auch Hieronymus, Leben der hlg. Paula, Kap. 20.. Es erklingen jetzt Hymnen, die Christus persönlich feiern, aber nicht etwa Christi Opfertod und seine Seligpreisungen; es ist vielmehr sublim dogmatische Lyrik, die die Begriffsbestimmungen und vergleichenden Bilder häuft in Unermüdlichkeit, und sie mutet uns fremdartig genug an:
Versammle deine Kinder um dich,
Hirt königlicher Lämmer,
Unbändiger Rosse Zaum,
Umirrenden Gefieders Fittich,
Der Unmündigen Steuer,
Du Fischer im Meer des Lebensgewühls,
Der aus Wogen der Schuld wie aus tobendem Meer
Mit der Angel des Worts seine heilige Brut
Zu lieblichem Leben emporzieht. 275
O der himmlischen Milch! Süß quillt sie empor
Aus der heiligen und jungfräulichen Brust
Deiner Weisheit, Herr.
So geht es durch 60 Zeilen. Von einem Methodius besitzen wie ein »Gastmahl«, das er in Nachahmung des berühmten philosophischen Gastmahls des Plato schriebs. Migne, Patrolog. graeca XVIII, S. 27 ff.; Methodius wollte damit das Ideal der bösen Neuplatoniker überbieten. Arete, d. i. die Tugend selbst, ist es, die das Gastmahl gibt. Es ist allegorische Dichtung. Im fernsten Morgenland liegt der Wundergarten, in dem sie wohnt; beschwerlich ist der Weg dorthin. Aber vier Jungfrauen (so hören wir), machen sich auf und pilgern, ihn zu finden. Die Tugend tritt ihnen entgegen und nimmt sie freundlich auf, eine Frau in schneeweißem Kleide, von unbeschreiblicher Schönheit und ungeschminkt (!). Gleich geht es zum Speisen, und da sitzen an der Tafel schon andere Jungfrauen; die Tafel steht in dem Paradies zwischen blühenden Wiesen, wo frische Brunnen rieseln und rauschen und die Baumwipfel in Obstfülle prangen. Alsbald aber muß jede Jungfrau reden, und sie preisen zunächst ihren Jungfrauenstand als den Urzustand Evas und edelste Frucht der Frömmigkeit. Auch die Ehe wird gepriesen, die die frommen Menschen schafft; aber sie gleicht nur den Sternen, die Jungfräulichkeit gleicht der keuschen Luna, dem Vollichte des Mondes. Für das Weib, das sich vermählt, ist die Ehe nur das Symbol der Vereinigung der Seele mit Christus, dem wahren Bräutigam. Christus, der Bräutigam, wird geliebt in der heißen Glutstimmung des Hohenliedes. Und schon singen die Jungfrauen selbst ein unendliches Lied, mit dem Refrain:
Dir weih' ich mich; mit heller Lampen Zier
Schreit' ich, o Bräutigam, entgegen dir.
Da heißt es, in dreizeiligen Versgruppen:
Aus dem Sinn schlug ich die Heimat; dich zu finden, ewiges Wort,
Eilt' ich aus der Gespielen Kreise, aus dem Arm des Liebsten fort.
Vater, Mutter, alles, alles bist du, Christus mir, mein Hort . . . 276
Becher voll des süßen Weines stehn vor uns. Greift zum Pokal.
Jungfraun, es ist Himmelslabe, die im frohen Hochzeitssaal
Der Geliebte uns bereitet, den Geladnen allzumal.
24 solcher Strophen sind es. Warum 24? Sie entsprechen den 24 Buchstaben; jede Versgruppe fängt mit einem anderen Buchstaben des Alphabets an: ein echtes Kunststück im Geist jener Zeiten, akrostichisch. Man nannte das einen Abecedarius, wie ihn auch der große Augustin verfaßt hatAuch Sedulius. K. Krumbacher, Die Akrostichis in der griechischen Kirchenpoesie (Abhandl. der Münchner Akad. 1904) betrifft spätere Zeiten..
Weltfremdheit! Heiligung! Wozu waren die vielen heidnischen Säulen da? Der Fromme erklettert solche Säule, von der das Gottesbild heruntergeworfen ist, und lebt dort oben jahrelang einsam zwischen Himmel und Erde, als Säulenheiliger oder »Stylit«; die kärgliche Nahrung müssen ihm seine Verehrer hinaufwindenDer berühmteste Stylit Simeon oder Symeon gehört freilich erst dem 5 Jahrhundert an († 459). 39 Jahre hat er auf seiner 12 m hohen Säule gelebt. In Nord-Syrien ist noch heute das ausgedehnte, ihm zu Ehren erbaute Heiligtum zu sehen, das, acht Stunden von Aleppo, mitten in der Gebirgsöde liegt; es besteht aus mehreren Kirchen und zahlreichen sonstigen Baulichkeiten.. So war er dem Himmel am nächsten. Erbaulicher aber ist es noch, in die Wüste zu gehen und dort den heiligen Antonius, den Patriarchen der ägyptischen Mönche, zu finden, der da mit seinen Schülern darbt, betet und singt und frohlockt in der Hoffnung auf die ewigen Güter, daneben aber Körbe und Matten flicht, um aus dem Erlös seines Händewerks sich Geld für Almosenspenden zu erwerben. Kein geringerer als der große Athanasius hat uns den hlg. Antonius geschrieben. Als er 90 Jahre, da hört Antonius nun aber in einer Traumoffenbarung, daß er nicht der erste seiner Art ist; in der Felsenöde lebte ein noch älterer Eremit, der heilige Paulus, und man erzählte sich Folgendes: Dieser Paulus war schon 110 Jahre alt und lebte noch immer. Antonius staunt, daß es einen Mann gibt, der noch mehr Verdienste hat als er, und irrt durch die Wüste, um ihn zu finden, zu verehren. Als 15jähriger Jüngling aus reicher Familie war Paulus einst in die Wildnis geflohen; er fand dort eine Höhlengrotte im Felsen, die nach oben offen; ein uralter Palmbaum stand in ihr; auch ein Quell fehlte nicht; da beschloß er, dort seinem Gott zu leben. Aus den Palmblättern machte er sich ein Kleid, und o Wunder! ein Rabe kam täglich und warf ihm ein halbes Brot herunter. So lebte er dort, ohne je einen Menschen zu sehen, wohl bald 100 Jahre. 277 Antonius aber hat auf seiner Wanderung zu ihm wunderbare Begegnungen; in der Wüste trabt ihm ein Ungetüm, halb Pferd, halb Mensch entgegen, ein echter Centaur, der barbarische Worte stottert, aber auf Anfrage ihm den Weg weist, dann davongaloppiert. Dann trifft er in einer Schlucht einen Menschen mit Ziegenohren, Hörnern an der Stirn und mit Bocksfüßen; es ist ein Satyr, der ihm freundlich Datteln zur Nahrung reicht und menschlich zu sprechen beginnt: »bete für uns zu deinem Herrn; denn auch wir wissen, daß er zum Heil der Menschen gekommen ist.« Antonius weint vor Rührung und Freude: selbst die wilden Tiere preisen den Herrn! (Hieronymus, der uns dies alles erzählt, fügt hinzu: solche Satyrn existieren wirklich; unter Constantin dem Großen sei ein solcher eingefangen, und als er starb, in Salz gelegt und sorglich konserviert worden zum Beweis der Tatsächlichkeit.) Endlich findet Antonius den Paulus; die Greise erkennen, bewundern, küssen sich. Da kommt schon der Rabe und wirft jetzt einen ganzen Laib Brot herunter, um die beiden zu nähren. Keiner der beiden aber will zuerst essen; sie nötigen sich, fassen schließlich beide das Brot am entgegengesetzten Ende an und ziehen, bis es geteilt ist. Paulus aber rüstet sich, die Last des Leibes abzuwerfen und dem Lamme zu folgen. Als er gestorben, kniet noch sein Leichnam und streckt die Hände hoch im Gebet. Antonius aber ist ratlos, wie er ihn bestatten soll, da er keinen Spaten hat. Siehe, da kamen zwei Löwen, die fliegenden Mähnen schüttelnd, aus der Wüste: die wedelten mit ihren Schweifen und legten sich heulend dem Leichnam zu Füßen, dann erhoben sie sich fromm und scharrten mit ihren Tatzen den Boden auf, und es ward ein Grab, das einen Mann fassen konnte. Antonius pries Jesum, segnete die Tiere und kehrte in sein Kloster zurück. Das strohmattenartige Kleid aus Palmblätter aber, das den Paulus so lange treu bedeckt hatte, nahm er mit sich und trug es als Festkleid nur an den hochheiligsten Tagen, zu Pfingsten und Ostern.
Eine Fabel für Kinder? Keineswegs. Eine LegendeLegende heißt das Lesenswerte., an die 278 man glaubte und die der hochgelehrte Hieronymus voll ernsten Eifers niederschrieb, indem er zum Schluß versichert, daß alle Purpurpracht der Vornehmen dieser Welt ihm nichtig scheine gegen das abgetragene Hemd des Paulus.
Aber auch in Syrien gab es Sandwüsten, jenseits des Libanon und Hermon und des Toten Meeres. Sollten sie der Heiligen entbehren? Hilarion war es, der sich da zuerst in der Gegend von Gaza eine Hütte baute, und auch für ihn erhalten wir die genauesten Angaben, viel genauer als für die Kaiser und Könige dieser Welt. Es ist der Hilarion, den buchstäblich der Versucher ritt; der Teufel, heißt es, sprang ihm auf den Rücken, bearbeitete seine Seiten mit den Fersen, hieb ihn mit der Geißel und schrie dazu: »willst du Gerste fressen?« als wäre er ein Gaul. In der Tat nährte sich Hilarion nur von Gerstenbrot, 6 Unzen am Tag, zu anderen Zeiten von einer Hand voll Feigen (15 Stück). Den Sack aus Ziegenhaar, sein Bußgewand, legte er zeitlebens niemals ab; Sauberkeit schien ihm Putzsucht, also überflüssigSuperfluum esse dicens munditias in cilicio quaerere; das Wort munditiae bedeutet Putzsucht und Sauberkeit zugleich.; und er ist nun der Heilige, der die üblichen Wunder, wie sie ähnlich hundertfach in den Heiligenberichten der Zeit wiederkehren, vollführt; dabei erfahren wir oft auch den Namen und die Herkunft des Geheilten. Da ist eine Blinde, die sehend wird, weil er ihr ins Auge speit. Ein wildwütiges Kamel gefährdet die Reisenden; rot glühen seine Augen; Schaum steht ihm vor dem Maule; seine Zunge quillt gräßlich auf; Hilarion aber spricht auf syrisch: »du schreckst mich nicht« und streckt seine Hand: da legt sich das Tier schon vor ihm nieder; der Dämon, der böse Geist ist ausgefahren. Mit den Zirkusrennen der Großstadt hat der Heilige nichts zu schaffen; aber ein christlicher Wagenlenker will einen heidnischen Wagenlenker besiegen; Hilarion gibt ihm nur einen Becher Wasser; der besprengt damit Rosse und Wagen und die Schranken der Rennbahn, und das Publikum ist bestürzt und erregt: die christlichen Pferde siegen! Hilarion wird nun aber berühmt und sein Ruhm ihm selbst zur Qual; denn die Einsiedeleien mehren sich um ihn her; Scharen von Kranken und Besessenen strömen 279 herbei. Da wandert er aus, in Sehnsucht nach der verlorenen Einsamkeit. In Ägypten findet er des Antonius Wohnstätte, legt sich von Andacht ergriffen auf das leere Lager und küßt in Ehrfurcht das gleichsam noch warme Bett. Aber der Ruhm seiner Wundertaten verfolgt ihn auch da, und er entweicht weiter nach Sizilien, Dalmatien, endlich nach Cypern, der Insel der Venus. Zwischen hohen Bergen hauste er da einsam in einem schönen Gärtchen, neben der Ruine eines zerstörten Tempels, aus der unheimlich Tag und Nacht die Stimmen der sündigen Geister schollen: die Erinnerung an den untergegangenen Venuskult. Und hier war es ihm beschieden zu sterben; er heiligte damit die Stätte. Das Mirakel aber endet nicht; denn sein Leichnam verfiel der Verwesung nicht, sondern duftete wundersam nach Spezereien, als wäre er wie ein König Ägyptens einbalsamiert.
Man wird begreifen, daß viele Weltchristen damals diese Art von Legendenliteratur skeptisch beiseite schoben und von dem Heiligenkultus nichts wissen wollten. Aber man muß sie lesen, um den Geist der Zeit zu verstehen und zu wissen, was grundernste Männer sich damals erzählten und die Kirchenväter dem Volk feierlich vortrugen. Es war weltscheue, weltverachtende Traumstimmung, ein Heimischwerden im Übernatürlichen, ein Ehrgeiz nach dem Unglaublichen, als gäbe es keine Wirklichkeit. Die schnöde Wirklichkeit lag draußen, sie drang nicht in die Wüsten und Klosterzellen. Aber es war, als sollte dieselbe Wirklichkeit eben jetzt allen Traumsinn niederschlagen, dem Glauben die stolzen Flügel brechen. Wild, gräßlich, ungeheuer, chaotisch, setzte eben jetzt der Orkan der Weltgeschichte ein. Die Hunnen kamen. Die Völkerwanderung setzt nun wirklich ein, die kein Landesrecht mehr achtet; es ist der große Knick im Gang der Dinge. Von China her tut sich die unerschöpfliche Völkerwiege Ostasiens auf, und der enge Horizont der alten Welt spannt sich plötzlich weiter. Die alten Mächte fallen von ihren Stühlen. Das Nationalkönigtum meldet sich; es tritt endlich in den Kampf mit dem Weltkaisertum. Die 280 sogenannte Menschheit hört auf; die Einzelvölker wollen an ihre Stelle treten. Schon fühlt niemand sich mehr sicher auf seiner Landstelle; die Tore der Städte schließen sich angstvoll, und kein Warentransport traut sich mehr von Land zu Land, wo die Germanen in langen Zügen über die Römerstraßen ziehen.
Sollten sie wirklich die Zerstörer der Antike werden, diese Germanen? oder vielmehr ihre Retter? zugleich die Zerstörer oder die Retter des Christentums?
Ich habe schon bisher fast unausgesetzt vom Krieg gehandelt; ein pausenloses Schlachtenschlagen war die Reichsgeschichte schon bisher. Aber jetzt dröhnt und faucht die Kriegsorgel aus Höhen und Tiefen mit allen Registern, alle Länder erfüllend ohne abzusetzen, und die Feder erlahmt, die das schildern soll. Ich erzähle hier von dem letzten Versuch Roms, die Reichsintegrität zu sichern. Er war vergebens.
Ein garstiges Steppenvolk waren jene Hunnen. So werden sie uns geschildert: kleine Kerle mit großen Köpfen, dabei bartlos (sie verhinderten den Bartwuchs gewaltsam), die nicht Hütten, nicht Häuser kennen und auf ihren zähen GäulenDie Pferde der Hunnen galten dann bei den Römern für Kriegszwecke alsbald als die besten und brauchbarsten; vgl. Vegetius Mulomedicina III, 6, 2. Ein Lobgedicht auf ein solches Roß noch bei Ennodius carm. II, 94. in Bocksfellhosen reitend daherfahren; ihre Schuhe sind so unförmig, daß sie nicht marschieren können. So leben sie mit dem ungesattelten Roß verwachsen wie Centauren, essen und trinken zu Pferd, schlafen auf den Hals des Tieres gebeugt, und jagen umher, unstet, unermüdlich, überraschend und unberechenbar; hinterdrein fahren ihre Weiber und Kinder in Karren, ein unübersehbares Zigeunertreiben. Waren es Mongolen? Wahrscheinlicher eine Rasse, die den Türken verwandt; man sieht ihre Nachkommen in den Bulgaren. Attila, die Gottesgeißel, lebte noch nicht. König Balamber führte damals die Horden, die aber nie dauernd zusammenhielten. Sie stoben auseinander und kämpften hernach bald für, bald gegen Rom. Eine Zeitlang aber blieben sie zunächst noch unsichtbar; ihr Anprall stieß nur die Gotenvölker vorwärts, so daß Roms kastellgepanzerte Reichsgrenzen brachen. So wurden sie »die 281 Ursache alles Elends«Orosius VII, 33.; so kommt es aber auch, daß jetzt endlich für unser Auge vereinzelt deutsche Recken und Könige ins hellere Licht treten: ich nenne Ermanarich, Athanarich und Fridigernes.
Man unterscheidet West- und Ostgoten. Damals lebte der große, halb sagenhafte Ostgotenkönig Ermanarich (Hermanrich), aus dem Stamm der Amaler. Er hatte – ein Vorläufer der russischen Zaren – um das Jahr 350 in den fruchtbaren Flächen der Ukraine, um den Don und Wolga, westlich bis zum Dniestr, ein gewaltiges Reich begründet, das nach Norden bis zu den Letten und Finnen reichte. Jeder weiß, wie ergiebig jene endlosen Landstrecken auch heute noch sind an Viehwirtschaft, Ackerfrucht und Fischfang; es war da für die Goten ein herrliches Leben; sie konnten an die griechischen Pontusstädte den üppigen Ertrag verkaufen: bis jählings die Hunnen anstürmten (um das Jahr 370) und das weit offene, schlecht zu verteidigende Land überrannten. Ermanrich, der alte, entleibte sich selbst – einer der wenigen Machthaber in der Weltgeschichte, die da selbst sich ins Schwert stürzen, um mit ihrem Reich unterzugehen. Im germanischen Heldenepos lebt sein Name mit Dietrich von Bern, dem Gotenhelden der Rabenschlacht, weiter, aber umgedichtet zu einem Mann des Schreckens, der sein Weib Swanhilde mißhandelt, seine Verwandten verfolgt und umbringt.
Dies Beispiel war lehrreich; der Welt stand damit nur allzu deutlich die Vergänglichkeit der Reichsgründungen der germanischen Wandervölker vor Augen.
Die Ostgoten wichen vor den Hunnen nach Westen aus, über den Pruth, in die Moldau und Walachei. Da saßen aber zu dieser Zeit die Westgoten unter den Königen Athanarich und Fridigern, und zwar als unmittelbare Nachbaren des Römerreichs. Diese Westgoten standen mit Rom seit langem in engster Fühlung; Fehden und Vertragsschlüsse hatten unaufhörlich gewechselt. Jetzt sahen sie sich durch die Ostgoten aus ihren Landstellen gegen die Donau gepreßt, und der größere 282 Volksteil unter Fridigern wollte hinüber; der Römer sollte sie aufnehmen, ernähren. Sie wollten im Guten auf der Balkanhalbinsel Land erbitten und harrten zunächst geduldig der kaiserlichen Entscheidung: vielleicht 20 000 kampffähige Männer mit ihren FamilienNach Eunapius 200 000 Mann; nach L. Schmidt, Allgemeine Geschichte der germanischen Völker (1909), S. III nur 8000 Streiter, mit den Familien gegen 40 000 Köpfe. Man schätzt, daß es höchstens 6 Millionen Germanen gab; ein Einzelstamm wie die Ostgoten oder Vandalen nur etwa 100 000 Seelen (L. Schmidt a. a. O. S. 46).. Es war im Herbst 376. Sie meinten es friedlich; die Römer aber schufen sich selber das Verderben.
Im Römerreich hatten nach Kaiser Julians Tod zunächst üble Kronwirren geherrscht. Jetzt regierten die beiden Brüder Valentinian und Valens in West und Ost, tatkräftige Herren und ihrer Aufgabe, so schien es, vollauf gewachsen. Kaiser Valens tat den entscheidenden Schritt und gewährte durch Botschaft dem fremden Volk wirklich Einlaß. Er erwartete in ihm brauchbare Kolonen, eine neue dienende Landbevölkerung für die Provinz Thrazien zu gewinnen; und es war gutes Germanenblut, ein willkommener Zuwachs. Aber die Römer selbst, der Dux Lupicinus und der zweite Befehlshaber Maximus an der Spitze, verdarben gleich alles.
Valentinian I. (?)
Valentinian I. (?) Kolossalbronze in Barletta. Antike Denkmäler d. K. Archäol. Instituts III, Taf. 20.
Der Übergang der Volksmasse über die Donau sollte beginnen. Die Römer ließen zuerst nur die wehrlosen Weiber und Kinder herüber, um sie zu mißbrauchen oder zur Fronarbeit wegzuschleppen. Dann setzten auch die gotischen Krieger über. Sie sollten sich entwaffnen; sie taten es nicht. Eine Volkszählung sollte geschehen; es geschah nicht. Sie verlangten Ernährung; aber es fehlte völlig an Zufuhr; es war nicht vorgesorgt oder die Vorräte schmählich veruntreut. Gleich entstand Hungersnot; die Römer höhnten, griffen sich Hunde und verkauften sie an die Ankömmlinge, die dafür ihre Sklaven, ihre Söhne hergaben, um zu leben. Man begreift den tötlichen Haß, der sich in den Goten ansammelte. Grollend ließen sie sich landeinwärts zur Provinzialhauptstadt Marcianopel führen. Da lud Lupicin ihre Fürsten Fridigern und Alavinus (Athanarich war jenseits der Donau zurückgeblieben) zum Gastmahl ein. Es war eins der vielen Gastmähler jener Zeiten, die mit Mord zu enden drohen. Das gemeine Gotenvolk mußte außerhalb der Stadt lagern; es will aber in die Stadt; es will 283 Nahrung, dringt an, und es kommt zu lärmendem Kampf mit den Torwachen. Als Lupicin das vernimmt, plant er Gewalt und läßt zunächst das Gefolge seiner Gäste im Palast niederhauen. Blut ist geflossen; die Wut draußen steigert sich. Aber die Gotenfürsten sind klug; es gelingt ihnen, sich ins Freie zu retten, unter dem Vorwand, ihr Volk beruhigen zu wollen.
Gleich danach gab es Krieg; die Furie war losgelassen. Fridigern nahm die Führung. Eine Schlacht unmittelbar vor der Stadt. Die Goten siegen, bewaffnen sich mit den erbeuteten Waffen und stürmen auf Selbstverpflegung in die Lande hinaus, ein Hungerkrieg und Raubzug, der nichts verschont, durch Thrazien, Macedonien, Thessalien. Ein volles Jahr lang hinderte sie niemand. Nur die Städte bleiben verschont; sie sind uneinnehmbar. »Friede den Mauern« ist daher Fridigerns Losung. Wilde Freischaren von Hunnen und Alanen, die die Beute wittern, kommen hinzu und steigern die Kampfkraft der Goten.
Kaiser Valens steht fern in Antiochien; er entsendet einen Feldherrn nach dem andern; sie richten nichts an. Da rückt Valens aus Asien selbst heran, auf Adrianopel, wo zwei Meilen vor der Stadt Fridigern seine kreisrunde Wagenburg errichtet hat. Soll der Kaiser die Schlacht wagen? Kaiser Gratian, der jetzt im Okzident herrschtAn seines Vaters Valentinian Stelle, der im Jahre 375 gestorben war., verspricht ihm baldige Hilfe. Soll er die Hilfe abwarten? Er will es nicht; Ehrgeiz und Ungeduld wirken zusammen, und er beginnt den Kampf, in der Hitze des August. Es wurde die furchtbarste aller Niederlagen. Der Kaiser flieht in ein Bauernhaus; das Haus geht in Flammen auf. Seine Leiche wurde nicht gefunden. Der Kaiser tot! Zwei Drittel des Heeres vernichtet. Ein Jauchzen ging durch die Gotenherzen. Für die germanische Zukunft war es der erste große Erntetag, für Rom eine zweite Schlacht bei Cannä. Fridigern der Sieger, der zweite HannibalMit der Schlacht bei Cannä vergleicht Ammian die Niederlage bei Adrianopel.! Es war der 9. August 378.
Wie die Sieger nun das Land überschwemmten, mißhandelten, kann man sich denken; sie schlachteten, heißt es, die 284 Römer wie die HammelF. Dahn, Könige der Germanen I, S. 14.. Das Land war herrenlos, kaiserlos. Dann aber wurde im Jahre 379 Theodosius zum Herrscher des Orients erhoben, und sogleich begann ein neuer Geist, eine planvollere Politik zu walten. Theodosius heißt in den Geschichtsbüchern der Große: wir wollen nicht untersuchen, ob mit Recht. Die alten Zeugen, die ihn lobpreisen, verschweigen uns auch seine Schwächen nicht. Jedenfalls erkannte der Mann das Gebot der Stunde. Das betraf sowohl seine Kirchenpolitik wie seine Germanenpolitik.
Er erkannte die unbestreitbare Übermacht der Bischöfe, zog daraus die Folgerung, ließ sich orthodox taufen und setzte sich in ihrem Sinn für die Vernichtung des heidnischen Kultus und für die Zurückdrängung des Arianismus ein (Edikt des Jahres 380; auch 391 und 392). Er sah ebenso, daß die Gotenfrage mit Blutkampf nicht zu erledigen war, und so wurde er grundsätzlich Germanenfreund; amator Gotorum nennt ihn Jordanes. Er verstand die Gotenführer zu spalten, die Eifersucht unter ihnen zu wecken, verhandelte nur immer mit den Einzelnen, indem er sie leutselig höchstselbst in seinem Kaiserzelt zur Tafel lud. Das wirkte, und eine friedliche und in sich geschlossene Ansiedlung konnte jetzt endlich erfolgen. Fridigern starb, bald danach auch Athanarich, und die einheitliche Führung ging den Goten damit verloren; aber sie sind jetzt endlich versorgt; nicht nur Land, auch Abgabenfreiheit haben sie und eigene Rechtsprechung und Verwaltung; als Gegenleistung verlangte der Kaiser nur Heerfolge, die Verteidigung der Reichsgrenzen gegen äußere Feinde.
Und die Wirkung war überraschend. Das Gefühl schlug um; sie sind auf einmal für Kaiser und Reich begeistert; der Glanz und Luxus des Lebens lockt, blendet sie, und vornehme Goten drängen sich mit Ehrgeiz in den Reichsdienst. Constantinopel wimmelt auf einmal von diesen blonden Leuten, die in den besten Häusern Einlaß finden, aber trotzig ihre nordischen Sitten nicht aufgeben, ein Anblick des Grauens für all die vielen zarten Seelen. stulti, die Dummen, nannte der Römer 285 diese großspurigen deutschen Recken. Denen aber gefiel das Wort vorzüglich; sie machten aus stulti das Wort »stolz« und nannten sich selbst die »stolzen«: eines der seltsamsten deutschen Lehnwörter aus dem Latein. Mit breiten Ellenbogen stehen sie in den Palästen herum, in ihren weißen Schafpelzen und langen Haaren, einen Kopf größer als all die andern, heiraten bald auch Römerinnen, erhalten hohe Staatsämter mit glänzender Dotation und sind die Lieblinge des Kaisers. Auch für die klassische Bildung hatten sie offensten Sinn, und damit auch für das Christentum. Schon um das Jahr 340 hatte der Gote Ulfilas, der Verfasser der gotischen Bibel, seinem Volk jenseits der Donau das Christentum verkündet; die Heilslehre machte bei ihnen jetzt Fortschritte; freilich ging es nur langsam.
Womit Constantin der Große begonnen, das ist jetzt durchgeführt: die zugewanderten Germanen sichern im Reichsdienst das Reich; sie sind seine letzte, seine einzige Sicherung. So ging vorläufig alles gut, so lange Theodosius herrschte, in den sechszehn Jahren 379–395.
Theodosius war Spanier von Herkunft, weit mehr Diplomat als Feldherr; nicht nur fromm, sondern auch human. Er tafelte gern gut, liebte das Behagen und ließ sich oft bis zur Lässigkeit gehen. Das hinderte aber nicht, daß er nicht mit wachem Sinn die leitenden Ideen gab, unnachgiebig auf ihre Durchführung hielt, die starken Männer, die für ihn handelten, herausfand und vor allem die Autorität wahrte. Die Nachwelt hat ihn vergöttert; war er doch in der langen Galerie der Imperatoren die letzte Gestalt, die sich des Römernamens noch würdig zeigte; die Größe der Kaisergeschichte endet mit ihm. Sein Tod selbst machte die Bahn frei für Zerrüttung, Zerwürfnis und alles Unheil.
Zwei schwere Kriege war Theodosius gezwungen in Westeuropa auszukämpfen, um dort seinen Mitkaisern Gratian und Valentinian II. zur Hilfe zu kommen. Gegen diese hatte sich zuerst ein Usurpator mit Namen Maximus erhoben; Theodosius besiegt den Maximus im Jahre 388 mit Hilfe seines 286 gewaltigen Heermeisters, des Franken Arbogastes. Dann aber empört sich Arbogast selbst, macht sich zum Herrn Galliens, greift aber nicht für sich selber nach der Krone; sein Ehrgeiz geht vielmehr dahin, einen anderen zu krönen und als seine Kreatur im Purpur durchs Land zu führen; diese Kreatur hieß Eugenius. Theodosius zog auch jetzt wieder als Verfechter der Legitimität von Constantinopel heran und vernichtete den Arbogast glücklich in der vielgepriesenen Schlacht am Fluß Frigidus bei Aquileja, im Jahre 394. Ein Unwetter, das sich vom Meer erhob, kam ihm dabei zur Hilfe. Inzwischen waren aber auch Gratian und Valentinian II. umgekommen, und Theodosius sah sich unverhofft als Alleinherrscher des Okzidents und Orients. Für wie lange? Die größten Hoffnungen knüpften sich sogleich daran, und wir hören sein volltönendes Lob:
Daß er ein Bürger wie andre, vergaß er nicht. Stand er im Sieg da,
Trat er doch nie die geworfne Partei rachgierig mit Füßen
Oder im Jähzorn; freundlich vielmehr, zugänglich den Bitten
Kargt' er mit Strafen, ein Friedensfreund; Pflicht war ihm die Milde,
Immer das Ende des Kampfs gleich auch ein Ende des Hasses.
Ja, Glück winkte dem eben Besiegten, und wer da in Ketten
Schmachtete, war ihm dadurch zur Gnade empfohlen und Mitleid.
Fülle des Geldes und Fülle der Ehren, er spendete beides,
Immer sich gleich, stets froh, das Schlimme zum Guten zu wenden.
Daher die Liebe, die sicher ergebne Treue der Mannen.
So feiert der Dichter ClaudianDe IV cons. Honorii 111 ff. die Amnestien, die er wiederholt erließ. Auch Augustinus redet in gleichen TönenCivitas dei V, 26.. Da erkrankt der Kaiser und stirbt in Mailand, schon ein Jahr nach dem Sieg am Frigidus (im Jahre 395). Sein buntscheckiges Heer, das da den Sieg erfochten, darunter eine Menge Goten, auch hunnische Söldner, ist nun ohne Herrn; es lagert noch längere Zeit in NorditalienAuch des Arbogastes besiegte Truppen waren dabei: Zosimus IV, 59; V, 4.. Promotus, Cimasius, Gaïnas heißen die Generale; aber auch Stilicho und Alarich sind zugegen, und alles harrt gespannt auf des Theodosius letzte Verfügungen. Gaïnas war einer der unbändigen Goten im Römersold; wichtiger Stilicho, der Vandale; denn er war 287 des Theodosius Schwiegersohn. Aber auch des Alarich Namen haben wir genannt. Alarich zählte damals vielleicht erst 20 Jahre und hatte seine Westgotenmannschaft pflichtgemäß als Hilfstruppe mit an den Frigidus geführt.
Zwei kümmerliche Prinzen, im Purpur geboren, aber regierungsunfähig, waren vorhanden, Honorius und Arcadius. Nun spielte das Erbrecht wieder seine traurige Rolle Der 17jährige Arcadius erhielt jetzt den Osten, der 8jährige Honorius den Westen. Dieses Reichsspaltung war endgültig; Ostrom und Westrom haben sich seitdem nie wieder zusammengefunden. Der Byzantinerhochmut aber wuchs jetzt bis zur Unverschämtheit; denn der ältere Sohn hatte Ostrom erhalten; damit war ihm der höhere Wert zugesprochen. Schon seit Constantin dem Großen war es Sitte geworden, von Byzanz aus mit Überlegenheit auf das Hinterland Italien herabzusehen. Das ging nun auch ins Persönliche. Was nützte es, daß die beiden Erben Brüder waren? Für Arcadius war sein Bruder Honorius Luft.
Diese böse Stimmung steigerte Rufinus, den Theodosius seltsamerweise dem Arcadius in Constantinopel zum Beirat und Helfer im Regiment bestimmt hatte; Stilicho aber wurde Vormund und damit Reichsverweser des Honorius, und von ihm ist jetzt zu reden.
Stilicho hatte allein an des vergötterten Kaisers Sterbebett gestanden; Theodosius hatte ihm feierlich nicht nur den einen, nein, beide Söhne zur Fürsorge und zum Schutz empfohlen. Nie hat Stilicho diese Sterbestunde vergessen, zeitlebens sich durch das gegebene Wort gebunden gefühlt; denn er besaß echte Vasallentreue. Der Sinn des Gelöbnisses aber war, daß Stilicho den Auseinanderfall der beiden Reichshälften verhindern sollte; er sollte der Entfremdung vorbeugen und in diesem Sinne sich auch um Arcadius bemühen. Damit war ihm für alles Folgende der Weg gewiesen; aber es war leichter gesagt als ausgeführt.
Es folgte ein Leben der Erschütterungen, die nicht aufhörten, der glänzenden Erfolge, der schönen flüchtigen Stunden des 288 Genusses, der großen Rettungspläne, der fehlgeschlagenen Hoffnungen und des tragischen Untergangs.
Von Hunnen, von Goten und Vandalen spricht man heute mit halbem Grauen; die Völkernamen sind zum Schimpfwort geworden; wir Deutschen haben es neuerdings nur zu oft und bis zum Ekel hören müssen. Die wüsteste Barbarei soll in den Namen liegen. Wie weit das für Goten und Vandalen in Wirklichkeit zutrifft, kann der ganze Verlauf der Dinge, kann Stilicho, Alarich und der große Theodorich uns lehren. Stilichos Vater war ein vandalischer Fürsten oder KönigssohnDaher regius undique sanguis, vom Eucherius gesagt, Claudian, VI cons. Hon. 552., der wie so viele andere vornehme Germanen in die Dienste des römischen Reichsheeres getreten war; er diente als Reiterführer unter Valens. So wurde der Sohn (um das Jahr 560) dem Blute nach als Vandale, dem Rechte nach als Bürger des Römerreichs geboren, erhielt die beste Schulerziehung und stand damit groß da; denn er war nun der Mann der drei Zungen, der zugleich das Deutsche, das Griechische und Latein beherrschte; wurde Reiteroffizier und gewann früh Ansehen bei Hofe und die Liebe des Kaisers Theodosius selber, der ihn, den noch nicht 25jährigen, als Haupt einer Gesandtschaft an den persischen Hof schickte (um 585). Da ging er auf Tigerjagd und brach, wie es heißt, die Herzen der jungen Perserinnen: eine hochgewachsene, imponierende Jünglingsgestalt, dazu klug und wortkarg. Gleich danach vermählte ihm Theodosius seine Tochter SerenaGenauer seine Adoptivtochter. und behielt ihn als jungen Heermeister auf allen Feldzügen um sich. Schwiegersohn des Kaisers, Schwager der unmündigen Kaisersöhne, Besitzer eines stolzen Palastes und umliegender Güter in Constantinopel: so stand er früh auf breitestem Fuße. Wie sollte das nicht seinen Ehrgeiz wecken?
Aber auch jener Rufin erschlich sich bald danachIm Jahre 390. des Kaisers Vertrauen, ein Mann der juristischen Laufbahn und von nicht geringerem Ehrgeiz als Stilicho. Wie in Arbogast, hat sich Theodosius in Rufin vollständig getäuscht; aber das war verzeihlich; denn der Mensch war ein Meister der VerstellungVgl. das simulare fidem und fallere mentes doctus, Claudian Rufin I, 88 u. 104.. Und doch verriet sich seine Kampfnatur schon zu jener Zeit 289 darin, daß er den Einfluß der großen Militärs, der ihm lästig war, schädigte und hemmte, so oft er konnteRufin war es, der dem Heermeister Promotus sein tragisches Ende bereitete; er war es, der auch dem jungen Stilicho, als er an der Donau gegen wilde Schwärme der Hunnen und Alanen zu kämpfen hatte, den Enderfolg raubte, indem er dem Theodosius riet, friedliche Unterhandlungen mit den Barbaren anzuknüpfen.. Nun, da Theodosius tot, warf er die Maske ab und ließ seinen Gelüsten freien Lauf; als der allmächtige Kanzler und Geschäftsführer des Arcadius herrschte er auf das übelste in Byzanz; alle Missetaten des Tyrannen werden ihm nachgesagt. Fatal war es für ihn, daß die Hunnen kamen; am Kaukasus brachen die Hunnen über Armenien ungehemmt in Kleinasien ein und drangen plündernd bis nach Syrien. Rufin sah dem untätig wehrlos zu. Statt dessen beschäftigte er sich damit, seine Tochter mit Arcadius zu vermählen. Es gelang ihm nicht. Da strebte er selbst offenkundig nach dem Kaisertum, nach staatlich anerkannter Mitregentschaft in Constantinopel. Indes war es der Eunuch Eutrop, der das Schlafgemach des Kaisers hütete. Der führte dem stumpfen Arcadius auch seine Kaiserin zu, die Eudoxia, die Germanin, die lebenslustige Tochter des Bauto. Wir werden noch mehr von diesem Eutropius hören.
Wichtiger ist Alarichs Verhalten. Die Heeresmasse, die am Frigidus gesiegt, stand noch immer abwartend in Venetien, Norditalien. Stilicho hatte jetzt über sie den Oberbefehl. Es waren reguläre Truppen des Westreichs und des Ostreichs, außerdem Alarichs Westgoten. Alarich benutzte Stilichos Abwesenheit (denn Stilicho ging für kurze Zeit an die Rheingrenze), um ohne Erlaubnis davonzuziehen. Er grollte, und sein Volk mit ihm, weil ihn Theodosius ohne alle Auszeichnung gelassen; denn die Germanen waren auf römische Ehrentitel wie versessen, etwa so, wie die Negerkönige heute sich an europäischen bunten Glasperlen freuen. Auch die fälligen Jahresgelder waren anscheinend nicht eingelaufen. Rufin hatte keine Armee; die Balkanhalbinsel lag wehrlos; so öffnete Alarich die Schleusen, und sein Volk ergoß sich kampflos plündernd ungehindert über Thrazien, Macedonien, Thessalien; er stand dort als Herr im Lande, als Herr und König, schonte dabei übrigens auffällig Rufins PrivatbesitzClaudian Ruf. II, 79..
Die Westgoten hatten bisher kein festes Königtum; es 290 bestanden vielmehr nach alter freiheitlicher Germanensitte eine Anzahl von Kleinfürsten und Geschlechtshäuptern, und nur für den Kriegsfall wurde allemal ein Volks- und Heerkönig gekürt. Jetzt hatten die Goten den Alarich unter Schwerterrasseln als ihren König auf den Schild gehoben, ein Führer und Vorkämpferamt, das er nie niedergelegt hat. Er blieb damit bis ans Ende verwachsen; d. h. die Kriegsstimmung in seinem Volke hörte seitdem nicht auf. Er stammte aus dem angesehenen Adelsgeschlecht der Balten (d. h. der Kühnen), die schon seit Alters in Volkslied und Heldengesang gefeiert waren. In der Dobrudscha, auf der Donauinsel Peuke, war er geboren, hatte als zweijähriges Kind den Westgoteneinmarsch über die Donau miterlebt und stand jetzt etwa im 22. Lebensjahre. Jugend war Tugend; die ältesten Recken beugten sich willig seinem Kommando; denn er war hell, weltklug, verschlagen, und das Volk spürte seine Liebe und seine feste Hand.
Stilicho war inzwischen an den Rhein geeilt. Dies war Stilichos erste erstaunliche Leistung, daß es ihm gelang, die Rheingrenze gleich dauernd zu sichern, und zwar auf dem Wege friedlicher Verhandlung; 20 Jahre lang haben danach die gefährlichen Franken und Alemanen sich in der Tat vollkommen ruhig gehalten. Gleich danach zog Stilicho gegen Alarich aus. Seine Pflicht war, auf alle Fälle die Truppen des Ostreiches endlich in ihre Heimat zu entlassen. Jetzt führte er sie persönlich dorthin und nahm zugleich die Truppen des Westreichs mitDaher populus uterque bei Claudian, Ruf. II, 224 und ebenda v. 257 die legio disiuncta, nämlich orientalis.. Daß er dem Ostreich gegen Alarich zu Hilfe kam, schien selbstverständlich; denn bisher hatten sich die beiden Reichshälften oft genug gegenseitig militärisch unterstützt. Aber nicht nur dem Alarich, auch dem Rufin galt Stilichos Angriff. Er wollte ihn stürzen.
Schon dringt er über den Pindus und stößt auf Alarichs Wagenburg; die Plänkeleien beginnen; die Schlacht will sich entwickeln; Alarich muß fürchten, der Übermacht zu erliegen. Da kommt zu Stilicho in's Lager aus Constantinopel der kaiserliche Kurier mit des Arcadius schroffem Befehl, das Land zu 291 verlassen; er habe ihn nicht zur Hilfe gerufen. Es war des Rufinus Werk. Stilicho gehorchte, er konnte nicht anders, und zog mit seinen Westtruppen ab. Alarich war gerettet. Denn die Osttruppen allein kämpften nicht; Gaïnas war ihr Führer. Aber die Wut Stilichos gegen Rufin ergriff jetzt auch den Gaïnas, ergriff alle Offiziere und Mannschaften. Sie marschieren auf Constantinopel; ein paar Meilen vor der Hauptstadt machen sie Halt.
Der Hof ahnt nichts Übles. Um die Truppen, die am Frigidus gesiegt, feierlich zu begrüßen, ritt Arcadius mit Rufin und großem Gefolge aus der Hauptstadt auf das flache Feld bei Heraklea hinausHeraklea ist das frühere Perinth.. Arcadius, hilflos verlegen, salutierte nur stumm huldigend die Feldzeichen; Rufin dagegen, in Gotentracht (er trug den Pelz, um den Germanen zu schmeicheln), führte blendend das Wort, glückwünschend, dankend, jeden einzelnen anredend, den er mit Namen zu nennen wußte. Er brauchte jetzt die Gunst des Heeres; denn sein verwegener Plan war: Arcadius sollte ihn eben jetzt zum kaiserlichen Mitregenten proklamieren. Der Augenblick schien ihm günstig; das Heer sollte Beifall schreien. Er merkte nicht, daß sich der Kreis der Legionäre um ihn immer enger zog. Plötzlich war er umringt, umstellt, die Messer zuckten, die verhaltene Wut entlud sich in Gebrüll, und er wurde angesichts des Arcadius blitzschnell niedergestoßen, sein Leichnam grausam zerfleischt, zerstückelt: eine rasende Szene. Es war das Werk des Gaïnas. Stilicho aber war diesen Gegner los, und er hatte dabei reine Hände bewahrt. Seine Zukunftspläne konnten gedeihen.
Wie wohl Alarichs Augen geblitzt haben, als man ihm all dies meldete? Man glaubt sein herzhaftes Lachen zu hören. Denn er hatte davon zunächst allein den Vorteil. Ungehindert führte er seine hungrigen Goten jetzt in den schönen Süden weiter durch die offenen Thermopylen (kein Leonidas widerstand ihm) nach Delphi, wo die Barbarenrosse aus der heiligen kastalischen Quelle trankenClaudian Ruf. II, praef. 7., nach Athen, Korinth und Sparta, und das altklassische Land, das einst dem Xerxes 292 glorreich widerstanden, das Land des Sophokles und Pindar, war jetzt Gotenland. Hier wollte Alarich warten, bis ihn der Kaiser in Byzanz um Frieden bat. Milde gab es nicht; Griechen und Griechinnen wurden von ihm verknechtet.
Nur Athen schonte er. Er schickte Herolde in die Stadt; Athen öffnete sich ihm nur unter der Bedingung der Schonung; er versprach sie und hielt sein Versprechen. Athen war auch jetzt noch immer die einsame Hochburg des Heidentums; selbst der streng kirchliche Eifer des Theodosius hatte sie verschont. Die alten Prozessionen und Opfer gab es zwar nicht mehr; aber fast alle Götterbilder und säulengetragenen Marmortempel krönten Stadt und Burg noch in alter Schönheit unangetastet. Die Weihe der Erinnerung lag immer noch über diesem Winkel der Erde. Athen war wie die verzaubert schlummernde Märchenprinzessin im Glassarg. Mit großen Augen staunend schritt der blonde Barbar über die still gewordenen Plätze der Agorá, des Areopag und des Kerameikos, wo einst Sokrates und Plato gewandelt. Ja, die Fabel erzählt, daß er hoch oben auf der Akropolis die gewappnete Göttin Athene selbst gewahrte, die drohend ihre steile Burg umwandelte; ihr Anblick habe ihn gebändigt, so wie später die Sage ging, daß Attila, dem Hunnen, als er Rom nehmen wollte, St. Peter und St. Paul in der Wolke erschienen und die heilige Stadt vor ihm retteten. Alarich ließ in der Tat seine Krieger nicht ein; nur mit geringem Gefolge betrat er die Stadt, nahm dort ein Bad, ließ sich gut bewirten und vor allem eine tüchtige Summe Geldes zahlen. Das genügte.
Die Mißstände in Constantinopel aber wurden nur noch ärger. Es war enttäuschend. Kein Freund Stilichos, auch Gaïnas nicht, kam dort ans Ruder, sondern der Eunuch, den ich schon nannte, der berüchtigte Eutrop, der die Politik Rufins nur noch überbot: glatt, schlau, frech, aufgeblasen und doch feige; eine Schmach für die Römerwelt. Italien aber, Handel und Wandel des Westreichs litt darunter am meisten; denn der Orient konnte die Waren des Westens leichter entbehren 293 als der Westen die Waren des OrientsImmerhin sehen wir, bei Hieronymus in Ruf. III, 10, wie ein negotiator mercium nach Aquileja seine Waren bringt und dort wiederum Waren kauft: derselbe übernimmt zugleich den Transport von Büchern.. Jetzt gab es allerlei unerträgliche Absperrung und Schikane, man denke allein an die Kornvorräte Ägyptens, die nur noch nach Constantinopel liefen; Rom bekam kein Korn mehr von dort zu sehen.
Es ist nicht verlockend, Eutrops Lebenslauf zu studieren. Die Kastraten waren eine beliebte Ware auf den Sklavenmärkten. So kam jener Mensch in seiner Jugend durch einen Armenier in den Handel. Er verkaufte sich gut, spielte, von Hand zu Hand gehend, in Assyrien, in Kleinasien, in etlichen reichen Häusern den Hüter der jungen Frauen, der ihnen das Bett machte, die Haare kämmte, das Waschwasser hinhielt, sie fächelte, ihnen die Wolle um die Spindel wickelte, aber auch Holz hacken mußte für die Küche, wenn es ihm schlimm ging: bis die Frauen ihn nicht mehr mochten, weil er zu alt wurde. Dann erwarb er sich die Freilassung aus dem Sklavenstand und brachte sich hoch als Vermittler verbotener Liebeshändel in den vornehmen Kreisen. Ein hoher Offizier brachte ihn an den Hof; da gewann der Fuchs als Hüter des allerhöchsten kaiserlichen Ehegemachs auf den Schwächling Arcadius allmächtigen Einfluß; daß er eifriger Christ war, versteht sich ohnehin, und es gelang ihm nur zu schnell, alle besseren Männer aus den höchsten Stellen zu vertreiben, seine Freunde an die Stelle zu setzen. Er selbst wurde Patrizius, er wurde prätorischer Präfekt und der vollziehende Wille der Regierung. Das war noch nicht dagewesen. Die Entfremdung der Brüder Arcadius und Honorius wuchs.
Gleichwohl wurde Stilicho gerufen; denn wie anders sollte sich Eutrop Alarichs entledigen? Stilicho sollte ihm jetzt gegen die Goten helfen. Und er kam (im Jahre 396), landete mit seinem Heere bei Korinth und manövrierte so, daß er Alarich im Peloponnes faßte und in dem Gebirgsland Arkadien auf einem HochplateauPholoë am Fluß Alpheios. einklammerte. Alle Wasserzufuhr schnitt er ihm ab; Alarich steckte wie im Sack, versuchte keinen Durchbruch. Stilicho konnte ihn vernichten; aber er verschob es. Vielleicht ließ sich dieser Alarich denn doch auch für Stilichos eigene Pläne brauchen. Stilicho stellte also zuvor, wie sicher 294 anzunehmen ist, an Arcadius das Verlangen, Eutrop zu beseitigen. Als Arcadius dies ablehnte, paktierte Stilicho mit Alarich; die beiden Germanen, an denen die Zukunft hing und die sich jetzt gegenseitig überlisten wollten, kannten sich ohne Frage längst persönlich, schon aus Anlaß der Schlacht am Frigidus. Und siehe da: Alarich erhielt freien Abzug mit seinem Heer, mit seiner Beute. In Constantinopel schrie man: Hochverrat! Sofort trat jetzt Alarich dreist fordernd auf, und Eutrop mußte ihm große Landstriche der Diözese Illyrien, soweit sie zu Ostrom gehörte, d. i. mutmaßlich Epirus, Macedonien und Mösien, dauernd einräumen. Der Form nach war Alarich freilich Vasall; unter dem Titel eines römischen Berufsfeldherrn und Heermeisters, dux und magister militum, sah er sich jetzt in die Beamtenhierarchie des Ostreichs aufgenommen.
In Wirklichkeit war Alarich jetzt Stilichos Verbündeter; Stilicho gedachte in Zukunft die von Alarich beherrschten Landstrecken von Ostrom zu lösen und an das Westreich anzugliedernOlympiodor p. 448 ed. Bonn. bezeugt diesen Plan auf alle Fälle für die spätere Zeit..
Warum setzte sich Stilicho schon damals der Mißdeutung aus? Warum vernichtete er Alarich nicht lieber und zog dann gegen Constantinopel weiter, um den Eutrop durch sein Machtwort kurzweg zu beseitigen? Weil dies eine Vergewaltigung des Arcadius selbst, weil es einen offenen Bruderkrieg zwischen Honorius und Arcadius bedeutet hätte, und dagegen stand zunächst noch sein Treuversprechen, das er dem sterbenden Theodosius gegeben. Er kämpfte nur gegen das byzantinische System, nicht gegen den Kaiser. So spielen die ethischen Motive mit hinein in die kühle Rechnung der Diplomaten. Stilicho ist der Wallenstein jener wilden ZeitenIn anderer Weise als Septimius Severus, der sich gleichfalls mit Wallenstein vergleichen läßt.; denn auch Wallenstein wollte mit seinem Kaiser nicht brechen und paktierte doch mit des Kaisers Gegnern. Auf Alarichs Dankbarkeit durfte Stilicho rechnen; ja, man erwartete, daß sich die Goten nunmehr friedlich einrichten, dem Ackerbau sich wieder zuwenden, sich an den Luxus der reichen Landstädte gewöhnen, den 295 Offensivgeist aufgeben, die Machtbefugnisse ihres Heerkönigs wieder einschränken würden.
Die Wut Eutrops ist begreiflich. Das geringste war, daß Stilicho jetzt im Ostreich als Landesfeind geächtet, sein dortiger Privatbesitz beschlagnahmt wurde. Aber Eutrop suchte überdies Rom selbst zu treffen. Es betraf Nordafrika, Tunis, Algier, Marokko. Dies Nordafrika versorgte Italien mit Korn. Italiens Ernährung war darauf angewiesen. Auf Eutrops Betreiben sagt sich dies Land jetzt vom Westreich los.
Als Reichsverwalter herrschte dort ein Maurenfürst mit Namen Gildo, ein heißblütiger Afrikaner, der da im üppigen Carthago und den umliegenden Provinzen schlemmerhaft lebte und ein geradezu wild ausschweifendes, blutdürstiges Regiment führte. Seine tollen Bacchanalien werden uns geschildert, wo er zur Orchestermusik vornehme Römerinnen zwangsweise mit Negern zusammenbringt, aus deren Vermischung dann garstig buntfarbige Kinder hervorgehen. Gildo hatte sich sein Heidentum bewahrt, stützte seine Macht übrigens auf die römerfeindliche christliche Sekte der Donatisten; seine Tochter Salvina lebte indes als Schwiegertochter des großen Theodosius in Constantinopel in den allerfrömmsten KreisenVgl. Hieronymus Epistel 79..
Er war der mittelste von drei Brüdern. Sein älterer Bruder Firmus hatte schon vor 20 Jahren Revolte gemacht und war dabei umgekommen. Jetzt folgte Gildo selbst dem Wink Eutrops, sagte sich von Rom los, schloß sich an Byzanz an und schnitt Rom plötzlich die Kornzufuhr ab. Sein jüngerer Bruder Maskizel versuchte ihn daran zu hindern. Gleich stand Gildo diesem Maskizel nach dem Leben. Maskizel rettet sich nach Italien; Gildo ermordet brutal dessen beide Söhne. In Italien aber droht sofort Hungersnot; es wirkte wie Blockade. Ein neuer Feldzug war nötig. Eutrop aber hatte sich trotz allem verrechnet; denn Stilicho wußte rasch zu helfen. Er ging nicht einmal selbst nach Afrika. Dem jungen Maskizel vertraute er das Heer an. Bei Carthago wurde Gildo von seinem Bruder 296 geschlagen und fand das verdiente Ende. Er erhängte sich. Stilicho aber dachte: diese Sippe ist uns gefährlich, und ließ gleich auch noch den Maskizel töten.
Der Jubel war groß. Er hatte schnell und gründlich durchgegriffen, und das Westreich war endlich wieder im ÜbergewichtClaudian Eutrop. II, 527: potens Italia.. Von jetzt an ist Stilicho der große Mann, der Held der Zeit, der einzige gefeierte Name in der weiten Welt. Dazu wirkte mit, daß er auch die Verwaltung der in Frieden ruhenden Provinzen in einer Weise leitete, die allen Forderungen der Humanität entsprach; er war nicht nur Soldat. Dies zeigen uns die Edikte, die uns vorliegen und die er im Namen des Honorius erließ. Und seine Macht war noch im Wachsen. Denn es gab auch Hochzeit in MailandDicht vor Gildos Fall fand sie statt.. Stilicho vermählte seine 12jährige Tochter Maria dem jungen 16jährigen Kaiser Honorius. Bisher war er nur des Theodosius Schwiegersohn, jetzt war er Schwiegervater des regierenden Kaisers geworden. Damit war des Honorius Fügsamkeit gesichert. Und nun stürzte auch der verhaßte Eutrop. Dieses Monstrum war im Jahre 399 Konsul geworden, eine Schändung des hohen Amtes. Die Jahre wurden bekanntlich immer noch nach den zwei Konsuln genannt; nach den Konsuln datierte man alle Ereignisse der Geschichte. Jetzt sollte das Jahr 399 nach einem Kastraten heißen.
Aber es war des Eutrop Unglücksjahr, und eine wahre Tragikomödie begann sich abzuspielen. Eutrop hatte sich überdies auch noch zum obersten Heermeister gemacht und ritt prahlend in Generalstracht und dazu mit Pfeil und Bogen durch die Straßen, die übrigens reichlich mit seinen eigenen Standbildern geschmückt waren. Das brachte endlich doch das Blut der Militärs in Wallung, und es kam zur Empörung.
Eutrop pflegte für die Zerstreuung des schwachköpfigen Kaisers Arcadius zu sorgen und machte mit ihm und großem Troß alljährlich eine schlemmerhafte Sommerreise nach Ancyra. Als sie von dort zurückkamen, brach der wilde Aufstand los. Jener Gaïnas, der Gote, der römische Heermeister, der den Rufin gestürzt, derselbe war auch diesmal der Urheber. In 297 dem nahen Küstenstrich Kleinasiens, der Constantinopel gleich gegenüberliegt, waren vor wenig Jahren Ostgoten, die sich Grutungen nannten, als Kolonen angesiedelt worden. Tribigild hieß ihr König. Sie hetzte Gaïnas zunächst zum Aufstand auf. Der erschreckte Eutrop schickt erst Gold und gute Worte zur Beschwichtigung. Dann hält er Kriegsrat, ein Consilium, dessen Mitglieder uns mit greller Komik geschildert werden, leichtlebige Herren, die, wenn der Hunne das Tor berennt, bei ihren leckeren Schüsseln an der Tafel sitzen bleiben oder gar ins Theater laufen, um den neuesten Tänzer zu sehen; unter ihnen der Oberzeremonienmeister Hosius, der früher Koch von Beruf war und die Bratensauce rührte, und der Dickwanst und Falstaff mit Namen Leo, der früher in einer Wollspinnerei gedient hat und nun mit aufgeblasenen Backen nach Sieg schreit. Er wird zum Feldherrn erkoren, indem er gegen Tribigild statt des Wollkamms den Degen schwingt. Natürlich mißlingt der Feldzug kläglich; der dicke Leo kommt um; der ganze Hergang war eine Schande. Damit aber fiel auch Eutrop. Arcadius mag geflennt haben; aber auch seine Gattin, die junge Kaiserin, war jetzt gegen Eutrop; er wurde verbannt, dann getötet.
Wäre Gaïnas nur hiermit zufrieden gewesen! Aber Gaïnas ging weiter, und die Komödie schlug zur Tragödie um. Was lag ihm an diesem Arcadius? Aufständische gotische Söldner in Haufen strömten ihm zu. Damit nahm Gaïnas die Kaiserstadt Constantinopel selbst, und das Unerhörteste schien bevorzustehen. Aber sein Streich mißlang schließlich doch; furchtbare Straßenkämpfe gibt es in der Hauptstadt; in einer brennenden Kirche kommen 700 seiner Leute um. Dann Verwüstungen des Landes; ein Gefecht zur See. Stilicho hatte gehofft, man werde ihn gegen Gaïnas zur Hilfe rufenClaudian Eutrop. II, 534 ff., aber das geschah nicht. Fravitta hieß der Kriegsmann, in dem Gaïnas seinen Meister fand und der auch den Tribigild niederschlug. Natürlich war auch Fravitta ein Germane.
Damit war endlich der Orient beruhigt, und Ostrom und 298 Westrom näherten sich einander wieder, wenigstens wurden die völlig abgebrochenen diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen; auch wanderten Geschenke von Hof zu Hof. Das Mißtrauen aber, eine verdeckte Feinseligkeit blieb gleichwohl bestehen.
Bei alledem war man in Mailand guter Dinge. Eine stolze Freude herrschte. Italien fühlte sich überlegen; Italien war wieder wie einst das Herrenland, und eine gesegnete Periode schien neu anzuheben. Versuchen wir an dieser Freude teilzunehmen. Wo die Welt voll Mord und Totschlag ist, greift man mit Sehnsucht nach den flüchtigen Stunden des Glücks und möchte sie verewigen. Auch wird uns dies leicht gemacht; denn ein römischer Dichter glanzvoller Begabung, ein Verehrer Stilichos, war damals erstanden, der, ein neuer Vergil, ein Klassiker der Spätzeit, voll in die Saiten griff, aber nicht die fernen Vergangenheiten, nicht Troja oder die Argonauten sang, sondern die gegenwärtigste Gegenwart zu verherrlichen unternahm. Er hieß Claudian. In Poesie umgegossene Weltbegebenheiten, politische Dichtung und doch echte, großatmige Dichtung, epischen Stils: es gibt im Grunde nichts Ähnliches. Und diese Gedichte sind uns vollständig erhalten. Sie sind die Ehrensäule, auf der Stilichos Bild großartig hocherhoben in die Geschichte ragt.
Wem sangeswürdige Tat gelang,
Der liebt auch selber den Gesang,
sagt Claudian von ihmStil. III, praef. 6.. Das heißt: Stilicho war Dichterfreund; er war ein Mann feinster geistiger Durchbildung; ohne das wäre ihm diese kostbare Poesie unzugänglich gewesen. Ja, er selbst, sein Ehrgeiz spricht aus all den Versen, aber auch Rom spricht aus ihnen, das sich wieder nach kaiserlicher Herrlichkeit sehnt. Indes geben die Verse uns noch weit mehr; nicht nur das Kriegsgetümmel der Hunnen und Goten, das ganze Leben der Großen dieser Welt spiegelt sich in ihnen und die prunkende Kultur voll heidnischen Flimmers, die am 299 allerchristlichsten Kaiserhof herrschte. Es war der letzte Sieg der Schönheit in den Tagen der einbrechenden Barbarei.
War denn das Heidentum nicht längst erstorben? In der Tat hatte ja Theodosius im Reich rücksichtslos energisch allen heidnischen Gottesdienst aufgehoben, und was Constantin begonnen hatte, war durch ihn wirklich vollendet. Auch draußen auf den Dörfern zerstörten die Christen schonungslos die heidnischen HeiligtümerVgl. des Libanius ergreifende Rede (Nr. 30 der Försterschen Ausgabe), vom Jahre 384., und er hatte es gern geduldet. Im Jahre 389 wurde in Alexandria der berühmte Riesentempel des Serapis erstürmt, verbrannt; das letzte großmächtige Bollwerk des alten Glaubens brach damit zusammen. Die Antike war jetzt christlich, der dreieinige Gott und die Heiligen hinfort nahezu schon die Adresse aller GebeteMan lese den triumphierenden Brief Nr. 107 des Hieronymus, der Rom betrifft.. Stilicho selbst war Christ, ebenso Serena, Honorius, der ganze Hof, auch der Dichter Claudian selberHierfür vgl. die folgende (S. 304) Anmerkung "Auch Claudian kam dadurch natürlich...".. In seinen Versen aber, da leben trotzdem die alten Götter fröhlich weiter. Ohne sie ließ sich immer noch nicht dichten. Wer eben vom St. Antonius oder Hilarion gehört hat oder von den Jungfrauen, die mit brennender Lampe des Bräutigams harren, den muß das seltsam berühren, als trete er aus dem Weihrauchduft der Krypten in die freie Natur ein. Lernte man doch auch auf den Schulen immer noch seinen Vergil und Homer; erklärten doch die Kirchengrößen selbst, man könne ohne die Güter der alten heidnischen Dichter und Denker nicht leben. Es ist nichts wunderbarer als dieser Kontrast. Wir hören, daß selbst die Geistlichen damals, die jung und schön, die Hände mit Ringen überladen, die Locken gebrannt, in den Gemächern der Frauen verkehrten, bei Jupiter und Herkules schwurenEbert, Gesch. der Literatur des Mittelalters I, 2. Aufl. S. 189.. Der Geist der Renaissance, das Zeitalter der Mediceer des 15. Jahrhunderts ist damit vorweggenommen, wo man ebenso galant war und das katholische Kirchenleben in Rom und Florenz oder Ferrara ganz ebenso mit den Marmorgestalten Apolls und der Venus auszierte und die heiteren Götterlegenden sich groß an die Wände malte. Der Christenglaube litt nicht darunter.
Nehmen wir einige Proben. Der Aufstand des Tribigild 300 soll beginnen; da erklimmt bei Claudian der Gott Mars die Höhe des Balkan, sieht von da die Mißwirtschaft des Eutrop und schleudert voll Entrüstung seine Lanze weithin über das Inselmeer bis nach Kleinasien, und der Grund Kleinasiens bebt auf vor Schreck, wie die Lanze niederfährt. Danach beginnt dort der Aufstand. Grotesk und schön. Unter diesem Mars aber ist niemand anders als der Gote Gaïnas, der Urheber des Aufstandes, selbst verstanden. – Zwei Söhne der Stadt Rom sind Konsuln geworden und stolzieren in ihrem Ornat daher; der Flußgott Tiber freut sich deß und taucht aus seinem Flußbett auf. Der Dichter aber freut sich, uns den Gott zu schildern: blau schimmern seine Augen; seine Haare überhängen wirr das grobzügige Gesicht; sein Hals ist dicht mit Gras bewachsen, und er trägt Hörner an der Stirn, aus denen das ewige Flußwasser quillt; so trieft und perlt ihm auch über die Brust das Wasser; es regnet ihm aus der Stirn; es rinnt aus seinem Barte. Im Flußbett wohnt aber auch seine Gattin Ilia; die hat einen Webstuhl aus purem Glas, auf dem sie das Gewand webte, das dem Gott um die wuchtigen Schultern hängt.
Wunderbarer noch die orphische Phantastik von der Grottenhöhle der Zeit und Ewigkeit. Stilicho soll Konsul werden; also ein Jahr soll nach Stilichos, des Konsuls, Namen benannt werden. Es gilt, das Jahr aus der Höhle der Zeit zu holen. Eine Riesenschlange (das Symbol der Ewigkeit) liegt rund um die Höhle. Vor ihr sitzt die Göttin Natur, aus deren Gliedern die Seelen all derer hängen, die noch geboren werden sollen. Neben ihr steht ein göttlicher Greis mit einer Tafel und schreibt gebückt das Zeitmaß für die Planetensterne auf, nach deren Wandel der Erdenmensch seine Jahre teilt. In der Grotte aber liegen die erzenen, die eisernen, silbernen Jahrhunderte, aber auch die goldenen; und siehe: der Sonnengott Helios tritt jetzt hinein und greift sich ein goldenes Jahr aus dem Vorrat. Es soll das Konsulatsjahr Stilichos werden. Dann betritt Helios seinen eigenen Feuergarten, der mit Flammen bewässert wird und wo strahlendes Licht statt des Grases wächst, 301 wovon seine Rosse weidend sich nähren. Schon springen Lucifer, der Morgenstern, und Aurora herbei, zäumen ihm die Rosse auf, die mit Lichtguirlanden bekränzt werden, und so fährt Helios, da es Zeit ist, über den Himmel; vor ihm aber schwebt das goldene Jahr, das er aus der Grotte brachte, und die Gestirne schreiben Stilichos Namen leuchtend in den weiten Äther.
Man wird nicht müde, das zu lesen. Feiern wir denn auch noch des Honorius Hochzeit in Mailand mit. Da hören wir das reine Märchen. Gott Amor frohlockt; denn er hat im Honorius die Liebe entzündet. Da fliegt er von Mailand nach Cypern, wo seine Mutter Venus in Paphos wohnt. Es ist dieselbe Insel, wo unlängst der heilige Hilarion starb; zudem steht fest, daß Paphos auf Cypern damals durch Erdbeben zerstört war, und der Tempel der Venus war gar nicht mehr vorhanden. Um so flotter kann der Dichter ihn uns schildern. Die ganzen Wände sind aus spiegelndem Brillant, das Dachgebälk aus grünem Smaragd, die Säulenstellung aus Amethyst usf. Daneben ein Zaubergarten, wo die zwei Quellen fließen, die süße und die bittere, in die Amor seine Wonne und Schmerz bringenden Pfeile taucht; und da lustwandelt auch der Venus Gefolge: das ist die Keckheit, der Jähzorn, das Schmachten, auch die Jugend; nur das Greisenalter ist für ewig von dort verbannt.
Eben läßt Venus sich von ihren Zofen frisieren und spiegelt sich dabei in allen Wänden; da sieht sie den Sohn Amor im Spiegelbild hinter sich. Er küßt sie lachend. »Was bist du so froh?« fragt Venus; »hast du etwa wieder Jupiter oder Frau Luna zur Liebe verführt?« »Nein, aber den Honorius!« ruft er. »Komm mit, du selbst sollst die Ehe schließen.«
Es ist noch Februar und kalt; kein Schiff auf See. In den Wellen aber spielt gleichwohl ein Triton, der eben verliebt auf eine der Meerfrauen Jagd macht (Böcklinsche Staffage). Die Amoretten flattern aus und müssen den Triton holen: »Du sollst die Herrin fahren!« Der schwimmt schon in drei Zügen 302 ans Gestade, wölbt diensteifrig seinen Fischleib, in den sein Körper ausläuft, hoch wie eine Laube; dahinein setzt sich die Göttin und fährt nun so über die See, während ihre weißen Füße die Wellen streichen. Da schmücken sich gleich alle Meeresgeister mit Veilchen und Rosen; Blumenkränze fliegen von Welle zu Welle; aus dem Wasser aber tauchen die Nereïden und bringen Hochzeitsgeschenke für das junge kaiserliche Paar, Gürtel, Halsgeschmeide und Perlendiadem, auch Korallen, die sie aus der Tiefe des Meeres gebrochen (damals eine Kostbarkeit), und singen: »Das ganze Meer huldigt der Maria, der Kaiserin, der Stilichotochter!«
Am Strand der Riviera wird gelandet; die Brust des Triton ist schaumbedeckt. Venus aber schwebt durch die Lüfte nach Mailand. Da ergreift die winterliche Natur ein Lenzgefühl; über den Alpen teilen sich die Wolken; ja, die Lanzen und Speere der Soldaten selbst fangen an sich zu belauben und Blumen zu treiben. Venus aber ordnet das Fest an, bestellt den Ehegott Hymen mit der Fackel und die Grazien; vor allem sollen die Amoretten sich tummeln und die Stadt illuminieren, indem sie für die Nacht unzählige Lichter auf Seile ziehen, sollen Purpurteppiche legen und im Ehegemach das Lager mit dem Betthimmel aufbauen, an dem hoch oben kriegerisch des Stilicho Waffentrophäen befestigt werden, die man aus dem Zeughaus holt. Diese Amoretten waren natürlich in Wirklichkeit Pagen, die man ballettartig mit Flügeln versah.
Still und artig sitzt Maria noch bei ihrer Mutter Serena und liest fleißig lateinische und griechische Gedichte, Homer, Orpheus oder Sappho, als der Raum sich plötzlich magisch mit Duft und Glanz füllt; Venus steht vor ihr, spricht schöne Worte über Liebe und Treue, überreicht die Geschenke der Nereïden (in Wirklichkeit die Geschenke des Honorius) und schmückt persönlich damit die Braut. Schon steht draußen der kaiserliche Wagen und das Gefolge bereit, und der Bräutigam harrt und bangt, daß es noch nicht Abend wird. Da ordnet sich der Zug, die Gardetruppen haben sich bekränzt, streuen Blumen auf 303 den Weg und ergehen sich in Lob und Preis des Stilicho, der der Retter der Welt ist.
Wer denkt bei solchen Schilderungen nicht an bekannte Gemälde des Rafael, Giulio Romano, Domenichino, Albano und Rubens, um nicht von Böcklin zu reden? Diese farbenfrohen christlichen Maler der neueren Zeiten haben ihre munteren Göttermotive vielleicht z. T. aus Claudian selbst gewonnen. Die Götterwelt wird dabei zum Apparat, zum Symbol, zur Allegorie; Allegorie ist »anderes sagen, anderes denken«, und sie kann nur zu leicht frostig wirken. Beneidenswert, wenn sie trotzdem so Leben sprüht wie hier.
Stilicho aber war wie sein Leibdichter gesonnen. Er war Weltmann, der – wie so viele bedeutende Männer nach ihm – zwar die christlichen Feste begeht, die kirchlichen Einrichtungen schützt, sonst aber freien Geistes das Schöne und Gute nimmt, wo er es findet. Als er Konsul war, trug Stilicho ein Ornat aus Goldbrokat, worauf in voller Figur Juno und Venus, die Göttinnen, gestickt waren. Das ist bezeichnendClaudian Stil. II, 339 ff.. So steht fest, daß er zwar im ganzen an der christlichen Reichsordnung des Theodosius festhielt, dem hlg. Ambrosius nahe stand, ja wiederholt im Interesse der Orthodoxie gegen die Sekte der Donatisten einschrittIn Edikten des Honorius nach Gildos Tod und nochmals i. J. 405., daß er endlich die blutigen Gladiatorenkämpfe in der Arena für immer aufhobIm Jahre 399.; aber er gestattete doch, daß die altheidnischen, übrigens unverfänglichen Turnspiele, die isthmischen Spiele, wieder auflebten. Auch die Eingeweideschau hat er wieder, wie Constantin, in gewissen Grenzen gestattet, vor allem aber alle weiteren Zerstörungen von Tempeln verboten, allen heidnischen Gebäudeschmuck durch Edikt in Schutz genommenVgl. meine Marburger Programmschrift De moribus christianis, 1885, S. IX.. Und so erklärt sich auch die Haltung der Ethik bei Claudian. Claudians Gedichte sind reich an Sentenzen und erziehenden Mahnworten zur Sittlichkeit; das fromme Mittelalter hat sie eifrig gelesen und ausgezogen. Aber diese Sittlichkeit ist unkonfessionell und nur rein menschlich; sie vermeidet jede Beziehung auf christliche LehrenCharakteristisch dafür ist der Lehrvortrag über die Pflichten des Herrschers, den Claudian De IV cons. Honorii 276 ff. gibt. Ein Jahr vorher hatte Synesius in Constantinopel seine Rede περὶ βασιλείας gehalten, die z. T. dasselbe vorträgt; Claudian hat diese Rede treu nachgeahmt; eine Stelle aber ließ er weg; es ist die, wo Synesius den Arcadius zum Gottesdienst ermahnt; sie hatte zu speziell christliche Färbung und paßte nicht zum Tenor der Claudianischen Weltweisheit; vgl. ibid. S. XXII., setzt sich aber auch nirgends mit ihnen in Widerspruch. Alles dies trug Claudian am 304 Hofe selbst vor; alljährlich hat er im prunkenden Festsaal an bedeutsamen Tagen vor den erlesenen Spitzen des Reichs seine Poëme feierlich deklamiert. Also war auch der Hauptperson, dem Stilicho, diese Ethik genehm, das ist klar. Es sind Stilichos Gesinnungen, die wir da lesen, und dieser Vandale wächst für uns darum an Größe. Kein Wunder aber, daß er bei den Zeloten der Kirche in den üblen Geruch kam, daß er seinen Sohn und Erben Eucherius heidnisch erzogAuch Claudian kam dadurch natürlich in den Ruf, Heide zu sein, und in der Tat lebte er ganz in der Bildungssphäre, die eines christlichen Einschlags entbehrte oder nicht bedurfte; der gesellschaftlichen Stellung nach aber war er Christ, sagen wir Namenchrist, wie so viele. Daran zu zweifeln ist Unverstand. Schon früher habe ich dies wiederholt klargestellt (s. meine Claudianausgabe, S. LXIII ff.), möchte aber noch einmal darauf zurückkommen. Ich weiß wohl, daß in der Zeit des Honorius gelegentlich noch heidnische Männer in hohe Ämter kamen (ein Gesetz dagegen erwähnt Zosimus V, 46, 3); trotzdem war eine so überaus intime Stellung am Hof, als Mundstück der Regierung, wie Claudian sie innehatte, für einen erklärten Nichtchristen ganz unmöglich. Als Beweis aber dient zudem das Gedicht »über den Erlöser« (de Salvatore), das wir von ihm besitzen und dessen Echtheit zu bezweifeln ausgeschlossen ist (vgl. Postgate in der Classical Review 1893 S. 3). Er hat es im Auftrag des Hofes für den jungen Kaiser abgefaßt, und zwar vertritt dies Gedicht die orthodoxe, nicht die arianische Auffassung Christi. Als Analogie kann schon gleich Ausonius dienen, der in seinen meisten Gedichten sich vollständig als Heide gibt, trotzdem aber auch einige kirchliche Verse hinterlassen hat (s. unten). Das von mir im Text Vorgetragene zeigt eben, was in den Zeiten, von denen ich handle, den Weltlichen unter den Christen zu denken und auszusprechen allerdings gestattet war. Stilichos Hof glich den Höfen der Renaissancezeit.
Zwei Stützen hatte damals das wirklich Ernst machende Heidentum noch: eine Gruppe altgläubig gesonnener Senatoren in Rom, deren Vorfechter Symmachus; sodann die neuplatonische Lehre, die man immer noch in Athen betrieb. Zu beiden aber vermeidet Claudian jede Beziehung; d. h. er will mit dem ausgesprochenen Heidentum nichts zu tun haben. Claudian schwärmt für den Senat, huldigt aber nur christlichen senatorischen Familien, wie der des Probus; den Symmachus zu nennen dagegen umgeht er ängstlich (in dem Vers carm. min. 19, 2 sehe ich eine versteckte Hindeutung auf ihn, wo es heißt, Gennadius sei der zweitbeste Redner Roms; Symmachus war nämlich der beste). Keins seiner Gedichte ist nachweislich an einen Heiden gerichtet. Bemerkenswerter ist noch, daß Claudian zwar seine Bezüge zur platonischen und stoischen Philosophie und Ethik offen erkennen läßt, aber nur im Sinne seines christlichen Freundes Mallius Theodorus oder auch im Sinne des Synesius, d. h. nur im Hinblick auf die älteren Philosophenschulen. Weder in seiner Gedankenwelt noch in seinem Götterapparat ist dagegen ein irgendwie nennenswerter Einfluß der neuplatonischen phantastischen Philosophie zu bemerken; wie anders der Heide Zosimus, der z. B. V, 35, 5 zeigt, wie er in der neuplatonischen Dämonenlehre lebt! Wohl aber zeigt sich dagegen Claudian gelegentlich als Nachahmer christlicher Vorbilder, er hat also keineswegs verschmäht, diese zu lesen (s. meine Ausgabe, S. LXIV ff.). Man hat auffallend gefunden, daß Claudian in einem seiner Epigramme (carm. min. 50) den Kultus der Heiligen lächerlich macht. Da war ein Heermeister Jacobus, von dem wir sonst nichts wissen, der aber als untüchtig gegolten haben muß (der Mann zählte gewiß zu den Parteigängern des Olympius, von dem nachher die Rede sein wird); von diesem Jacobus sagt Claudian dort höhnend, er hoffe über die Goten nicht durch die eigene Tatkraft, sondern mit Hilfe der heiligen Susanna und Thekla, des heiligen Petrus und Paulus zu siegen (die heilige Thekla war damals aktuell; vgl. Rufins Apoligia II, 25). Dieser Heermeister stand also auf dem Standpunkt des Bischofs Paulinus von Nola, der gleichfalls behauptete, der Sieg Stilichos über Radagais im Jahre 405 sei mit Hilfe der Heiligen erfochten (vgl. Ebert, Gesch. der Literatur des Mittelalters I², S. 304). Es ist aber bekannt, daß auch sonst Gruppen von Christen eben damals sich gegen den Heiligenkultus mit offenem Hohn aufgelehnt haben; ich nenne den spanischen Presbyter Vigilantius, der diesen Kultus grade zu Claudians Zeit ausdrücklich als nahezu heidnisch verwarf und damit nicht wenig Anhänger fand (Hieronym. contra Vigilantium c. 4; vgl., auch Schenkl im Rhein. Mus. 66, S. 414). Claudian konnte also als Christ just so wie diese Leute denken. Interessanter ist, daß er seinen Stilicho ein einziges Mal auch zu einem Heidengott beten läßt (in Ruf. I, 334); aber dies ist Gott Mars, und mit diesem Mars hat es seine ganz besondere Bewandtnis. Daß an einer anderen Stelle bei Claudian unter Mars niemand anderes als der Gote Gaïnas zu verstehen sei, habe ich schon oben S. 297 gesagt; an dieser Stelle aber liegt die Sache ganz ähnlich. Eine Schlacht wird geschildert, und da heißt es, Stilicho kämpfe auf dem einen Flügel, Mars auf dem anderen (ebenda v. 350); dieser Mars ist also eine mit Stilicho durchaus gleichstehende Person; auch da ist unter ihm wieder nichts anderes als der Gote zu verstehen. Dies erklärt sich aber daraus, daß Mars, wie bekannt, der Hauptnationalgott der Goten und daß er dabei speziell in Thrazien lokalisiert war (genaueres in meiner Schrift »Die Germanen«, S. 76 u. 123). Daher repräsentiert er das Gotenvolk, das in Thrazien steht. Wenn nun also Stilicho hier den Mars anruft: »verteidige mit mir dein thrakisches Land«, so ist dies wieder nur eine Allegorie, und er ruft damit eben nur die Hilfe der Goten selber an. Dabei verspricht er dem Mars (v. 339) im Fall des Sieges einen Eichbaum zu weihen, an dem die Spolien, die Waffen des Besiegten, aufgehängt werden sollen. Kein Römer aber hat meines Wissens dem Mars in der Kaiserzeit je Bäume geweiht; das war wiederum nur gotische Sitte; es ist nur im Sinne der Germanen gedacht (vgl. z. B. G. Steinhausen, Geschichte d. deutschen Kultur, S. 69; G. Ammon, Tacitus' Germania, S. 65). Stilicho sagt also zu den Goten, die hier noch vorwiegend als Heiden vorgestellt sind, daß er ihren Kultgebräuchen entsprechend ihrem Stammesgott eine Ehrung zuteil werden lassen will, eine Konzession des christlichen Staatsmannes an den heidnischen Verbündeten. Übrigens sei verglichen, daß, so wie Stilicho den Mars, so der Christ Ausonius in seiner 5. Ekloge den Janus und die Nemesis anruft; ja Ausonius schreibt im carm. II. ruhig an den frommen Kaiser Theodosius, daß Ceres dem Ackersmann die Aussaat anbefiehlt, Mars die Soldaten aufruft, zu den Waffen zu greifen (vgl. auch unten S. 326 Anm. "Der Kaiser ist für Ausonius..."). Derartiges schien damals vielen durchaus unverfänglich. Ging doch der Katholik Stilicho selbst mit einer Toga einher, auf der man Juno und Venus gestickt sah (oben S. 303). Daß übrigens Claudian schon bei Lebzeiten von streng christlicher Seite Angriffe erfuhr, zeigt uns das erwähnte Gedicht auf den hochkirchlichen Heermeister Jacobus, der Claudians Gedichte »zerriß« oder schmähte, ebenso aber auch die Praefatio zu den Nuptiae Honorii Augusti, wo der Dichter im v. 12 sagt: meine Gesänge gefallen den Superi und dem Jupiter, d. h. den höchsten Spitzen der Regierung und dem Kaiser; »nur die Centauren und Faune leugnen es.« Unter Centauren verstand man damals das ungebildete Pack der Rohgesinnten (vgl. meine Ausgabe, S. 432), unter den Faunen aber speziell die Mönche und Eremiten; der hl. Antonius bezeichnete sich z. B. selbst als Faunus (s. Isidor Orig. XI, 3, 21). Daß Claudian in diesen Kreisen der Christenheit Anstoß gab, ist ja vollauf begreiflich, und so kam denn auch Augustin dazu, von ihm zu sagen, er sei a Christi nomine alienus. Diese Äußerung Augustins kann demnach nicht etwa als Zeugnis, wie man es tut, gewertet werden. War doch auch der hochgelehrte Origenes in solchem Fall nicht unfehlbar; er erklärte seinen Gegner Celsus abschätzig für einen Epikureer, aber er irrte sich (vgl. Philol. Abhandlungen für Martin Hertz, 1888, S. 197 ff.); ebenso hat sich auch Augustin geirrt. Auf dasselbe führt weiter noch folgende Überlegung. In den damaligen Bibliotheken der christlichen Kreise gab es regelmäßig zwei Abteilungen, christliche Bücher und heidnische Bücher. Die Bücher wurden nach ihrem Inhalt darauf verteilt. So sind Claudians Schriften ohne Frage sogleich in die heidnische Abteilung gelegt worden, wobei man auf das kleine Gedicht De salvatore nicht Acht gab, und so kam es, daß er selbst danach nun auch sogleich irrig als heidnischer Autor, also als Heide rubriziert wurde. Daher Augustins Fehlschluß. Wir können damit folgendes vergleichen. Ein ganz ähnlicher Irrtum ging daraus hervor, daß man Senecas philosophische Schriften, die vielfach an christliche Gedanken anklingen, in die christliche Abteilung der Bibliotheken, desselben Seneca Tragödien dagegen, in denen die heidnischen Götter die herkömmliche Rolle spielen, in die heidnische Abteilung legte; infolgedessen redete man sich damals ein, der Verfasser der Tragödien sei ein anderer Seneca als der Philosoph, und der letztere sei gar ein Christ gewesen (vgl. Neue Jahrbücher 1911, S. 360). Man hüte sich, auf solche Nachrichten Schlüsse zu bauen.
Wie schön war die Zeit der Waffenruhe! Aber sie war nur zu kurz; es sollte kein Dauerfrieden werden. Neue barbarische Völkergruppen stießen aus Osten wider Erwarten vor, und Stilicho mußte schon im Jahre 401 über die Alpen ins Reichsland Pannonien eilen; denn ein wildes Völkergemenge von Ostgoten, Alanen, Vandalen und Hunnen war da plötzlich eingedrungen; es ist das Flachland zwischen Sau, Drau und Donau, wo heute Wien und Pettau und Eszeg und Oedenburg am Neusiedler See, lauter antike Städte liegen. Aber das war des Übels nicht genug: gleichzeitig fiel Alarich in Italien ein, Stilichos Verlegenheit benutzend, und es begann ein Krieg, der zum Existenzkampf wurde. Alarich wurde zum Schicksal. Der Schreck war namenlos.
Was trieb Alarich nach Westen? Sicher nicht der byzantinische HofMan kann dafür freilich geltend machen die Claudianstelle Bell. Pollentin. 566: alternae periuria venditat aulae, aber sie besagt doch nur, daß Alarich auch einmal mit Constantinopel Bündnis schloß, nicht aber, daß dieses Bündnis gegen Italien gerichtet war. Wäre Byzanz an dem folgenden Hergang wirklich schuld, so müßte Claudian uns das sagen; denn er tadelt doch sonst im Anlaß des Eutrop und des Gildo die dortige Politik auf das offenste. In bezug auf die jetzt zu erzählenden Ereignisse schweigt Claudian dagegen und schilt nur auf die Treulosigkeit und Undankbarkeit des Alarich, macht nur ihn ganz allein zum Urheber seiner Handlungen. Claudian hatte keinen Anlaß, die Anklagen gegen Byzanz zu unterdrücken, falls sie berechtigt waren.. Es war sein eigener Wille; es war das natürliche Begehren nach Steigerung der so leicht errungenen Vorteile; es war der Tatendrang des jungen, heldenhaften Menschen, der sich seines Könnens froh bewußt ist. Schon daß er Heerkönig der Westgoten geblieben war, war eine Drohung. Dankbarkeit gegen Stilicho kannte er nicht (was ist Dankbarkeit in den Existenzkämpfen der Nationen?); er kannte nur seines Volkes Vorteil. Die Territorien, in denen er saß, das heutige Land der Albanesen, Serben und Bulgaren, behagte ihm nicht; das kann uns nicht wundern; auch heute ist es nicht der gesuchteste ErdenwinkelDie Verkehrsverhältnisse waren in jenen Gebieten trotz der Bemühungen der Kaiser, sie für Handel und Wandel aufzuschließen, sehr zurückgeblieben; durch die eigentümlichen verkehrsfeindlichen Gebirgsverhältnisse waren die einzelnen Landschaften isoliert. Nur mit Epirus und Thessalien stand es günstiger; vgl. E. Speck, Handelsgeschichte des Altertums III, 2, S. 802.. Alarich war wie der Moses, der das gelobte Land sucht; war Italien nicht tausendmal lockender? 305 oder Südfrankreich, ja selbst Nordafrika, eine der Hauptkornkammern der Welt? Mit Waffen war er trefflich versehen; die Bergwerke, die Waffenfabriken in Illyricum hatten ihm zur Verfügung gestanden. Sein Volk war mit ihm eins; er beschloß zu wandern.
Stilicho hatte in Pannonien gerettet, was zu retten war; er war ergraut, aber im rüstigsten Mannesalter. Er wurde durch friedliche Verhandlung der dortigen Barbaren Herr, ja, konnte unter ihnen selbst Truppen für sein Heer anwerben. Inzwischen aber hatte Alarich Dalmatien besetzt, den Isonzo überschritten, ein Römerheer niedergeschlagen und stand schon in der Poebene, rückte auf Mailand, die Kaiserstadt, und das Unglaubliche war geschehen: Honorius, der Kaiser Roms, sah sich höchstselbst in seiner Residenz belagert, völlig abgeschnitten; Aushungerung drohte. Er sollte sich dem Alarich ergeben. Auch der Dichter Claudian war da mit eingeschlossen und spähte von den Türmen der Festungsmauer angstvoll nach Norden, nach Entsatz. Kam Stilicho nicht? Aus den Alpen mußte er kommen.
Der Winter ging zu Ende. Stilicho zog, um stark aufzutreten, die im fernen England und an den Rheingrenzen garnisonierten Legionen heran. Daher der Verzug. Es kostete ihn unbedingt einen schweren Entschluß, die immer gefährdete Rheingrenze von Truppen völlig zu entblößen; aber Alarich zwang ihn dazu, und er durfte hoffen, die Franken und Alemannen würden sich dort wie bisher ruhig halten.
Schon kam Stilicho über die Alpen, auf Mailand. Mit einem kleinen Vortrupp erzwang er sich rasch nachts persönlich den Übergang über die Addua und nötigte Alarich durch Umfassung, von Mailand abzurücken. Nicht nur Honorius war damit befreit, sondern zugleich auch dem Alarich die Straße nach Rom versperrt. Denn Rom selbst zitterte; der Kampf um Rom war jetzt im Beginnen. Alarich aber geht nicht zurück, er wandert vielmehr nach Westen auf Genua weiter, um von dort abbiegend die italienische Küstenstraße nach Rom zu gewinnen. Da sperrt ihm Stilicho abermals den Weg, und es 306 kommt zu den ersten der Schlachten, zur Schlacht bei Pollentia des Jahres 402. Sie kostete den Alarich die schwersten Verluste; sogar seine Gattin, die Gotenkönigin, und seine Kinder wurden bei Stilicho gefangen eingebracht. Aber ihn zu vernichten sah sich Stilicho außer Stande, und es wird vereinbart, daß Alarich Norditalien räumt, nach Dalmatien abziehtIrgendwelche Gegenleistungen muß Alarich versprochen haben; es war geradezu ein foedus (de VI cons. Honorii 210 u. 303). Glaublich ist, daß dem Alarich auch seine Frau und Kinder zurückgegeben wurden; andernfalls hätten sie als wichtige Geiseln gedient, und dies mußte in unseren Quellen Erwähnung finden.. Ein guter Erfolg. Man konnte in Rom und Mailand wieder Feste feiern. Nur die Christen strenger Gesinnung tadelten, daß Stilicho die Schlacht bei Pollentia am heiligen Ostersonntag (dem 6. April) geschlagen, mehr noch, daß er die Hilfe eines heidnischen Korps von Alanen unter der Führung Sauls angenommen. Freilich fiel dieser Saul im Gefecht; das mußte so kommen; sein Name konnte nichts Gutes bedeuten.
Alarich aber war keineswegs entmutigt; gleich im nächsten Sommer stand er wieder an der Etsch bei Verona. Da schlug ihn Stilicho zum zweiten Male und wuchtiger; es war diesmal ein Vollsieg (im Jahre 403). Alarich will darauf nach Norden durch die Rätischen Alpen; Stilicho verlegt ihm die Pässe; im Gebirge sieht der Gote sich eingeschlossen, wochenlang belagert. Hungersnot demoralisiert sein Heer; die Überläufer sind nicht zu halten. Stilicho hätte den Alarich jetzt zum zweiten Mal vernichten können, gerade so wie damals, vor acht Jahren, als er ihn in Arkadien faßte. Aber er tat es auch diesmal nicht. Er schonte den furchtbaren Landesfeind. Es war, als flösse ein magischer Zauber von Alarich aus, der Stilicho lähmte. Aber nein! Stilicho war der Rechner; seine Rechnung mit Byzanz war immer noch nicht beglichen. Er warf Alarich aus Italien, aber verpflichtete ihn sich aufs neue für die Zeit, wo er endlich mit dem Constantinopler Hof abzurechnen gedachte. Da sollte er helfenIn der Tat wären Stilichos militärische Machtmittel ohne Alarichs Hilfe zu schwach gewesen, um gegen das Ostreich wirksam vorzugehen; denn Stilicho mußte daran denken, die aus England und vom Rhein her bezogenen Legionen, Auxilien und Numeri, mit denen er jetzt gesiegt hatte, baldmöglichst wieder dorthin zu entlassen..
Im goldenen Rom aber, das sich gerettet fühlte, rüstete man ein Siegesfest. Wie lange hatte die ehrgeizige Stadt keinen Triumphzug gesehen! Honorius selbst, der sich ängstlich in die uneinnehmbare Festung Ravenna geworfen hatte (Ravenna war nicht nur durch Türme und Mauern, sondern auch 307 durch das umliegende Sumpfland geschützt), der Kaiser selbst erschien jetzt in Rom. Roms Stadtvolk schmachtete nach dem Anblick der Majestät; jetzt kam der junge Herr mit Stilicho in demselben Prunkwagen gefahren; Stilichos Sohn schritt artig nebenher, und der Senat nahm, als wären es noch die alten Zeiten des Augustus oder Trajanus, den kaiserlichen Vortrag entgegen, ein Bulletin über die Erfolge der kaiserlichen Politik. Ob sich auch der Bischof Roms, gewiß der mächtigste Mann in Rom, damals dem Kaiser näherte, erfahren wir nicht; wohl aber erfahren wir von der Göttin Victoria.
Im Senat gab es immer noch eine Gruppe von überzeugt heidnisch gesinnten Männern, die da meinten, die Vernachlässigung des alten Glaubens sei Schuld an allem Unglück des Reichs. Während aus Roms Tempeln sonst alle Götterbilder radikal entfernt waren, bestanden sie darauf, daß zum wenigsten im Senatssaal, der alten Kurie, das Bild der Victoria noch stehen blieb und zu gegebener Zeit noch Huldigungen entgegennahm. Die goldblitzende Flügelgöttin war im Grunde nichts als ein Sinnbild, aber eins, das sich nach dem Glauben der Patrioten bewährt hatte und dem Reich die nun ein Jahrtausend alte Siegeskraft des römischen Namens verbürgte. Unter Theodosius war das Bild rücksichtslos entfernt worden; Stilicho war nachgiebig; er ließ es wieder aufstellen, und der allgemeinen Stimmung nachgebend machte jetzt in dieser feierlichen Stunde Honorius selbst vor ihm die übliche Gebärde der Huldigung. Die Kleriker runzelten die Stirn. Wenn aber die Plebs auch noch nach den alten wilden Gladiatorenspielen des Colosseums verlangte, so wurde ihr der Wunsch nicht erfüllt; Stilicho ließ dort nur ein Scheingefecht aller Waffengattungen des Heeres aufführen, das ohne Verwundungen verlief und für das vorher etliche Proben abgehalten wurden.
Würde die Victoria sich auch noch ferner bewähren? Alarich war nun freilich still geworden, aber nicht die Völkerwanderung. Eine neue Erwürgung drohte. Radagais kam; Radagais war Ostgote. Nicht die Westgoten, die Ostgoten 308 überfluteten jetzt schreckensvoll Italien, 400 000 Köpfe, so heißt es. Es sind dieselben, die dem Stilicho schon vor drei Jahren in Pannonien zu schaffen machten. Sie müssen sich danach dortselbst gewaltig verstärkt haben. Durch das Drautal über Laibach stieg Radagais ins Land, verheerend. Im Jahre 405 stand er vor Florenz. Die Victoria aber schwebte auch diesmal noch flügelrauschend um Stilicho. Aus dem Standquartier bei Pavia (Ticinum) rückte er gegen Florenz. Hunnen unter Huldin waren von ihm angeworben; auch ein vornehmer Westgote Sarus, der sich mit Alarich entzweit hatte, leistete Hilfe. Die römische Manövrierkunst bewährte sich aufs neue. Florenz wurde entsetzt, Radagais' Heerscharen bei Fiesole in zwei mörderischen Treffen gänzlich vernichtet, er selbst gefangen, dann getötet. 12 000 überlebende Ostgoten konnte Stilicho danach als Söldner in sein Heer aufnehmen.
Stilicho das Schwert Roms, der Allüberwinder! Er stand auf dem Gipfel. Jetzt war weit und breit kein Feind mehr in Sicht, und er nahm endlich den alten Plan in Angriff, gegen Byzanz vorzugehen, alle ihm dort feindlichen Elemente zu beseitigen, eine einheitliche Politik Ost- und Westroms wiederherzustellen. Er vollendete damit sein Lebenswerk. Auch auf einen Teil der Balkanländer, die Provinzen Dacien und Macedonien, wollte er für Honorius Anspruch erhebenOlympiodor p. 448, ed. Bonn... Zu diesem Zweck dirigierte er Alarich, der inzwischen in Pannonien stand, nach Epirus, und Alarich gehorchte wirklich; in Epirus harrte Alarich gutwillig auf Stilichos Kommen, um mit ihm gegen Constantinopel vorzugehen. Er führte jetzt den Titel eines Heermeisters des WestreichsSozomenos IX, 4..
Da schlug das Verhängnis ein, das alles zerstörte. Die Rheingrenze war ungeschützt. Starke Barbarenzüge überfluteten plötzlich ganz Gallien; und dies schöne Land, nicht nur das, gleich war auch ganz England und Spanien für Honorius danach verloren. Das Kaiserreich des Westens war jämmerlich amputiert, seine Kraftquellen ihm genommen, das arme Italien plötzlich auf sich allein und auf die Nordküste Afrikas angewiesen.
309 Was waren das für Barbaren? Nicht Alemannen und nicht Franken; auf sie hatte Stilicho sich nicht ohne Grund verlassen; vielmehr Ostvölker, die mit den Ostgoten zusammen in Pannonien gesessen hatten, Quaden, Vandalen, Sarmaten, Alanen, Heruler, Gepiden; ihre Schwärme hatten sich durch das Tiroler und Schweizer Land gegen den Rhein gewälzt; niemand hatte ihnen jenseits des Rheins widerstanden. Dann hatte sich in England ein junger Kriegsmann geringer Herkunft – er trug den glückverkündenden Namen Constantin – zum Kaiser aufgeworfen, war nach Gallien übergesetzt, hatte die Barbarenschwärme dort siegreich zerstreut und unschädlich gemacht; aber dieser Constantin hatte Gallien für sich und nicht etwa für Stilicho und Honorius erobert, und er nahm auch noch Spanien dazu, das seit langem politisch nur wie ein Anhängsel Frankreichs war. Stilicho sandte ein Heer gegen diesen Constantin; aber die Unternehmung scheiterte.
Sofort galt Stilicho als Verräter. Die Kirchenpartei war dabei die lauteste. Warum hatte er den verruchten Alarich nicht gleich vernichtet und immer wieder entschlüpfen lassen? warum den Rhein nicht rechtzeitig gesichert? Er war ja selbst nur Vandale. Der instinktive Haß wurde jetzt frei gegen alles Germanentum, das sich nun schon allzu lange im römischen Reichsdienst breit machte. Eben jetzt lockerte sich auch das Verhältnis zu Honorius; denn Stilichos Tochter Maria war gestorben. Honorius heiratete dann freilich Stilichos zweite Tochter Thermantia (im Jahre 408); das alte Vertrauen aber war dahin.
Und jetzt regte sich auch Alarich aufs neue mit wachsender Dreistigkeit. Der Aufenthalt in Epirus mißfiel ihm. Er war inzwischen nach Norikum gezogen, das ist in das schöne Land Vorderösterreichs, Steiermark und Kärnten, das Land der Enns und des Sanntals, das Land Laibachs, Salzburgs und Klagenfurts. Dies Norikum kann (wie auch jetzt neuerdings im Jahre 1919 wieder Tirol) geradezu als ein Vorland Italiens gelten. Daß der Gote jetzt dort saß, war für Rom ehrenrührig und auf 310 die Dauer unerträglich; Alarich konnte von dort aus den Weg des Radagais gehen. Und er hielt sich nicht zurück. Zunächst schickte er Gesandte nach Ravenna und forderte Geld; denn er war in Stilichos Auftrag nach Epirus gezogen; er verlangte nunmehr für diese Expedition Entschädigung. Stilicho mußte sich beugen, nach Rom eilen, sich entschließen vom Senat Geld zu fordern. Denn nur der Senat konnte noch Geld geben. Der Senat hatte jetzt wieder mitzureden. Da gab es Schmähungen und grimmigen Widerstand, bis Stilicho drohte; da wurden dem Alarich wirklich 4000 Pfund Gold (etwa 3 Millionen Mark) bewilligt. Es war die erste Demütigung des stolzen Rom durch Alarich.
Noch einmal kam eine scheinbar günstige Wendung: Kaiser Arcadius starb in ConstantinopelIm Mai 408., und sein Sohn Theodosius II. war achtjährig, war unmündig. Nun bestand alle Aussicht, das Verhältnis zum Ostreich bald auf friedlichem Wege leicht und günstig zu gestalten, und Stilicho faßte weitsichtig einen neuen Plan. Er schlug dem Alarich, der hier nun unnötig geworden, vor, nach Gallien zu ziehen und dort den Usurpator Constantin zu bekämpfen. Als Lohn wurde ihm die freie Ansiedlung in Gallien selbst in Aussicht gestelltDies letztere ist Vermutung, doch wahrscheinliche Vermutung. Ob der Vorschlag den Alarich wirklich erreicht hat, ist auch nicht bezeugt, doch dürfen wir dies annehmen.. Das war lockend, das schöne Frankreich das Ziel des Begehrens so vieler Völker; wie sollte Alarich sich weigern? In der Tat war es den Westgoten bestimmt, dereinst dort um Arles und Toulouse ein Westgotenreich zu gründen. Aber Alarich sollte dies nicht erleben. Auch dieser Plan scheiterte; denn die tötliche Intrigue gegen Stilicho ging weiter.
In Honorius, der inzwischen 24 Jahre zählte, war endlich nach langem Hindämmern der eifersüchtige Trieb zur Auflehnung erwacht. Wie lange sollte Stilicho ihn noch bevormunden? Er war ein Mensch ohne höhere Intelligenz, auch ohne alle Tatkraft und Wagemut, aber zäh und eigensinnig ausdauernd und, so lange er lebte, bei allem Machtverlust immer beflissen, den Nimbus der kaiserlichen Suprematie und durch papierene Proteste seine Ansprüche zu wahren. Durch 311 lethargisch passiven Widerstand hat er die Geschichte der Zeit hernach in der Tat nicht wenig beeinflußt. Denn er dachte auch nicht daran, rechtzeitig zu sterben; sein Körper war gesund, und er wußte sich immer vorsichtig außer Gefahr zu halten.
Jetzt beschloß er unversehens, persönlich nach Constantinopel zu fahren und die Verhältnisse mit dem Ostreich dort mit eigener Hand zu ordnen. Stilicho will dies verhindern; er ist gewohnt allein zu herrschen, allein zu handeln, mißtraut auch den Fähigkeiten des Kaisers. Honorius beginnt trotzdem die Ausreise, indem er zunächst, von Gardetruppen begleitet, Mailand verläßt, gelangt aber nur bis nach BolognaEr wollte nach Ravenna, um sich dort einzuschiffen.. Da gibt es Aufenthalt, weil das Militär meutert. Man munkelte, Stilicho selbst habe die Meuterei veranlaßt. Stilicho eilt herbei, beruhigt die Truppen und setzt nunmehr durch, daß Honorius auf die geplante Reise verzichtet. Honorius schifft sich nicht ein. Es war Stilichos letzter Erfolg. Die Männer trennen sich.
Im Standlager bei Pavia befinden sich die Legionen, die demnächst zum Ausmarsch gegen Constantin bestimmt sind; sie bestehen aus angeworbenen Italienern, die sich mit Stolz als echte Römer fühlen. Dorthin begibt sich Honorius ohne Stilicho zur Truppenschau. Stilicho selbst bleibt in Bologna, wo sich gleichfalls erhebliche Truppenverbände befanden; es waren dies aber vornehmlich germanische. Stilicho selbst hatte hunnische Leibwächter.
Warum ließ Stilicho eben jetzt den Honorius allein? warum ging er nicht mit zu jener Heerschau? Ahnte er nicht, was bevorstand? Er, den schon als Jüngling das unbedingte Vertrauen des Theodosius getragen, der als Lenker des Reichs für des Theodosius Sohn nun durch bald 15 Jahre sich bewährte, dessen Wille Gesetz war, der durch keinen Widerspruch anderer sich je gelähmt gesehen, der daher auch nie, wie andere Allmächtige, sich gezwungen sah Widersacher blutig zu verfolgen, zu verbannen, er, den die Truppen bisher abgöttisch verehrt, dem man Dankeshymnen wie keinem anderen gesungen, er stand zu unantastbar, zu fest, zu hoch, um an einen Sturz zu 312 glauben. Er war zu innig mit dem Reich, das Reich mit ihm zu fest verwachsen. Freilich hatte er mit Alarich eine gewagte Politik gespielt; war es seine Schuld, daß sie bisher ihr Ziel verfehlte? Nur das blinde Schicksal, das ganz Unberechenbare, der tolle Vorstoß der Barbaren, die in das offene Gallien drangen, hatte ihm die Rechnung zerfetzt. Nur dadurch war das Unglück über das Reich gekommen; wer aber sollte es überwinden, wenn nicht er selber?
Unter dem Hofpersonal hatte indes ein hochkirchlicher Mann, Olympius, ein griechischer Asiate, starken Einfluß auf Honorius gewonnen. Olympius war der Wortführer derer, die in Stilicho nichts als den Verräter, den verhaßten Germanen sahen; und er fand sich jetzt bei jener Heerschau ein. Stilicho, so behauptete er, wolle selbst nach Constantinopel, nur deshalb, um dort allein zu herrschen und seinen heidnischen Sohn Eucherius dort zum Kaiser zu machen. Honorius ließ sich überzeugen; aber auch die Truppen wurden verhetzt. Die Truppen erfaßte derselbe Geist: »Wir sind Römer und hassen die Germanen!« lautete die Losung. Die Losung war gegen Stilicho gerichtet. Freunde Stilichos, Offiziere hoher und höchster Rangstufe, zeigten sich dort im Lager; wütend fiel die Soldateska über sie her, und sie wurden sämtlich ermordet, niedergestoßen. Es war ein Abschlachten der besten Männer, und es geschah ungestraft. Stilicho begriff, was das bedeutete.
Sollte er sich wehren? mit seinen Truppen von Bologna aus gegen Honorius marschieren? eine Revolte gegen seinen Zögling, den Kaiser? Es wäre ihm vielleicht gelungen, auch in diesem Kampf zu siegen. Ja, seine Truppen, seine Unterfeldherrn forderten den Kampf; sie forderten Vergeltung für die Erschlagenen. Ihre Losung war jetzt: wir sind Germanen und hassen die Römlinge! Stilicho aber tat es nicht. Er überschaute sein Leben und verzichtete. Warum? Es war nicht Schlaffheit, es war nicht Verzagtheit. Sicher nicht. Es war etwas anderes. Ihn band noch immer das Gelöbnis, das er dem sterbenden Theodosius einst in feierlichster Stunde getan hatte, zeitlebens 313 Schützer und Helfer des jungen Honorius zu sein. Er wollte sich selber treu bleiben. Da verließen ihn seine Offiziere enttäuscht; seine Heeresmacht zersplitterte; er war wehrlos.
Mit geringer Bedeckung begab er sich von Bologna nach Ravenna. Unterwegs wollte der Westgotenhäuptling Sarus sich seiner Person bemächtigen; aber der Streich mißlang. Als er in Ravenna anlangte, fand er dort schon kaiserliche Befehle vor, die seine Gefangensetzung anordneten. Er rettete sich nachts in eine Kirche. Eine Anzahl Soldaten, die ihm noch die Treue hielten, folgten ihm dorthin. Die Kirchen galten als Asyl; man konnte da nicht getötet, aber freilich ausgehungert werden. Am anderen Morgen drang Miliz ein; Heraclian hieß ihr Führer. Heraclian forderte Stilicho auf, das Asyl zu verlassen; er beschwor in Gegenwart des Bischofs der Stadt, sein Leben sei nicht gefährdet. Als Stilicho heraustrat, zeigte man ihm das Todesurteil mit des Honorius eigener Unterschrift. Stilicho ermahnte seine Anhänger, ihn nicht zu verteidigen, und ließ sich stumm zur Richtstätte führen. Als Feind des Vaterlandes wurde er am 23. August des Jahres 408 enthauptet, bald auch Stilichos Sohn Eucherius beseitigt, Thermantia, Honorius' Gattin, verstoßen.
Stilichos Ruhmesinschriften haben sich in Rom gefunden; sie stammen aus seiner Blütezeit; es sind wichtige Dokumente, und man liest darauf sein Lob noch heute. Aber sein Name fehlt auf ihnen. Honorius hat damals seine Statuen umstürzen, seinen Namen wegmeißeln lassen auf allen Ehrensteinen.
Ob Alarich triumphierte? ob ihn ein Gefühl der Sympathie, der Ehrfurcht erfüllte vor der gefallenen Größe? Wir hören, daß er hohnlachte über des Honorius TorheitZosimus V, 37., und das ist zu glauben. Der blinde Haß gegen das Germanentum hatte sich in Stilichos Sturz enthüllt; aber auch Alarich war Germane, und er wurde Stilichos Rächer. Den Blick nach Süden gerichtet, stand er in den Alpen. Der Weg war ihm offen; wer sollte ihn noch hindern? Stilicho, das Schwert Roms, war nicht mehr. Hätte Honorius den Alarich jetzt noch, wie Stilicho es geplant, 314 nach Gallien zur Bekämpfung Constantins entsendet, es wäre vielleicht noch einmal Roms Rettung gewesen. Aber er tat es nicht. Vielmehr erließ Honorius das fanatische Verbot, überhaupt keine Arianer mehr in das römische Heer einzustellen. Die Germanen waren Arianer; Deutschenhaß und Orthodoxie standen hier also im Bunde; und gegen die Unmenge in Italien angesessener Germanen ging obendarein die Hetze los; an 30 000 solcher Männer flohen zu Alarich, um mit ihm gegen Rom zu ziehen.
In ein paar Wochen hatte Alarich halb Italien gewonnen, bis nach Rom; es war wie ein lustwandelnder Festzug. Honorius verkroch sich in Ravenna wie eine Ratte im Rattenloch. An Kampf war nicht zu denken. Und gleich begann die erste Belagerung Roms; es war gegen Ende des Jahres 408. Alarichs Macht reichte aus, den Riesenfestungskreis der Stadt völlig einzuschließen; er wollte sie aushungern. Er wußte, daß Stilichos Witwe Serena in Rom lebte; Alarich wollte die hohe Frau befreien; aber ihr wurde das zum Verderben: der Senat nahm das zum Anlaß, Serena zu töten. Schon wuchs der Hunger in der Stadt; Rom war schließlich bereit, die Tore zu öffnen, forderte aber Schonung mit der Drohung, das Stadtvolk sei zum Verzweiflungskampf bereit; es würde zum Straßengemetzel kommen. Von da stammt Alarichs berühmtes Wort, das er auf Lateinisch sprach (denn er konnte fließend Latein): »Je dichter das Gras, je leichter das Mähen«Daß er Latein, auch Griechisch verstand, ist schon an sich selbstverständlich; es verrät sich u. a. daran, daß ihm gelegentlich ein Handschreiben des Honorius vorgelesen wird, das er sofort versteht. Von Dolmetschern ist nie die Rede. Jener Ausspruch steht bei Zosimus V, 40, 3 in griechischer Fassung; lateinisch hat er etwa gelautet: eo facilior messio, quo densiora gramina.. Aber zum Kampf kam es nicht; Alarich zog wohlgemut mit seiner Beute ab, nachdem man ihm Berge ungeprägten Goldes und Silbers, 4000 seidene Gewänder, aber auch 3000 Pfund Pfeffer aufgehäuft; auf den Pfeffer war der Germane wie versessenDaher gelten im 16. und 17. Jahrhundert den Deutschen die Kaufleute als Pfeffersäcke; im Mittelalter war der Pfeffer die beliebteste Würze der Speisen und ein wichtiger Handelsartikel und Feudalabgabe.. Auch Placidia, des Honorius junge Schwester, die in Rom lebte, ließ er sich als Geisel ausliefern. Das nicht genug: an 40 000 Haussklaven liefen in Rom ihren Herrschaften fort und folgten dem Heer des Alarich.
Placidia wurde übrigens mit ausgesuchter Höflichkeit wie eine Königin behandelt; die schöne und kluge Person sollte 315 noch manches Herz entzünden und in der Geschichte des gotischen Wandervolkes und seiner Könige als Beutestück die einflußreichste Rolle spielen.
Alarich war nun Herr Italiens, er war Herr der Lage. Nur von den Städten freilich verschlossen sich ihm noch viele, und sein Volk führte ein Lagerleben wie bisher; um christlich zu beten, baute es sich seine ZeltkirchenHieronym. Epist. 107, 2.. Sollte Italien der Ort des Bleibens, die zukünftige Heimat werden, der Gote hier demnächst pflügen und ernten dürfen? Es scheint, daß Alarich dies hoffte. Aber es galt, sich mit Honorius zu verständigen, der sich in Ravenna völlig sicher fühlte wie ein Wertpapier im Geldschrank während der Feuersbrunst. Nicht einmal aushungern ließ sich diese Festung; denn sie war zugleich Seehafen und hatte immer frische Zufuhr.
Selbst römischer Kaiser zu werden, daran dachte Alarich nicht; kein Germanenkönig bis zu Karls des Großen Zeit hat sich je zu solchem Gedanken verstiegen. Er war König seines Volkes, ein Teil von ihm und ihm allein verpflichtet; er hing mit seiner Rasse zusammen wie der stolze Blütenschaft mit dem Schilf, aus dem er emporwächst. Das Weltkaisertum in Rom und Byzanz war ihm eine unantastbare menschheitliche Institution, die man wohl ausnutzen, aber nicht beseitigen und nicht ersetzen konnte.
Der halsstarrige Honorius ließ sich auf Verhandlungen erst ein, als in Ravenna ein Soldatenaufstand den fanatischen Olympius, den Berater des Kaisers, vertrieben hatte. Bischöfe vermittelten die Verhandlungen, aber zu einem Ergebnis kam es nicht. Honorius trotzte, und Alarich ging zum Staunen der Welt mit seinen Forderungen schließlich soweit herab, daß er sich erbot, aus Italien wieder abzuziehen, wenn ihm nur das Land Norikum dauernd zugesprochen und außerdem jährliche Getreidelieferungen zugesichert wurden. Man sieht, es wurde Alarich auf die Dauer schwer, sein Volk hinreichend zu ernähren. Als auch dies nach langem Zerren abgelehnt wurde, blieb nur eins übrig: Alarich beschloß kurzerhand, einen neuen 316 Kaiser zu schaffen. Dazu brauchte er den Senat. Er bestürmte also jetzt Rom zum zweiten Mal (im Jahre 409) und zwang den Senat, den Honorius für abgesetzt zu erklären. Den höchsten Beamten der Stadt, den Präfekten Attalus, ließ er sich aus Rom kommen und machte ihn zum Kaiser. Attalus war Kaiser von Alarichs Gnaden. Aber damit war leider nichts gewonnen. Attalus war ein vornehmer Herr, der sich in seiner neuen Würde sogleich protzig und hochfahrend benahm und der Wünsche Alarichs nach Belieben zu spotten wagte.
Nicht nur das; die Lage wurde noch schwieriger. Das Korn lief wieder einmal aus Afrika nicht ein; die Zeiten Gildos wiederholten sich. Denn in Afrika hatte jener Heraclian, der Henker Stilichos, die Verwaltung in Händen. Als treuer Anhänger des Honorius sperrte Heraclian jetzt alle Getreidezufuhr. Der neugebackene Kaiser fühlte sich berufen, seinerseits einzugreifen, und schickte Truppen dorthin; aber seine Maßnahmen waren töricht, ungenügend und ergebnislos. Grimmig enttäuscht setzt Alarich, der in Rimini steht, den Attalus wieder ab (im Jahre 410), entkleidet ihn dort eigenhändig seines Purpurrocks und schickt den Rock nebst Diadem feierlich nach Ravenna zum Zeichen, daß er den Honorius als Kaiser wieder anerkenne. Dieser aber blieb unzugänglich für jeden Frieden, obschon Alarich jetzt mit der Ausplünderung Roms drohte, die er immer noch vermieden hatte. Der Bischof von Rom griff selbst ein, bat den Kaiser um Nachgiebigkeit; umsonst. So zog der Gote, nachdem er Ravenna vergeblich belagert, in Wut zum dritten Mal gegen Rom.
Zur Nachtzeit erfolgte die Erstürmung, das epochemachende Ereignis, am 23. August 410; es setzte das Siegel auf die Überlegenheit des Germanentums. Jetzt zum ersten Mal betrat Alarich persönlich die Stadt, und nicht nur sie; er erstieg auch das Kapitol. Er war mehr als Brennus. Vom Kapitol aus sah er Rom, das Wunder der Welt und die Bezwingerin der Welt, wehrlos zu seinen Füßen: ein Meer von Gemäuer ohne Grenzen; goldflimmernde Giebel; Säulen und wieder Säulen 317 in langen Zügen; Kolosseum, Caracalla-Thermen, Theater und Pantheon, ein Spielzeug für Riesen; den Triumphbogen Constantins, ja, Triumphbögen über allen Straßenzügen; Trajan und Mark Aurel auf ihren Siegessäulen; dazu die tausend leeren Göttertempel, die leeren Kaiserpaläste auf dem Palatin: die Pracht war grenzenlos, aber sie war leblos und erstorben. Tobend warf sich sein Gotenvolk in die Häuser und begann das Plündern. Schreckliche Schilderungen der Greuel fehlen nicht: Morden und Brennen; aber das sind die üblichen Übertreibungen. Lehrreicher ist die Nachricht, daß Alarich schon am dritten Tag wieder abzog; sie beweist, daß er alsbald energisch Einhalt gebotNach Orosius VII, 39 u. II, 19 verbrannten nur einige Häuser.. Wir wissen nur, daß die Prunkbauten auf dem Forum Romanum durch Brand stark gelitten haben. Auch lobt Augustinus ausdrücklich Alarichs schonendes VerfahrenIm Vergleich zur Grausamkeit eines Sulla: Augustin, De civitate dei III, 29.. Wie anders die Truppen Karls V. unter Karl von Bourbon, die im Jahre 1527 Rom stürmten und 9 Monate lang das Plündern fortsetzten! Insbesondere hören wir, wie Alarich die Kirchen schonte. Als einer seiner Leute kostbare Weihgefäße raubte, gab er sie dem Heiligtum sogleich zurück, und zwar geschah das Zurücktragen in feierlicher Prozession, an der sich sogar auch die römische Zivilbevölkerung beteiligte. Diese Szene zeigt schon, daß das Stadtvolk nicht allzu schlimm gelitten haben kannGleichwohl haben die Goten merkwürdigerweise an heiligen Stätten Inschriften beschädigt; das zeigt die Restituierung derselben durch Papst Vigilius (vgl. O. Fiebiger u. L. Schmidt, Inschriftensammlung zur Geschichte der Ostgermanen, 1917, Nr. 207). Ob die Goten imstande waren, diese Inschriften zu lesen?.
Alarich aber hatte nunmehr erkannt, daß in Italien nicht seines Bleibens sei. Es war das gelobte Land nicht. Was nutzte ihm die schwelgerische Schönheit seiner Küsten? Zypressen und Pinienhaine und Rosenfülle und Ölgärten und der heiße Südwein, der herrlich durch die Gurgel rann? Die Ernährung war nicht gesichert. Von den führenden Beamten Afrikas hing es ab, ob das Volk in Italien satt wurde. Alarich besetzte damals das schöne Campanien, das Hinterland Neapels, nahm Nola und machte den Bischof der Stadt, den christlichen Dichter Paulinus von Nola, zum Gefangenen. Auch dieser Aufenthalt aber brachte ihm nur Enttäuschung. Denn 20 Quadratmeilen lagen, wie wir hören, in diesem sonst so gesegneten Gefilde unbebaut, 318 so daß Stilicho vor kurzem den Versuch gemacht hatte, das Ödland gratis an Unternehmer zu überweisen, damit ein Wiederanbau versucht werdeCodex Theodos. XI, 28, 3; vgl. XII, 19, 3..
So beschloß Alarich noch einmal zu wandern; sein Volk war willig, und das Ziel war klar. Er mußte übers Meer nach Afrika. Dort drüben war der Kornsegen; da würde man gesichert leben; von dort aus ließ sich auch auf Italien dauernd Einfluß gewinnen. Darum galt es zunächst nach Sizilien zu gehen. Aber beim Übersetzen über die Meerenge von Messina befiel seine Schiffe, die schwimmenden Rosse der Goten, ein Sturm. War es ein höherer Wille, der in dem Sturme blies? Man mußte sich gedulden, bis günstigeres Wetter einsetzte. Bei Reggio war es, wo Alarich abwartend sich aufhielt. Das Jahr 410 war noch nicht zu Ende gegangen: da befiel ihn eine plötzliche Krankheit und er starb, jählings aus seiner Laufbahn gerissenOlympiodor p. 452.. Er zählte noch nicht 40 Jahre.
Er starb in der Blüte der Jahre, und ein Schimmer der Jugend blieb in der Erinnerung um ihn hängen wie um Siegfried und um Arminius. Wie des Adlers, der siegreich, den Raub in den Fängen, seine Kreise im Äther zog und plötzlich tot herabstürzt, so war sein Ende. Der Jäger, der den Vogel getroffen, hebt mit scheuer Hand den Leichnam auf und mißt staunend die Spannweite seiner Schwingen. In diesem Fall war das Schicksal der Jäger. Es scheint, daß Alarich schon längere Zeit kränklich warDarauf läßt schließen, daß schon im Jahre 407 oder 408 das Gerücht umlief, er sei in Epirus plötzlich gestorben.. Sein Privatleben aber war ohne Anstoß. Viele Römer, Menschen der sogenannten Hochkultur, haben ihn persönlich gekannt, von denen die Nachrichten leicht zu den Historikern gelangen konnten; aber es verlautet nichts, weder von Liebe zum Trunke noch von anderer Ausschweifung starker Naturen noch auch von Verfolgungssucht und herrischer Gewalttat gegen seine VolksgenossenAllerdings war Sarus, der Westgote, als ausgesprochener Römerfreund, sein politischer Widersacher.. In frühester Mannreife zum König und zur hohen Politik berufen, hatte er das Glück, sich zwischen Ostrom und Westrom in die Mitte zu stellen und durch die Uneinigkeit der beiden hadernden Mächte zu wachsen. Klug benutzte er diese Stellung, 319 ließ sich fügsam zu Verträgen herbei und brach sie wieder, wo es der Vorteil gebot. Schwere Niederlagen erlitt er, wo er angriff, und lernte, daß die größere Kriegskunst auf seines Gegners Seite war; aber sein Wille blieb elastisch, und sein Ziel behielt er unbeirrt im Auge, bis es ihm gelang, als Herr Roms dem Kaiser des Okzidents den Purpur zu rauben und zu geben. Dem Westgotenkönig war alles das gelungen; aber es gab der Germanenvölker noch mehr, und hinfort war die Bahn frei für andere Könige: Geiserich, Theodorich, Chlodwig, die Burgunden. Alarich war es, der im Zug der rauhen Helden, der landsuchenden Eroberer als erster voranschritt.
Den Plan, nach Afrika zu gehen, gaben die Westgoten auf. AthaulfOder Athawulf, neudeutsch Adolf. war Alarichs Nachfolger im Königtum; es war Alarichs Schwestermann. Athaulf führte sein Volk zunächst nach Norditalien zurück, dann brach er im Jahre 412 nach Südgallien durch, in die Provence. Von da an beginnt die schicksalsvolle Geschichte des Westgotenreichs in Südfrankreich und Spanien, die nach drei Jahrhunderten mit seiner tragischen Vernichtung, nicht durch Rom, sondern durch die Franken, Mauren und Araber endet. Gallien ist schließlich nicht Gotenland, es ist Frankenland geworden.
Der Okzident aber fügte sich nie wieder zusammen. Vom Römerreich bestand nur noch der Schein, der Name. Aus seinen Gliedern, die sich auseinander lösten, bildete sich jetzt wirklich die Grundlage der modernen Welt, der Volksstaaten Europas. Die Volksidee trat siegreich und immer siegreicher in den Kampf mit der Reichsidee, ein Kampf, in dem noch die Karolinger, die Ottonen, die Hohenstaufen sich verzehrt haben. –
Wie Alarich bestattet wurde, weiß jeder aus der deutschen Dichtung: »Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder.« Im Bestattungswesen der heidnischen Germanen herrschte die Verbrennung; durch das Christentum wurde diese Sitte aufgehoben. Es galt somit im italienischen Lande dem unverbrannten Leichnam des Königs ein Grab zu schaffen, aber ein solches, das vor Beraubung und Schändung durch die 320 gehässigen Einwohner sicher war. Es geschah zur Nachtzeit. In Süditalien ergießt sich der Fluß Crati in den Golf von Tarent; in ihn mündet als Nebenfluß mit mächtigem Wassersturz, aber in kurzem Lauf der Gebirgsfluß Busento, der vom Apenningebirge kommt. Seinen Lauf, so heißt es, lenkten die Goten ab und gruben in sein Bett ein tiefes Grab, darin sie bei Fackellicht oder im Licht der Mondnacht ihren König auf seinem Streitroß und mit seinen Waffen begruben (Ähnliches ist aus der Edda von den nordischen Germanen bekanntSnorri Sturlason in der Vorrede zur Ynlingasaga.; der Dänenkönig Dan wurde nach der Sage auf seinen Befehl ebenso mit Roß und Waffenschmuck beigesetzt und viele seines Geschlechts nach ihm). Dann lenkten die Mannen den Fluß wieder in sein altes Bett zurück, und die strömende Welle bedeckte, hütete und wahrte das Geheimnis. Ja, sie hat das Geheimnis bis heute gewahrt; denn das Grab Alarichs ist wiederholt gesucht, aber nie gefunden worden. Im übrigen galt gewiß von jenen Goten, was Tacitus von den Leichenfeiern aller Germanen sagt: »Den Schmerz und die Trauer enden sie spät, das Wehklagen und die Tränen früh; den Frauen ziemt die Klage, den Männern das Gedenken.« Das Gedenken fehlte nicht; wir dürfen glauben, daß Alarich ein Held auch in ihren »dumpfen Liedern« war:
Sangen's und die Lobgesänge tönten fort im Gotenheere.
Wälze sie, Busentowelle, wälze sie von Meer zu Meere. 321