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In einem großen Tal findet man bisweilen eine nach allen Seiten hin freiliegende Höhe, wohin die Sonne vom frühen Morgen bis zum Abend, wenn sie untergeht, ihre Strahlen trägt. Leute, die dichter an der Bergwand wohnen und weniger Sonne haben, nennen dann jenen Ort eine Sonnenhöhe. Auf einer solchen Sonnenhöhe wohnte auch die, von der hier erzählt werden soll, und auch der Hof hatte von ihr seinen Namen. Da oben blieb im Herbst der Schnee am spätesten liegen, dort schmolz er im Lenz am ehesten. Die Besitzer des Hofes waren Haugianer und wurden Leser genannt, weil sie eifriger als andere Leute die Bibel lasen. Der Mann hieß Guttorm und die Frau Karen; sie bekamen einen Jungen, doch dieser starb ihnen, und drei Jahre lang gingen sie nie an die Ostseite der Kirche. Nach Verlauf dieser Zeit bekamen sie ein Mädchen, und das nannten sie nach dem Knaben; er hatte Syvert geheißen, und sie wurde, da sie nichts Ähnlicheres finden konnten, Synnöv getauft. Doch die Mutter nannte sie Synnöve, weil sie, solange das Kind klein war, immer ein »mein« hinzuzusetzen pflegte, und es ihr da leichter fiel, Synnöve mein zu sagen. Nun also: um die Zeit, da das Mädchen größer wurde, nannten alle sie, wie die Mutter, Synnöve, und fast alle Leute meinten, seit Menschengedenken sei kein so holdseliges Mägdlein in der Bygde aufgewachsen wie Synnöve Solbakken. Sie war noch ein ganz kleines Ding, als die Eltern sie schon jeden Kirchsonntag mit in die Kirche nahmen, obwohl Klein-Synnöve anfangs nicht viel mehr davon begriff, als daß der Pastor da oben von der Kanzel her auf den Zuchthausbent herunter schimpfte. Der Vater aber wollte sie mithaben, »damit sie sich dran gewöhne« – wie er sagte, und die Mutter wollte es auch, »weil man doch nicht wissen konnte, wie derweil daheim für sie gesorgt würde«. Wenn auf dem Hof ein Lämmchen, ein Zicklein oder ein Ferkelchen war, das nicht gedeihen wollte, oder wenn einer Kuh etwas zustieß, so wurde das kranke Tier jedesmal Synnöve als Eigentum gegeben, und die Mütter behauptete, von Stund an erholten sich die Tiere; der Vater glaubte freilich nicht so recht, daß es gerade davon käme, aber »jedenfalls konnte es ja einerlei sein, wem von ihnen das Vieh gehörte, wenn es bloß gedieh«.
Auf der anderen Seite des Tales und hart am Fuße des hohen Berges lag ein Gehöft das Granliden hieß, so genannt, weil es mitten in einem großen Tannenwalde lag, dem einzigen im ganzen Umkreis. Der Urgroßvater des Besitzers war mit unter denen gewesen, die in Holstein lagen und auf den Russen warteten, und von diesem Zug hatte er in seinem Tornister allerlei fremde und seltsame Samensorten mit heimgebracht. Diese hatte er rings um sein Gehöft herum gesät; doch im Lauf der Zeit war eine Sorte nach der anderen ausgegangen; nur ein paar Tannenäpfel, die sonderbarerweise dazwischengekommen waren, hatten Wurzel gefaßt und einen dichten Wald gesetzt, der jetzt das Gehöft von allen Seiten beschattete. Der Holsteinfahrer hatte nach seinem Großvater Torbjörn gehießen, sein ältester Sohn hieß Sämund wie sein Vater, und so hatten auf diesem Hof seit undenklichen Zeiten die Besitzer abwechselnd Torbjörn und Sämund geheißen. Doch es ging die Sage, daß in Granliden nur jeder zweite das Glück mit sich habe, und das traf nie auf einen Torbjörn. Als der jetzige Besitzer Sämund seinen ersten Sohn bekam, überlegte er lange, ob er nicht mit dem alten Familienbrauch brechen solle, aber er wagte es nicht und nannte ihn trotzdem Torbjörn. Sann dann lange hin und her ob man den Jungen nicht so erziehen könne, daß er an diesem Schicksalstein, den der Volksmund ihm in den Weg gelegt hatte, vorbeikommen könne. Ganz sicher war er nicht, aber er meinte, bei dem Jungen ein starres Gemüt zu entdecken. »Das wollen wir ihm schon austreiben,« sagte er zur Mutter, und sobald Torbjörn drei Jahre alt war, setzte der Vater sich manch liebes Mal mit der Rute in der Hand hin und zwang den Jungen, alle Holzscheite wieder auf ihren Platz zurückzutragen, die Tassen, die er hingeworfen hatte, wieder aufzuheben, die Katze, die er gekniffen hatte, zu streicheln. Die Mutter aber ging, wenn diese Laune über den Vater kam, am liebsten hinaus.
Sämund wunderte sich darüber, daß an dem Jungen, je älter er wurde, desto mehr zu tadeln war, und zwar, trotzdem er ihn strenger und strenger behandelte. Er hielt ihn schon früh zum Lernen an und nahm ihn mit aufs Feld hinaus, um ihn stets unter den Augen zu haben. Die Mutter hatte einen großen Haushalt und kleine Kinder; sie konnte nicht viel mehr tun, als ihren Jungen morgens beim Anziehen streicheln und ermahnen und dem Vater gütlich zureden, wenn der Feiertag sie alle versammelte. Torbjörn aber dachte bei sich, wenn er Haue bekam, weil a-b ab und nicht ba hieß, und weil er Klein-Ingrid durchgeprügelt hatte, was doch der Vater mit ihm so oft tat: »'s ist doch merkwürdig, daß ich es so schlecht habe, und alle die kleinen Geschwister so gut.«
Da er meist um den Vater war und nicht allzuviel mit ihm zu sprechen wagte, war er ein schweigsames Kind, wenn auch nicht gedankenarm. Einmal jedoch entfuhr es ihm, als sie das feuchte Heu hereinbrachten: »Warum ist denn eigentlich da drüben auf Solbakken alles Heu schon trocken und längst unter Dach, und hier ist es noch naß?«
»Weil sie da drüben mehr Sonne haben als wir.«
Da merkte er zum erstenmal, daß der Sonnenschein da drüben, an dem er so oft seine Freude gehabt hatte, für ihn nicht da war. Von dem Tage an schweiften seine Augen öfter als bisher nach Solbakken hinüber.
»Was sitzt du da und hältst Maulaffen feil?« sagte der Vater und gab ihm einen Puff; »hier bei uns heißt es sich placken, so viel wir können, groß und klein, sonst kriegen wir nichts ins Haus hinein.«
Torbjörn mochte sieben, acht Jahre alt sein, als Sämund einmal einen neuen Knecht bekam. Aslak hieß er und war schon weit herumgekommen, obwohl er nicht mehr als ein ganz junges Bürschchen war. Den ersten Abend, als er kam, war Torbjörn schon zu Bett, aber am nächsten Tag, er saß gerade über seinem Schulbuch, stieß einer mit einem solchen Fußtritt die Türe auf, wie er noch nie was Ähnliches gehört hatte; das war der Aslak, der mit einem großen Haufen Brennholz hereingepoltert kam, – und dieses mit solcher Heftigkeit auf den Boden schmiß, daß die Scheite nach allen Seiten stoben. Er selbst machte ein paar tüchtige Luftsprünge, um den Schnee von sich abzuschütteln, und bei jedem Sprunge rief er:
»'s ist kalt, sagte die Trollbraut, da saß sie bis an die Brust im Eise.«
Der Vater war nicht im Zimmer, – aber die Mutter fegte den Schnee zusammen und trug ihn stillschweigend hinaus,
»Wen glotzt du denn so an?« sagte Aslak zu Torbjörn.
»Niemand,« antwortete dieser, denn ihm war bange.
»Hast du den Hahn gesehen, der hinten in deiner Fiebel steht?«
»Ja.«
»Er hat lauter Hühner um sich, wenn's Buch zu ist; – hast du's gesehen?«
»Nein.«
»Na, denn guck doch mal nach.«
Torbjörn tat es.
»Schaf,« sagte Aslak.
Aber von Stund an hatte keiner solche Macht über ihn wie Aslak.
»Du kannst doch rein gar nix,« sagte Aslak eines Tages zu Torbjörn, – als dieser wie gewöhnlich hinter ihm her trottete, um zu sehen, was er trieb.
»Doch, ich kann den Katechismus bis zum vierten Hauptstück.«
»Bah, das ist was Recht's, du kennst nicht mal die Geschichte vom Troll, der so lange mit der Dirne tanzte, bis die Sonne aufging und ihm der Bauch platzte, wie 'nem Kalb, das saure Milch gesoffen hat.«
Torbjörn hatte all sein Lebtag nicht so viel Wissen auf einmal gehört.
»Wo war denn das?« fragte er. –
»Wo? – Das war, – ach ja, richtig, da drüben auf Solbakken war's.«
Torbjörn machte große Augen.
»Kennst du denn die Geschichte von einem, der sich für ein paar alte Stiefel dem Teufel verschrieb?«
Torbjörn vergaß vor lauter Verwunderung zu antworten.
»Möcht'st wohl wissen, wo das war – was? – – das war auch auf Solbakken, in dem Bach da unten, den du siehst! – – Gott steh mir bei,« fuhr er fort, »mit deinem Christentum sieht's aber traurig aus. Da hast du am Ende auch nicht mal von der Kari Holzrock reden hören?« Nein, von der hatte er auch nichts gehört. Und während Aslak nun eilig weiter arbeitete, erzählte er noch eiliger – von der Kari Holzrock, von der Mühle auf dem Meeresgrund, die immerzu Salz mahlt, vom Teufel mit den Holzschuhen, vom Troll, der sich den Bart im Baumstamm festklemmte, von den sieben grünen Jungfrauen, die dem Schützenpeter, während er schlief und durchaus nicht aufwachen wollte, die Haare aus den Waden zwackten, und das alles hatte sich da drüben auf Solbakken zugetragen.
»Mein Gott, was ist denn nur mit dem Jungen los?« sagte die Mutter am anderen Tag. »Da kniet er nun schon den lieben langen Tag dort auf der Bank und guckt nach Solbakken hinüber.«
»Ja, der scheint heut viel zu tun zu haben,« sagte der Vater, der sich's den langen Sonntag über hübsch bequem machte.
»Ach, die Leute sagen, er ist mit der Synnöve Solbakken versprochen,« sagte Aslak, »die Leute schwatzen ja so viel,« log er hinzu.
Torbjörn verstand ihn nicht so ganz, wurde aber doch feuerrot übers ganze Gesicht.
Als Aslak die anderen darauf aufmerksam machte, krabbelte er von der Bank herunter, nahm seinen Katechismus und fing darin zu lesen an.
»Ja, tröste dich nur mit Gottes Wort, mein Jungchen,« sagte Aslak, »kriegen tust du sie so wie so nicht.«
Als die Woche so weit vorgerückt war, daß er dachte, die Sache sei vergessen, fragte er die Mutter ganz leise (denn er war sehr verlegen dabei):
»Du, Mutter, wer ist eigentlich Synnöve Solbakken?«
»Das ist ein kleines Mädchen, die später mal die Besitzerin von Solbakken werden wird.«
»Hat sie denn wirklich 'nen Holzrock, Mutter?«
Die Mutter sah ihn erstaunt an.
»Was sagst du da?« fragte sie.
Er fühlte, daß er etwas Dummes gesagt haben müsse, und schwieg.
»Ein schöneres Kind als die Synnöve hat nie jemand gesehen,« fügte die Mutter hinzu, »und das hat der liebe Gott ihr zur Belohnung gegeben, weil sie immer so artig und so brav und fleißig ist.«
Nun wußte er auch das.
Eines Tages, als Sämund mit Aslak auf dem Felde gewesen war, sagte er abends zu Torbjörn:
»Du wirst von jetzt ab nicht mehr mit dem Knecht verkehren.«
Torbjörn aber legte nicht weiter Gewicht darauf.
Einige Zeit nachher hieß es:
»Sehe ich dich noch ein einziges Mal mit dem Bengel zusammen, dann geht's dir schlecht!«
Von da an schlich Torbjörn ihm nach, wenn der Vater es nicht sah. Aber einmal, als sie zusammensaßen und plauderten, kam der Vater drüber hinzu, und da bekam Torbjörn Prügel und wurde hineingejagt. Von nun an aber lauerte Torbjörn dem Aslak auf, wenn der Vater nicht zu Hause war.
Eines Sonntags, als der Vater in der Kirche war, trieb Torbjörn zu Hause tüchtig Unfug. Aslak und er schneeballten sich.
»Nicht doch, ich ersticke,« bat Torbjörn, »wir wollen lieber beide nach was anderem werfen.«
Aslak war gleich bereit, und so warfen sie zuerst nach der dünnen Tanne in der Nähe des Stabburs, dann nach der Stabburtür und endlich nach dem Stabburfenster.
»Nicht nach den Scheiben,« sagte Aslak, »nur nach dem Rahmen.« Doch Torbjörn traf die Fensterscheibe und wurde blaß.
»Schad't nix, niemand erfährt's, mußt halt besser werfen.«
Das tat er, aber er traf noch eine.
»Jetzt spiel' ich aber nicht mehr mit.«
In demselben Augenblick kam seine älteste Schwester, Klein-Ingrid, heraus.
»Du, schmeiß mal nach der da.«
Dazu war Torbjörn gleich bereit.
Das Mädchen fing an zu weinen, und die Mutter kam heraus. Sie bat ihn, doch aufzuhören.
»Schmeiß, schnell!« flüsterte Aslak.
Torbjörn war heiß und aufgeregt, er tat es.
»Ich glaube, du bist nicht recht bei Trost,« sagte die Mutter und rannte ihm entgegen. Er voran, sie hinterher – um den ganzen Hof herum; Aslak lachte, und die Mutter drohte. Endlich erwischte sie ihn in einer Schneewehe und machte sich dran, ihn ganz gehörig durchzubläuen.
»Ich haue wieder, das tun alle.«
Verwundert hielt die Mutter inne und sah ihn an.
»Das hat dir ein anderer beigebracht,« sagte sie dann, nahm ihn stumm bei der Hand und führte ihn hinein. Nicht ein Wort mehr sagte sie zu ihm, aber mit den kleinen Geschwistern schäkerte sie und erzählte ihnen, daß der Vater nun bald aus der Kirche heimkäme. Da wurde es auf einmal schrecklich heiß im Zimmer. Aslak fragte, ob er einen Verwandten besuchen dürfte; das wurde ihm sofort erlaubt; aber Torbjörn wurde, als Aslak gegangen war, viel kleiner. Er bekam furchtbare Leibschmerzen, und seine Hände waren so feucht, daß sie am Buch festklebten, wenn er es anfaßte. Wenn nur die Mutter es dem Vater nicht erzählte, wenn er nach Hause kam; aber sie darum zu bitten, das brachte er nicht fertig. Alles, was er ansah, veränderte sich, und die Wanduhr sagte: klopf, klopf – – klopf, klopf! Er mußte ans Fenster hinauf, um nach Solbakken hinüberzusehen. Das allein lag wie immer, still und verschneit, und funkelte in der Sonne; das Haus stand da und lachte aus allen Fensterscheiben heraus, und da war gewiß keine einzige kaputt. Der Rauch wirbelte so unglaublich vergnügt aus dem Schornstein heraus – gewiß wurde da auch für die Kirchgänger gekocht. Und da ging nun wohl Synnöve und blickte nach ihrem Vater aus und sollte gar keine Haue haben, wenn er nach Hause kam. Er wußte nicht, was er anfangen sollte, und wurde mit einem Male so zärtlich gegen seine Schwestern, daß es nicht zu beschreiben war. Zu Ingrid war er so lieb, daß er ihr einen blanken Knopf gab, den er von Aslak bekommen hatte. Sie fiel ihm um den Hals, und er fiel ihr um den Hals: »Liebe kleine, süße Ingrid, bist du mir böse?«
»Nein, mein Torbjörnele! du darfst auch immerlos so viel Schneebälle nach mir werfen, wie du willst.«
Aber jetzt stampfte da draußen auf dem Schwalbengang einer den Schnee von den Füßen, ganz richtig, der Vater; er sah mild und freundlich aus, und das war noch schlimmer.
»Nun?« sagte er und blickte umher, – merkwürdig, daß die Wanduhr nicht von der Wand heruntergerasselt kam. Die Mutter setzte das Essen auf den Tisch.
»Na, und wie steht's hier?« sagte der Vater, indem er sich setzte und nach dem Löffel griff; Torbjörn sah die Mutter an, daß ihm die Tränen in die Augen kamen.
»O – ganz gut,« sagte sie, unglaublich langsam, und er sah wohl, sie wollte noch mehr sagen.
»Ich habe Aslak erlaubt, auszugehen,« sagte sie.
»Soweit wären wir nun,« dachte Torbjörn, – er fing an mit Ingrid zu spielen, als ob er überhaupt an nichts anderes zu denken hätte. So lange hatte der Vater doch noch nie gegessen, und Torbjörn machte sich schließlich dran, die Bissen zu zählen; aber als er an den vierten kam, wollte er sehen, wie weit er zwischen dem vierten und fünften Happen zählen könne, und so ging das Rechenexempel entzwei. Endlich stand der Vater auf und ging hinaus. »Die Scheiben, die Scheiben,« klirrte es ihm vor den Ohren, und er sah nach, ob die in der Stube ganz wären. Ja, sie waren alle ganz. Aber nun ging auch die Mutter hinaus. Torbjörn nahm Klein-Ingrid auf den Schoß und sagte so freundlich, daß sie ihn ganz verwundert anstaunte: »Jetzt wollen wir beiden mal Goldkönigin auf der Wiese spielen, ja?«
Das wollte sie natürlich gern. Und so sang er, während die Beine unter ihm zitterten:
Blümelein
am Wiesenrain,
hör', was ich dir sage:
Und willst du mein Herzliebchen sein,
dann schenk' ich dir ein Mäntelein,
mit Samt geschmückt,
mit Gold bestickt.
Tralleralli – juchhe,
Und die Sonne, die scheint auf der Höh.
Dann antwortete sie:
Goldkönigin mein,
Perlenfein,
hör', was ich dir sage:
Ich mag nicht dein Herzliebchen sein,
mag nicht dein feines Mäntelein,
mit Samt geschmückt,
mit Gold bestickt.
Tralleralli – juchhe,
Und die Sonne, die scheint auf der Höh.
Aber als das Spiel im vollsten Gange war, kam der Vater herein und sah ihn streng an. Er drückte Ingrid fester in die Arme und fiel gar nicht vom Stuhl. Der Vater wandte sich ab und sagte nichts; eine halbe Stunde verstrich, und er hatte noch immer nichts gesagt, – und Torbjörn wollte schon beinahe froh werden, aber noch getraute er sich's nicht. Aber als der Vater ihm nun eigenhändig beim Ausziehen half, wußte er gar nicht mehr, was er denken sollte; er fing wieder an, ganz heimlich zu zittern. Da klappte ihm der Vater auf den Kopf und streichelte ihm die Backe; das hatte er, so lange der Junge denken konnte, nicht getan. Und da wurde ihm so warm ums Herz und am ganzen Leibe, daß seine Furcht von ihm abrieselte wie Eis an der Sonne. Er wußte gar nicht, wie er nur ins Bett kam, und da er weder singen noch juchzen konnte, faltete er nur still die Hände, betete das Vaterunser sechsmal vorwärts und sechsmal rückwärts, ganz leise – und fühlte, im Einschlafen, daß er doch niemand auf der weiten Gotteswelt so lieb habe, wie seinen Vater.
Am nächsten Morgen erwachte er in einem furchtbaren Angstgefühl, weil er nicht schreien konnte; denn jetzt sollte er doch Prügel kriegen. Als er die Augen aufmachte, merkte er zu seiner großen Erleichterung, daß er nur geträumt habe, aber er merkte auch gleich, daß grade ein anderer Prügel kriegen sollte, und das war Aslak. Sämund ging im Zimmer auf und ab, und den Gang kannte Torbjörn. Der kleine, etwas untersetzte Mann sah von Zeit zu Zeit unter den buschigen Augenbrauen mit einem Blick auf Aslak, daß dieser wohl fühlte, was in der Luft lag. Aslak selbst saß oben auf einem großen, umgestülpten Faß, an dem seine Beine herunterbaumelten oder sich emporkrümmten. Die Hände hatte er wie gewöhnlich in der Hosentasche und die Mütze in die Stirn gedrückt, so daß das dicke, dunkle Haar in Büscheln unter dem Schirm herausragte. Der etwas schiefe Mund war schiefer denn je, den Kopf hielt er überhaupt etwas schief und blickte Sämund unter halb geschlossenen Augenlidern von der Seite an.
»Ja,« sagte er, »dein Bub ist schon verrückt genug, aber was noch schlimmer ist, dein Pferd ist auch verhext.«
Sämund blieb stehen.
»Du bist ein Lümmel!« rief er, daß die Stube erdröhnte und Aslak die Augenlider noch mehr schloß. Sämund ging wieder auf und ab, Aslak saß eine Weile ganz still.
»I der Deubel, verhext ist es doch,« und schielte nach seinem Herrn hin, um zu sehen, was für eine Wirkung das habe.
»Nein, aber waldscheu ist es geworden,« sagte Sämund, immer noch auf und ab gehend. »Du hast im Felde 'nen Baum über ihm gefällt, du nichtsnutziger Schlingel, und nun kann keiner ihn mehr dazu bringen, ruhig dort zu gehen.«
Aslak hörte ihm eine Weile zu.
»Meinetwegen glaub's; glauben macht selig. Aber daß er dir deinen Gaul wieder kuriert, bezweifle ich,« fügte er hinzu und rückte gleichzeitig weiter auf dem Fasse zurück, indem er mit der einen Hand das Gesicht deckte. Sämund kam wirklich auf ihn zu und sagte mit leiser, unheimlich leiser Stimme:
»Du boshaftes –
»Sämund,« klang es vom Herde her; es war Ingebjörg, die Frau, die ihn beschwichtigte, genau wie sie ihr Jüngstes, das bange war und schreien wollte, beschwichtigte. Das Kind hatte schon aufgehört zu schreien, und nun schwieg auch Sämund; er fuhr dem Burschen nur mit seiner für einen so stämmigen Mann recht kleinen Faust dicht unter die Nase und hielt sie da eine Weile, indem er sich vorbeugte und ihm die Augen ins Gesicht hineinbrannte. Dann fing er wieder auf und ab zu gehen an und sah ihn nur von Zeit zu Zeit hastig an. Aslak war sehr bleich, aber trotzdem grinste er mit der einen Hälfte des Gesichtes zu Torbjörn hinüber, während er die Sämund zugewandte Seite ganz stramm hielt.
»Der liebe Gott schenke uns Geduld,« sagte er nach einer Weile, hob aber in demselben Augenblick den Ellenbogen hoch, wie um einen Schlag abzuwehren. Da aber stockte plötzlich Sämunds Gang, und indem er mit dem Fuß so heftig auf den Boden stampfte, daß Aslak in die Höhe schnellte, schrie er ihm mit aller Kraft seiner Lungen zu:
»Daß du mir nicht seinen Namen nennst, du – du – –!« Ingebjörg stand mit dem Säugling auf und nahm ihn sanft beim Arm. Er sah sie nicht an, ließ jedoch seinen Arm sinken. Sie setzte sich, und er fing wieder an, auf und ab zu gehen, aber niemand sagte ein Wort. Als dies eine Weile gedauert hatte, gelüstete es Aslak, von neuem anzufangen.
»Ja, der hat freilich auf Granliden viel zu tun – der da oben.«
»Sämund, Sämund,« flüsterte Ingebjörg; aber ehe die Warnung ihn noch erreichen konnte, stürzte Sämund schon auf Aslaf los, der schnell seinen Fuß vorstreckte.
Dieser wurde umgeknickt, der Bursch selbst an Fuß und Rockkragen gepackt, in die Höhe gehoben und mit solcher Gewalt gegen die geschlossene Tür geschleudert, daß die Füllung nachgab und er selber kopfüber hinausflog. Die Frau, Torbjörn und alle Kinder schrien und baten für ihn, und das ganze Haus war voll von Gejammer. Doch Sämund ihm nach; ohne dran zu denken, die Tür ordentlich aufzumachen, stieß er nur die Trümmer mit einem Fußtritt zur Seite, packte den Burschen zum zweitenmal, schleppte ihn vom Flur auf den Hofplatz hinaus, hob ihn hoch empor und warf ihn mit aller Gewalt zu Boden. Und als er merkte, daß der Schnee zu tief lag, als daß es ihm hätte genügend wehtun können, setzte er ihm das Knie auf die Brust und schlug ihn mitten ins Gesicht, hob ihn dann zum drittenmal empor und schleppte ihn, wie der Wolf einen zerrissenen Hund, an eine schneefreiere Stelle, schleuderte ihn noch heftiger als vorhin zu Boden, setzte ihm abermals das Knie auf die Brust – und wer weiß, wie es geendet hätte, wenn nicht Ingebjörg mit dem Säugling auf dem Arm sich dazwischengeworfen hätte. »Mach' uns nicht unglücklich!« schrie sie.
Etwas später saß Ingebjörg in der Stube, Torbjörn zog sich an, der Vater ging wieder auf und ab und trank von Zeit zu Zeit ein wenig Wasser, aber seine Hand zitterte so, daß das Wasser über den Rand der Tasse schulpte und auf den Boden spritzte. Aslak kam nicht wieder herein, und Ingebjörg machte nach einer Weile Miene, hinauszugehen.
»Bleib,« sagte er, als spräche er zu jemand ganz anderem, und sie blieb. Nach einer Weile ging er jedoch selbst hinaus. Er kam nicht wieder herein. Torbjörn nahm sein Buch und las unaufhörlich, ohne aufzublicken, obwohl er nicht einen einzigen Satz faßte.
Etwas später am Vormittag war alles im Haus wieder im alten Geleise, nur daß alle ein Gefühl hatten, als sei ein fremder Besuch dagewesen. Torbjörn wagte sich sogar hinaus, und der erste, dem er draußen vor der Tür begegnete, war Aslak, der gerade alle seine Habseligkeiten auf einen Handschlitten geladen hatte; aber der Schlitten gehörte Torbjörn. Torbjörn starrte ihn an, denn er sah gräßlich aus. Überall im Gesicht war er mit klebrigem Blut beschmiert; er hustete und griff sich oft nach der Brust. Eine Weile sah er Torbjörn stumm an, dann rief er plötzlich laut:
»Ich kann deine Augen nicht leiden, Bengel!« Damit setzte er sich rittlings auf den Schlitten und sauste bergab.
»Sieh man zu, wie du deinen Schlitten wiederkriegst,« rief er grinsend, indem er sich noch einmal umdrehte und ihm die Zunge herausreckte. Und fort war er.
Aber in der folgenden Woche kam der Vogt zu ihnen; der Vater war mitunter fort, die Mutter weinte und war auch ein paarmal fort.
»Was ist denn nur los, Mutter?«
»Ach, an alledem ist nur Aslak schuld.«
Eines Tages wurde die kleine Ingrid ertappt, wie sie sang:
Jemine, du Jammerwelt,
bist mir ganz und gar vergällt,
's Mädel streckt den Fuß heraus,
Bursch kneift seinen Fünfen aus,
Hausfrau kocht mit ranz'gem Fett,
Hausherr wälzt sich faul im Bett,
Kätzlein ist die einzig Kluge,
stiehlt den Rahm sich aus dem Kruge.
Na, da gab's aber ein Gefrage, wo sie diesen Gassenhauer her habe. »Von Torbjörn.« Der geriet in große Angst und sagte, er habe ihn von Aslak. Da wurde ihm gesagt, wenn er noch ein einziges Mal solche Lieder singe oder ihr beibringe, bekäme er Prügel. Kurz darauf fluchte Klein-Ingrid einmal. Torbjörn wurde wieder ins Gebet genommen, und Sämund meinte, es sei wohl das beste, ihm gleich jetzt die versprochenen Prügel zu geben; aber er weinte und bat und flehte so rührend, daß er für dies eine Mal noch so davonkam. Am nächsten Kirchsonntag aber sagte der Vater zu ihm: »Heut hast du's nicht nötig, daheim Unfug zu treiben; du kommst mit mir zur Kirche.«
Die Kirche denkt sich der Bauer im Geiste auf einer freiliegenden Höhe, einsam und geheiligt, ringsum die feierliche Stille der Gräber, drinnen der lebendige Gottesdienst. Sie ist das einzige Haus im Tal, auf das er Pracht verwendet hat, und darum ragt auch ihre Turmspitze in Wahrheit etwas höher empor, als es scheint. Ihre Glocken grüßen ihn schon von weitem auf seinem Kirchgang am reinen Sonntagsmorgen, und jedesmal zieht er die Mütze vor ihnen, als wolle er ihnen ein »Dank fürs letzte Mal!« zurufen. Zwischen ihm und den Kirchenglocken besteht ein Bündnis, das niemand kennt. In früher Kindheit schon stand er wohl manch liebes Mal in der offenen Tür und horchte nach ihrem Geläute hin, während die Kirchgänger unten auf der Landstraße in stillen Zügen zur Kirche zogen; der Vater gesellte sich ihnen zu, er selbst aber war noch zu klein. Mancherlei Vorstellungen verband er da wohl mit diesem schweren, wuchtigen Klang, der eine Stunde lang oder zwei zwischen den Bergen herrschte und von einem Ende zum anderen hallte; aber eine war untrennbar davon: reine neue Kleider, von Sauberkeit glänzende Frauen, geputzte Pferde mit blankem Geschirr.
Und wenn sie dann eines Sonntags auch seinem eigenen Glück läuten, wenn er selbst in nagelneuen, nur allzuweiten Kleidern an des Vaters Seite fest einhermarschiert und zum erstenmal zur Kirche soll; ja, dann liegt Jubel in ihrem Klang! Da öffnen sie ihm weit die Tore zu all dem, was er zu sehen bekommen wird. Und auf dem Heimwege, wenn sie über ihm dahinlärmen und ihm der Kopf noch schwer und taumelig ist von Gesang, Liturgie und Predigt, jagend und verjagt von all dem, was das Auge gleichzeitig in sich aufgenommen hat: das Altarbild, die Kleider, die Leute, – dann wölben sie auch ein für allemal ein Dach über diesen gesammelten Eindrücken und weihen die kleinere Kirche, die er von da an in seinem Innern trägt, ein.
Wenn er etwas älter ist, muß er zu Berg als Hirtenbub: aber wenn er da am schönen taufrischen Sonntagmorgen auf dem Stein sitzt, das weidende Vieh unter sich, und die Kirchenglocken das Herdengeläut übertönen, dann wird ihm das Herz schwer. Denn in ihrem Klange liegt all das Lichte, Leichte, Lockende von dort unten, Gedanken an alle die Bekannten vor der Kirche, an die Freude, wenn man hinkommt, die noch größere, wenn man fertig ist, an das gute Sonntagsessen daheim, Vater, Mutter, Geschwister, das Spielen auf der Wiese den ganzen fröhlichen Sonntagabend lang, und das kleine Herz wird rebellisch in der Brust.
Aber er besinnt sich schließlich doch immer wieder darauf, daß es ja Kirchenglocken sind, die da läuten. Er denkt nach und kramt aus seinem Gedächtnis heraus das Bruchstück eines Chorals, den er noch kann; den singt er mit gefalteten Händen und einem sehnsüchtigen Blick ins Tal hinab, spricht dann noch ein kleines Gebet, springt auf, ist wieder froh und stößt ins Alphorn, daß es in den Bergen schallt.
Hier in den stillen Gebirgstälern hat die Kirche noch für jedes Alter ihre eigene Sprache, für jedes Auge ihr eigenes Aussehen; vieles mag sich dazwischenbauen, nie etwas darüber hinaus. Erwachsen und fertig steht sie vor dem Konfirmanden, – mit erhobenem Finger, halb drohend, halb winkend, vor dem Jüngling, der seine Wahl getroffen, – breitschultrig und stark über des Mannes Sorgen, – geräumig und mild vor dem müden Greise. Mitten im Gottesdienst werden die kleinen Kinder hereingebracht und getauft, und es ist allgemein bekannt, daß während dieser Handlung die Andacht am größten ist.
Darum kann man norwegische Bauern, verdorbene oder unverdorbene, nicht schildern, ohne hie und da mit der Kirche zusammenzustoßen. Das mag als Einförmigkeit erscheinen; aber kaum eine von der schlimmsten Sorte. Das sei hier ein für allemal gesagt, und nicht etwa gerade um jenes Kirchganges willen, der jetzt kommt.
Torbjörn freute sich über den Weg und alles, was er zu sehen bekam, über all die vielen bunten Farben, die ihm draußen vor der Kirche in die Augen kamen, und fühlte drinnen die Wucht der Stille, die über allen und allem lag, schon ehe der Gottesdienst begonnen hatte; und wenn er auch selbst vergaß, den Kopf zu senken, als das Gebet gesprochen wurde, war ihm doch beim Anblick all der Hunderte von gesenkten Köpfen, als sei auch seiner gesenkt. Der Gesang begann, und alle um ihn herum sangen auf einmal, es war ihm fast furchtbar. So völlig versunken saß er da, daß er wie aus einem Traum aufschreckte, als ihr Kirchenstuhl leise geöffnet wurde und jemand eintrat. Nach beendigtem Gesang reichte der Vater jenem Mann die Hand und fragte: »Alles gut auf Solbakken?«
Torbjörn riß die Augen weit auf; aber so viel er auch gucken mochte, viel Verbindung zwischen diesem Manne und irgendeiner Art von Hexerei war nicht zu entdecken. Es war ein milder, blonder Mann mit großen, blauen Augen, mit hoher Stirn und hoch im Sitz; wenn man ihn anredete, lächelte er, und zu allem, was Sämund sagte, sagte er ja, war aber sonst einsilbig.
»Da kannst du auch die Synnöve sehen,« sagte der Vater, indem er sich zu Torbjörn niederbeugte, ihn auf den Schoß nahm und auf den gegenüberliegenden Frauenstuhl deutete. Dort kniete ein kleines Mädchen auf der Bank und guckte über die Lehne des Kirchenstuhles hinweg; sie war noch heller als der Mann, Torbjörn hatte nie in seinem Leben etwas so Helles gesehen. Sie hatte rote Flatterbänder an ihrem Mützchen, unter dem flachsgelbe Haare herauslugten, und nun lachte sie zu ihm herüber, so daß er lange Zeit nichts anderes ansehen konnte als ihre weißen Zähne. Sie hielt ein glänzendes Gesangbuch in der einen Hand und ein zusammengefaltetes rot- und gelbseidenes Tuch in der anderen und unterhielt sich jetzt eben damit, das Taschentuch über dem Gesangbuch auszubreiten. Je mehr er sie anstarrte, desto mehr lachte sie, und nun wollte er auch auf der Bank knien wie sie. Dann nickte sie ihm zu. Er sah sie eine Weile ernsthaft an; dann nickte er. Sie lachte und nickte noch einmal; er nickte wieder, und nochmal und nochmal. Sie lachte, aber sie nickte nicht mehr, – um nach einem Weilchen, als er es wieder vergessen hatte, doch wieder zu nicken.
»Ich will auch was sehen,« hörte er hinter sich – und fühlte im selben Augenblick, wie jemand ihn an den Beinen von der Bank zog, so daß er beinahe heruntergefallen wäre; es war ein kleiner vierschrötiger Bube, der sich jetzt tapfer auf Torbjörns Platz hinaufarbeitete; er hatte auch hellblondes, aber struppiges Haar und eine Stumpfnase. Torbjörn hatte aber nicht umsonst von Aslak gelernt, wie man unnütze Buben, die man in Kirche und Schule traf, zu behandeln habe; darum kniff er den Bengel ins Hinterteil, so daß dieser beinahe laut aufgeschrien hätte, aber er besann sich, krabbelte statt dessen schnell von der Bank herunter und nahm Torbjörn bei beiden Ohren. Dieser packte ihn beim Schopf und kriegte ihn unter sich; der andere schrie noch immer nicht, aber biß Torbjörn ins Bein; Torbjörn zog das Bein zurück und drückte ihn mit dem Gesicht auf die Erde. Da aber fühlte er sich selbst am Rockkragen gepackt und wie einen Strohsack emporgehoben – es war der Vater, der ihn nun auf seinen Schoß nahm.
»Wär's nicht in der Kirche, bekämst du Haue,« flüsterte er ihm ins Ohr und drückte dabei seine Hand, daß es ihm bis in die Zehenspitzen wehtat. Er dachte an Synnöve und sah hinüber; sie stand immer noch da, aber so starr und bestürzt, daß es ihm zu dämmern begann, was er angerichtet hatte, und daß es etwas furchtbar Dummes gewesen sein mußte. Sowie sie merkte, daß er nach ihr hinsah, krabbelte sie von der Bank herunter und ließ sich nicht mehr blicken. Der Küster kam und der Pastor kam; er hörte und sah aufmerksam hin; wieder kam der Küster und wieder der Pastor, – aber immer noch saß er da auf des Vaters Schoß und dachte: »Ob sie nicht bald wieder aufsieht?«
Der Bengel, der ihn von der Bank gezogen hatte, saß weiter hinten im Kirchenstuhl auf einem Schemel, und jedesmal, wenn er aufstehen wollte, bekam er einen Puff in den Rücken von einem alten Mann, der selig eingenickt war, aber regelmäßig, wenn der Junge Miene machte, aufzustehen, aufwachte. »Ob sie nicht bald wieder aufsieht?« dachte Torbjörn, und jedes rote Band, das sich bewegte, erinnerte ihn an ihres, und jedes schön gemalte Bild in der alten Kirche war entweder ebenso groß oder etwas kleiner als sie. Wirklich, da steckte sie das Köpfchen heraus; aber so wie sie ihn zu sehen bekam, zog sie es ernsthaft wieder zurück. Und noch einmal kam der Küster hervor und noch einmal der Pastor, die Glocken fingen an zu läuten und man erhob sich. Der Vater sprach wieder leise mit dem blonden Mann, sie gingen miteinander hinüber nach dem Frauenstuhl, wo man sich auch erhoben hatte. Die erste, die herauskam, war eine blonde Frau, die auch lächelte wie der Mann, aber doch weniger; sie war ganz klein und blaß und führte Synnöve an der Hand. Torbjörn ging gleich auf diese los; sie aber entschlüpfte ihm schnell rings um das Kleid der Mutter herum. »Laß mich in Ruh,« sagte sie. »Der da ist wohl noch nie in der Kirche gewesen,« sagte die blonde Frau und legte die Hand auf ihn. »Nein, – drum fängt er auch gleich das erstemal eine Prügelei an,« sagte Sämund. –
Torbjörn sah beschämt zu ihr hinauf, und von ihr zu Synnöve, die ihm jetzt noch ernsthafter aussah. Alle gingen hinaus, – die älteren im Gespräch, Torbjörn hinter Synnöve her, die sich jedesmal, wenn er ihr nahe kam, dichter an die Mutter schmiegte. Der andere Junge war nicht mehr zu sehen. Draußen auf dem Kirchplatz blieben sie stehen und fingen eine längere Unterhaltung an. Torbjörn hörte mehrere Male Aslak nennen, und da er fürchtete, daß auch gleichzeitig ein wenig von ihm die Rede sein könne, zog er sich zurück.
»Das ist nichts für deine Ohren,« sagte die Mutter zu Synnöve; »geh ein bißchen weg, Kleine, geh weg, hörst du?«
Synnöve zog sich zögernd zurück. Nun kam Torbjörn näher und sah sie an, und sie sah ihn an, und so standen sie eine geraume Weile und guckten sich bloß an. Endlich sagte sie: »Pfui!«
»Warum denn pfui?« sagte er. –
»Pfui,« sagte sie noch einmal, »pfui schäm dich,« fügte sie hinzu. –
»Was hab' ich denn getan?«
»In der Kirche Prügeleien anfangen, während der Pastor predigt, pfui.«
»Das ist aber doch schon so lange her.«
Das leuchtete ihr ein und sie sagte nach einem Weilchen:
»Bist du nicht Torbjörn Granliden?«
»Ja, und du Synnöve Solbakken, nicht?«
»Ja.«
»Ich hab' immer gehört, du wärst so'n artiger Junge.«
»Das ist nicht wahr, ich bin ja zu Haus der Allerungezogenste von allen,« sagte Torbjörn.
»Nein aber so was,« sagte Synnöve und schlug die kleinen Händchen zusammen. »Mutter, Mutter, weißt du, was er sagt –?«
»Schweig und mach, daß du wegkommst,« hieß es da – sie verstummte und kam rückwärtsgehend langsam zurück, wobei ihre großen, blauen Augen auf die Mutter gerichtet waren,
»Und ich habe immer gehört, du wärst so artig,« sagte Torbjörn.
»Ach ja, manchmal, wenn ich fleißig gewesen bin, dann,« antwortete sie.
»Ist es wahr, daß es da drüben bei euch solche furchtbare Masse Hexen und Kobolde und Teufelsspuk gibt?« fragte er, stemmte die Hand in die Seite, streckte den einen Fuß vor und stützte sich auf den anderen – genau, wie er's bei Aslak gesehen hatte.
»Mutter, Mutter, weißt du, was er gesagt hat? Er sagt« –
»Laß mich in Ruh, hörst du! Und daß du mir nicht wieder herkommst, ehe ich rufe.«
Wieder mußte sie, langsam rückwärtsgehend, abziehen, wobei sie einen Zipfel ihres Taschentuches in den Mund stopfte, die Zähne zusammenbiß und daran zerrte.
»Ist es denn gar nicht wahr, daß es alle Nacht in den Hügeln bei euch Musik macht?«
»Bewahre.«
»Hast du denn nie einen Troll gesehen?«
»Nein.«
»Herrje –!«
»Pfui, so was darf man nicht sagen.«
»Bah, was ist denn groß dabei,« sagte er und spuckte durch die Zähne, um zu zeigen, wie weit er spucken könne.
»Doch, doch,« sagte sie, »warte man, du kommst noch in die Hölle.«
»Wirklich,« sagte er, schon bedeutend zaghafter; er hatte sich nämlich bloß gedacht, daß er Haue dafür bekommen könnte, und jetzt stand ja der Vater so weit weg.
»Wer ist denn da drüben bei euch der Stärkste?« fragte er und schob die Mütze ein wenig kecker auf's Ohr.
»Ach, das weiß ich nicht.«
»Bei uns ist es der Vater; der ist so stark, daß er sogar den Aslak durchwichsen kann, und der Aslak ist doch ganz nett stark, sag ich dir.«
»So?«
»Einmal hat er ein Pferd hochgehoben.«
»Ein Pferd?«
»Ja, das ist wirklich und wahrhaftig wahr, – er hat's doch selbst erzählt.«
Da zweifelte sie natürlich auch nicht mehr.
»Wer ist denn das, Aslak?« fragte sie.
»O, das ist ein Schlimmer, sag ich dir. Vater hat ihn so durchgebläut, wie ich mein Lebtag noch niemand habe prügeln sehen.«
»Prügelt ihr euch denn da drüben bei euch?«
»Ja, manchmal – – ihr nicht?«
»Nein, nie.«
»Was tut ihr denn sonst?«
»Ach, die Mutter kocht das Essen, und strickt und näht, und die Kari auch, aber lange nicht so fein wie Mutter, die Kari ist nämlich ein Faulpelz. Die Randi sorgt für die Kühe, und der Vater ist mit den Knechten im Felde oder auch zu Haus.«
Diesen Bericht fand er durchaus befriedigend.
»Und alle Abend lesen wir, und dann singen wir,« fuhr sie fort, »und Sonntags auch.«
»Alle miteinander?«
»Ja.«
»Das muß aber langweilig sein.«
»Langweilig? Mutter, er sagt – – –« doch da besann sie sich, daß sie ja nicht hin durfte.
»Ich hab' man 'ne Menge Schafe,« sagte sie.
»Ach!«
»Ja, und drei kriegen diesen Winter Lämmer, und das eine kriegt, glaube ich, ganz bestimmt zwei.«
»So? Schafe hast du?«
»Ja, und Kühe habe ich auch und Schweine. Du nicht?«
»Nein.«
»Komm mal rüber zu mir, dann schenk' ich dir ein Lamm. Und dann werden schon bald mehr daraus werden, warte man.«
»Ei, das wäre aber zu famos.«
Ein Weilchen standen sie schweigend.
»Könnte nicht Ingrid auch ein Lamm kriegen?« fragte er.
»Wer ist denn das?«
»Ingrid, Klein-Ingrid.«
Nein, die kannte sie nicht.
»Ist sie kleiner als du?«
»Aber natürlich ist sie kleiner als ich – ungefähr so wie du.«
»Ach wie nett, die mußt du mitbringen, ja?«
Ja, das wollte er gern.
»Aber,« sagte sie, »wenn du ein Schäfchen kriegst, soll Ingrid lieber ein Ferkel kriegen.«
Das fand er auch viel richtiger, und dann plauderten sie noch ein wenig von gemeinsamen Bekannten, deren sie freilich nicht allzuviele hatten.
Die Eltern waren fertig, und es ging nach Hause.
In der Nacht träumte er von Solbakken, und ihm war, als sähe er lauter weiße Schäfchen dort und ein kleines, blondes Mädel mit roten Bändern mitten dazwischen.
Ingrid und er sprachen täglich davon, wie es wohl werden würde. Sie hatten so viel Lämmer und Ferkelchen zu hüten, daß sie sich kaum zu drehen und zu wenden wußten. Indessen wunderten sie sich sehr darüber, daß sie nicht gleich hin durften. »Etwa weil das kleine Ding euch eingeladen hat?« fragte die Mutter, »ich glaube gar!«
»Na ja, wartet nur, bis der nächste Feiertag kommt,« meinte Torbjörn, »dann werdet ihr's schon sehen.«
Der kam.
»Du sollst ja so'n entsetzlicher Prahlhans sein und so oft lügen und fluchen,« sagte Synnöve da zu ihm, »nun darfst du nicht eher zu uns, bis du dir das abgewöhnt hast.«
»Wer sagt denn das?« fragte Torbjörn erstaunt.
»Mutter.«
Ingrid erwartete ihn schon mit großer Spannung, und nun mußte er ihr und der Mutter erzählen, wie es ihm ergangen war.
»Siehst du wohl?« sagte die Mutter.
Ingrid sagte gar nichts, aber von da an paßten sie und die Mutter ihm beide auf, wenn er prahlte oder fluchte. Aber einmal gerieten er und Ingrid in Streit, inwieweit »hol mich der Hund« fluchen wäre oder nicht. Ingrid bekam Prügel von ihm, und von da an brauchte er den ganzen Tag lang das Wort »hol mich der Hund«. Am Abend aber hörte das der Vater.
»Wart mein Jungchen, er soll dich schon holen,« sagte er und gab ihm einen Puff, daß er zu Boden taumelte. Torbjörn schämte sich am meisten vor Ingrid, aber sie kam nach einem Weilchen zu ihm und streichelte ihn.
Als dann ein paar Monate verflossen waren, kamen sie doch beide nach Solbakken hinüber; dann war Synnöve bei ihnen, sie wieder dort, und so ging es weiter, die ganze Kindheit hindurch. Torbjörn und Synnöve lernten um die Wette, sie gingen in dieselbe Schule, und er wurde schließlich tüchtiger als sie, so tüchtig, daß der Pastor sich seiner annahm. Mit Ingrid aber ging es langsamer, so daß die beiden ihr helfen mußten. Sie und Synnöve wurden so unzertrennlich, daß sie von den Leuten die Schneehühnchen genannt wurden, weil sie immer zusammenflogen und beide so hellblond waren.
Alle Augenblicke mal war Synnöve böse mit Torbjörn, weil er gar zu wild war und überall in Schlägereien geriet. Dann spielte Ingrid immer die Vermittlerin, und bald waren sie wieder gut Freund. Wenn aber Synnövens Mutter von einer Schlägerei hörte, durfte er in der betreffenden Woche und auch meist in der nächsten nicht nach Solbakken. Aber Vater Sämund wagte niemand etwas davon zu erzählen; »er geht zu streng mit dem Jungen um,« sagte die Frau und bat alle, zu schweigen.
Wie sie nun so heranwuchsen, waren die drei Kinder gar lieblich anzuschauen, jedes in seiner Weise. Synnöve war hochgewachsen und schlank, mit gelben Haaren und einem zarten, leuchtenden Gesichtchen mit stillen, blauen Augen. Sie lächelte, wenn sie sprach, und die Leute sagten schon früh von ihr, es tue wohl, in den Lichtkreis dieses Lächelns zu kommen. Ingrid war kleiner, aber voller, hatte noch helleres Haar und ein ganz kleines, molliges, rundes Gesichtchen. Torbjörn war mittelgroß, doch sehr schön gebaut, mit dunklen Haaren, dunkelblauen Augen, scharfgeschnittenen Zügen und starken Gliedern. Er erzählte gern selbst, wenn er in der Wut war, daß er ebenso gut schreiben und lesen könne wie der Schulmeister und überhaupt niemand im ganzen Tal fürchte, – »außer Vater,« dachte er bei sich, aber das sagte er nicht laut.
Torbjörn wollte gern früh konfirmiert werden; aber daraus wurde nichts; »solange du noch nicht konfirmiert bist, bist du noch ein Junge, und ich kann besser mit dir fertig werden,« sagte der Vater.
So kam es denn, daß er, Synnöve und Ingrid gleichzeitig zum Konfirmandenunterricht gingen.
Synnöve hatte auch lange gewartet; sie ging schon ins sechzehnte Jahr. Man kann nie genug lernen, ehe man sein Gelübde vor Gott ablegt, hatte die Mutter stets gesagt, und Vater Guttorm hatte Ja dazu gesagt. So war es nicht zu verwundern, daß schon ein paar Freier um die Wege waren, der eine ein Sohn aus guter Familie, und der andere ein reicher Nachbar.
»'s ist doch zu toll! Das Mädel ist ja noch nicht mal konfirmiert.«
»Nun ja, da müssen wir sie eben konfirmieren lassen,« sagte der Vater. Synnöve selbst wußte aber nichts davon.
Im Pfarrhause mochten die weiblichen Mitglieder der Pastorfamilie Synnöve sehr gern leiden, und sie holten sie zu sich hinein, um mit ihr zu plaudern. Ingrid und Torbjörn blieben draußen unter den anderen zurück, und als ein Junge zu ihm sagte:
»Na, haben sie dich nicht mit 'neingelassen? Wart' nur, die da drinnen werden dir das Mädel noch vor der Nase wegschnappen!« so kostete das dem Jungen ein blaues Auge.
Von da an wurde es Sitte unter den Jungens, ihn mit Synnöve zu necken, und es zeigte sich bald, daß nichts ihn so in Harnisch bringen konnte. Auf Grund dieser Neckereien kam es schließlich in einem Wald hinter dem Pfarrhaus zu einer großen verabredeten Prügelei. Die Sache nahm solchen Umfang an, daß Torbjörn es mit einem ganzen Rudel Jungens auf einmal zu tun bekam.
Die Mädchen waren vorweggegangen, es war also niemand da, der sich hätte ins Mittel legen können, und daher wurde es schlimmer und schlimmer. Ergeben wollte er sich nicht, immer mehr drangen auf ihn ein, und so hieß es eben, sich auf alle erdenkliche Weise zu verteidigen, und dabei setzte es Schläge, die später selbst erzählten, was sich zugetragen hatte. Die Ursache wurde sofort bekannt, und es entstand ein eifriges Geschwätz in der Bygd.
Am nächsten Kirchsonntag wollte Torbjörn nicht zur Kirche; und als sie zum Konfirmandenunterricht sollten, meldete er sich krank. Ingrid ging daher allein. Als sie nach Hause kam, fragte er, was Synnöve gesagt habe. »Nichts.«
Als er dann wieder mitging, meinte er, alle Leute sähen ihn an, und die Konfirmanden kicherten. Aber Synnöve kam später als die anderen und war an dem Tag viel bei Pastors drin.
Er fürchtete Schelte vom Pastor zu bekommen, aber merkte bald, daß die beiden einzigen im ganzen Tal, die nichts von der Schlägerei wußten, sein eigener Vater und der Pastor waren. Nun, das ließ sich ja hören, aber wie er mit Synnöve wieder anbinden sollte, das wußte er nicht; denn zum erstenmal hatte er keinen rechten Mut, Ingrid um ihre Vermittlung zu bitten. Nach beendetem Unterricht war Synnöve wieder bei Pastors; er wartete, solange noch eine Menschenseele auf dem Platz war; doch zuletzt mußte auch er gehen.
Ingrid war unter den ersten, die gegangen waren.
Das nächstemal war Synnöve schon vor allen anderen da und ging mit einem der Fräulein und einem jungen Herrn im Garten spazieren.
Das Fräulein grub Blumen aus, und gab sie Synnöve; der Herr half ihr, und Torbjörn stand draußen unter den anderen und guckte zu.
Sie gaben ihr so laut, daß alle draußen es hören konnten, Anweisung, wie die Blumen gepflanzt werden müßten, und Synnöve versprach, es eigenhändig zu tun, damit es genau so gemacht wurde, wie sie es gesagt hatten.
»Allein kannst du das aber nicht,« sagte der Fremde; und Torbjörn merkte sich das.
Als Synnöve zu den anderen hinauskam, erwiesen diese ihr noch größere Achtung als gewöhnlich; Synnöve ging auf Ingrid zu, begrüßte sie freundlich und fragte, ob sie nicht ein bißchen mit auf die Wiese kommen wolle. Dort setzten die beiden Mädchen sich hin; denn sie hatten lange nicht ordentlich miteinander geplaudert. Torbjörn blieb wieder unter den anderen zurück und sah Synnöves feine fremdländische Blumen an.
Diesmal ging Synnöve zugleich mit den anderen heim.
»Soll ich dir nicht die Blumen da tragen?« fragte Torbjörn.
»Das kannst du gern,« antwortete sie freundlich, nahm aber dann, ohne ihn anzusehen, Ingrid bei der Hand und ging voran. Und am Fuß von Solbakken blieb sie stehen und sagte Ingrid Adieu.
»Das kleine Stückchen kann ich sie ganz gut allein tragen,« sagte sie und nahm den Korb, den Torbjörn hingesetzt hatte.
Den ganzen Weg hatte er vorgehabt, sich anzubieten, ihr die Blumen zu pflanzen, aber jetzt konnte er sich nicht dazu entschließen, denn sie wandte sich so rasch ab. Doch später konnte er an nichts anderes denken, als daß er ihr doch beim Pflanzen hätte helfen sollen.
»Wovon sprecht ihr denn eigentlich immer, ihr beiden?« fragte er Ingrid. »Ach, über gar nichts.«
Als alle zu Bett gegangen waren, zog er sich leise wieder an und ging hinaus. Es war ein schöner Abend, lau und still. Der Himmel hatte einen feinen Schleier von blaugrauen Wölkchen, die hier und da zerrissen waren, so daß das dunkle Blau wie ein Auge herauslugte. Kein Mensch war um das Gehöft und im weiten Umkreise zu erblicken; nur im Grase zirpten auf allen Seiten die Grillen, eine Wachtel zwitscherte zur Rechten, zur Linken antwortete eine andere, und dann hub im Grase ein Singen an, von einer Stelle zur anderen, daß ihm war, wie er da so ging, als habe er ein großes Gefolge, obgleich er niemand sehen konnte. Der Wald zog sich anfangs blau und dann dunkler und dunkler die Halde hinan und schien ein einziges Nebelmeer. Aus dem Innern her aber hörte er den Birkhahn balzen und sein Kommen melden und eine vereinzelte Eule schreien und den Bergbach mächtiger denn je seine uralten harten Verse singen, – jetzt, da alles sich niedergelassen hatte, um ihm zuzuhören. Torbjörn sah nach Solbakken hinüber und ging weiter. Er bog ab von den geordneten Pfaden, ging mit raschen Schritten hinüber und stand bald in dem Gärtchen, das Synnöve gehörte und das gerade unter dem einen Giebelfenster lag, jenem Fenster, hinter dem sie schlief. Er lauschte und spähte, doch alles war still. Dann sah er sich nach Arbeitsgerät um und fand wirklich Spaten und Rechen. Auf einem Beet war schon mit dem Umgraben angefangen; nur ein ganz kleines Stückchen war fertig geworden, aber zwei der Blumen waren bereits eingesetzt, vermutlich um zu sehen, wie es sich ausnahm. »Sie ist müde geworden, die arme Kleine, und hat es liegen lassen,« dachte er; hier ist ein Mann nötig, dachte er weiter, und machte sich an die Arbeit; er fühlte durchaus keine Schlaflust, ja, er fand sogar, er habe noch nie so leichte Arbeit getan. Er erinnerte sich, wie die Blumen gepflanzt werden sollten, erinnerte sich auch des Pfarrgartens, und brachte alles schön in Ordnung. Darüber verstrich die Nacht, aber er merkte es nicht, er gönnte sich kaum Ruhe, und bald war das ganze Beet umgegraben, die Blumen gepflanzt, und die eine oder andere umgepflanzt, damit sie noch besser zur Geltung käme; dann und wann lugte er nach dem Giebelfenster hinauf, ob nicht doch vielleicht jemand es merkte. Doch kein Mensch war zu sehen, weder hier noch anderwärts, nicht einmal einen Hund hörte man bellen, bis dann der Hahn zu krähen anfing und die Waldvögel weckte, die einer nach dem anderen aufflogen, um ihr »Guten Morgen« zu singen. Während er dastand und die Erde glattklopfte, fielen ihm die Märchen wieder ein, die Aslak ihm erzählt hatte, und wie er einst geglaubt hatte, auf Solbakken wimmelte es von Trollen und Heinzelmännchen. Er sah nach dem Bodenfenster hinauf und lächelte in dem Gedanken, was Synnöve wohl morgen früh denken würde. Es war schon ganz hell geworden, die Vögel machten schon einen Heidenspektakel, drum schwang er sich über den Zaun und eilte heim. Nun mochte nur einer behaupten, er sei es, der in Synnöve Solbakkens Garten gewesen sei und Blumen gepflanzt habe.
Bald munkelte man im Tal allerlei, aber mit Sicherheit wußte niemand etwas zu sagen. Seitdem die beiden konfirmiert waren, sah man Torbjörn nie mehr auf Solbakken, und das konnten die Leute sich nun gar nicht zurechtreimen. Ingrid ging oft hinüber; und Synnöve und sie liefen dann am liebsten in den Wald; »aber nicht zu lange bleiben,« rief die Mutter ihnen nach. »Nein, nein,« antwortete Synnöve – und kam nicht vor Abend wieder heim.
Die beiden Freier meldeten sich wieder.
»Solche Dinge muß sie mit sich selbst abmachen,« sagte die Mutter, und der Vater stimmte ihr bei. Aber als Synnöve beiseite genommen und gefragt wurde, gab es Körbe. Noch andere meldeten sich, aber niemals hörte man, daß einer von Solbakken das Glück mit heimgebracht hätte. Eines Tages, als sie und die Mutter die Milcheimer scheuerten, fragte die Mutter, wer ihr denn eigentlich im Sinn läge. Das kam Synnöve so überraschend, daß sie rot wurde.
»Hast du dich irgendeinem versprochen?« fragte sie wieder, und sah sie forschend an.
»Nein,« antwortete Synnöve rasch.
Dann wurde über dies Kapitel nicht mehr gesprochen.
Da sie weit und breit die beste Partie war, so folgte ihr, wenn sie zur Kirche ging, dem einzigen Orte, wo sie außer dem Hause zu sehen war, manch verlangender Blick; man sah sie nämlich nie beim Tanz, oder bei anderen Lustbarkeiten, da die Eltern Haugianer waren. Torbjörn saß im Kirchenstuhl ihr gegenüber, aber soviel man sehen konnte, sprachen die beiden nie miteinander. Trotzdem glaubte ein jeder zu wissen, daß zwischen den beiden etwas los sein müsse, und da sie nicht miteinander verkehrten wie andere junge Liebesleute im Tal, fing man an, sich allerlei über die beiden zu erzählen. Torbjörn war eigentlich nicht recht beliebt. Das fühlte er selbst; denn er kehrte immer seine rauheste Seite vor, wenn er mit anderen zusammen war, besonders beim Tanz oder auf Hochzeiten; und dann kam es bisweilen vor, daß er sich direkt in eine Schlägerei verwickelte. Das wurde jedoch seltener, je mehr die anderen Burschen zu fühlen bekamen, wie stark er war; darum gewöhnte Torbjörn sich schon früh daran, nicht zu dulden, daß jemand ihm zu sehr im Wege stünde.
»Du handelst jetzt auf eigene Faust, mein Junge,« sagte Vater Sämund zu ihm, »aber vergiß nicht, daß meine vielleicht doch noch stärker ist als deine.«
Herbst und Winter vergingen, der Frühling kam, und noch immer wußten die Leute nichts Bestimmtes. Über all die Körbe, die Synnöve ausgeteilt hatte, liefen so viele Gerüchte um, daß man sie fast ganz ihre eigenen Wege gehen ließ. Nur Ingrid war immer um sie; die beiden Mädchen sollten in diesem Jahre zusammen auf die Alm, da die Solbakkener Leute ein Stück von der Granlider Alm gekauft hatten. Man hörte Torbjörn, der dort allerlei für sie zurechtmachte, oben an den Halden singen. An einem schönen Tage, als es schon zum Abend neigte und er mit der Arbeit fertig war, setzte er sich hin und dachte an dieses und jenes. Meist dachte er freilich an all das, was im Tale geschwatzt wurde; er legte sich auf den Rücken in das rote und braune Heidekraut und starrte, die Hände unter dem Kopf verschränkt, in den Himmel hinauf, der sich da blau und leuchtend hinter den dichtbelaubten Baumkronen wölbte. Die grünen Blätter und die Tannennadeln flossen in einem zitternden Strom in das Blau hinüber, und die dunklen Zweige, die das Blau durchschnitten, zeichneten wildphantastische Figuren hinein. Doch der Himmel selbst war nur zu sehen, wenn ein Blatt zur Seite wehte; weiter hinten zwischen den Wipfeln, die einander nicht erreichten, brach er wie ein breiter Fluß hervor und floß in übermütigen Windungen dahin. Das brachte seine Seele in Stimmung, und er begann das, was er sah, zu einem Bilde zu formen. – – Die Birke lachte wieder aus tausend Augen zur Sonne hinauf, die Föhre stand in stummer Verachtung und sträubte ihre Nadeln nach allen Seiten, denn je schmeichelnder die Lüfte wehten, desto kräftiger gediehen all die Kränklinge rings um sie, und schossen empor und streckten der Fichte ihr frisches Laub gerade unter die Nase. »Möcht' wissen, wo ihr den Winter über gesteckt habt,« fragte die Föhre, fächelte sich und schwitzte Harz in der unerträglichen Hitze, »'s ist doch wirklich zu arg – so hoch im Norden – Pfui!«
Aber da war eine altersgraue, kahle Fichte, die über alle anderen hinwegsehen und noch obendrein einen fingerreichen Zweig fast senkrecht hinabbeugen und einen mutwilligen Ahornbaum beim obersten Haarschopf packen konnte, so daß dieser bis in die Knie hinunter zitterte. Diese klafterdicke Föhre hatten die Menschen immer höher und höher hinauf abgeästet, bis sie plötzlich, der ganzen Sache überdrüssig, einen solchen Schuß in die Luft tat, daß die dünne Tanne daneben ängstlich wurde und sie fragte, ob sie denn gar nicht an die Winterstürme dächte. »An die Winterstürme,« sagte die Föhre und versetzte der kleinen Tanne mit Hilfe des Nordwindes eine solche Ohrfeige, daß sie beinahe die Kontenance verloren hätte, und das war schlimm genug. Die starkgliedrige finstre Föhre hatte nun so mächtig in der Erde Fuß gefaßt, daß ihre Zehen sechs Ellen weit daraus hervorragten und immer noch dicker waren, als die Weide an ihrer dicksten Stelle, was diese eines Abends verschämt dem Hopfen zuflüsterte, der sie verliebt umschlungen hielt. Die bärtige Föhre war sich ihrer Macht bewußt und rief den Menschen zu, indem sie hoch über ihrem Machtbereich Ast auf Ast in die wilde Luft hinaufjagte: »Jetzt versucht's mal, ob ihr meine Äste kriegt.«
»Nein, die kriegen sie nie,« sagte der Adler, ließ sich gnädig herab, legte seine Schwingen mit Würde zusammen und putzte etwas gemeines Schafsblut von seinen Federn ab. »Ich denke, ich werde die Königin auffordern, sich hier niederzulassen – sie geht mit ein paar Eiern, die sie legen möchte,« fügte er leiser hinzu und blickte auf seine kahlen Beine hernieder, denn er schämte sich, weil ihm ein paar süße Erinnerungen an jene frühesten Lenztage geflogen kamen, wo man halb verrückt war über die erste Sommerwärme. Doch bald hob er das Haupt wieder und blickte unter den federbuschigen Augenbrauen hinauf nach den schwarzen Felsenhängen, ob nicht irgendwo dort die Königin eierschwer und leidend kreise. Auf flog er, und bald konnte die Föhre das Paar hoch oben im klaren Blau sehen, wo sie in gleicher Höhe mit dem höchsten Gipfel segelten und ihre häuslichen Angelegenheiten verhandelten. Sie konnte sich nicht verhehlen, daß sie etwas in Unruhe war, denn so fein sie sich auch schon fühlte, noch feiner wäre es doch, ein Adlerpaar wiegen zu dürfen. Nun ließen sie sich beide herab und kamen direkt auf sie zugeflogen; sie sprachen nicht miteinander, sondern machten sich gleich daran, Zweige herbeizuholen. Die Föhre machte sich, wenn möglich noch breiter, – wer hätte sie auch daran verhindern können.
Aber im ganzen übrigen Walde begann man eifrig zu schwatzen, als man sah, welche Ehre der Großfichte widerfahren war. Da war eine kleine, nette Birke, die sich in einem Wässerlein spiegelte und ein Anrecht auf die Liebe eines grauweißen Hänflings zu haben glaubte, der in ihren Zweigen sein Mittagsschläfchen zu halten pflegte. Sie hatte ihm direkt ins Schnäbelchen hineingeduftet, hatte Käferchen an ihre Blätter festgeklebt, so daß er nur zuzulangen brauchte, ja zuletzt in der Hitze hatte sie ein kleines dichtes Haus von frischen Blättern zusammengebaut, so daß der Hänfling wirklich drauf und dran war, sich für den Sommer häuslich dort einzurichten. Und nun: Nun hatte der Adler sich auf der Großfichte niedergelassen, und weg mußte er.
War das ein Kummer! Er sang ein trillerndes Abschiedslied, aber ganz leise, damit der Adler es ja nicht merkte.
Nicht besser erging es den kleinen Spatzen dort im Erlengebüsch. Die hatten einen solchen Heidenspektakel gemacht, daß eine Drossel, die dicht daneben auf einer Esche wohnte, nie zur rechten Zeit einschlafen konnte und mitunter ganz blitzwütend wurde und zu schimpfen anfing. Ein ernsthafter Hackspecht im Nachbarbaum hatte darüber so gelacht, daß er beinahe von seinem Ast gepurzelt wäre. Da sahen sie auf einmal den Adler auf der Großfichte, und Drossel und Spatz und Hackspecht und alles, was fliegen konnte, mußte Hals über Kopf auf und davon über die Zweige und unter die Zweige. Aber die Drossel schwor noch im Fortfliegen, sie würde nie wieder so mieten, daß sie die Spatzen als vis-à-vis bekäme.
So stand der Wald ringsum sinnend und verlassen mitten im munteren Sonnenschein. Seine einzige Freude sollte nun die Großfichte sein, aber das war eine armselige Freude. Bang beugte sich der Wald, wenn der Nordwind kam, die Großfichte peitschte die Luft mit ihren mächtigen Zweigen und der Adler umkreiste sie ruhig und besonnen, als sei es nur ein kriechender Stoßwind, der vom Walde her ein bißchen lumpigen Weihrauch zu ihm hinauftrüge. Aber die ganze Föhrensippe war froh. Keiner einzigen fiel es ein, daß sie selbst in diesem Jahr kein Nest zu wiegen bekam. »Weg,« sagten sie, »wir gehören zur Familie.«
– – – – »Na, an was denkst du denn eigentlich?« fragte Ingrid, – – sie trat lachend aus dem Gebüsch hervor, und beugte es zur Seite.
Torbjörn sprang auf.
»Ach, es geht einem so mancherlei im Kopfe herum,« sagte er und sah trotzig über die Bäume hin. »Die Leute in der Bygde schwatzen auch zu viel dummes Zeug,« fügte er hinzu, und bürstete wenig Staub von sich ab.
»Warum kümmerst du dich denn um das, was die Leute sagen?«
»Ach, ich weiß selbst nicht, aber – – – bis jetzt haben die Leute noch nie etwas gesagt, was ich nicht wirklich in meinen Gedanken gehabt hätte, wenn ich es auch nicht grad getan habe.«
»Wie häßlich.«
»Freilich ist es häßlich,« sagte er, und nach einem Weilchen fügte er hinzu: »aber wahr ist's.«
Sie setzte sich ins Gras, er blieb stehen und sah vor sich hin.
»Ich kann leicht so werden, wie sie mich haben wollen, sie sollten mich lieber lassen, wie ich bin.«
»Dann ist es aber schließlich doch deine Schuld.«
»Meinetwegen, aber die anderen sind mitschuldig. Ich will Ruhe haben, Ruhe, sage ich,« schrie er beinahe und blickte zum Adler hinauf.
»Aber Torbjörn,« flüsterte Ingrid. Er wandte sich und lachte. »Sei nur still,« sagte er, »wie gesagt, es geht einem so viel im Kopf herum, – hast du heute mit Synnöve gesprochen?«
»Ja, sie ist schon auf die Alm gezogen.«
»Heute schon?«
»Ja.«
»Mit dem Vieh von Solbakken?«
»Ja.«
»Tralala.«
Und die Sonne lacht auf ihr Bäumelein
Triumlire.
Was stehst du denn da, du Goldschätzelein
Triumla, triumli,
und 's Vöglein schrie:
»was ist los?«
»Morgen lassen wir das Vieh aus,« sagte Ingrid; sie wollte seinen Gedanken eine andere Richtung geben –
»Ich werde es treiben helfen,« sagte Torbjörn.
»Nein, Vater will selbst mit dabei sein,« sagte sie.
»So,« sagte er und schwieg.
»Er hat heute nach dir gefragt,« sagte sie.
»Wirklich?« sagte Torbjörn, schnitt mit seinem Taschenmesser einen Zweig ab und fing an, ihn zu schälen.
»Du solltest ein bißchen öfter mit Vater reden,« sagte sie freundlich; »er hat dich sehr lieb,« fügte sie hinzu.
»Kann schon sein,« sagte er.
»Er spricht so oft von dir, wenn du draußen bist.«
»Um so seltener, wenn ich drin bin.«
»Das ist aber deine Schuld.«
»Kann sein.«
»Sprich nicht so, Torbjörn, du weißt nur zu gut, was zwischen euch steht.«
»Was denn?«
»Muß ich dir das sagen?«
»Das kommt wohl auf eins 'raus, Ingrid, du weißt genau soviel wie ich.«
«Ja, freilich. Du treibst dich zu viel auf eigene Hand herum; du weißt, das mag er nicht.«
»Glaub's schon, er möcht mir am liebsten den Arm festbinden.«
»Ja, wenn du damit schlägst.«
»Sollen die Leute etwa tun und sagen dürfen, was sie wollen?«
»Nein, aber du kannst ihnen doch ein bißchen aus dem Wege gehen, das hat er selbst auch getan, und darum ist er ein geachteter Mann geworden.«
»Vielleicht haben sie ihn nicht so gequält.«
Ingrid schwieg ein wenig, dann fuhr sie fort, nachdem sie sich umgesehen hatte: »Es nützt wohl doch nichts, wieder davon anzufangen. Ich meine nur – da, wo du weißt, daß du mit Feinden zusammentriffst, solltest du dich fernhalten.«
»Nein, eben da will ich erst recht sein. Ich heiße doch nicht umsonst Torbjörn Granliden.«
Er hatte die Rinde von dem Zweige abgeschält, und schnitt ihn nun mitten durch. Ingrid sah ihn an und fragte etwas zögernd: »Gehst du am Sonntag nach Nordhaug?«
»Ja.«
Es entstand eine kleine Pause, dann sagte sie, ohne ihn anzublicken: »Weißt du, daß der Knut Nordhaug zur Hochzeit seiner Schwester heimgekommen ist?«
»Ja.«
Jetzt sah sie ihn an. »Torbjörn, Torbjörn!«
»Soll er sich vielleicht wieder wie früher zwischen mich und andere drängen dürfen?«
»Das tut er ja gar nicht, jedenfalls nicht mehr, als andere wollen.«
»Wer weiß denn, was andere wollen.«
»Das weißt du ganz genau.«
»Sie selbst sagt jedenfalls gar nichts.«
»Ach, wie du nur so reden kannst,« sagte Ingrid, sah ihn unwillig an, stand auf und blickte sich um. Er warf seine Zweigstücke fort, steckte das Messer in die Scheide und wandte sich zu ihr.
»Weißt du was? – manchmal bin ich die ganze Geschichte satt. Die Leute schwatzen ihr und mir die Ehre vom Leib, weil nichts offenkundig vor sich geht. Und außerdem – ich darf ja nicht mal nach Solbakken hinüber, weil ihre Eltern mich nicht leiden können, wie sie sagt. Ich darf sie nicht besuchen, wie andere Burschen ihre Mädels, weil sie eine von den Heiligen ist, – daß du's nur weißt.«
»Torbjörn,« sagte Ingrid und wurde etwas unruhig, aber er fuhr fort:
»Der Vater will auch kein Wort für mich einlegen. Verdienst du sie, dann kriegst du sie auch, sagte er. Geschwätz immer und ewig, Geschwätz einerseits und nicht die geringste Entschädigung für all das Geschwätz andererseits. Ja, ich weiß ja nicht einmal, ob sie wirklich« – Ingrid stürzte auf ihn los und legte ihm die Hand auf den Mund, indem sie sich umsah. Da wurde das Gebüsch wieder auseinandergebogen, und eine hohe, schlanke Gestalt mit flammendem Gesicht trat hervor; es war Synnöve.
»Guten Abend,« sagte sie.
Ingrid sah Torbjörn an, als wollte sie sagen, »siehst du wohl?«
Torbjörn sah Ingrid an, als wollte er sagen: »Das hättest du nicht tun sollen.« Keins von beiden sah Synnöve an.
»Darf ich mich ein wenig zu euch setzen, ich hab heut soviel laufen müssen.«
Und sie setzte sich; Torbjörn wandte den Kopf, wie um nachzusehen, ob es da, wo sie sich hinsetzte, auch trocken wäre. Ingrid hatte ihre Augen nach Granliden hinunterschweifen lassen und rief mit einemmal: »Herrje, herrje, Fagerlin hat sich losgerissen und geht mitten im jungen Korn. Das garstige Vieh! Und Kelleros auch, nein, jetzt wird's wirklich zu toll; 's ist die höchste Zeit, daß wir bald auf die Alm kommen.« Und sie lief auf und davon, die Halde hinab, und sagte nicht mal Adieu. Synnöve stand sofort auch auf.
»Willst du schon gehen?« fragte Torbjörn.
»Ja,« sagte sie, blieb aber doch stehen.
»Du könntest gern noch ein bißchen bleiben.«
»Ein andermal,« kam es leise zurück.
»Das kann schön lange dauern.«
Sie blickte auf, er sah sie jetzt auch an, aber es dauerte ein Weilchen, ehe etwas gesagt wurde.
»Setz dich doch wieder hin,« sagte er etwas verlegen.
»Nein,« antwortete sie und blieb stehen.
Er fühlte den Trotz in sich aufsteigen, aber da tat sie etwas, was er nicht erwartet hatte; sie ging einen Schritt vorwärts, beugte sich zu ihm, sah ihm in die Augen und sagte mit einem Lächeln:
»Bist du mir bös?« Und als er sie ansah, sah er, daß sie weinte.
»Nein,« sagte er, feuerrot im Gesicht.
Er streckte die Hand aus; aber da ihre Augen so voll von Tränen waren, merkte sie es nicht, und er zog sie zurück. Endlich fragte er:
»Du hast es also gehört?«
»Ja,« sagte sie, sah auf und lachte; aber ihre Augen waren jetzt noch mehr von Tränen verschleiert als vorhin.
Er wußte nicht recht, was er tun oder sagen sollte; da entfielen ihm die Worte:
»Es war vielleicht häßlich von mir, nicht?«
Das sagte er sehr sanft; sie sah vor sich nieder und wandte sich halb ab.
»Du darfst nicht urteilen über das, was du nicht kennst;« das wurde mit halb erstickter Stimme gesagt, und ihm wurde ganz unbehaglich dabei zumute; er kam sich vor wie ein Schulbube und daher sagte er auch, da ihm nichts Besseres einfiel, »verzeih mir.«
Aber nun brach sie erst wirklich in Tränen aus.
Das konnte er nicht aushalten, er ging zu ihr, legte seinen Arm um sie und neigte sich über sie: »Hast du mich denn auch wirklich lieb, Synnöve?«
»Ja,« schluchzte sie.
»Aber es macht dich nicht glücklich?«
Sie antwortete nicht.
»Es macht dich nicht glücklich,« wiederholte er.
Jetzt weinte sie noch heftiger als zuvor und wollte sich ihm entwinden.
»Synnöve,« flüsterte er, sie fester an sich ziehend,
Sie lehnte sich an ihn und weinte sich aus.
»Komm, jetzt reden wir ein wenig miteinander,« sagte er und half ihr, sich ins Heidekraut zu setzen; er selbst setzte sich neben sie.
Sie trocknete ihre Augen und versuchte zu lächeln; aber es wollte nicht ganz gelingen.
Er hielt eine ihrer Hände und sah ihr in die Augen.
»Sag mir, Liebste, warum darf ich nicht zu euch nach Solbakken kommen?«
Sie schwieg.
»Hast du nie darum gebeten?«
Keine Antwort.
»Warum denn nicht?« fragte er und zog ihre Hand näher an sich. – – – – –
»Ich wage es nicht,« sagte sie ganz leise.
Seine Stirn verfinsterte sich, er zog den einen Fuß an, stützte den Ellenbogen auf's Knie und legte den Kopf in die Hand. – – – –
»Auf diese Weise werde ich wohl nie dahin kommen,« sagte er endlich.
Statt aller Antwort fing sie an Heidekraut auszurupfen.
»Na ja . . . . ich mag ja manches getan haben . . . . was . . . . nicht war, wie es sein sollte . . . . Aber man muß doch ein bißchen Nachsicht mit mir haben . . . . Ich bin nicht schlecht« – Hier machte er eine Pause – »Ich bin ja auch noch jung . . . . Kaum zwanzig Jahre alt . . . . ich . . . .« Er konnte nicht gleich weiter.
»Aber eine, die mich wirklich lieb hätte,« begann er wieder . . . . »müßte doch . . . .« Und hier blieb er ganz stecken.
Da hörte er neben sich gedämpft:
»Du mußt nicht so reden . . . . du weißt nicht, wie viel man . . . . ich wage es nicht mal, Ingrid zu sagen . . . .« (und dann wieder heftiges Schluchzen), »ich – ich leide so viel . . . .!«
Er schlang seine Arme um sie und drückte sie fest an sich.
»Sprich mit deinen Eltern,« flüsterte er, »und du sollst sehen, alles wird noch gut.«
»Es hängt alles von dir ab,« sprach sie leise.
»Von mir?«
Da wandte sich Synnöve zu ihm und schlang ihren Arm um seinen Nacken.
»Wenn du mich so lieb hättest, wie ich dich . . . .« sagte sie innig, mit einem Versuch zu lächeln. –
»Und das tät' ich nicht?« fragte er leise und sanft.
»Nein, nein, du nimmst nie einen Rat von mir an; du weißt, was uns vereinigt, aber du tust es nicht, – warum nicht?«
Und da sie nun einmal im Gange war, fuhr sie in einem Zuge fort: »Herr Gott, wenn du wüßtest, wie ich auf den Tag gehofft habe, wo ich dich drüben auf Solbakken sehen würde! Aber immer muß man etwas zu hören kriegen, was nicht so ist, wie es sein sollte . . . und dann müssen's noch dazu die eigenen Eltern sein, die es einem erzählen.«
Da ging ihm gleichsam ein Licht auf; er sah sie deutlich dort drüben auf Solbakken umhergehen, immer hoffend, daß endlich mal ein kleiner, friedlicher Augenblick käme, wo sie ihn freudig ihren Eltern zuführen könnte, – aber nie hatte er ihr einen solchen Augenblick gewährt.
»Das hättest du mir früher sagen sollen.«
»Hab ich das denn nicht getan?«
»Nein, nicht so.«
Sie sann ein wenig darüber nach, dann sagte sie, während sie ihren Schürzenzipfel in Fältchen legte: »Dann hab ich's vielleicht nicht getan, weil . . . . ich's nicht recht wagte.«
Aber der Gedanke, daß sie sich vor ihm fürchten könnte, rührte ihn so, daß er zum erstenmal in seinem Leben ihr einen Kuß gab.
Da ging eine solche Veränderung mit ihr vor, daß sie plötzlich zu weinen aufhörte, und ihr Blick unsicher wurde; sie versuchte zu lächeln, sah vor sich nieder, dann endlich zu ihm auf, und jetzt lächelte sie wirklich. Sie sprachen nichts mehr, doch ihre Hände fanden sich wieder; aber keines wagte zuzudrücken. Dann zog sie sich sanft zurück, und fing an Augen und Gesicht zu trocknen und ihr Haar, das ein wenig wirr geworden war, zu glätten. Und er dachte, während er da neben ihr saß und sie betrachtete, in seinem stillen Sinne: Ist sie nun mal schamhafter als die anderen Mädchen in der Bygde und will sie anders angefaßt werden, so soll man nichts darauf sagen.
Er begleitete sie bis zur Alm hinauf, die nicht weit davon lag. Er wäre zu gern Hand in Hand mit ihr gegangen, aber es war ein Gefühl über ihn gekommen; als ob er sie kaum berühren dürfe, und es kam ihm fast wunderlich vor, daß er an ihrer Seite gehen durfte.
Deshalb sagte er auch, als sie sich trennten: »Jetzt soll's aber eine Weile dauern, eh' du wieder was Schlimmes über mich zu hören bekommst.«
Zu Hause fand er seinen Vater beschäftigt, Korn vom Stabbur auf die Mühle zu tragen. Denn die Nachbarn ließen auf der Granlider Mühle mahlen, wenn ihre eigenen Bäche ausgetrocknet waren; der Granlider Bach war nie trocken. Eine Menge von Säcken sollten hinübergetragen werden – einige mittelgroß und andere außerordentlich groß. Die Frauen standen daneben und rangen Wäsche aus. Torbjörn ging zum Vater und nahm einen Sack.
»Soll ich dir nicht ein bißchen helfen?«
»O, ich kann's schon allein,« antwortete Sämund, schwang rasch einen Sack auf den Rücken und ging auf die Mühle zu.
»Es sind Säcke genug da,« sagte Torbjörn, nahm zwei große Säcke, stemmte sich mit dem Rücken dagegen, packte über die Schulter weg einen mit jeder Hand, indem er sie seitwärts mit den Ellenbogen stützte. Auf halbem Wege begegnete er Sämund, der wieder neue holen kam. Der Vater sah ihn hastig an, sagte aber nichts. Als nun Torbjörn seinerseits nach dem Stabbur zurückging, begegnete er Sämund mit zwei noch größeren Säcken. Diesmal nahm Torbjörn einen kleinen Sack. Als Sämund ihm begegnete, sah er ihn wieder an und diesmal länger als vorhin. Einmal traf es sich, daß sie gleichzeitig zum Stabbur kamen.
»Die von Nordhaug haben hergeschickt,« sagte Sämund, »sie wollen dich Sonntag zur Hochzeit drüben haben.«
Ingrid sah von ihrer Arbeit flehend zu ihm auf; die Mutter ebenfalls.
»So?« antwortete Torbjörn trocken, aber nahm diesmal die beiden größten Säcke, die er finden konnte.
»Gehst du hin?« fragte Sämund finster.
»Nein.«
Die Granlidalm hatte eine sehr schöne Tage. Man konnte von da oben die ganze Bygde überschauen, vor allem Solbakken, umgeben von seinen vielfarbigen Wäldern; dann die anderen Gehöfte, jedes in einem Ring von Wald, so daß die grüne Wiese mit den Gebäuden drauf aussah wie ein Friedensfleckchen, gewaltsam der wilden Natur abgerungen. Vierzehn Höfe konnte man von der Granlidalm aus zählen. Aber von den Granlider Häusern selbst waren nur die Dächer sichtbar und auch nur die höchsten Punkte der Alm. Die Mädchen saßen trotzdem oft dort oben und sahen hinunter, wie der Rauch aus den Schornsteinen stieg.
»Jetzt kocht Mutter das Mittagessen,« sagte Ingrid; »heute gibt's Pökelfleisch und Speck.«
»Hörst du, jetzt werden die Mannsleute gerufen,« sagte Synnöve. »Wo sie wohl heute arbeiten?« Und ihre Augen folgten dem Rauch, wie er eilig und übermütig in die feine sonnenfrohe Luft hinaufwirbelte, aber bald langsamer und nachdenklicher wurde, – dann in einem breiten Strom über dem Wald dahinfloß, immer dünner, zuletzt wie ein wehender Schleier und kaum mehr sichtbar. Viele Gedanken stiegen da in ihrer Seele auf und legten sich über die Bygde. Heute trafen sie auf Nordhaug zusammen. Es war einige Tage nach der Hochzeit, aber da diese sechs Tage lang dauern sollte, tönten noch immer alle Augenblicke Schüsse und vereinzelte Rufe, von der allerkräftigsten Sorte, zu ihnen herauf.
»Da geht's lustig zu,« sagte Ingrid.
»Ich beneide sie nicht drum,« sagte Synnöve und nahm ihr Strickzeug.
»'s wär' aber doch ganz spaßhaft, mit dabei zu sein,« sagte Ingrid, die im Grase hockte und nach dem Hof hinüberschaute, wo zwischen den Gebäuden Leute hin und her gingen, – einige nach dem Stabbur hin, wo wohl Tische mit Speisen bereitstanden, andere weiter weg, paarweise und in vertraulichem Geplauder.
»Ich wüßte gar nicht, nach was man sich da eigentlich sehnen sollte,« sagte Synnöve.
»Ich weiß es selbst kaum,« sagte Ingrid, die noch immer in derselben Stellung hockte. »Es muß wohl das Tanzen sein,« fügte sie dann hinzu. Darauf antwortete Svnnöve nichts.
»Hast du noch nie getanzt?« fragte Ingrid.
»Nein.«
»Glaubst du denn, daß Tanzen Sünde ist?«
»Ich weiß nicht recht.«
Ingrid sprach vorläufig nicht weiter davon, denn ihr fiel ein, daß die Haugianer das Tanzen aufs strengste verpönten, und sie wollte nicht näher untersuchen, wie in diesem Stücke Synnöves Verhältnis zu ihren Eltern war. Aber wie nun ihre Gedanken weiterwanderten, sagte sie nach einem Weilchen: »Torbjörn ist doch der beste Tänzer, den ich kenne.«
Svnnöve zögerte ein wenig, ehe sie sagte:
»Ja, er soll gut tanzen.«
»Du solltest ihn nur 'mal tanzen sehen,« platzte Ingrid heraus und wandte sich ihr zu. Aber schnell antwortete Synnöve:
»Nein, das will ich nicht.«
Das machte Ingrid ein wenig stutzig.
Svnnöve beugte sich über ihr Strickzeug und zählte ihre Maschen auf die Nadel. Mit einem Male ließ sie ihr Strickzeug in den Schoß fallen, sah gerade vor sich hin und sagte: »So herzensfroh wie heut bin ich doch lange nicht gewesen.«
»Warum denn?« fragte Ingrid.
»Ach, weil er heute nicht mit auf Nordhaug ist.« Ingrid saß in ihre eigenen Gedanken versunken. »Ja, ja,« sagte sie, »manch ein Mädel dort wird sich wohl nach ihm sehnen.« Synnöve öffnete den Mund, als wolle sie sprechen, sie sagte jedoch nichts, zog eine Stricknadel heraus und fing mit einer neuen an.
»Torbjörn sehnt sich selbst ganz gewiß auch dahin, darauf möcht' ich wetten,« sagte Ingrid, merkte aber erst hinterher, was sie gesagt hatte, und sah Synnöve an, die mit feuerrotem Gesicht dasaß und strickte. Nun dachte Ingrid in aller Eile über das ganze Gespräch nach, klatschte dann in die Hände, rutschte auf den Knien durch das Heidekraut, bis sie vor Synnöve lag, und sah ihr gerade in die Augen, aber Synnöve strickte eifrig weiter. Da lachte Ingrid und sagte: »Hör mal, mein Herz, ich wette, du hast mir die ganze lange Zeit über etwas verheimlicht.«
»Was sagst du da?« fragte Synnöve, und warf ihr einen unsicheren Blick zu.
»Du ärgerst dich ja nicht darüber, daß Torbjörn tanzt,« sagte Ingrid wie vorhin.
Die andere antwortete nichts. Ingrids ganzes Gesicht war nur ein einziges Schelmenlachen, und nun fiel sie Synnöve um den Hals und flüsterte ihr ins Ohr:
»Aber du ärgerst dich, weil er mit anderen tanzt als mit dir.«
»Dummes Zeug,« sagte Synnöve, riß sich los und stand auf. Ingrid stand auch auf und lief ihr nach.
»Schade, daß du nicht tanzen kannst, Synnöve,« sagte sie und lachte, »wirklich zu schade! Komm mal her, ich kann's dir ja ebensogut gleich auf der Stelle zeigen.« Damit faßte sie Synnöve um die Taille.
»Was willst du?« fragte diese.
»Dich tanzen lehren, damit du nie in deinem Leben mehr den Kummer hast, daß er mit anderen tanzt als mit dir.«
Nun mußte auch Synnöve lachen, oder wenigstens so tun, als ob sie lachte.
»Aber wenn uns nun wer sähe!« sagte sie.
»Die Antwort gesegne dir Gott, so dumm sie auch war,« sagte Ingrid und fing schon an zu trällern und Synnöve im Takt zu drehen.
»Nein, nein, es geht nicht!«
»Unsinn, eben hast du noch gesagt, du wärst heute so froh, wie seit lange nicht; also komm.«
»Wenn's nur ginge!«
»Versuch's nur, wirst schon sehen, daß es geht.«
»Du bist zu wild, Ingrid!«
»So sagte der Kater zum Spatz, als der Spatz nicht still sitzen wollte, damit der Kater ihn erwischen könnte; komm!«
»Eigentlich habe ich ja auch Lust, aber – –«
»Jetzt bin ich also Torbjörn und du bist seine junge Frau, die nicht will, daß er mit anderen tanzt.« –
»Aber –«
Ingrid trällerte; »aber –,« sagte Synnöve noch immer; doch da tanzte sie schon. Es war ein Springtanz, und Ingrid ging mit großen Schritten und mannhaftem Armschwingen voran, Synnöve hinterher mit trippelnden Schrittchen und niedergeschlagenen Augen, und Ingrid sang:
Und Füchslein lag unterm Birkenbusch
:,: in der Heide, :,:
und Häslein hüpfte mit leichtem Husch
:,: durch die Heide. :,:
Juchhe, welch ein herrlicher Sonnenschein,
das gleißt und glitzert so wunderfein
:,: auf der Heide. :,:
Und Füchslein lacht hinterm Birkenast
:,: auf der Heide, :,:
und Häslein jagte in froher Hast
:,: durch die Heide. :,:
Wie bin ich so lustig und kreuzvergnügt,
juchhe – wie das kleine Häslein fliegt
:,: durch die Heide. :,:
Und Füchslein lauert am Birkenbaum
:,: auf der Heide, :,:
und Häslein taumelt im Wonnetraum
:,: durch die Heide. :,:
– Du hier? Hilf Gott, was willst du von mir?
– Ei, Schätzchen, wagst du zu tanzen hier
:,: auf der Heide? :,:
»Na, geht's?« fragte Ingrid, als sie atemlos innehielten.
Synnöve lachte und sagte, sie möchte lieber einen Walzer tanzen.
»Ja, meinetwegen gern,« meinte Ingrid, und sie stellten sich gleich auf, indem Ingrid ihr zeigte, wie sie ihre Füße setzen sollte. »Walzer tanzen ist nämlich schwer, sag' ich dir.«
»Ach, es wird schon gehen, wenn wir nur in Takt kommen,« sagte Synnöve, und Ingrid schlug vor, einen Versuch zu machen.
Das taten sie denn auch, Ingrid sang, und Synnöve sang mit, anfangs bloß summend, später kräftiger. Da aber hielt Ingrid inne, ließ sie los und schlug die Hände zusammen vor lauter Verwunderung: »aber du kannst ja Walzer tanzen,« rief sie.
»Still, nicht mehr davon sprechen,« sagte Synnöve, und damit faßte sie Ingrid wieder um und tanzte weiter.
»Aber wo hast du es denn nur gelernt –?«
»Trallalala,« – und sie schwang Ingrid herum.
Da fing Ingrid erst recht aus Herzenslust an und sang dabei:
Sieh, hoch am Hauklid der Sonnenschein,
tanz, Schätzlein, tanz, bald wird's Abend sein;
der Strom hüpft eilig zum Meer hinab,
hoppla, wilder Gesell, dort harret dein Grab,
die Birke biegt sich im Wind juchhei,
hoppla, keckeste Maid! – was brach da entzwei?
sieh – –.
»Was für wunderliche Weisen du singst,« sagte Synnöve. »Ich weiß selbst gar nicht, was ich eigentlich singe, wirklich nicht; Torbjörn hat's gesungen.«
»Das ist eins von dem Zuchthausbent seinen Liedern,« sagte Synnöve, »ich kenne sie.«
»Wirklich?« fragte Ingrid und wurde etwas ängstlich. Sie blickte vor sich hin und sagte nichts mehr. Plötzlich wurde sie aufmerksam auf jemanden unten auf der Landstraße.
»Du, guck mal, da kommt jemand von Granliden her, die Landstraße heruntergefahren.«
Synnöve sah auch hin. –
»Ist er's?« fragte sie.
»Ja, es ist Torbjörn; er will nach der Stadt.
Es war wirklich Torbjörn, und er wollte nach der Stadt. Es war ein weiter Weg, und da sein Wagen schwer beladen war, fuhr er gemächlich die staubige Landstraße entlang. Diese liegt so, daß man sie von der Alm aus sehen konnte, und als er es nun von oben her jodeln hörte, wußte er gleich, wer es war, stellte sich auf die Ladung und jodelte zurück, so daß es zwischen den Bergen widerhallte. Jetzt tönten Alphornklänge zu ihm hernieder, und er saß und lauschte, und als es aufhörte, stand er wieder auf und jodelte. So ging es weiter, und ihm wurde froh zumut. Er schaute nach Solbakken hinüber und fand, noch nie habe die Sonne dort so hell geschienen wie heute. Aber wie er so da saß und hinüberschaute, vergaß er das Pferd ganz, und dieses lief wie es wollte. Da plötzlich fuhr er auf, denn das Pferd machte einen solchen Sprung nach der Seite, daß die eine Deichsel zerbrach, und nun jagte das Tier in wildem Trab über die Felder von Nordhaug dahin; denn über diese führte der Weg. Er sprang im Wagen auf und hielt die Zügel straff, es entspann sich ein Kampf zwischen beiden; das Pferd wollte über einen steilen Berghang hinaus, und er hielt es mit aller Kraft. Er bändigte es soweit, daß es sich bäumte, und nun sprang er ab und schlang, ehe das Pferd sich wieder in Trab setzen konnte, den einen Arm um einen Baum, – da mußte das Pferd stehen. Die Ladung war teilweise abgeworfen, die eine Deichsel zerbrochen und das Pferd zitterte am ganzen Körper. Er trat zu ihm, faßte es am Zaum und redete ihm freundlich zu, dann wendete er es, um vor dem Abhang sicher zu sein, falls es etwa ein zweitesmal hinunter wollte; still stehen konnte es nicht, so scheu wie es war, und er mußte ihm halb im Laufschritt folgen bis auf den Weg hinauf. Dabei mußte er an seinen eigenen Sachen vorbei, die auf der Erde verstreut lagen, die Töpfe entzwei und der Inhalt zum Teil verdorben. Bisher war er nur allein von der Gefahr erfüllt gewesen, jetzt fing er an, sich die Folgen des Vorfalles klarzumachen und wurde wütend; ihm fiel ein, daß nun aus der Stadtreise nichts werden könne, und je mehr Betrachtungen er anstellte, um so wütender wurde er. Auf dem Wege angekommen, scheute das Pferd zum zweitenmal und versuchte einen Sprung zu machen, um sich loszureißen, – und da brach sein Zorn los. während er mit der linken Hand den Zaum hielt, versetzte er ihm mit der rechten, in der er die große Reisepeitsche hielt, Schlag auf Schlag, Schlag auf Schlag über die Lenden, so daß das Tier wütend wurde und ihm die Vorderhufe auf die Brust setzte. Aber er hielt es sich vom Leibe und schlug es noch ärger als zuvor aus aller Kraft mit dem dicken Ende der Peitsche. »Ich werde dir's schon eintränken, du verfluchter Gaul,« und er schlug zu. Das Pferd wieherte und heulte, doch er schlug weiter. »Hei, jetzt sollst du 'mal 'ne Faust fühlen, die sich gewaschen hat,« und er schlug. Das Pferd schnob, daß der Schaum ihm über die Hand troff, doch er schlug weiter. »Das soll das erste- und das letztemal sein, du niederträchtiger Krüppel; da! und noch eins, und noch eins, da! Hei, du Lumpengaul, ich werd' dich schon Mannszucht lehren,« und er schlug. Inzwischen hatten sie sich gedreht, das Pferd leistete keinen Widerstand mehr, es zitterte und bebte nur bei jedem Schlag, und drehte sich wiehernd, wenn die Peitsche in der Luft sich ihm näherte. Da fing Torbjörn an, sich ein bißchen zu schämen, er hielt inne. In demselben Augenblicke sah er am Rande des Grabens einen Menschen sitzen, der sich auf die Ellbogen stützte und ihn auslachte. Er wußte nicht, wie es zuging, aber es wurde ihm fast schwarz vor den Augen, und das Pferd an der Hand führend, drang er mit hocherhobener Peitsche auf ihn ein. »Ich werde dir schon was zu lachen geben.« Der Schlag fiel, aber traf nur halb, da der Mann sich mit lautem Geheul in den Graben hinabwälzte. Hier blieb er auf allen Vieren liegen, drehte aber den Kopf, schielte zu Torbjörn hinauf und zerrte den Mund schief zum Lachen; aber das Lachen selbst hörte man nicht. Torbjörn stutzte; denn das da hatte er schon 'mal gesehen. Richtig, es war Aslak.
Torbjörn wußte nicht warum; aber es lief ihm kalt den Rücken herunter.
»Du bist es also beidemal gewesen, der das Pferd scheu gemacht hat?«
»Ich? ich lag ja nur und schlief ganz ruhig,« antwortete Aslak und hob sich ein bißchen empor, »du hast mich ja erst geweckt, als du dein Pferd prügeltest wie ein Verrückter.«
»Du hast das Pferd toll gemacht, alle Tiere fürchten sich vor dir,« und er streichelte das Pferd, dem der Angstschweiß in großen Tropfen herunterrieselte.
»Na, dann wird sich's wohl jetzt endlich mehr vor dir fürchten als vor mir; denn so habe ich noch nie ein Pferd behandelt,« sagte Aslak, – er lag jetzt auf den Knien im Graben.
»Halt dein Maulwerk im Zaum,« sagte Torbjärn und drohte ihm mit der Peitsche.
Da erhob Aslak sich und krabbelte aus dem Graben herauf. »Was sagst du? mein Maulwerk? Hab' kein Maulwerk. – – – Wo willst du denn eigentlich hin, daß du's so eilig hast?« sagte er mit freundlicher Stimme, indem er sich näherte, aber er schwankte dabei nach beiden Seiten, denn er war betrunken.
»Das Weiterfahren wird mir wohl für heute geschenkt sein,« sagte Torbjörn und spannte das Pferd aus.
»Ach, das ist aber zu schade,« sagte Aslak und näherte sich ihm noch mehr, indem er seine Mütze abnahm. »Gott steh mir bei,« sagte er, »was für ein großer, strammer Kerl du geworden bist, seit ich dich zuletzt gesehen hab',« er hielt beide Fäuste in der Tasche, hielt sich so gut er konnte auf den Beinen und betrachtete Torbjörn, der das Pferd nicht von den Trümmern des Wagens losbekommen konnte. Torbjörn brauchte Hilfe, aber er konnte es nicht über sich gewinnen, den anderen darum zu bitten; denn Aslak sah wüst aus; seine Kleider waren beschmiert mit dem Kot des Straßengrabens, die Haare hingen zottig unter einem alten, blanken Hut hervor, und das Gesicht, obwohl teilweise noch das wohlbekannte, war jetzt in einemfort zum Lachen verzerrt; die Augen noch mehr zusammengekniffen, so daß er, wenn er jemanden ansah, den Kopf hintenüber und den Mund halb offen halten mußte. Alle seine Züge waren matt geworden, und die ganze Form war erstarrt; denn Aslak trank. Torbjörn hatte ihn schon oft genug gesehen, aber Aslak tat, als ob er das nicht wüßte. Als Hausierer war er rings in der Bygde umhergewandert und hielt sich am liebsten da, wo es lustig herging, denn er kannte viele Trinklieder, erzählte gut und bekam Branntwein zum Lohn. So war er auch auf der Hochzeit in Nordhaug gewesen, hatte es aber, wie Torbjörn später erfuhr, für klüger befunden, sich vorläufig ein Weilchen unsichtbar zu machen, da er nach alter Gewohnheit die Burschen gegeneinander aufgehetzt hatte und das Ungewitter sich auf ihn selbst zu entladen drohte. »Warum bindest du den Gaul nicht lieber an den Wagen, anstatt ihn auszuspannen?« sagte er, »nach Nordhaug mußt du ja sowieso hinauf, um deinen Kram wieder in Ordnung zu bringen.« Daran hatte Torbjörn allerdings auch schon gedacht, hatte aber keine rechte Lust dazu. »Dort ist große Hochzeit,« sagte er. »Drum auch viele zum helfen,« antwortete Aslak. Torbjörn schwankte noch ein wenig; aber ohne Hilfe konnte er weder vorwärts noch zurück, und da war es wohl das beste, nach Nordhaug hinaufzugehen. Er band das Pferd solange fest und ging. Aslak ihm nach, Torbjörn maß ihn mit den Augen. »Ich komme in guter Gesellschaft nach dem Hochzeitshaus zurück,« sagte Aslak und lachte. Torbjörn antwortete nichts und ging rasch zu.
Aslak zog singend hinterher:
»Es zogen zwei Bauern zum Hochzeitshaus usw.«
Eine alte wohlbekannte Weise.
»Du gehst ja so rasch,« sagte er nach einer Weile, »du wirst schon früh genug hinkommen,« fügte er hinzu. Torbjörn antwortete ihm nicht. Nun schlugen ihnen Klänge von Tanz und Musik ans Ohr, und an den offenen Fenstern des großen zweistöckigen Gebäudes tauchten Gesichter auf, die ihnen entgegensahen. Im Hof lief man in Gruppen zusammen. Er sah, daß man untereinander beriet, wer das wohl sein möge; sah auch, daß man ihn bald erkannte, und daß man nach und nach des Pferdes und der über das Feld verstreuten Scherben gewahr wurde. Der Tanz hörte auf, und gerade, als die beiden heraufkamen, wälzte sich der ganze Schwarm der Gäste auf den Hofplatz heraus.
»Hier kommen Hochzeitsgäste wider Willen,« rief Aslak, als er sich endlich hinter Torbjörn dem Kreise näherte. Man begrüßte Torbjörn und umringte ihn.
»Gott segne das Gelage, gutes Bier auf dem Tisch, hübsche Mädels auf dem Tanzboden und ein guter Spielmann auf dem Schemel,« sagte Aslak und schlüpfte schnell mitten unter die Gäste.
Einige lachten, andere blieben ernst; einer sagte: »Na, der Ränzel-Aslak ist allzeit fidel.«
Torbjörn traf gleich Bekannte, denen er sein Erlebnis erzählen mußte, man ließ ihn nicht selbst nach dem Pferd und den Sachen zurückgehen, andere wurden hingeschickt. Der Bräutigam, ein junger Mann und ehemaliger Schulkamerad von ihm, lud ihn ein, das Hochzeitsbier zu kosten, und nun zog alles wieder ins Haus hinein. Einige wollten weitertanzen, besonders die Weiber, andere wollten lieber eine kleine Zechpause und eine Geschichte von Aslak, da er ja nun doch 'mal zurückgekommen sei.
»Aber ich rate dir, dich ein bißchen mehr zusammenzunehmen als vorhin,« fügte einer hinzu.
Torbjörn fragte, wo die übrigen Gäste seien.
»Ach,« antwortete man ihm, »vorhin ging's hier etwas unruhig zu, nun haben sich einige hingelegt, andere sitzen draußen in der Scheune und spielen Karten, andere sitzen beim Knut Nordhaug.«
Er fragte nicht weiter, wo Knut Nordhaug säße.
Der Vater des Bräutigams, ein alter Mann, der dasaß und aus einer Tonpfeife rauchte und Bier dazu trank, sagte: »Komm her, Aslak, gib uns 'nen Schwank zum besten; so für einmal kann's ja ganz nett sein.«
»Bitten die anderen mich auch?« fragte Aslak, der sich auf einen Schemel gesetzt hatte, ein Stück von dem Tisch, um den die anderen saßen.
»Ja, freilich,« sagte der Bräutigam und reichte ihm ein Glas Branntwein. »So bitte ich dich.«
»Ei, ei?« sagte Aslak, »bitten mich viele in der Weise?«
»Kann sein,« sagte ein junges Weib auf einer der Seitenbänke und hielt eine Kanne mit Wein hoch.
Es war die Braut, ein junges, zwanzigjähriges Weib, hellblond, aber mager, mit großen Augen und einem herben Zug um den Mund.
»Ich mag deine Geschichten wohl leiden,« fügte sie hinzu. Der Bräutigam sah sie an und sein Vater ihn.
»Ja, den Leuten von Nordhaug haben meine Geschichten immer gefallen,« sagte Aslak. »Ihnen zur Ehre,« rief er und leerte ein Glas, das ihm von einem der Brautjunker gereicht wurde.
»Na, denn man los,« riefen mehrere.
»Von Sigrid, der Landstreicherin,« rief einer.
»Nein, die nicht, die ist garstig,« sagten andere, hauptsächlich Frauen.
»Von der Schlacht bei Lier,« bat Sven Tambur.
»Nein, lieber was Lustiges,« sagte ein schlanker Bursch, der in Hemdärmeln an die Wand gelehnt stand, während seine Rechte, die schlaff herunterhing, reichlich oft ein paar jungen Dirnen, die dasaßen, in die Haare fuhr, sie schalten ihn, aber rückten doch nicht fort.
»I was, ich erzähle doch, was ich will,« sagte Aslak.
»Zum Teufel auch,« murmelte ein alter Mann, der auf dem Bett lag und rauchte; sein eines Bein hing herunter, während er mit dem anderen fortwährend auf eine feine Jacke trat, die über dem Bettpfosten hing.
»Laß meine Jacke in Ruh,« rief der Bursch an der Wand.
»Laß du meine Töchter in Ruh,« antwortete der auf dem Bett. Jetzt rückten die Mädchen weg.
»Ja, ich erzähle, was ich will,« rief Aslak; »Branntwein im Blut gibt frischen Mut,« sagte er und klatschte mit den flachen Händen zusammen.
»Du erzählst, was wir wollen,« wiederholte der auf dem Bett, »denn der Branntwein ist unser.«
»Was soll das heißen?« sagte Aslak mit weit aufgerissenen Augen.
»Das Schwein, das wir mästen, schlachten wir auch,« sagte der Mann, mit dem Beine baumelnd.
Aslak kniff die Augen zusammen, blieb aber in derselben Stellung sitzen; dann ließ er den Kopf auf die Brust sinken und sagte nichts mehr.
Mehrere redeten zu ihm, aber er rührte sich nicht.
»Der Branntwein hat ihn,« sagte der auf dem Bett.
Da sah er auf und verzerrte wieder das Gesicht zum gewohnten Lachen, »wartet nur, dann sollt ihr ein lustig Schwänkchen hören,« sagte er, »ei, ei, du liebe Zeit, so lustig,« sagte er nach einer Weile und lachte mit weitoffenem Mund, doch ohne daß man ihn lachen hörte.
»Er scheint heute seinen guten Tag zu haben,« sagte der Vater des Bräutigams.
»Wir können's ja bezahlen,« sagte Aslak, – »noch ein Schnäpschen auf die Reise, ja?« sagte er, und streckte die Hand aus.
Er bekam es, trank es langsam aus, legte, den letzten Tropfen im Munde schlürfend, den Kopf zurück, schluckte ihn dann herunter und sagte zu dem auf dem Bett:
»Ja, ich bin nun mal euer Schwein,« und wieder lachte er wie vorhin. Er faltete beide Hände um die Kniee und bewegte so die Beine auf und nieder, wobei er sich selbst hin und her wiegte, – und dann fing er an:
»Also, es war mal ein Mädel, die wohnte in einem Tal. Was für ein Tal es war, kann ja einerlei sein; wie sie hieß, auch. Aber das Mädel war hübsch, das fand der Bauer von – pst – auch, und bei dem diente sie. Guten Lohn kriegte sie, ja, sie kriegte sogar mehr, als sie haben wollte, nämlich ein Kind. Die Leute sagten, es sei von ihm; aber er sagte das nicht; denn er war verheiratet, und sie sagte es auch nicht, denn sie war stolz, das arme Wurm. Drum halfen sie sich bei der Taufe mit 'ner Lüge, und der Bengel, den sie geboren hatte, war ein armer Wicht, es war also einerlei, ob er mit 'ner Lüge getauft wurde oder nicht. Sie aber kriegte eine Stelle auf dem Gut, und das mochte die Frau nicht, wie zu erwarten war. Kam das Mädel mal hinauf, spuckte sie nach ihr; wenn aber gar das kleine Bübchen kam, um mit den Jungens auf dem Hof zu spielen, befahl sie ihnen, den Hurenbalg fortzujagen.
Sie quälte den Mann bei Tag und bei Nacht, doch die Landstreicherdirne vom Hof zu jagen. Der Mann blieb fest, solange er überhaupt noch Mann war. Aber dann kam er an den Suff, und da kriegte das Weib die Zügel in die Hand, von da an erging's der armen Betteldirne schlecht; es wurde schlimmer mit jedem Jahr, und zuletzt war sie mit ihrem kleinen Buben dem Hungertode nahe, und der wollte nicht von der Mutter weg.
So ging's ein Jahr, und noch eins, und acht solcher Jahre; und noch immer war die Dirne nicht vom Hofe weg, aber nun sollte sie weg.– – Und sie ging auch!– – Aber ehe sie ging, stand der Hof in hellichten Flammen, und der Mann brannte mit auf, denn er war betrunken, – das Weib rettete sich mit ihren Kindern, und sie sagte, die Betteldirne vom Hof hätte es getan. Kann sein, daß sie es getan hatte.– – Kann auch sein, daß es anders war.– – War ein seltsamer Bursch, ihr Junge. Acht lange Jahre hatte er seine Mutter sich mühen und placken sehen, und er wußte wohl, wer Schuld daran war; denn die Mutter hatte es ihm oft erzählt, wenn er fragte, warum sie immer weine. Geweint hatte sie auch an dem Tage, ehe sie fort sollte, und darum war er in der Nacht verschwunden. – – Aber sie kriegte lebenslängliches Zuchthaus, denn sie sagte selbst zum Vogt, sie habe das schöne Feuer oben auf dem Hof angesteckt. – Der Junge zog in die Bygde hinaus, und alle Leute halfen ihm, weil er solch 'ne böse Mutter hatte. – Dann zog er aus der Bygde und weit weg nach einer anderen, und da waren die Leute nicht so hilfsbereit, denn da wußte niemand, was für 'ne böse Mutter er hatte. Und ich glaube kaum, daß er selbst es erzählte. – Als ich das letztemal von ihm hörte, war er betrunken, und man sagt, er sei in letzter Zeit an den Suff gekommen; ob's wahr ist, steht dahin; aber eins ist wahr, ich weiß nicht, was er Besseres tun sollte. Ihr glaubt gar nicht, was für ein boshafter, übler Geselle das ist; er kann keinen Menschen ausstehen, noch weniger mag er, daß sie gut gegeneinander sind, und am allerwenigsten, daß sie gut gegen ihn selbst sind. Am liebsten möchte er, daß alle anderen auch so wären wie er, – aber das sagt er nur, wenn er betrunken ist, und dann heult er auch, heult wie'n Schloßhund, über nichts und wieder nichts; worüber sollte er denn auch heulen? Er hat ja keinem 'nen roten Heller gestohlen und hat lange nicht so viel Böses getan, wie manch ein anderer, er hat also durchaus nichts, worüber er zu heulen braucht. Und trotzdem heult er, heult wie'n Schloßhund. Und solltet ihr ihn mal heulen sehen, so glaubt nicht dran, denn er heult nur, wenn er besoffen ist, und dann ist er nicht zurechnungsfähig.«
Bei diesen Worten fiel Aslak unter lautem Gewinsel rücklings vom Schemel, doch es gab sich bald, denn er schlief ein.
»Nun ist das Schwein voll,« sagte der auf dem Bett, »dann liegt er immer da und flennt sich in Schlaf.«
»Wie abscheulich,« sagten die Frauenzimmer und standen auf, um wegzukommen.
»Ich habe ihn nie andere Geschichten erzählen hören, wenn er selbst wählen durfte,« sagte nun ein alter Mann, indem er von seinem Stuhl an der Tür aufstand. »Weiß der Himmel, warum die Leute so was hören mögen,« fügte er hinzu und guckte die Braut an.
Einige gingen hinaus, andere versuchten den Spielmann wieder hereinzuholen, damit der Tanz beginnen könne; aber der Spielmann war in einer Ecke des Hausflurs eingeschlafen, und mehrere baten für ihn, man möchte ihn doch ein bißchen schlafen lassen; seit der Lars, sein Kollege, gestern so verhauen worden war, hatte der arme Ole Tag und Nacht durchspielen müssen.
Man hatte inzwischen Torbjörns Pferd und Sachen auf den Hof geschafft; ein anderer Wagen wurde bespannt, da er trotz aller Bitten weiter wollte. Besonders der Bräutigam suchte ihn zurückzuhalten.
»Für mich ist das Vergnügen hier auch nicht so groß, wie's vielleicht scheint,« sagte er, und das gab Torbjörn zu denken; aber er nahm sich doch vor, noch vor Abend weiterzufahren. Als sie sahen, daß er nicht zu bewegen war, zerstreuten sie sich wieder über den Hof; es waren viele Gäste da, aber es war recht still, und das Ganze sah wenig nach Hochzeit aus. Torbjörn brauchte einen neuen Geschirrpflock und ging, einen zu suchen; im Hof fand er nichts passendes, und er suchte daher weiter, kam an einen Holzschuppen und ging hinein, aber langsam und still, da die Worte des Bräutigams ihn noch verfolgten. Hier fand er, was er suchte, und ohne recht darüber nachzudenken, setzte er sich hin und lehnte sich, Messer und Pflock in der Hand, an die Wand. Da hörte er dicht neben sich etwas stöhnen, es kam von jenseits der dünnen Bretterwand aus der Wagenremise, und Torbjörn lauschte.
»Bist du's – auch wirklich?« hörte er eine Männerstimme abgebrochen und mühsam herausstoßen. Nun hörte er jemanden weinen, aber das war kein Mann.
»Warum bist du auch hierher gekommen?« wurde gefragt, und das mußte wohl dieselbe sein, die weinte; denn der Klang der Stimme war tränenfeucht.
»Hm, – auf wessen Hochzeit sollte ich denn spielen, wenn nicht auf deiner?« sagte der erste.
Es ist gewiß Lars, der Spielmann, der da liegt, dachte Torbjörn. Lars war ein schöner, stattlicher Bursch, dessen alte Mutter zur Miete wohnte in einer Feldhüterhütte, die zum Hof gehörte. Aber die andere, das mußte die Braut sein.
»Warum hast du nur nie etwas gesagt,« sagte sie gedämpft, aber langsam, wie in tiefer Erregung.
»Ich dachte, das wäre zwischen uns zweien nicht nötig,« war die kurze Antwort.
Eine Weile war alles still, dann sagte sie wieder: »Du wußtest doch, daß der andere um mich freite.«
»Ich hielt dich für stärker.«
Nun hörte er nichts als Weinen, endlich brach's wieder aus ihr heraus: »Warum hast du nichts gesagt?«
»Was hätte es dem Sohn der alten Birthe wohl nützen können, zur Tochter von Nordhaug zu sprechen,« kam die Antwort nach einer Pause, in der er schwer geatmet und oft gestöhnt hatte. Die Antwort dauerte lange. – »Wir haben uns doch jahrelang angesehen,« hieß es.
»Du warst immer so stolz; man wagte sich nie recht an dich heran.«
»Und doch wünschte ich nichts in der Welt sehnlicher. – Tagaus, tagein habe ich gewartet; – wo wir uns auch trafen – ich fand beinahe, ich drängte mich dir auf. Zuletzt dachte ich, du verschmähtest mich.«
Nun wurde es wieder ganz still. Torbjörn hörte keine Antwort, kein Weinen; nicht einmal das Atmen des Kranken.
Torbjörn dachte an den Bräutigam, den er als einen braven Mann zu kennen glaubte, und es wurde ihm weh ums Herz um seinetwillen. Da sagte auch sie: »Ich fürchte, er wird wenig Freude an mir haben, der andere, der – –!«
»Er ist ein braver Kerl,« sagte der Kranke und fing wieder an zu stöhnen, da ihm die Brust wohl schmerzen mochte.
Es war, als täte auch ihr das weh; denn sie sagte: »S'ist freilich hart für dich – – aber – wir wären wohl nie dazu gekommen, uns auszusprechen, ohne daß dies dazwischengekommen wäre. Erst als du den Knut schlugst, habe ich dich verstanden.«
»Ich konnte es nicht länger ertragen,« sagte er, – und dann nach einer Weile: »Knut ist ein schlechter Kerl.«
»Ja, gut ist er nicht,« sagte die Schwester.
Sie schwiegen eine Weile, dann sagte er: »Ich möchte wohl wissen, ob ich je wieder gesund werde. Na ja, 's kann mir auch einerlei sein.«
»Aber mir geht's doch noch schlimmer,« sagte sie; danach wieder heftiges Schluchzen.
»Gehst du schon?« fragte er dann.
»Ja,« antwortete sie, und dann: »Ach Gott, ach Gott, was soll das für ein Leben werden.«
»Weine nicht so,« sagte er; »der liebe Gott wird schon bald ein Ende mit mir machen, und dann, paß nur auf, dann wird es mit dir auch besser.«
»Mein Gott, mein Gott, warum hast du nicht gesprochen,« rief sie mit erstickter Stimme, und als ob sie ihre Hände ringe.
Torbjörn glaubte, sie sei fortgegangen oder sei nicht mehr imstande, weiterzusprechen, denn er hörte eine Zeitlang nichts und ging. Den ersten besten, dem er auf dem Hof begegnete, fragte er: »Was hat es denn zwischen Lars Spielmann und Anut Nordhaug gegeben?«
»He? zwischen denen? Tja,« – – sagte Peter Hausmann und zog sein Gesicht zusammen, als wollte er in den Falten desselben etwas verstecken, »du kannst wohl fragen, denn viel war's nicht grad; der Knut fragte bloß den Lars, ob seine Fiedel auf dieser Hochzeit auch recht guten Klang gäbe.«
In diesem Augenblick ging die Braut an ihnen vorbei; sie ging mit abgewandtem Gesicht, als sie aber Lars' Namen hörte, wandte sie sich um und zeigte ein paar große, rotgeweinte Augen, die unsicher blickten; aber sonst war ihr Gesicht ganz kalt, so kalt, daß Torbjörn es gar nicht mit ihren Worten in Einklang bringen konnte. Da fing er an, mehr zu begreifen.
Weiter vorn im Hofe stand sein Wagen und wartete; er schlug den Pflock ein und sah sich nach dem Bräutigam um, um ihm Adieu zu sagen. Er hatte aber wenig Lust, ihn aufzusuchen, wollte ihn am liebsten nicht mehr sehen und saß daher gleich auf. Da begann es mit einem Male von der linken Seite des Hofes her, da wo die Scheune lag, zu lärmen und zu rufen. Eine ganze Bande kam aus der Scheune herausgestürzt, und ein großer Bursch, der der Vorderste war, rief: »Na, wo steckt er denn? Er hat sich wohl verkrochen? – Wo ist er?«
»Da, da,« riefen mehrere.
»Laßt ihn nicht dahin,« sagten andere, »daraus entsteht nur Unglück.«
»Ist das Knut?« fragte Torbjörn einen kleinen Jungen, der neben seinem Wagen stand.
»Ja, er ist betrunken, und dann will er immer Schlägereien anstiften.«
Torbjörn saß schon auf dem Wagen und trieb sein Pferd an.
»Halt, hiergeblieben, Kamerad,« hörte er hinter sich, er hielt das Pferd an, aber da dieses trotzdem weiterging, ließ er es gehen.
»Oho, bist du bange, Torbjörn Granliden? schrie es dicht hinter ihm. Jetzt zog er die Zügel fester an, aber sah sich nicht um.
»Steig ab und leiste uns Gesellschaft,« rief einer, Torbjörn wandte den Kopf.
»Danke, ich muß nach Haus,« sagte er.
Jetzt versuchte man, ihn zu überreden, und inzwischen war die ganze Bande an den Wagen gekommen. Knut stellte sich vor das Pferd, streichelte es, und nahm es beim Kopf, um es anzusehen. Knut war recht hoch gewachsen und hatte blondes, aber struppiges Haar und eine Stumpfnase; der Mund war groß und schwerfällig. Die Augen milchblau, aber frech. Er sah seiner Schwester wenig ähnlich, nur den Zug um den Mund hatten sie gemeinsam, und er hatte dieselbe gerade Stirn, nur niedriger, wie überhaupt alle ihre feinen Züge bei ihm grob waren.
»Was willst du für den Gaul haben?« sagte Knut.
»Ich will ihn ja gar nicht verkaufen,« sagte Torbjörn.
»Glaubst vielleicht, ich kann ihn nicht bezahlen, he?« sagte Knut.
»Was du kannst oder nicht, weiß ich nicht.«
»So? du zweifelst? Hüte dich, sag' ich dir,« sagte Knut.
Der Bursch, der vorhin in der Stube an der Wand gestanden und den Mädels die Haare geziept hatte, sagte nun zu seinem Nachbar: »Der Knut traut sich scheint's nicht so recht.«
Das hörte Knut. »Ich traue mich nicht, wer sagt das? Ich traue mich nicht?« schrie er. Immer mehr Leute gesellten sich hinzu.
»Aus dem Weg! seht ihr denn das Pferd nicht?« sagte Torbjörn und schwang die Peitsche, er wollte fort.
»Was, du sagst aus dem Weg zu mir?« fragte Knut.
»Ich spreche mit dem Pferd, ich muß weiter,« sagte Torbjörn, ohne jedoch zur Seite zu lenken.
»Wie? du fährst über mich?« sagte Knut.
»So geh' doch fort,« und das Pferd hob den Kopf, sonst hätte es Knut direkt vor die Brust gestoßen. Da faßte Knut es am Gebiß, und das Pferd, das diesen Griff noch von vorhin kannte, fing an zu zittern. Aber das rührte Torbjörn, da er bereute, was er dem Pferd angetan hatte. Jetzt wandte sich sein Zorn auf Knut; die Peitsche in der Hand, sprang er auf und knallte eins über Knuts Kopf.
»Du schlägst?« rief Knut und rückte näher; Torbjörn sprang vom Wagen.
»Du bist ein schlechter Kerl,« sagte er leichenblaß und übergab die Zügel jenem Burschen aus der Stube, der sich anbot, sie zu halten. Aber der alte Mann, der an der Tür gesessen hatte und aufgestanden war, als Aslak seine Geschichte erzählt hatte, ging nun auf Torbjörn zu und zupfte ihm am Ärmel.
»Sämund Granliden ist ein viel zu braver Mann, als daß sein Sohn sich mit einem solchen Raufbold prügeln sollte,« sagte er. Das besänftigte Torbjörn, aber Knut rief:
»Was? ich ein Raufbold? Der da ist ebensogut einer wie ich, und mein Vater ist ebensogut wie deiner. – Nur näher, – schlimm genug, daß die Leute in der Bygd nicht wissen, wer von uns beiden der mächtigste ist,« fügte er hinzu und nahm sein Halstuch ab.
»Das werden wir bald genug probieren,« sagte Torbjörn. Da sagte der Mann, der vorhin auf dem Bett gelegen hatte:
»Die sind gerade wie zwei Kater; sie müssen sich erst Mut einschwatzen, alle beide.«
Torbjörn hörte es, antwortete aber nichts darauf. Der eine und der andere aus der Bande lachte, andere sagten, es sei doch zu abscheulich mit den vielen Prügeleien auf dieser Hochzeit, und daß man über einen fremden Mann herfiele, der ganz friedlich seines Weges ziehen wollte. Torbjörn sah sich nach seinem Pferd um, denn er hatte noch immer die Absicht, zu fahren. Aber der Junge von vorhin hatte es schon ein gutes Stück weit weggeführt; er selbst stand jetzt dicht hinter ihm.
»Wonach siehst du dich denn um?« sagte Knut, »die Synnöve ist doch weit weg.«
»Was schert dich die?«
»Hast recht, solche scheinheilige Weibsbilder scheren mich gar nichts,« sagte Knut; »aber vielleicht ist sie's, die dich zum Feigling gemacht hat.«
Das war zu viel für Torbjörn; man sah, wie er sich umschaute, um den Platz zu messen, wieder legten einige Ältere sich ins Mittel und meinten, Knut hätte auf dieser Hochzeit Unheil genug angerichtet.
»Mir soll er schon nichts tun,« sagte Torbjörn, und als jene das hörten, verstummten sie.
Andere sagten: »Laß sie's nur ausfechten miteinander, dann vertragen sie sich nachher wieder; die zwei haben sich lang genug schief angesehen.«
»Ja,« sagte einer, »sie wollen alle beide der erste in der Bygde sein; nun werden wir's ja sehen.«
»Ihr habt wohl nicht so was ähnliches wie den Torbjörn Granliden gesehen,« sagte Knut, »mir war, als wäre er eben hier auf dem Hof gewesen.«
»Ja, hier ist er,« sagte Torbjörn, und in demselben Augenblick bekam Knut einen solchen Schlag übers Ohr, daß er mitten zwischen ein Paar in der Nähe stehende Männer hineintaumelte. Jetzt wurde es ganz still. Knut raffte sich auf und stürzte, ohne ein Wort zu sagen, auf den anderen los. Aber Torbjörn parierte. Es wurde ein langer Faustkampf, da jeder dem anderen zu Leibe wollte, aber beide waren gewandte Kämpfer und hielten einander weg. Torbjörns Schläge fielen ziemlich dicht und, wie einige sagten, auch ziemlich schwer.
»Diesmal hat der Knut seinen Mann gefunden,« sagte der Bursch, der das Pferd genommen hatte; »macht Platz.«
Die Weiber flüchteten, nur eine stand noch auf der Treppe, um besser sehen zu können, und das war die Braut. Torbjörn sah sie flüchtig und hielt einen Augenblick inne; da sah er ein Messer in Knuts Hand, gedachte ihrer Worte, daß Knut kein guter Kerl sei, und mit einem wohlgezielten Schlage traf er Knuts Arm so kräftig über dem Handgelenk, daß das Messer hinfiel und der Arm schlaff herabbaumelte.
»Au, der hat getroffen,« sagte Knut.
»Meinst du?« sagte der andere und drang auf ihn ein. Knut konnte nur schwer mit dem einen Arm kämpfen, er wurde emporgehoben und getragen, aber es währte lange, ehe er zu Boden geworfen wurde. Mehr als einmal wurde er so gegen die Erde geschleudert, daß jeder andere sich wohl ergeben hätte; aber er hatte einen guten Rücken. Torbjörn schleppte ihn weiter, die Leute wichen zurück, er ihnen nach, und so ging's rings um den ganzen Hof herum, bis sie an die Treppe kamen, dort schwang er ihn noch einmal in die Luft empor und zwang ihn nieder, so daß die Knie nachgaben und Knut auf die Steinfliesen fiel, so daß es in ihm brummte. Er blieb unbeweglich liegen, stöhnte schwer und schloß die Augen. Torbjörn richtete sich auf und blickte sich um; seine Augen trafen die Braut, die regungslos dastand und zusah.
»Legt ihm etwas unter den Kopf,« sagte sie, drehte sich um und ging hinein.
Zwei alte Weiber gingen vorbei; die eine sagte zur anderen: »Großer Gott, da liegt schon wieder einer, wer mag denn das nun schon wieder sein?«
Ein Mann antwortete: »Der Knut Nordhaug ist's.« Da sagte die andere: »Na, da wird's vielleicht von jetzt an mit den Prügeleien seltener werden; die sollten wahrhaftig ihre Kräfte lieber zu was anderem brauchen.«
»Da sagst du ein wahres Wort, Randi,« sagte die andere, »der liebe Herrgott helfe ihnen, daß sie aneinander vorbei und etwas höher hinaufschauen lernen.«
Das machte einen seltsamen Eindruck auf Torbjörn; er hatte noch immer kein Wort gesagt, sondern stand nur da und sah zu, wie die Leute um Knut beschäftigt waren; – mehrere redeten ihn an, aber er antwortete nicht, er wandte sich ab und fiel in Gedanken. Synnöve trat ihm vor die Seele, und er fing an, sich tüchtig zu schämen. Er überlegte, welche Erklärung er ihr geben sollte, und er sah ein, daß es doch wohl nicht so leicht sei, ein anderer zu werden, wie er geglaubt hatte. In demselben Augenblick hörte er hinter sich: »Nimm dich in acht, Torbjörn.« Aber bevor er sich noch umwenden konnte, wurde er von hinten bei den Schultern gepackt und zur Erde geworfen und fühlte nichts mehr als einen stechenden Schmerz, dessen Ort er nicht recht erkannte. Er hörte Stimmen um sich, fühlte, daß gefahren wurde, glaubte ein paarmal, er kutschiere selbst, aber sicher wußte er es nicht. Das dauerte sehr lange, es wurde kalt, dann wieder warm, und dann wurde ihm auf einmal so leicht, so leicht, als schwebe er, – und auf einmal wurde es ihm klar: die Baumwipfel waren es, die ihn trugen, immer höher und höher, von Wipfel zu Wipfel, bis an die Halde hinauf, und noch höher – auf die Alm, und immer noch höher – bis auf den höchsten Berg hinauf; dort oben beugte Synnöve sich über ihn und sagte weinend, er hätte doch reden sollen. Sie weinte so bitterlich und meinte, er habe doch selbst gesehen, wie der Knut ihm immer und immer den Weg vertreten habe, und da hätte sie den Knut schließlich nehmen müssen. Und dann streichelte sie ihm mit leiser Hand die eine Seite, so daß es dort warm wurde, und weinte so sehr, daß sein Hemd an der Stelle naß wurde. Aber oben auf einem großen spitzen Stein hockte Aslak und steckte die Baumwipfel ringsum in Brand, so daß es knisterte und knackte und die Zweige um ihn stoben, und dabei lachte er mit weit offenem Maul und sagte: »Ich bin's nicht, meine Mutter tut's,« und Vater Sämund stand an der einen Seite und warf Kornsäcke in die Luft, so hoch, daß die Wolken sie zu sich hinaufzogen und das Korn wie einen Nebel ausbreiteten, – und das kam ihm so wunderlich vor, daß das Korn sich so über den ganzen Himmel hin verstreuen konnte. Und als er Sämund selbst ansah, da wurde dieser so klein, so winzig klein, daß er schließlich kaum mehr aus der Erde guckte, – und doch warf er noch immer Säcke in die Luft, immer höher und höher und sagte: »Mach mir das mal nach, mein Junge.« – – Fern, fern in den Wolken stand die Kirche, und oben auf dem Turm stand die blonde Frau von Solbakken und winkte mit einem rotgelben Taschentuch in der einen und einem Gesangbuch in der anderen Hand, und sagte: »Hier herein kommst du nicht eher, als bis du dir das Fluchen und das Prügeln abgewöhnt hast,« – und als er genauer zusah, war es gar nicht die Kirche, sondern Solbakken, und die Sonne schien so auf die hundert Fensterscheiben, daß ihm der Glanz die Augen blendete und er sie fest schließen mußte.
»Behutsam, Sämund, behutsam,« hörte er, und erwachte wie aus einem Schlummer, indem er sich getragen fühlte, und als er sich umsah, war er plötzlich in der Stube von Granliden; auf dem Herde brannte ein helles Feuer, die Mutter stand neben ihm und weinte. Der Vater hatte grade die Arme unter ihn gelegt, – er wollte ihn in die Kammer daneben tragen. Da ließ der Vater ihn sanft wieder los; »er lebt noch,« sagte er mit bebender Stimme und wandte sich zur Mutter.
»Barmherziger Gott, hilf mir,« rief sie, »er macht die Augen auf, Torbjörn, Torbjörn, mein Herzensjunge, was haben sie dir getan!« und sie beugte sich zu ihm nieder und streichelte ihm die Backen, während ihre Tränen warm auf sein Gesicht rannen. Sämund fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen, und dann schob er die Mutter sanft zur Seite:
»Ich will ihn nur lieber gleich hinüberbringen,« sagte er, und schob die eine Hand behutsam unter die Schultern, die andere unter's Kreuz. »Halt du ihm den Kopf, Mutter, wenn er nicht die Kraft haben sollte, ihn selber zu tragen.«
Sie ging voran und hielt ihm den Kopf, Sämund versuchte, mit ihr Schritt zu halten, und bald lag Torbjörn auf dem Bett in der Kammer. Nachdem sie ihn nun gut zugedeckt und vorsichtig zurechtgelegt hatten, fragte Sämund, ob der Knecht schon fort sei.
»Da ist er noch,« sagte die Mutter und zeigte hinaus. Sämund öffnete das Fenster und rief: »Wenn du in einer Stunde hinkommst, kriegst du deinen Jahreslohn doppelt, – gleichviel, ob du das Pferd kaputt fährst!«
Er trat wieder ans Bett, Torbjörn sah ihn mit großen, klaren Augen an, der Vater mußte immerzu hineinsehen, und dabei wurden ihm die eigenen feucht. »Ich hab's ja gewußt, daß es so enden mußte,« sagte er leise, wandte sich ab und ging hinaus. Die Mutter saß auf einem Schemel zu Füßen ihres Jungen und weinte, aber sie sagte nichts. Torbjörn wollte sprechen, doch er fühlte, es fiel ihm zu schwer, darum schwieg er. Aber er sah die Mutter unverwandt an, und die Mutter hatte nie solchen Glanz in seinen Augen gesehen, nie waren sie so schön gewesen, und das schien ihr eine schlimme Vorbedeutung zu sein.
»Gott der Herr sei dir barmherzig,« brach es endlich von ihren Lippen, »mit Sämund ist es aus, wenn du uns verläßt, das weiß ich.«
Torbjörn sah sie starr und unbeweglich an. Dieser Blick ging ihr durch Mark und Bein, und sie fing an, ein Vaterunser zu beten; denn sie dachte, er hätte nicht mehr lange zu leben. Während sie so dasaß, kam es ihr in den Sinn, wie lieb gerade er ihnen allen immer gewesen, und nun war keins von den Geschwistern daheim. Sie schickte also hinauf zur Alm nach Ingrid und einem jüngeren Bruder, kam dann zurück und setzte sich wieder auf ihren Platz. Er sah sie noch immer an, und sein Blick wirkte auf sie wie ein Kirchengesang, der ihre Gedanken sanft in eine bessere Welt lenkte, und die alte Ingebjörg wurde andächtig, nahm die Bibel hervor und sagte: »Nun will ich dir was vorlesen, dann wird dir wohl.« Da sie ihre Brille nicht bei der Hand hatte, schlug sie eine Stelle auf, die sie noch von ihrer Kindheit her fast auswendig kannte, eine Stelle aus dem Johannes-Evangelium. Sie war nicht so ganz sicher, ob er sie auch hörte, denn er lag noch immer regungslos da und sah sie starr an; aber sie las doch, wenn nicht für ihn, so doch für sich selbst.
Bald kam Ingrid, um sie abzulösen; aber da schlief Torbjörn. Ingrid weinte unaufhörlich, schon als sie von der Alm ging, hatte sie damit angefangen, denn sie dachte an Synnöve, die nichts erfuhr. – Nun kam der Doktor und untersuchte ihn. Er hatte einen Messerstich in die Seite bekommen und war auch sonst schwer verletzt, aber der Doktor sagte nichts, und niemand fragte ihn. Sämund ging mit ihm in die Krankenstube und beobachtete unverwandt das Gesicht des Arztes; als dieser ging, ging er mit hinaus, half ihm ins Karjol, und griff an die Mütze, als der Doktor sagte, er käme morgen wieder. Nachher wandte er sich zu seiner Frau, die auch mit herausgekommen war, und sagte: »Wenn der Mann nichts sagt, steht es schlimm,« sein Mund bebte, er schlug den einen Fuß um den anderen und ging auf's Feld hinaus.
Keiner wußte, wo er blieb, denn er kam am Abend nicht nach Hause, auch in der Nacht nicht, erst am anderen Morgen kam er, und da sah er so finster aus, daß niemand ihn zu fragen wagte. Er selbst sagte nichts als: »Nun?«
»Er hat geschlafen,« antwortete Ingrid, »aber er ist so schwach, daß er nicht mal die Hand heben kann.« Der Vater wollte hinein, um nach ihm zu sehen, aber als er an die Tür kam, drehte er um. Der Arzt war wieder da, und auch am nächsten und alle die darauffolgenden Tage. Torbjörn konnte sprechen, durfte sich aber nicht rühren. Meist saß Ingrid bei ihm und auch die Mutter und sein jüngerer Bruder; aber er fragte nach nichts und sie fragten ihn auch nicht. Der Vater war nie bei ihm. Sie sahen, daß das dem Kranken auffiel. Jedesmal, wenn die Tür ging, wurde er aufmerksam, und sie meinten, das wäre, weil er den Vater erwartete. Endlich fragte ihn Ingrid, ob er nicht gern noch andere von der Familie sehen möchte.
»Ach, die wollen mich gewiß nicht sehen,« antwortete er. Das wurde Sämund berichtet, aber er antwortete nicht gleich darauf; doch an jenem Tage war er fort, als der Arzt kam. Aber als dieser ein Stück auf die Landstraße hinaus kam, traf er Sämund, der am Wege saß und auf ihn wartete. Sämund grüßte ihn und fragte nach seinem Sohn.
»Er ist arg zugerichtet,« war die kurze Antwort.
»Wird er's überstehen?« fragte Sämund und machte sich am Sattelgurt des Pferdes zu schaffen.
»Danke, er sitzt ganz gut,« sagte der Doktor.
»Er saß nicht stramm genug,« antwortete Sämund. Nun entstand eine kleine Pause, in der der Arzt ihn ansah; aber Sämund machte sich eifrig mit dem Geschirr zu schaffen und sah nicht auf.
»Du fragtest, ob er es überstehen würde, ich glaube wohl,« sagte der Doktor langsam. Sämund sah rasch auf,
»Ist er außer Gefahr?« fragte er.
»Seit mehreren Tagen,« antwortete der Doktor. Da kullerten ein paar Tränen aus Sämunds Augen hervor, er versuchte sie abzuwischen, aber sie kamen wieder.
»Es ist rein 'ne Schande wert,« sagte er, »wie lieb ich den Jungen hab',« schluchzte er, »aber siehst du, Doktor: 'nen prächtigeren Burschen gibt's halt im ganzen Kirchspiel nicht.«
Der Doktor wurde gerührt, »Warum hast du denn nur bisher nie etwas wissen wollen?«
»Ich war nicht imstande, was zu hören,« antwortete Sämund und kämpfte noch immer mit dem Weinen, das er nicht hinunterschlucken konnte, – »und dann war's das mit den Weibern,« fuhr er fort, »sie paßten jedesmal auf, ob ich fragte, und dann konnt' ich's nicht.«
Der Doktor ließ ihm Zeit, sich zu beruhigen; dann sah Sämund ihm fest in die Augen:
»Wird er seine volle Gesundheit wiederkriegen?« fragte er plötzlich.
»Bis zu einem gewissen Grade, ja; das heißt, so was kann man noch nicht mit Bestimmtheit sagen.« Da wurde Sämund ruhig und nachdenklich. »Bis zu einem gewissen Grade,« murmelte er, Er sah vor sich nieder, der Doktor wollte ihn nicht stören, denn es war etwas an dem Manne, was dies verbot. Plötzlich hob Sämund den Kopf. »Danke für den Bescheid,« sagte er, reichte dem Doktor die Hand und ging zurück.
Zur selben Zeit saß Ingrid bei dem Kranken. »Wenn du dich wohl genug fühlst, will ich dir etwas vom Vater erzählen,« sagte sie.
»Nur zu,« sagte er.
»Also, den ersten Abend, als der Doktor hier gewesen war, war Vater plötzlich weg, und niemand wußte, wo er war. Aber da ist er drüben nach dem Hochzeitshaus gegangen, und da ist allen Leuten angst und bange geworden, als er kam. Da hat er sich mitten unter sie gesetzt und mitgetrunken, und der Bräutigam erzählt, der Vater hätte wohl etwas zu viel bekommen. Dann erst hat er angefangen, nach der Prügelei zu fragen und genau Bescheid bekommen, wie alles sich zugetragen. Dann ist der Knut dazu gekommen, und da hat der Vater zu ihm gesagt, jetzt soll er's 'mal erzählen, und ist auf den Hof hinaus an die Stelle, wo ihr gekämpft hattet. Alle Hochzeitsgäste mit. Und dann erzählte der Knut, wie du ihn behandelt hättest, und wie du ihm erst den Arm lahmgeschlagen hättest; aber als der Knut nicht weitererzählen wollte, richtete der Vater sich auf und fragte, ob es nicht so weitergegangen wär', – und in demselben Augenblick hat er den Knut an die Brust gepackt, ihn in die Höhe gehoben und auf die Steinfliesen gelegt, auf denen noch dein Blut zu sehen war. Da hat er ihn mit der linken Hand festgehalten und mit der rechten sein Messer gezogen. Der Knut ist blaß geworden, und alle Gaste waren stumm. Da haben welche den Vater weinen sehen, aber dem Knut hat er nichts getan; Knut selbst rührte sich nicht. Dann hat der Vater den Knut wieder aufgehoben, hat ihn aber nach einer Weile wieder zu Boden geworfen. ›'s wird mir blutsauer, dich laufen zu lassen,‹ sagte er, und hat ihn starr angesehen und ihn festgehalten. Da sind zwei alte Frauen vorbeigegangen, und die eine hat gesagt: ›Denk an deine Kinder, Sämund Granliden‹ und da hat der Vater, sagen sie, den Knut gleich losgelassen, und nach einer Weile war er vom Hof verschwunden; aber der Knut hat sich von der Hochzeit weggeschlichen und sich nicht wieder sehen lassen.«
Kaum war Ingrid mit dieser Erzählung fertig, als die Tür aufging und jemand hereinguckte, und das war der Vater. Sie ging gleich hinaus, und Sämund kam hinein. Wovon die zwei da gesprochen, hat niemand erfahren; aber die Mutter, die an der Tür stand, um zu horchen, glaubte einmal aufzufangen, daß sie davon sprächen, wie weit er seine Gesundheit wiederbekommen würde oder nicht. Aber ganz sicher war sie nicht, und hineingehen wollte sie auch nicht, solange Sämund da war. Als Sämund wieder herauskam, war er sehr sanft, und seine Augen waren etwas gerötet. »Wir werden ihn wohl behalten,« sagte er im Vorbeigehen zu Ingebjörg, »aber ob er seine Gesundheit wiederbekommt, das weiß nur der da oben.«
Da fing Ingebjörg zu weinen an und ging mit ihrem Mann hinaus, draußen auf der Stabburtreppe setzten sie sich miteinander hin, und mancherlei wurde da zwischen den zweien besprochen. Aber als Ingrid leise zu Torbjörn hineinkam, hatte er einen kleinen Zettel in der Hand und sagte ruhig und langsam: »Gib den Synnöve, wenn du sie triffst.« Als Ingrid gelesen hatte, was da stand, wandte sie sich ab und weinte; denn auf dem Zettel stand:
»An die wohlehrbare Jungfer Synnöve
Guttormstochter zu Solbakken!
Wenn du diese Zeilen liest, muß es zwischen uns beiden aus sein. Denn ich bin nicht der, den du haben mußt. Der liebe Gott sei mit uns beiden.
Torbjörn Sämundsohn Granliden.«
Synnöve hatte es am Tage, nachdem Torbjörn auf der Hochzeit gewesen war, erfahren. Sein kleiner Bruder war mit der Nachricht nach der Alm hinaufgegangen; aber Ingrid hatte ihn, ehe er ging, draußen im Hausflur erst vorgenommen und ihm eingeschärft, was er sagen sollte. Daher wußte Synnöve nichts anderes, als daß Torbjörn umgeworfen und auf Nordhaug um Hilfe gebeten habe; daß Knut und er da aneinander geraten seien und Torbjörn etwas abbekommen habe; jetzt liege er zu Bett, aber es sei nicht gefährlich. Diese Nachricht war so, daß Synnöve mehr ärgerlich als traurig darüber wurde. Und je mehr sie darüber nachdachte, desto niedergeschlagener wurde sie. Wie schön auch seine Versprechungen waren, immer führte er sich doch so auf, daß ihre Eltern etwas an ihm auszusetzen hatten. Aber auseinanderbringen sollen sie uns doch nicht, dachte Synnöve.
Es kam nicht oft Kunde zur Alm hinauf, und so dauerte es eine Weile, bis Synnöve andere Nachricht bekam. Die Ungewißheit lag ihr schwer auf der Seele, und Ingrid kam auch nicht wieder, es mußte also etwas passiert sein. Sie mochte des Abends nicht mehr die Tiere heimsingen, wie früher, und des Nachts schlief sie nicht gut, da sie Ingrid vermißte. Tagsüber war sie dann müde, und das machte ihr das Herz keineswegs leichter. Sie ging und wirtschaftete, scheuerte Satten und Töpfe, machte Käse und Butter, aber alles freudlos, und Torbjörns jüngerer Bruder und der andere Bursch, der mit ihm zusammen die Weide hatte, waren jetzt ganz sicher, daß zwischen ihr und Torbjörn etwas los sei, was ihnen allerlei Gesprächsstoff gab, wenn sie oben auf der Wiese waren.
Am Nachmittag des achten Tages, nachdem Ingrid nach Hause geholt worden war, war Synnöve das Herz schwerer denn je. Nun war es schon so lange her, und noch immer keine Kunde. Sie ließ ihre Arbeit liegen und setzte sich und schaute auf die Bygde hinab, da ihr das eine Art Gesellschaft schien und sie nicht allein sein mochte. Wie sie da so saß, wurde sie müde, und sie legte den Kopf auf den Arm und fiel sofort in Schlaf; aber die Sonne stach und machte ihren Schlaf unruhig. Sie war drüben auf Solbakken, oben auf der Bodenkammer, wo sie alle ihre Sachen hatte und wo sie zu schlafen pflegte; die Blumen unten im Garten dufteten so süß zu ihr herauf, aber es war nicht der gewohnte Duft, es war ein anderer, fast wie Heidekraut. Woher mag der wohl kommen? dachte sie und beugte den Kopf aus dem offenen Fenster herab, wirklich, da stand Torbjörn unten im Garten und pflanzte Heidekraut.
»Aber was machst du denn da?« fragte sie.
»Ach, die Blumen wollen nicht gedeihen,« sagte er und grub und arbeitete weiter.
Da taten ihr die Blumen leid, und sie bat ihn, sie doch ja wieder hinaufzubringen.
»Ja, das kann ich gern,« sagte er, sammelte sie auf und kam zu ihr. Aber sie saß ja gar nicht in der Bodenkammer, denn er konnte direkt zu ihr hineingehen. In demselben Augenblick kam die Mutter dazu. »Um Gottes willen, was will denn der garstige Granlider Bengel bei dir?« sprach die Mutter, sprang zu und versperrte ihm den Weg. Aber er wollte doch hinein, und nun fingen die beiden miteinander zu ringen an. »Mutter, Mutter, er will mir ja nur die Blumen bringen,« bat Synnöve weinend. »I was, das hilft nichts,« sagte die Mutter und ging auf ihn los. Und Synnöve wurde so bang, so bang zumut, denn sie wußte nicht, wem sie am liebsten den Sieg gönnte; aber unterliegen dürfte keins von beiden. »Nehmt doch meine Blumen in acht,« rief sie, aber sie rangen noch heftiger miteinander, und die schönen Blumen wurden überall auf den Boden umhergestreut. Die Mutter trat darauf und er auch; Synnöve weinte. Aber als Torbjörn die Blumen hatte fallen lassen, wurde er mit einemmal so häßlich, so furchtbar häßlich, seine Haare wuchsen wild, und das Gesicht wuchs, und die Augen waren so böse, und er hatte lange Krallen, mit denen er die Mutter packte. »Nimm dich in acht, Mutter! Siehst du denn nicht, es ist ja ein ganz anderer, – nimm dich in acht,« schrie sie und wollte hinzuspringen und der Mutter helfen, aber sie konnte sich nicht vom Fleck rühren. Da rief jemand ihren Namen, und noch einmal rief's. Aber mit einem Male war Torbjörn weg, die Mutter auch; es rief wieder. »Ja,« sagte Synnöve, und wachte auf.
»Synnöve,« rief es. »Ja,« antwortete sie, und öffnete die Augen. »Wo bist du denn?« rief es. Das ist die Mutter, dachte Synnöve, stand auf und ging nach der Sennwiese zu, wo die Mutter stand und ihr entgegensah, in der einen Hand einen Korb, mit der anderen die Augen beschattend.
»Was? liegst du da und schläfst auf der bloßen Erde?« sagte die Mutter,
«Ich war so müde,« antwortete Synnöve, »und da wollte ich mich nur ein bißchen hinlegen, und ehe ich's mich versah, war ich schon eingeschlafen.«
»Vor so was mußt du dich hüten, mein Kind, – da ist etwas für dich im Korb, ich habe gestern gebacken, Vater will verreisen.«
Aber Synnöve fühlte, daß die Mutter nicht deswegen allein gekommen war, und sie dachte bei sich, sie habe wohl nicht umsonst von ihr geträumt. Karen, so hieß die Mutter, war, wie bereits gesagt, klein und zart gebaut, hatte blondes Haar und blaue Augen, die lebhaft im Kopf umherrollten. Wenn sie sprach, lächelte sie ein wenig, doch das tat sie nur, wenn sie mit Fremden sprach. Ihr Gesicht hatte jetzt etwas scharfe Züge bekommen, sie war rasch in ihren Bewegungen und immer geschäftig.
Synnöve dankte ihr für das Mitgebrachte, hob den Deckel ab und sah nach, was es wäre.
»Na ja, das kannst du ein andermal tun,« sagte die Mutter; »ich habe gesehen, daß dein Geschirr noch nicht gewaschen ist; so was tut man aber, ehe man ruhen geht, mein Kind.«
»Ach ja, es war auch bloß heut.«
»Komm, dann helfe ich dir, da ich ja nun doch mal hier bin,« sagte die Mutter und schürzte sich auf. »Du mußt dich an Ordnung gewöhnen, einerlei, ob ich dich unter Augen habe oder nicht.« Sie ging voran nach der Milchkammer, und Synnöve kam langsam nach. Da nahmen sie alle die Gefäße heraus und wuschen sie; die Mutter sah überall nach, ob auch alles in Ordnung sei, und fand es nicht übel, dabei gab sie fortwährend Anweisungen, half ihr fegen, und so vergingen eine Stunde oder zwei. Während der Arbeit hatte sie erzählt, was sie zu Hause trieben, und wie viel sie zu tun habe, um den Vater zur Reise auszurüsten. Dann fragte sie, ob Synnöve auch nicht vergäße, des Abends vorm Zubettegehen das Wort Gottes zu lesen; »denn das darf man nie vergessen,« meinte sie, »sonst geht's am anderen Tag schief mit der Arbeit.«
Sobald sie nun damit fertig waren, gingen sie hinaus auf die Wiese, um die Kühe zu empfangen. Und als sie sich hingesetzt hatten, fragte die Mutter nach Ingrid, ob sie nicht bald wieder zur Alm hinaufkomme. Darüber wußte Synnöve auch nicht mehr Bescheid als die Mutter.
»Ja, ja, so geht's mit den Leuten,« sagte die Mutter, und Synnöve wußte gleich, daß sie damit nicht Ingrid meinte.
Gern hätte sie dem Gespräch eine andere Wendung gegeben, aber sie hatte nicht den Mut dazu.
»Wer nicht den Herrn im Herzen trägt, der wird oft heimgesucht, wenn er's am wenigsten erwartet.« Synnöve sagte kein Wort.
»Hab' ich's nicht immer gesagt, aus dem Jungen wird nichts. – Sich so aufzuführen, pfui.«
Beide hockten auf der Wiese und sahen vor sich hin, aber sie sahen einander nicht an.
»Hast du gehört, wie's ihm geht?« fragte die Mutter, und sah sie flüchtig an.
»Nein,« antwortete Synnöve.
»Es soll schlecht mit ihm stehen,« sagte die Mutter. Synnöve fühlte ihre Brust sich zusammenschnüren.
»Ist's denn gefährlich?« fragte sie.
»Na ja, da ist zuerst der Messerstich in der Seite; – und dann hat er ja auch sonst tüchtige Püffe abgekriegt.«
Synnöve fühlte, daß sie feuerrot wurde. Schnell wandte sie sich noch mehr ab, damit es die Mutter nicht sähe.
»Aber es hat doch wohl nichts weiter auf sich?« fragte sie so ruhig wie sie konnte; aber die Mutter hatte bemerkt, daß ihre Brust sich heftig hob und senkte, und darum antwortete sie:
»O nein, das nicht grade.«
Da begann Synnöve zu ahnen, daß etwas Schreckliches geschehen sein müsse.
»Liegt er zu Bett?« fragte sie.
»Liegen, ach du Gerechter, natürlich, versteht sich – 's ist schad um die Eltern, so brave Leute wie die sind. Gut erzogen ist er auch, der liebe Gott hat ihnen also nichts vorzuwerfen.«
Nun wurde es Synnöve so beklommen zumut, daß sie sich gar nicht zu helfen wußte; und die Mutter fuhr fort:
»Jetzt zeigt's sich, wie gut es ist, daß niemand sich an ihn gebunden hat. Der liebe Gott führt doch am Ende alles zum besten.«
Ein Schwindel befiel Synnöve, als müsse sie den Berg hinabstürzen.
»Nein, ich hab's immer zum Vater gesagt: ›Gott helf uns,‹ hab' ich gesagt, wir haben bloß dies eine Mädel, und für die müssen wir sorgen. Er ist nun mal ein bißchen weichherzig, der Vater, so brav er auch sonst ist; aber das hat wieder das Gute, daß er guten Rat annimmt, wo er ihn findet, nämlich in Gottes Wort.«
Aber beim bloßen Gedanken an ihren Vater, der immer so lieb zu ihr war, wurde es Synnöve noch schwerer, das Weinen hinunterzuschlucken. Und diesmal nützte kein Widerstand, sie fing zu weinen an.
»Was weinst du denn?« fragte die Mutter und sah nach ihr hin, ohne doch ihr Gesicht zu sehen zu bekommen.
»Ach, ich denke an den Vater, und – –« und jetzt brach es erst recht los.
»Aber Kind, Kind, was ist denn das nur mit dir?«
»Ach, ich weiß nicht recht – – – es überkam mich nur so – –, vielleicht passiert ihm was auf der Reise,« schluchzte Synnöve.
»Dummes Zeug,« sagte die Mutter – »was sollte ihm denn passieren? – bloß nach der Stadt auf der flachen Landstraße? –«
»Ja, aber denk doch, – – wie es dem – – dem anderen gegangen ist –,« schluchzte Synnöve.
»Ja, dem! Aber dein Vater fährt auch nicht drauf los wie ein Verrückter, sollte ich meinen. Der wird schon unversehrt wieder heimkommen, – wenn der liebe Gott sonst seine Hand über ihn hält.«
Aber diese Tränen, die gar nicht wieder aufhören wollten, gaben der Mutter zu denken. Plötzlich sagte sie: »Es gibt mancherlei in der Welt, was schwer genug zu tragen sein mag, aber man muß sich eben damit trösten, daß es noch schlimmer hätte sein können.«
»Ach, das ist ein elender Trost,« sagte Synnöve und weinte herzbrechend.
Die Mutter konnte sich nicht recht ein Herz fassen, ihr zu antworten, was sie dachte; so sagte sie nur:
»Gott entscheidet manchmal, für uns auf eine sichtliche Weise, und das hat er wohl auch hier getan,« und damit stand sie auf, denn jetzt fingen oben auf der Halde die Kühe zu brüllen an, die Herdenglocken klangen, die Burschen jodelten, und langsam ging's nun herunter, da die Tiere satt und befriedigt waren. Sie stand da und sah ihnen entgegen und bat Synnöve, mit heraufzukommen, um sie zu empfangen. Nun stand Synnöve auch auf und kam nach, aber es ging langsam.
Karen Solbakken hatte nun genug mit der Begrüßung ihrer Herde zu tun. Eine Kuh nach der anderen kam dran, und alle erkannten sie wieder und machten Muh; sie streichelte sie, plauderte mit ihnen und wurde ganz vergnügt, als sie sah, daß sie alle in gutem Futterzustand waren.
»Ja, ja,« sagte sie, »der liebe Gott hält's mit dem, der sich zu ihm hält.«
Sie half nun Synnöve, die Tiere eintreiben; denn mit Synnöve ging's heute doch gar zu langsam. Die Mutter sagte nichts dazu, sie half ihr auch beim Melken, obgleich sie dadurch länger aufgehalten wurde, als sie sich eigentlich vorgenommen hatte. Als sie nun auch mit dem Seihen fertig waren, machte die Mutter sich zum Heimweg bereit, und Synnöve wollte sie ein Stück Wegs begleiten.
»Laß nur,« sagte die Mutter, »du bist gewiß müde und willst Ruhe haben,« und damit nahm sie den leeren Korb, gab ihr die Hand und sagte, sie fest ansehend:
»Ich komme bald wieder herauf, um zu sehen, wie es dir geht. – – Halt' du dich nur an uns und denk' nicht an andre.«
Kaum war die Mutter außer Sehweite, so überlegte Synnöve, wie sie wohl am schnellsten Kunde von Granliden bekommen könne. Sie rief Torbjörns Bruder herbei und wollte ihn hinunterschicken, aber als er kam, genierte sie sich, sich ihm anzuvertrauen, und sagte darum nur: »Es war nichts.« Dann kam sie auf den Einfall, selbst zu gehen. Gewißheit mußte sie haben, und es war gar nicht lieb von Ingrid, daß sie ihr keine Nachricht schickte. Die Nacht war ganz hell, und der Hof lag nicht so weit, daß sie nicht ganz gut den Weg machen konnte, wenn so etwas sie zog. Während sie so dasaß und überlegte, kam ihr alles wieder in den Sinn, was die Mutter gesagt hatte, und gleich wollten auch die Tränen wieder kommen; dann aber war sie auch nicht faul, band ein Tuch um und ging einen Richtweg, damit die Knaben nichts merkten.
Je weiter sie kam, desto schneller eilte sie vorwärts, und zuletzt sprang sie so schnell den Fußpfad hinab, daß kleine Steinchen sich lösten, hinabrollten und sie in Schrecken versetzten. Sie wußte ja, es waren nur die Steine, die da rollten, und doch kam es ihr vor, als wäre jemand in der Nähe, und sie hielt an und lauschte. Nein, es war nichts, und schneller und schneller sprang sie weiter; da trat sie plötzlich bei einem starken Sprung auf einen größeren Stein, dessen eines Ende in den Weg hineinragte und der sich jetzt löste und an ihr vorbei hinunterrollte. Das machte großen Lärm, es knackte in den Büschen und ihr wurde bange, aber noch mehr erschrak sie, als sie weiter unten auf dem Weg sich leibhaftig jemanden erheben und bewegen zu sehen glaubte. Zuerst dachte sie, es könne ein wildes Tier sein, und sie blieb mit verhaltenem Atem stehen; das unten auf dem Wege blieb auch stehen. »Ho–i,« rief es. Es war die Mutter. Das erste, was Synnöve tat, war, daß sie beiseite sprang und sich versteckte. Da blieb sie ein gutes Weilchen sitzen, um zu sehen, ob die Mutter sie erkannt hätte und zurückkäme; aber nein. Dann wartete sie noch ein Weilchen, damit die Mutter einen tüchtigen Vorsprung bekäme. Und als sie dann weiterging, trat sie ganz leise auf, und bald näherte sie sich dem Hofe. Sie fühlte sich wieder recht beklommen, als sie Granliden sah, und je näher sie kam, desto ärger wurde es. Auf dem Hofe war alles still, die Arbeitsgeräte standen an die Wand gelehnt, Brennholz lag gespalten und aufgestapelt, und die Axt saß fest im Hauklotz. Sie ging vorbei und auf die Tür zu, dort blieb sie nochmals stehen, sah sich um und lauschte, doch nichts rührte sich. Und wie sie da so stand, unschlüssig, ob sie sich zu Ingrid auf die Bodenkammer hinaufwagen solle oder nicht, fiel es ihr plötzlich ein, grade eine solche Nacht müsse es wohl gewesen sein, damals vor Jahren, als Torbjörn drüben bei ihr gewesen war, um ihr die Blumen zu pflanzen. Schnell zog sie ihre Schuhe aus und schlich die Treppe hinauf.
Ingrid erschrak heftig, als sie erwachte und sah, daß Synnöve sie geweckt hatte.
»Wie geht's ihm?« flüsterte Synnöve.
Da kam Ingrid die Erinnerung an alles wieder, und sie wollte sich erst anziehen, damit sie nicht gleich zu antworten brauchte. Aber Synnöve setzte sich auf die Bettkante, bat sie, liegen zu bleiben, und wiederholte ihre Frage.
»Jetzt ist's besser,« sagte Ingrid flüsternd; »ich komme bald wieder zu dir hinauf.«
»Liebe Ingrid, verhehle mir nichts, du kannst mir doch nichts Schlimmes sagen, was ich mir nicht schon tausendmal schlimmer gedacht hätte.«
Ingrid versuchte noch immer, sie zu schonen, aber die Angst der anderen drängte, und es blieb keine Zeit zu Ausflüchten. Flüsternd fielen die Fragen, flüsternd fielen die Antworten; die tiefe Stille ringsum machte sowohl Fragen wie Antworten noch ernster, so daß dieser Augenblick einer jener feierlichen Augenblicke wurde, in denen man der furchtbarsten Wahrheit ins Auge zu sehen wagt. Aber so viel schien den beiden ausgemacht, daß Torbjörns Schuld diesmal gering war, und daß sich von seiner Seite nichts Schlechtes zwischen ihn und ihr Mitleid schob. Sie weinten sich beide aus – aber ganz leise – und Synnöve weinte am herzlichsten; sie saß ganz zusammengesunken auf der Bettkante. Ingrid versuchte, sie aufzuheitern, indem sie an all das Frohe erinnerte, das sie drei schon miteinander erlebt hätten; aber es ging wie so oft, jede kleine Erinnerung an jene Tage, über denen noch Sonnenschein spielte, löste sich im Leid in Tränen auf.
»Hat er nach mir gefragt?« flüsterte Synnöve,
»Er hat überhaupt fast gar nicht gesprochen.«
Jetzt fiel Ingrid der Zettel wieder ein, und er fiel ihr schwer auf die Seele.
»Ist er denn nicht so wohl, daß er sprechen kann?«
»Ich weiß nicht recht, wie es damit ist; – er denkt wohl desto mehr.«
»Liest er?«
»Mutter hat ihm einmal vorgelesen, und jetzt muß sie es alle Tage tun.« –
»Was sagt er denn?«
»Er sagt fast gar nichts, siehst du, er liegt nur so da und guckt vor sich hin.« –
»Liegt er in der gemalten Stube?«
»Ja.«
»Und mit dem Gesicht nach dem Fenster?«
»Ja.«
Nun schwiegen sie beide eine Weile.
Dann sagte Ingrid:
»Das kleine St. Johannesspiel, das du ihm einmal geschenkt hast, hängt da im Fenster und dreht sich.«
«Ja, jetzt ist mir alles gleich,« sagte Synnöve plötzlich mit Nachdruck. »Nie im Leben soll mich jemand dazu bewegen können, ihn zu lassen, mag kommen, was will.«
Ingrid wurde es sehr beklommen zumut.
»Der Doktor weiß nicht, ob er seine Gesundheit wiederkriegt,« flüsterte sie.
Da hob Synnöve den Kopf in verhaltenem Weinen, sah sie an, ohne ein Wort zu sagen, ließ dann den Kopf wieder sinken und blieb in Gedanken versunken sitzen. Die letzten Tränen flossen noch leise über ihre Wangen, aber es kamen keine neuen; sie faltete die Hände, rührte sich aber nicht: es war, als fasse sie einen großen Entschluß. Dann stand sie plötzlich mit einem Lächeln auf, beugte sich über Ingrid und gab ihr einen langen, innigen Kuß:
»Bleibt er kränklich, dann pflege ich ihn, und jetzt rede ich mit meinen Eltern.«
Ingrid wurde sehr gerührt; aber ehe sie noch etwas sagen konnte, fühlte sie ihre Hand ergriffen:
»Leb wohl, Ingrid, jetzt gehe ich wieder hinauf.« Und sie wandte sich rasch ab.
»Ja, aber – der Zettel,« flüsterte Ingrid ihr nach.
»Der Zettel?« fragte Synnöve.
Ingrid war schon auf, suchte ihn heraus und gab ihn ihr; aber indem sie ihn mit der linken Hand der Freundin ins Busentuch steckte, schlang sie den rechten Arm um ihren Hals und gab ihr den Kuß zurück, und Synnöve fühlte große, warme Tränen auf ihr Gesicht fallen. Dann schob Ingrid sie leise aus der Tür und schloß diese hinter ihr; denn sie hatte nicht den Mut, das übrige mit anzusehen.
Synnöve ging leise auf Strümpfen die Treppe hinunter; aber da ihre Gedanken zu überwältigend waren, machte sie unversehends Geräusch, erschrak, lief durch den Hausflur, nahm ihre Schuhe in die Hand und eilte damit an den Gebäuden vorbei, über die Felder bis zum Zaun; dort blieb sie stehen, zog die Schuhe an und stieg schnell den Berg hinan, denn ihr Blut war in Wallung gekommen. Sie ging und summte vor sich hin und eilte immer schneller und schneller vorwärts, bis sie zuletzt müde wurde und sich setzen mußte. Da fiel ihr der Zettel ein. – – –
Als am anderen Morgen der Hirtenhund zu bellen anfing und die Buben erwachten und die Kühe gemolken und hinausgelassen werden sollten, war Synnöve noch nicht wieder da. Wie die Buben da noch standen, verwundert, wo sie wohl sein möge, und entdeckten, daß sie die ganze Nacht nicht zu Bett gewesen war, – kam Synnöve. Sie war sehr blaß und still. Ohne ein Wort zu sagen, machte sie sich daran, das Frühstück für die Knaben zu besorgen, packte Vorräte für sie ein und half beim Melken.
Der Nebel lastete noch drückend auf den niedriger liegenden Bergen; überall glitzerte die braunrote Heide von Tautropfen, es war etwas kalt, und wenn der Hund bellte, antwortete es von allen Seiten. Die Herde wurde herausgelassen, sie brüllte in die frische Luft hinaus, und eine Kuh nach der anderen eilte den Steig hinauf; aber da vorn saß schon der Hund, empfing sie und hielt sie zurück, bis alle Kühe hinaus waren, dann ließ er sie durch; das Herdengeläute klang zitternd an den Halden entlang, das Hundegebell durchschnitt die Luft, und die Knaben probierten, wer am lautesten jodeln könnte. Vor all diesem Lärm flüchtete Synnöve nach ihrem Plätzchen auf der Wiese, wo sie mit Ingrid zu sitzen pflegte. Sie weinte nicht, saß nur ganz still und starrte vor sich hin, und nur dann und wann kam ihr all das übermütige Getöse zum Bewußtsein, das jetzt um so harmonischer zusammenfloß, je mehr es sich entfernte. Mittlerweile fing sie an, leise vor sich hin zu summen, dann sang sie etwas lauter, und zuletzt mit klarer, heller Stimme folgendes Lied. Sie hatte es nach einem anderen, das sie von Kindheit an gekannt hatte, umgedichtet:
Nun Dank für alles aus frühster Zeit,
da wir gespielt als frohe Gefährten,
ich dachte, daß Spiel und Fröhlichkeit
in alle Ewigkeit währten.
Ich dachte, das Spiel, das spänne sich fort
aus sonniger Kindheit Birkengeländen,
bis wir uns einst in Solbakken dort
und im Kirchlein wiederfänden.
Ich schaute hinüber so manches Mal
und harrte dein in langen Stunden,
doch deine Tannen beschatten das Tal
und du – hast den Weg nicht gefunden.
Ich saß und harrte und dachte oft:
wenn's Abend wird, wird er doch kommen,
die Sonne sinkt und die Seele hofft,
doch nun ist der Tag verglommen.
Das arme Auge muß immerfort
dort zu den Tannen hinüberschauen,
es kennt in der Welt keinen andren Ort
und brennt unter schmerzenden Brauen.
Sie sagen, die Kirche am Fagerlid-Hang,
die würde den rechten Trost mir künden,
doch nimmer wag' ich dorthin den Gang,
dort würde ich ihn ja finden.
– Doch wohl mir, ich weiß doch, wer es tat,
daß die Höfe so dicht beisammen liegen,
und wer dem Auge wies den Pfad,
und ihm nicht verwehrte, zu fliegen.
Doch wohl mir, ich weiß, wer vor Gottes Altar
den einen Stuhl gesetzt zum andern,
so daß sie zusammen, Paar um Paar,
zum hohen Chore wandern.
Längere Zeit nachher saßen Guttorm und Karen Solbakken in der großen hellen Stube auf Solbakken und lasen sich gegenseitig aus ein paar neuen Büchern vor, die sie aus der Stadt bekommen hatten. Sie waren am Vormittag in der Kirche gewesen, denn es war Sonntag, dann hatten sie einen kleinen Gang durch die Felder gemacht, um zu sehen, wie das Korn stände, und um zu überlegen, welche Äcker im nächsten Jahre brach liegen und welche bebaut werden sollten. Sie waren von einem Brachfeld und Acker zum anderen geschlendert und fanden, das Gut habe sich in ihrer Zeit sehr herausgemacht.
»Gott mag wissen, wie's hier aussieht, wenn wir 'mal weg sind,« hatte Karen gesagt. Und da hatte Guttorm sie gebeten, doch mit hineinzugehen, damit sie miteinander in den neuen Büchern lesen könnten, »denn man tut am besten, sich von solchen Gedanken fernzuhalten.« Aber nun waren sie mit dem Buch durch, und Karen meinte, die alten seien doch besser: »die Leute schreiben ja doch immer nur aus den alten ab.«
»Daran mag was wahres sein,« sagte Guttorm; »Sämund sagte heute zu mir in der Kirche, in den Kindern fände man auch immer die Eltern wieder.«
»Ja, du und Sämund, ihr scheint mir heute allerlei miteinander geredet zu haben.«
»Sämund ist ein verständiger Mann.«
»Aber er hält sich wenig an seinen Herrn und Heiland, fürchte ich.«
Darauf antwortete Guttorm nichts.
»Wo steckt denn nur die Synnöve?« fragte die Mutter.
»Sie ist oben auf der Bodenkammer,« antwortete er.
»Du hast ja vorhin selbst bei ihr gesessen, wie war ihr denn zumute?«
»Hm –«
»Du hättest sie doch lieber nicht allein da oben sitzen lassen sollen.«
»Es kam jemand.«
Die Frau schwieg eine Weile.
»Wer war denn das?«
»Die Ingrid Granliden.«
»So, ich dachte, die wäre noch auf der Alm.«
»Sie ist heute zu Hause gewesen, damit die Mutter zur Kirche gehen könnte.«
»Richtig, heute hat man die ja auch 'mal da gesehen.«
»Sie hat so viel zu tun.«
»Als ob andere das nicht hätten; aber man macht's eben möglich, wenn man nur Verlangen danach hat.«
Darauf antwortete Guttorm nichts. Nach einer Weile sagte Karen:
»Sie waren heute alle da, die von Granliden, außer Ingrid.«
»Ja, es war wohl, um den Torbjörn auf seinem ersten Kirchgang zu begleiten.«
»Er sah schlecht aus.«
»War nicht besser zu erwarten, ich wunderte mich, daß er überhaupt schon so weit war.«
»Ja, der hat seine Tollheit teuer bezahlen müssen.«
Guttorm sah einen Augenblick vor sich nieder:
»Er ist doch noch so jung.«
»Es ist kein guter Grund in ihm, man kann sich nie recht auf ihn verlassen.«
Guttorm, der sich mit den Ellbogen auf den Tisch stützte und ein Buch in der Hand drehte, öffnete dieses nun, und indem er tat, als lese er darin, ließ er die Worte fallen:
»Er soll jetzt ganz sicher sein, daß er seine volle Gesundheit wieder erlangt.«
Jetzt nahm die Mutter auch ein Buch zur Hand:
»Das freut mich für ihn, so ein hübscher Kerl, wie er ist,« sagte sie, »der liebe Gott möge ihn nur lehren, sie besser zu brauchen.«
Nun lasen sie beide; dann sagte Guttorm, indem er umblätterte:
»Er hat die ganze Zeit heute nicht ein einziges Mal zu ihr hingesehen,«
»Ja, ich hab's auch gemerkt, er saß ganz still in seinem Stuhl, bis sie gegangen war.«
Eine Weile nachher sagte Guttorm:
»Du glaubst, er vergißt sie?«
»Das wäre jedenfalls das allerbeste.«
Guttorm las weiter, die Frau blätterte.
»Ich mag nicht, daß die Ingrid bei ihr da oben sitzt,« sagte sie.
»Synnöve hat doch kaum jemand, mit dem sie mal ein bißchen plaudern kann.«
»Hat sie denn nicht uns?«
Jetzt sah der Vater zu ihr hinüber.
»Wir dürfen nicht zu streng sein.«
Die Frau schwieg, nach einer Weile sagte sie:
»Ich hab's ihr ja auch gar nicht verboten.«
Der Vater klappte das Buch zu, stand auf und guckte aus dem Fenster.
»Da geht Ingrid,« sagte er. Kaum hatte die Mutter das gehört, als sie schnell hinausging. Der Vater stand noch lange am Fenster, dann wandte er sich ab und ging in der Stube auf und ab; als die Frau wieder hereinkam, blieb er stehen. »Da geht Ingrid,« sagte er. Kaum hatte die Mutter das gehört, als sie schnell hinausging. Der Vater stand noch lange am Fenster, dann wandte er sich ab und ging in der Stube auf und ab; als die Frau wieder hereinkam, blieb er stehen.
»Ganz richtig, wie ich mir dachte,« sagte sie, »da oben sitzt das Mädel und weint, aber sowie ich hereinkam, kramte sie in ihrer Truhe,« und kopfschüttelnd setzte sie hinzu: »Nein, es tut nicht gut, daß die Ingrid mit ihr verkehrt;« – und dann fing sie an, das Abendessen herzurichten, wobei sie fortwährend aus- und einging. Einmal, während sie draußen war, kam Synnöve still und mit verweintem Gesicht herein; sie glitt leise am Vater vorbei, sah ihm ins Gesicht und setzte sich an den Tisch, wo sie ein Buch nahm. Nach einer Weile klappte sie es wieder zu, ging zur Mutter und fragte, ob sie ihr nicht helfen solle.
»Tu das, mein Kind,« sagte diese, »Arbeit ist gut für alles.«
Sie hatte den Tisch zu decken, der in der Nähe des Fensters stand.
Der Vater, der bisher auf und ab gegangen war, trat jetzt ans Fenster und blickte hinaus:
»Das Gerstenfeld, das der Regen geschlagen hatte, erholt sich, glaube ich, wieder,« sagte er. Synnöve trat neben ihn und sah auch hinaus. Er sah sich um, die Frau war im Zimmer, und so streichelte er nur sanft mit der einen Hand Synnöves Hinterkopf und begann dann wieder auf und ab zu gehen.
Beim Essen war es sehr still; die Mutter sprach das Gebet vor Tisch und nach Tisch, und als sie fertig waren, schlug sie vor, ob sie nicht etwas lesen und singen wollten, was sie auch taten.
»Gottes Wort gibt Frieden, das ist doch der größte Segen im Hause.« Bei diesen Worten sah die Mutter zu Synnöve hinüber, die die Augen niedergeschlagen hatte. »Nun will ich euch eine Geschichte erzählen,« sagte die Mutter, »sie ist wahr vom Anfang bis zum Ende, und nicht übel für den, der darüber nachdenken will.« Und sie erzählte:
Es lebte in meiner Jugend auf Haug ein Mädchen, die Enkelin eines alten, gelehrten Schulzen. Er hatte sie früh zu sich genommen, um eine Freude für seine alten Tage an ihr zu haben, und lehrte sie da natürlich Gottes Wort und gute Sitten. Sie lernte leicht und hatte Freude am Lernen, so daß wir nach kurzer Zeit alle hinter ihr zurückblieben, sie konnte schreiben und rechnen, und als sie fünfzehn Jahre alt war, konnte sie ihre Schulbücher und fünfundzwanzig Kapitel aus der Bibel auswendig; ich weiß es noch wie gestern, vom Lernen hielt sie mehr als vom Tanzen, so daß man sie selten traf, wo's lustig herging, um so öfter aber auf der Giebelkammer des Großvaters, wo alle seine vielen Bücher standen. So kam es, daß sie immer, wenn wir mit ihr zusammenkamen, aussah, als wäre sie ganz abwesend, und wir sprachen untereinander: »Ganz richtig, wie ich mir dachte,« sagte sie, »da oben sitzt das Mädel und weint, aber sowie ich hereinkam, kramte sie in ihrer Truhe,« und kopfschüttelnd setzte sie hinzu: »Nein, es tut nicht gut, daß die Ingrid mit ihr verkehrt;« – und dann fing sie an, das Abendessen herzurichten, wobei sie fortwährend aus- und einging. Einmal, während sie draußen war, kam Synnöve still und mit verweintem Gesicht herein; sie glitt leise am Vater vorbei, sah ihm ins Gesicht und setzte sich an den Tisch, wo sie ein Buch nahm. Nach einer Weile klappte sie es wieder zu, ging zur Mutter und fragte, ob sie ihr nicht helfen solle. »Tu das, mein Kind,« sagte diese, »Arbeit ist gut für alles.« Sie hatte den Tisch zu decken, der in der Nähe des Fensters stand. Der Vater, der bisher auf und ab gegangen war, trat jetzt ans Fenster und blickte hinaus: »Das Gerstenfeld, das der Regen geschlagen hatte, erholt sich, glaube ich, wieder,« sagte er. Synnöve trat neben ihn und sah auch hinaus. Er sah sich um, die Frau war im Zimmer, und so streichelte er nur sanft mit der einen Hand Synnöves Hinterkopf und begann dann wieder auf und ab zu gehen. Beim Essen war es sehr still; die Mutter sprach das Gebet vor Tisch und nach Tisch, und als sie fertig waren, schlug sie vor, ob sie nicht etwas lesen und singen wollten, was sie auch taten. »Gottes Wort gibt Frieden, das ist doch der größte Segen im Hause.« Bei diesen Worten sah die Mutter zu Synnöve hinüber, die die Augen niedergeschlagen hatte. »Nun will ich euch eine Geschichte erzählen,« sagte die Mutter, »sie ist wahr vom Anfang bis zum Ende, und nicht übel für den, der darüber nachdenken will.« Und sie erzählte: Es lebte in meiner Jugend auf Haug ein Mädchen, die Enkelin eines alten, gelehrten Schulzen. Er hatte sie früh zu sich genommen, um eine Freude für seine alten Tage an ihr zu haben, und lehrte sie da natürlich Gottes Wort und gute Sitten. Sie lernte leicht und hatte Freude am Lernen, so daß wir nach kurzer Zeit alle hinter ihr zurückblieben, sie konnte schreiben und rechnen, und als sie fünfzehn Jahre alt war, konnte sie ihre Schulbücher und fünfundzwanzig Kapitel aus der Bibel auswendig; ich weiß es noch wie gestern, vom Lernen hielt sie mehr als vom Tanzen, so daß man sie selten traf, wo's lustig herging, um so öfter aber auf der Giebelkammer des Großvaters, wo alle seine vielen Bücher standen. So kam es, daß sie immer, wenn wir mit ihr zusammenkamen, aussah, als wäre sie ganz abwesend, und wir sprachen untereinander: wären wir doch so klug wie die Karen Haugen. Sie war die Erbin des Alten, und mancher kecke Bursch erbot sich, Halbpart mit ihr zu machen, aber Körbe kriegten sie alle. Um die Zeit kam auch des Pastors Sohn von seiner Studentenzeit heim. Mit dem war nicht viel los, denn sein Sinn stand mehr auf Tollheiten und schlechte Dinge als auf gute. Nun war er obendrein auch noch ans Trinken gekommen. »Vor dem mußt du dich in acht nehmen,« sagte der alte Schulze; »ich bin viel mit den Vornehmen zusammen gewesen und nach meiner Erfahrung verdienen sie unser Zutrauen weit weniger als der Bauer.« Karen hörte stets mehr auf seine Stimme als auf alle anderen, – und als sie dann mit dem Pastorsohn zusammentraf, ging sie ihm aus dem Wege; denn er stellte ihr nach. Seitdem konnte sie nirgends hingehen, ohne ihn zu treffen. »Weg,« sagte sie, »es hilft dir doch alles nichts.« Er aber verfolgte sie, und so kam es, daß sie ihn schließlich doch einmal anhören mußte. Hübsch genug war er ja, aber, als er sagte, er könne ohne sie nicht leben, scheuchte er sie wieder von sich. Er umschlich ihren Hof – aber sie ließ sich nicht blicken; er stand nachts vor ihrem Fenster, sie kam nicht zum Vorschein; er sagte, er wolle sich das Leben nehmen, aber Karen wußte besser Bescheid. Nun fing er wieder zu trinken an. »Nimm dich in acht, das sind alles nur Teufelslisten,« sagte der alte Schulze. Da stand eines Tages der Bursch mitten in ihrem Zimmer; niemand wußte, wie er da hingekommen war. »Jetzt töte ich dich,« sagte er. – »Ja, wage es nur,« sagte sie. Aber da fing er zu weinen an und sagte, in ihrer Macht stehe es, einen brauchbaren Menschen aus ihm zu machen, »wenn du nur wenigstens ein halbes Jahr lang das Trinken lassen könntest,« sagte sie. Und wirklich, er enthielt sich ein halbes Jahr lang des Trinkens. »Glaubst du mir jetzt?« fragte er. »Nicht, ehe du dich ein halbes Jahr lang von allen Zechgelagen und Lustbarkeiten ferngehalten hast.« Das tat er. »Glaubst du mir jetzt?« fragte er. »Nicht, ehe du zurückreisest, und deine Studien beendigst.« Auch das tat er, und das Jahr drauf kam er zurück als ausgelernter Prediger, »Glaubst du mir jetzt?« fragte er und hatte sogar Priestermantel und Kragen um. »Erst will ich dich ein paarmal Gottes Wort verkündigen hören,« sagte Karen. Und das tat er rein und lauter, wie es einem Priester geziemt; er sprach von seiner eigenen Sündhaftigkeit, und wie leicht der Sieg sei, wenn man nur erst den Anfang gemacht habe, und wie gut Gottes Wort sei, wenn man es nur erst gefunden habe. Darauf trat er wieder vor Karen hin. »Ja, jetzt glaube ich, du wirst so leben, wie du es selbst für richtig erkannt hast,« sagte Karen, »und nun will ich dir erzählen, daß ich seit drei Jahren mit meinem Vetter Anders Haugen verlobt bin; nächsten Sonntag sollst du uns von der Kanzel aufbieten.«
Hier schloß die Mutter. Synnöve hatte anfangs wenig Aufmerksamkeit gezeigt, später war ihr Interesse mehr und mehr gewachsen und jetzt hing sie förmlich an den Lippen der Mutter. »Geht's nicht weiter?« fragte sie mit banger Stimme.
»Nein,« antwortete die Mutter. Der Vater sah die Mutter an, da glitt ihr Blick unsicher zur Seite, und sie fuhr nach kurzem Bedenken fort, indem sie mit dem Finger über die Tischplatte strich: »Möglich, daß es noch weiter geht, – – aber das kann ja gleich sein.«
»Geht es weiter?« fragte Synnöve und wandte sich an den Vater, der es zu wissen schien.
»Hm – ja; aber wie Mutter sagt, es kann gleich sein.«
»Wie erging es ihm?« fragte Synnöve.
»Ja, das ist es eben,« sagte der Vater und schaute zur Mutter hinüber. Diese hatte sich jetzt in ihrem Stuhle hintenüber gelehnt und sah die beiden an.
»Wurde er unglücklich?« fragte Synnöve leise.
»Man muß schließen, wo der Schluß hingehört,« sagte die Mutter und stand auf. Der Vater ebenfalls, und etwas später auch Synnöve.
Ein paar Wochen später machten sich sämtliche Bewohner von Solbakken frühmorgens zum Kirchgang bereit; es war Konfirmationstag, der in diesem Jahre etwas früher war als sonst, und bei solchen Gelegenheiten wurde alles zugeschlossen, denn alle mußten mit dabei sein. Da das Wetter klar war, wollten sie nicht fahren, trotzdem es in der Morgenfrühe noch etwas kalt und winterlich war; es schien ein schöner Tag werden zu wollen. Der Weg führte im Bogen um die Bygde herum und an Granliden vorbei, bog dann nach rechts ab, und eine gute Viertelmeile von da lag die Kirche. An den meisten Stellen war das Korn schon gemäht und in Garben aufgesetzt, das Vieh war größtenteils schon von den Almen heruntergeholt und weidete jetzt gebunden im Tale, die Wiesen waren entweder zum zweiten Male grün, oder, wo die Erde magerer war, gräulich weiß; ringsum stand der vielfarbige Wald, die Birke schon angekränkelt, die Espe ganz gelbblaß, die Eberesche mit trockenen verschrumpften Blättern, aber fruchtbeladen. Es hatte ein paar Tage lang heftig geregnet, das niedere Gestrüpp, das am Wegrand krabbelte und sonst den ganzen Tag im Sande nieste, war heute reingewaschen und frisch. Aber die Berghänge neigten sich schon schwerer über das Tal herab, je mehr der verheerende Herbst sie entkleidete und ernsthaft machte, während die Bergbäche, die im Sommer nur bisweilen Leben gezeigt hatten, hochmütig und schäumend mit mächtigem Getöse talabwärts tollten. Der Granlider Bach ging einen schwerfälligeren und sichereren Gang, besonders nachdem er den Granlider Geröllabhang erreicht hatte, wo der Berg auf einmal nicht mehr mit wollte, sondern sich ganz einfach zurückzog. Einen kräftigen Ruck versetzte er dem Felsen und jagte mit Geheul und Hallo davon, so daß der Berg erzitterte. Und nun wurde dem für seine Verräterei tüchtig der Kopf gewaschen, denn er bekam einen kitzelnden Wasserstrahl mitten ins Gesicht. Ein paar neugierige Erlenstauden, die sich dem Abgrund näherten, wären fast von der Flut mit fortgerissen worden und standen nun und schlucksten in der kalten Dusche. Denn heute war der Wasserfall nicht sparsam.
Torbjörn kam mit seinen Eltern, seinen Geschwistern und den übrigen Hausbewohnern gerade vorüber und sah dem Schauspiel zu. Er war jetzt wieder ganz gesund und half dem Vater schon wieder mit kräftiger Hand bei der Arbeit. Man sah die beiden jetzt immer zusammen, so auch heute.
»Ich meine fast, da haben wir die von Solbakken grad' hinter uns.« sagte der Vater.
Torbjörn sah sich nicht um, aber die Mutter sagte: »Ja wirklich, – – aber ich kann gar nicht die – – doch, da hinten.«
Sei es nun, daß die von Granliden von da an schneller gingen oder daß die von Solbakken ihre Schritte verlangsamten, der Abstand zwischen ihnen wurde immer größer und größer, so daß man sich zuletzt kaum mehr sehen konnte. – Es schien, als sollte es heute voll werden in der Kirche; die lange Landstraße war schwarz von Leuten, Fußgängern, Fahrenden und Reitern; die Pferde waren jetzt zur Herbstzeit feurig und wenig gewöhnt, mit anderen zusammen zu sein, weshalb sie ein stetiges unruhiges Gewieher von sich gaben, was die Fahrt zwar gefahrvoll, aber sehr amüsant machte.
Je mehr sie sich der Kirche näherten, desto größeren Lärm machten die Pferde, da jedes Neuhinzukommende denen, die schon angebunden dastanden, zuwieherte, und diese fingen an, an den Leinen zu zerren, mit den Hinterfüßen zu stampfen und den Neuankommenden entgegenzuwiehern. Sämtliche Hunde der Bygde, die die ganze Woche lang einander gehört und sich geneckt und geschimpft hatten, trafen sich nun hier bei der Kirche und platzten sofort aufeinander zu wütenden Kämpfen, paarweis und in großen Klumpen über die Felder hinjagend. Die Leute standen still in flüsterndem Gespräch an der Kirchenmauer und an den Häusern und sahen einander nur von der Seite an. Der Weg an der Mauer entlang war nicht breit, die Häuserreihe an der anderen Seite kam dicht heran, und jetzt standen die Frauen meist der Mauer entlang, und die Männer an der Häuserreihe gegenüber. Erst später wagten sie sich zueinander hinüber, anfangs taten selbst gute Bekannte, wenn sie sich von weitem sahen, als sähen sie sich nicht; es sei denn, daß sie einander so dicht im Wege standen, daß sie nicht unterlassen konnten, zu grüßen; aber das geschah dann mit halbabgewandtem Gesicht und kurz abgebrochenen Worten, worauf man sich dann am liebsten jeder nach einer anderen Seite zurückzog. Als die von Granliden kamen, wurde es fast noch stiller, als vorher; Sämund hatte nicht allzuviele zu grüßen, drum ging es mit ihm ziemlich rasch die Reihe entlang; die Frauen hakten sich jedoch fest und blieben gleich bei den vordersten stehen. Daher mußten die beiden Männer, als es Zeit war, in die Kirche zu gehen, wieder ganz nach vorn, um ihre Frauen zu holen. In demselben Augenblick kamen drei Wagen dicht hintereinander her gefahren, rasender als irgendeiner der andern, und bremsten nicht einmal dann, als sie schon in die Volksmenge einbogen. Sämund und Torbjörn, die beinahe überfahren worden wären, sahen gleichzeitig auf; in dem ersten Wagen saßen Knut Nordhang und ein alter Mann, in dem zweiten seine Schwester mit ihrem Mann, im dritten die Altenteiler. Vater und Sohn sahen einander an; Sämund verzog keine Miene, Torbjörn war sehr blaß geworden; dann ließen die Augen der beiden Männer einander los und glitten gradeaus, und da sahen sie die von Solbakken, die eben in diesem Augenblick stehen geblieben waren, um Ingebjörg und Ingrid Granliden zu begrüßen. Aber die Wagen waren dazwischen gekommen, und das Wort war ihnen auf der Lippe erstorben, ihre Augen hingen noch an den vorbeifahrenden, und es dauerte eine geraume Weile, ehe sie sie abwenden konnten. Wie sie sich nun so ganz allmählich von ihrer Überraschung erholten und ihre Augen umherschweifen ließen, um einen Übergang zu finden, sahen sie Torbjörn und Sämund, die da standen und vor sich hinstarrten. Guttorm Solbakken wandte sich ab, aber die Frau suchte hastig Torbjörns Augen; Synnöve, die diese auf sich gerichtet fühlte, wandte sich Ingrid Granliden zu und nahm sie bei der Hand, wie um sie zu begrüßen, trotzdem sie das schon einmal getan hatte. Aber sie fühlten alle gleichzeitig, daß alle ihre Leute und alle Bekannte sie ohne Ausnahme beobachteten, und nun ging Sämund selbst hinüber und gab Guttorm mit abgewandtem Gesicht die Hand: »Schön' Dank fürs letztemal.«
»Gleichfalls Dank.«
Ebenso die Frau: »Schön' Dank fürs letztemal.«
»Gleichfalls Dank,« aber auch sie sah nicht auf.
Torbjörn ging hinter seinem Vater her und tat ganz dasselbe; dieser war jetzt gerade an Synnöve gekommen und sie war die erste, die er ansah. Sie sah auch zu ihm auf und vergaß, »Dank fürs letztemal« zu sagen. In demselben Moment kam Torbjörn hinzu; er sagte nichts, sie nichts, sie gaben einander die Hand, aber ganz lose, keins schlug die Augen auf, keins konnte sich vom Fleck rühren.
»'s wird sicher ein schöner Tag heute,« sagte Karen Solbakken und ließ ihre Blicke hastig vom einen zum anderen schweifen.
Sämund war der einzige, der antwortete: »Glaub's auch, der Wind da wird schon die Wolken vertreiben.«
»Gut fürs Korn, dem tut Trockenwetter not,« sagte Ingebjörg Granliden und bürstete an Sämunds Rücken herum, wahrscheinlich weil sie meinte, er sei staubig.
»Unser lieber Herrgott hat uns ein gesegnetes Jahr gegeben; fragt sich nur, ob alles unter Dach will,« sagte nun Karen Solbakken wieder und sah zu den beiden hinüber, die sich noch immer nicht vom Fleck gerührt hatten.
»Das hängt ganz von der Arbeitskraft ab,« sagte Sämund und wandte sich so an sie, daß sie nicht mehr dahin sehen konnte, wo sie doch am liebsten hinsehen wollte.
»Ich hab' mir oft überlegt, ob nicht ein paar Höfe ihre Macht vereinigen könnten; da würde es sicher besser gehen,« sagte Sämund.
»Es könnte leicht so treffen, daß beide gleichzeitig das Trockenwetter benutzen möchten,« sagte Karen Solbakken und tat einen Schritt zur Seite.
»Freilich,« sagte Ingebjörg und stellte sich dicht neben ihren Mann, so daß Karen auch jetzt nicht dahin sehen konnte, wohin sie gern sehen wollte; »aber an manchen Orten wird es früher reif als an anderen; Solbakken ist uns oft gute vierzehn Tage voraus.« –
»Ja, da könnten wir einander ja ganz gut helfen,« sagte Guttorm langsam und trat einen Schritt näher, Karen warf ihm einen hastigen Blick zu. »Es kann freilich ja allerlei dazwischen kommen,« fügte er hinzu.
»So ist's,« sagte Karen und tat einen Schritt nach der einen Seite, dann wieder nach der anderen Seite, und noch einen, und wieder einen zurück. –
»Ja, ja – manches stellt sich einem in den Weg,« sagte Sämund; es war nicht so ganz weit davon entfernt, daß sich sein Mund zu einem Lächeln verzog.
»Freilich, freilich, das mag schon sein,« sagte Guttorm, aber die Frau fiel ihm ins Wort: »Menschenkraft reicht nicht weit; Gottes Macht ist die größte, sollt' ich meinen, auf ihn allein kommt's an.«
»Na, er kann doch wohl nicht gar zu viel dagegen haben, daß wir uns auf Solbakken und Granliden gegenseitig mit der Ernte helfen?«
»Nein,« meinte Guttorm, »dagegen kann er doch wohl nichts haben,« und er sah seine Frau ernsthaft an.
Diese gab dem Gespräch eine andere Wendung.
»Es sind heute viel Leute zur Kirche gekommen,« sagte sie, »es tut wohl, sie das Haus Gottes suchen zu sehen.«
Keiner schien antworten zu wollen; da sagte Guttorm: »Ich glaube fast, es ist besser geworden mit der Gottesfurcht; man trifft heutzutage mehr Leute in der Kirche, als in meiner Jugend.«
»O – ja, – die Leute vermehren sich,« sagte Sämund.
»Es sind wohl viele dabei, vielleicht sogar die meisten, die sich nur aus Gewohnheit hierher treiben lassen,« sagte Karen Solbakken. –
»Vielleicht die Jüngeren,« meinte Ingebjörg.
»Das junge Volk will gerne eine Gelegenheit haben, zusammenzukommen,« sagte Sämund.
»Habt ihr gehört, daß unser Pastor sich um eine andere Stelle bewerben will?« sagte Karen und gab damit zum zweitenmal dem Gespräch eine andere Wendung.
»Wie traurig,« sagte Ingebjörg, »er hat alle meine Kinder getauft und konfirmiert.«
»Du möchtest wohl gern, er sollte sie auch erst noch verheiraten?« sagte Sämund und kaute an einem Stückchen Holz, das er sich aufgelesen hatte.
»Ich möcht' wissen, ob nicht bald Kirchzeit ist?« sagte Karen und blickte nach dem Kirchenportal hin. –
»Ja, ja, 's ist heut hübsch heiß hier draußen,« sagte Sämund wie vorhin.
»Komm Synnöve, wir gehen.«
Synnöve fuhr zusammen und wendete sich um; denn sie hatte nun doch mit Torbjörn gesprochen.
»Wartet doch lieber, bis es läutet,« sagte Ingrid Granliden und guckte verstohlen zu Synnöve hinüber; »dann gehen wir alle zusammen,« fügte Ingebjörg hinzu. Synnöve wußte nicht recht, was sie antworten sollte. Sämund blickte über die Schulter zu ihr hinüber.
»Wart' ein bißchen, dann läutet's bald – für dich,« sagte er. Synnöve wurde dunkelrot, die Mutter sah ihn mißbilligend an. Aber er lächelte ihr zu. »Es kommt doch alles, wie der liebe Gott will,« sagte er, »hast du's nicht eben erst selbst gesagt?« Und er ging gemächlich den anderen voran nach der Kirche zu, die anderen hinterher.
Am Portal war großes Gedränge, und als man hineinwollte, war es noch gar nicht offen. Doch gerade als alle näher kamen, um nach der Ursache zu fragen, wurde geöffnet, und die Leute gingen hinein; einzelne aber gingen zurück, wodurch die Kommenden getrennt wurden. Dort standen, an die Wand gelehnt, zwei im Gespräch, der eine hochgewachsen und breitschultrig, mit blondem aber struppigem Haar und Stumpfnase, und das war Knut Nordhaug; als er die von Granliden kommen sah, blieb er mitten im Satze stecken, wurde etwas unruhig, blieb aber doch stehen. Sämund mußte jetzt gerade an ihm vorbei und warf ihm einen flammenden Blick zu, aber Knut schlug seine Augen auch nicht nieder, trotzdem sie nicht so ganz sicher blickten. Nun kam Synnöve, und als sie so unerwartet Knuts ansichtig wurde, wurde sie totenblaß. Da schlug Knut seine Augen nieder und schickte sich an, seinen Platz an der Mauer zu verlassen. Kaum hatte er ein paar Schritte getan, als er vier Gesichter auf sich gerichtet sah, nämlich Guttorms, Karens, Ingrids und Torbjörns. Verwirrt, wie er war, ging er gerade auf sie zu, bis er, ohne zu wissen wie, plötzlich Auge in Auge mit Torbjörn stand; er machte eine Bewegung, als wolle er sich drücken, aber inzwischen waren noch andere Leute hinzugekommen, es ging also nicht so leicht. Dies geschah auf den Steinfliesen draußen vor der Kirche von Fagerlid; oben auf der Schwelle des Waffenhauses war Synnöve stehen geblieben und Sämund stand weiter nach innen; sie konnten, da sie höher standen als alle anderen, deutlich alles sehen, was draußen vorging und von allen gesehen werden. Synnöve hatte alles um sich her vergessen und sah nur starr auf Torbjörn; ebenso Sämund, die Frau, die beiden Solbakkens und Ingrid. Das fühlte Torbjörn und stand wie angewurzelt; aber Knut fand, daß etwas geschehen müsse, und so streckte er die eine Hand ein kleines Stückchen vor, sagte aber nichts. Torbjörn streckte auch die seine ein Stückchen vor, aber nicht so weit, daß sie einander hätten erreichen können.
»Danke fürs –« fing Knut an, aber es fiel ihm gleich ein, daß dieser Gruß hier doch nicht so ganz angebracht sei, und er ging einen Schritt zurück. Torbjörn sah auf, und seine Augen fielen auf Synnöve, die weiß wie Schnee war. Da ging er einen langen Schritt vor, nahm mit kräftigem Griff Knuts Hand und sagte so laut, daß die Zunächststehenden es hören konnten: »Dank fürs letztemal, Knut, 's mag uns allen beiden ganz gesund gewesen sein.«
Knut gab einen Laut von sich, etwa wie ein Schlucksen, und es sah aus, als setze er zwei-, dreimal zum Sprechen an; aber es wurde nichts draus. Torbjörn hatte nichts weiter zu sagen, er stand da und wartete, – sah nicht auf, sondern wartete nur. Jedoch es kam immer noch kein Wort, und wie nun Torbjörn so dastand und sein Gesangbuch in der Hand herumdrehte, ließ er es zur Erde fallen. Gleich bückte sich Knut, hob es auf und reichte es ihm. »Danke,« sagte Torbjörn, der sich auch gebückt hatte; er blickte auf, aber da Knut die Augen wieder niedergeschlagen hatte, dachte Torbjörn: es ist wohl das beste, ich gehe. Und so ging er.
Die anderen gingen auch, und als Torbjörn sich gesetzt hatte und nach einer Weile nach dem Frauenstuhl hinübersehen wollte, sah er Ingebjörgs Gesicht sich mütterlich zulächeln, und auch Karen Solbakkens, die sicherlich nur auf den Moment gewartet hatte, wo er hinübersehen würde; denn sowie er's tat, nickte sie ihm dreimal zu, und als er darüber stutzte, nickte sie noch dreimal, und noch freundlicher als vorhin. – Vater Sämund flüsterte ihm ins Ohr: »Das hab' ich mir gedacht.« Und als das Eingangsgebet gesprochen und der erste Choral gesungen war und die Konfirmanden sich schon aufstellten, da flüsterte er wieder: »Aber dem Knut fällt das Gutsein zu schwer; laß den Weg von Granliden nach Nordhaug immer recht weit sein.«
Die Konfirmation begann, der Geistliche trat vor, und die Kinder stimmten das Konfirmationslied von Kingo an. All diese Kinderstimmen vereint zu hören, so gläubig und hoffnungsreich und hellklingend, das pflegt gewöhnlich die Leute sehr zu rühren, am meisten die, die noch jung genug sind, um sich noch deutlich ihres eigenen Konfirmationstages zu erinnern. Und wenn dann die tiefe Stille eintritt, wenn der Geistliche, derselbe nun seit zwanzig Jahren, derselbe, der wohl jedem einzelnen in einer guten Stunde einmal zum Guten zugeredet hat –, dann die Hände über der Brust faltet und zu reden anfängt, wird die Rührung ringsum noch größer. Die Kinder aber fangen an zu weinen, wenn der Pastor zu den Eltern redet und sie ermahnt, für ihre Kinder zum lieben Gott zu beten. Torbjörn, der erst vor kurzem dem Tode ins Auge geschaut und geglaubt hatte, er würde zeitlebens ein Krüppel bleiben, weinte heftig, besonders als die Kinder ihr Gelübde ablegten, alle miteinander in der festen Überzeugung, sie würden es halten. Er sah nicht ein einziges Mal nach der Frauenbank hinüber; aber nach beendigtem Gottesdienst ging er auf Schwester Ingrid zu und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf er sich eiligst hinausdrängte, und einige wollten gesehen haben, daß er, statt die Landstraße entlang, den Berghang hinauf und in den Wald gegangen sei; aber sicher war man nicht. Sämund suchte nach ihm, – gab es jedoch auf, als er sah, daß auch Ingrid verschwunden war. Dann sah er sich nach den Leuten von Solbakken um; diese suchten auf dem ganzen Kirchplatz herum und fragten nach Synnöve, von der niemand etwas gesehen hatte. So mußten sie sich auf den Heimweg machen, jeder für sich, und ohne ihre Kinder.
Aber weit voran auf der Landstraße gingen Synnöve und Ingrid.
»Fast reut es mich, daß ich mitgegangen bin,« sagte die erste.
»Jetzt schadet es doch nichts mehr, wenn der Vater darum weiß,« sagte die andere.
»Aber er ist doch nicht mein Vater,« sagte Synnöve.
»Wer weiß,« antwortete Ingrid, – und dann wurde nicht weiter darüber gesprochen. »Hier ist glaub' ich die Stelle, wo wir warten sollten,« meinte Ingrid, als sie eine große Biegung hinter sich hatten und in dichtem Wald standen.
»Er hat einen großen Umweg zu machen,« sagte Synnöve.
»Schon da,« fiel Torbjörn ein und tauchte hinter einem großen Stein auf.
Er hatte sich im Kopf alles so schön zurechtgelegt, was er sagen wollte, und das war nicht wenig. Und heute sollte es ihm auch nicht schwer fallen, denn sein Vater wußte darum und billigte es, dessen glaubte er sicher zu sein, nach all dem, was heute in der Kirche passiert war. Und so wie er sich den ganzen Sommer lang danach gesehnt hatte, da sollte ihm das Sprechen schon leichter fallen, als früher.
»Wir gehen wohl am besten den Waldweg,« sagte er, »der ist kürzer.«
Die Mädchen sagten nichts, gingen aber mit. Torbjörn wollte nun mit Synnöve sprechen, aber erst wollte er warten, bis sie über den Hügel wären, dann, bis sie an dem Sumpf vorbei wären; aber als sie auch den hinter sich hatten, dachte er, es ginge besser, wenn sie in den Wald da vorn gekommen wären. Ingrid, die wohl fand, es gehe ein bißchen langsam, fing an, ihre Schritte zu verzögern, und blieb mehr und mehr zurück, bis sie zuletzt kaum noch zu sehen war. Synnöve tat, als merkte sie es nicht, und fing an, hier und da am Wege Beeren zu pflücken.
Das sollte doch merkwürdig zugehen, – wenn mir die Sprache nicht käme, dachte Torbjörn, und so sagte er:
»Das Wetter ist doch noch schön geworden heute.«
»Ja, freilich,« antwortete Synnöve. Wieder ging es ein Stück weiter; sie pflückte Beeren, und er ging neben ihr.
»Nett von dir, daß du mitgekommen bist,« sagte er; aber darauf antwortete sie nichts.
»Das war mal ein langer Sommer,« sagte er; aber darauf antwortete sie auch nichts.
Nein, im Gehen kommen wir nicht dazu, uns auszusprechen, dachte Torbjörn.
»Ich denke, wir warten lieber ein bißchen auf Ingrid,« sagte er.
»Ja, das wollen wir,« sagte Synnöve und blieb stehen, hier gab's keine Beeren, nach denen sie sich hätte bücken können, das hatte Torbjörn gleich entdeckt; aber Synnöve hatte einen langen Grashalm abgerupft, und nun stand sie da und reihte die Beeren an den Halm.
»Ich mußte heute so lebhaft an die Zeit denken, als wir zusammen zur Konfirmation gingen,« sagte er.
»Ich mußte auch dran denken,« sagte sie.
»Seitdem hat sich manches ereignet,« – und als sie nichts sagte, fuhr er fort, »aber das meiste ist doch anders gekommen, als wir es uns gedacht hätten.«
Synnöve spießte ihre Beeren sehr fleißig auf den Halm, wobei sie den Kopf gesenkt hielt; er stellte sich ein wenig anders, um ihr ins Gesicht sehen zu können, aber als ob sie seine Absicht gemerkt hätte, wußte sie es so einzurichten, daß sie sich wieder umdrehen mußte. Da wurde ihm fast bange, er würde gar nichts herausbringen.
»Synnöve, du hast doch wohl auch ein bißchen was zu sagen, nicht?«
Da sah sie auf und lachte.
»Was sollte ich denn zu sagen haben?« fragte sie.
Da kam ihm mit einem Male die Courage wieder, und er wollte sie umfassen, aber als er ihr schon ganz nahe gekommen war, traute er sich's doch nicht so recht und fragte bloß ganz zaghaft:
»Ingrid hat doch mit dir geredet, nicht?«
»Ja,« antwortete sie.
»Na, dann weißt du doch was,« sagte er.
Sie schwieg.
»Dann weißt du doch was,« wiederholte er und näherte sich ihr zum zweitenmal.
»Du wirst wohl auch was wissen,« antwortete sie, – ihr Gesicht konnte er nicht sehen.
»Ja,« sagte er und wollte ihre Hand ergreifen, aber jetzt war sie eifriger als je mit ihren Beeren beschäftigt.
»Zu dumm,« sagte er, »du benimmst mir immer allen Mut.«
Er konnte nicht sehen, ob sie dazu lächelte, und so wußte er nicht recht, wie er fortfahren sollte.
»Na, kurz und gut,« sagte er auf einmal ganz laut, obwohl seine Stimme nicht ganz fest war, »was hast du mit dem Zettel gemacht?«
Sie antwortete nicht, aber sie wandte sich ab. Er folgte ihr, legte ihr seine Hand auf die Schulter und beugte sich über sie.
»Antworte,« flüsterte er.
»Ich hab' ihn verbrannt.«
Er nahm sie rasch und wandte ihr Gesicht sich zu, aber da sah er, daß sie dem Weinen nahe war, und da konnte er nicht anders, als sie wieder loslassen. –
»Zu komisch, daß sie so nah ans Wasser gebaut hat,« dachte er. Und wie sie da so standen, sagte sie plötzlich leise:
»Warum hast du mir den Zettel geschrieben?«
»Das hat dir doch Ingrid schon gesagt.«
»Ja, freilich, – aber es war – doch grausam von dir.«
»Vater wollte es.«
»Ja, aber – –«
»Er glaubte, ich würde mein Lebtag ein Krüppel bleiben, und da sagte er: ›Von jetzt an werde ich für dich sorgen.‹«
Jetzt wurde Ingrid am Fuße des Hügels sichtbar, und gleich setzten sie sich wieder in Bewegung.
»Mir war, als sähe ich dich erst so recht, als ich nicht mehr dran denken durfte, dich zu kriegen,« sagte er.
»Man wird am besten über sich klar, wenn man allein ist,« sagte sie.
»Ja, da merkt man, wer die größte Macht über einen hat,« sagte Torbjörn mit klarer Stimme und schritt ernsthaft an ihrer Seite hin.
Jetzt pflückte sie keine Beeren mehr.
»Willst du das haben?« sagte sie und reichte ihm den Halm.
»Danke,« sagte er und ergriff die Hand, die ihm die Beeren reichte.
»Also ist's wohl das beste, es bleibt beim alten,« sagte er mit etwas unsicherer Stimme.
»Ja,« flüsterte sie kaum hörbar und wandte sich ab; sie gingen weiter, und solange sie schwieg, wagte er nicht, sie zu berühren und auch nicht zu sprechen, aber es war ihm, als wiche alle Schwere aus seinem Körper, und ihm wurde ganz taumelig im Kopf. Es flammte ihm vor den Augen, und als sie in demselben Augenblick auf eine Höhe kamen, von der aus man Solbakken sehen konnte, war ihm, als habe er sein ganzes Leben lang dort gewohnt und sich dorthin gesehnt wie nach einer Heimat.
»Ich kann ebensogut gleich mit ihr hinübergehen,« dachte er und trank sich durch den Anblick Mut ein, so daß er mit jedem Schritt in seinem Vorsatz fester wurde. »Der Vater wird mir schon helfen,« dachte er, »ich halt' es nicht länger aus, ich muß hinüber – ich muß.« Und er ging schneller und schneller und blickte gerade vor sich hin; es leuchtete über dem Tal und dem Hof. »Ja heute, keine Stunde länger warte ich,« und er fühlte sich so stark, daß er nicht wußte, wohin mit all der Kraft.
»Du läufst mir ja davon,« hörte er eine sanfte Stimme hinter sich. Es war Synnöve, die vergebens versucht hatte, Schritt mit ihm zu halten, und es nun aufgeben mußte.
Er wandte sich beschämt um, kam mit ausgebreiteten Armen zurück und dachte: »Jetzt hebe ich sie hoch über meinen Kopf empor;« aber als er ihr näherkam, tat er das durchaus nicht.
»Ich gehe aber auch zu schnell,« sagte er.
»Freilich,« sagte sie.
Jetzt waren sie ganz nahe an der Landstraße; Ingrid, die die ganze Zeit unsichtbar gewesen war, war jetzt auf einmal dicht hinter ihnen.
»Jetzt dürft ihr nicht weiter zusammengehen,« sagte sie.
Torbjörn fuhr bei ihren Worten zusammen, es kam ihm viel zu früh; auch Synnöve wurde es ganz seltsam zumut.
»Ich hätte dir so viel zu sagen gehabt,« flüsterte Torbjörn. Sie, konnte nicht umhin, ein klein wenig zu lächeln.
»Na ja,« sagte er, »ein andermal« – und er nahm ihre Hand.
Sie schaute ihm voll und klar ins Gesicht; ihm wurde ganz warm dabei, und es fuhr ihm durch den Kopf: »Ich gehe gleich mit ihr.« Da zog sie ihre Hand behutsam zurück, wandte sich ruhig zu Ingrid und sagte: »Lebt wohl!« und ging dann langsam hinab der Landstraße zu. Er blieb zurück.
Die beiden Geschwister gingen durch den Wald nach Hause.
»Na, habt ihr euch denn nun ausgesprochen?« fragte Ingrid.
»Ach nein, der Weg war viel zu kurz,« sagte er, aber er ging schnell zu, als wollte er nichts weiter davon hören.
»Nun?« sagte Sämund und blickte von seinem Teller auf, als die Geschwister in die Stube kamen. Torbjörn gab keine Antwort, sondern ging nach der Bank an der anderen Seite, vermutlich um seinen Rock abzulegen. Ingrid ging hinterher und lachte leise vor sich hin. Sämund fing wieder zu essen an und sah nur von Zeit zu Zeit zu Torbjörn hinüber, als sei er sehr beschäftigt, schmunzelte und aß weiter.
»Kommt doch und eßt,« sagte er, »das Essen wird kalt.«
»Danke, ich mag nichts,« sagte Torbjörn und setzte sich.
»So?« – und Sämund aß weiter. Nach einer Weile sagte er:
»Ihr hattet es ja heute recht eilig nach der Kirche?«
»Wir hatten mit jemandem zu reden,« sagte Torbjörn und hockte sich auf die Erde.
»Na, und hast du mit dem Jemand gesprochen?«
»Ich weiß nicht recht,« sagte Torbjörn.
»Ei zum Kuckuck,« sagte Sämund und aß.
Als er nach einer Weile fertig war, stand er auf, trat ans Fenster und sah hinaus, dann wandte er sich um:
»Du – wir gehen ein bißchen hinaus und besehen das Korn.«
Torbjörn stand auf.
»Zieh nur lieber gleich den Rock an.«
Torbjörn, der in Hemdärmeln war, zog eine alte Jacke an, die gerade über ihm hing.
»Aber du siehst doch, daß ich den Neuen anhabe,« sagte Sämund.
Torbjörn tat dasselbe, und sie gingen; Sämund voran, Torbjörn hinterher.
Sie gingen nach der Landstraße zu.
»Wollen wir nicht in die Gerste?« sagte Torbjörn.
»Nein, lieber zum Weizen.«
Gerade als sie an die Landstraße kamen, kam langsam ein Wagen gefahren.
»Das ist Nordhauger Gefährt,« sagte Sämund.
»Die jungen Nordhauger sind's,« fügte Torbjörn hinzu, aber damit meinte er das junge Ehepaar.
Der Wagen hielt, als er sich den Granlidern näherte.
»Sie ist doch ein stolzes Weib, die Marit Nordhaug,« flüsterte Sämund und konnte die Augen nicht von ihr abwenden. Sie saß etwas zurückgelehnt im Wagen, um den Kopf lose ein Tuch gewunden, ein zweites um die Schultern. Sie sah den beiden mit starrem Blick entgegen; nicht die geringste Bewegung war in ihren reinen, kräftigen Zügen. Der Mann war sehr blaß und mager und noch sanftmütiger als gewöhnlich, ungefähr wie einer, der einen heimlichen Kummer hat, von dem er keinem Menschen erzählen kann.
»Nun? beseht ihr das Korn?« sagte er.
»Wollt's meinen,« antwortete Sämund,
»'s steht gut heuer.«
»Hm – ja, könnt' schlimmer sein.«
»Ihr kommt spät,« sagte Torbjörn.
»Es waren so viele Bekannte da, von denen man sich verabschieden mußte,« sagte der Mann.
»So? willst du verreisen?« sagte Sämund.
»Ja, es wird wohl so werden.«
»Geht die Reise weit?«
»Ja, ziemlich.«
»Wie weit denn?«
»Nach Amerika.«
»Nach Amerika?« riefen die beiden Männer wie aus einem Mund; »so ein neugebackener Ehemann?« fügte Sämund hinzu.
Der Mann lächelte:
»Ich denke, ich bleibe hier, des Fußes wegen,« sagte der Fuchs – »da saß er im Fangeisen fest.«
Marit sah erst ihn, dann die anderen an, eine leichte Röte flog über ihr Gesicht, sonst war es unverändert.
»Deine Frau geht doch mit?« fragte Sämund.
»Nein, auch das nicht.«
»Man sagt, in Amerika sei es leicht, zu Reichtum zu kommen,« sagte Torbjörn, – denn er fühlte, daß das Gespräch nicht stillstehen dürfe.
»Ja, – kann sein,« sagte der Mann.
»Aber Nordhaug ist ein prächtiges Gut,« meinte Sämund.
»Es sind zu viele da,« antwortete der Mann; wieder sah seine Frau ihn an.
»Der eine steht dem anderen im Wege,« fügte er hinzu.
»Na, dann glückliche Reise,« sagte Sämund; und nahm seine Hand, »Gott gebe dir, was du suchst.«
Torbjörn sah seinem Schulkameraden offen in die Augen, »Ich möchte später noch mit dir reden,« sagte er.
»Es tut wohl, mit jemandem reden zu können,« antwortete der Mann und kratzte mit dem Peitschenstiel den Boden des Wagens.
»Komm doch mal hinüber zu uns,« sagte Marit, und Torbjörn und Sämund sahen ganz erstaunt auf, man vergaß immer ganz, daß sie so eine weiche Stimme hatte. Sie fuhren; – es ging langsam vorwärts, eine leichte Staubwolke wirbelte hinter ihnen auf, die Abendsonne schien voll auf sie, ihr seidenes Tuch hob sich leuchtend von seiner dunklen Friesjacke ab, – dann kam ein Hügel, und die beiden verschwanden.
Lange schritten Vater und Sohn schweigend nebeneinander hin.
»Ich habe eine Ahnung, als ob er nicht so bald wieder zurückkäme,« sagte endlich Torbjörn.
»Wär wohl auch das beste,« meinte Sämund, »wenn man im eigenen Lande das Glück nicht gefunden hat;« und wieder gingen sie schweigend weiter.
»Aber du gehst ja am Weizenfeld vorbei?« sagte Torbjörn.
»Das können wir auf dem Rückweg besehen,« und sie gingen weiter. Torbjörn mochte nicht recht fragen, wo es hingehen sollte, denn schon schritten sie über die Granlider Feldmark hinaus.
Guttorm und Karen Solbakken waren schon mit dem Essen fertig, als Synnöve rot und atemlos eintrat.
»Aber liebes Kind, wo bist du denn gewesen?« fragte die Mutter.
»Ich bin mit Ingrid zurückgeblieben,« sagte Synnöve und blieb stehen, um ihre Tücher abzunehmen; der Vater kramte im Schrank nach einem Buch.
»Was hattet ihr beiden euch denn zu erzählen, daß es so lange dauerte?«
»O – nichts Besonderes.«
»Da wäre es doch wohl besser gewesen, du hättest dich zu den Kirchgängern gehalten, mein Kind.«
Sie stand auf und tat Essen für sie auf.
Als Synnöve bei Tisch saß, die Mutter ihr gegenüber, sagte sie:
»Du hast wohl auch noch mit anderen gesprochen, wie?«
»Ja, mit vielen,« sagte Synnöve.
»Das Kind wird doch wohl mit den Leuten reden dürfen,« sagte Guttorm.
»Ja, freilich darf sie das,« sagte die Mutter etwas milder; »aber sie muß sich doch zu ihren Eltern halten.« Hierauf wurde nichts geantwortet.
»Es war ein gesegneter Kirchgang heute,« sagte die Mutter; »alle die Jugend in der Kirche, das tut einem so wohl.«
»Man denkt an seine eigenen Kinder,« sagte Guttorm.
»Da hast du recht,« sagte die Mutter und seufzte; »wer kann wissen, wie es ihnen ergehen wird.« Guttorm saß lange schweigend.
»Wir haben Gott für vieles zu danken,« sagte er endlich, »er hat uns das Eine behalten lassen.«
Die Mutter fuhr mit dem Finger über den Tisch und sah nicht auf.
»Sie ist doch unsere größte Freude,« sagte sie leise, »sie hat sich auch recht brav herausgemacht,« fügte sie noch leiser hinzu.
Wieder entstand eine lange Pause.
»Ja, sie hat uns viel Freude gemacht,« sagte Guttorm – und dann mit weicher Stimme: »Der liebe Gott mache sie glücklich.«
Die Mutter fuhr mit dem Finger über den Tisch; es fiel eine Träne darauf, die sie wegwischte.
»Warum ißt du denn gar nichts,« sagte der Vater nach einer Weile und blickte auf.
»Danke, ich bin satt,« antwortete Synnöve.
»Aber du hast ja gar nichts gegessen,« sagte nun auch die Mutter, »und hast doch so einen weiten Weg gemacht.«
»Ich kann aber nicht,« sagte Synnöve, und zupfte an einem Zipfel ihres Busentuches.
»Iß doch, Kind,« sagte der Vater.
»Ich kann nicht,« sagte Synnöve und brach in Tränen ans.
»Aber Liebling, warum weinst du denn?«
»Ich weiß nicht,« und sie schluchzte.
»Die Tränen kommen ihr immer so leicht,« sagte die Mutter; der Vater stand auf und trat ans Fenster.
»Da kommen zwei Männer herauf,« sagte er.
»Was? jetzt um diese Zeit?« fragte die Mutter und ging auch ans Fenster. Sie blickten lange hinaus.
»Aber, – wer mag das nur sein?« sagte Karen endlich, aber nicht eben im Frageton.
»Ich weiß nicht,« antwortete Guttorm, und sie sahen noch immer hinaus.
»Ich kann's doch gar nicht recht begreifen,« sagte sie.
»Ich auch nicht,« sagte er. Die Männer kamen näher.
»Sie sind es wirklich,« sagte sie endlich.
»Ja, es scheint so,« sagte Guttorm.
Die Männer kamen näher und näher, jetzt blieb der ältere stehen, und sah sich um, der jüngere auch. Dann gingen sie weiter.
»Was mögen sie nur wollen?« fragte Karen, ungefähr ebenso wie vorhin.
»Ja, ich weiß wirklich nicht,« sagte Guttorm.
Die Mutter wandte sich, ging nach dem Tisch, deckte ab und räumte ein wenig auf.
»Du mußt dein Tuch wieder umbinden, mein Kind,« sagte sie zu Synnöve, »es kommt Besuch.«
Kaum hatte sie das gesagt, als Sämund schon die Tür öffnete und hereintrat, Torbjörn hinterher.
»Gesegnete Mahlzeit,« sagte Sämund, blieb einen Augenblick an der Tür stehen und ging dann langsam durch die Stube, um die Anwesenden zu begrüßen; Torbjörn hinterher.
Sie kamen zuletzt an Synnöve, die noch mit ihrem Tuch in der Hand in der Ecke stand, und nicht wußte, ob sie es umbinden sollte oder nicht, ja sie wußte wohl kaum, daß sie es in der Hand hatte.
»Ihr müßt halt zusehen, wo ihr Platz findet,« sagte die Frau.
»Danke, – übrigens ist der Weg nicht gar so weit,« sagte Sämund, setzte sich aber doch. Torbjörn daneben.
»Ihr kamt uns ja heute bei der Kirche ganz aus den Augen,« sagte Karen.
»Ja, ich hab' mich auch nach euch umgesehen,« antwortete Sämund.
»Es war voll heute,« sagte Guttorm.
»Sehr voll,« wiederholte Sämund, »es war aber auch ein schöner Kirchtag.«
»Ja, wir haben eben auch davon gesprochen,« sagte Karen.
»Es wird einem so wunderbar zumut, beim Anblick der Konfirmanden, wenn man selbst Kinder hat,« fügte Guttorm hinzu; die Frau rückte auf der Bank zur Seite.
»So ist's,« sagte Sämund. »Man denkt dann mal ernsthaft über sie nach, – und darum bin ich auch heute abend hier herübergekommen,« fügte er hinzu, blickte sich fest um, nahm ein frisches Stück Kautabak und legte das alte sorgfältig in die Messingdose. Guttorms, Karens und Torbjörns Augen irrten nach verschiedenen Seiten des Zimmers.
»Ich dachte mir, es wäre das beste, ich käme selbst mit dem Jungen herüber,« fing Sämund langsam an, »es würde ein bißchen lange dauern, ehe er allein herkäme, – er würde überhaupt seine Sache schlecht führen, fürchte ich.« Er lugte verstohlen zu Synnöve hinüber, die den Blick fühlte. »Die Sache ist also die, daß er, seit er sich überhaupt auf solche Dinge versteht, seinen Sinn auf die Synnöve gesetzt hat; – und 's ist wohl auch nicht so ganz weit davon, daß sie auch ihren Sinn auf ihn gesetzt hat. Und da meine ich, 's ist das beste, die beiden kriegen sich. – Früher, als ich sah, daß er sich kaum selbst lenken konnte, geschweige denn andere, war ich nicht dafür: aber jetzt glaube ich, kann ich für ihn einstehen, und kann ich's nicht, so kann's die da; denn ihre Macht ist jetzt doch wohl die größte. – Was meint ihr also, wenn wir die zwei zusammenbrächten? Es hat freilich keine Eile, aber ich weiß auch nicht, warum wir warten sollten. Du, Guttorm, bist gut gestellt, ich allerdings weniger gut, auch habe ich unter mehrere zu teilen, aber ich denke doch, es wird sich machen lassen. Nun müßt ihr sagen, was ihr davon haltet, – die da frage ich zuletzt, denn ich glaube, ich weiß, was sie will.«
So sprach Sämund. Guttorm hockte auf der Bank und legte abwechselnd die eine Hand auf die andere, machte mehrmals Miene, sich zu erheben, indem er bei jedem Male tiefer Atem holte, aber es gelang ihm doch nicht vor dem vierten oder fünften Male, da bekam er endlich den Rücken grade, strich mit der Hand übers Knie, sah zu seiner Frau hinüber, doch so, daß sein Blick ab und zu Synnöve streifte. Diese rührte sich nicht, keiner konnte ihr Gesicht sehen.
»Ja, das ist nun freilich – ein hübsches Anerbieten,« sagte sie.
»Das finde ich auch, wir müssen's dankend annehmen,« sagte Guttorm mit lauter Stimme, als fühlte er sich ungemein erleichtert, und sah von ihr zu Sämund hinüber, der sich mit untergeschlagenen Armen an die Wand lehnte.
»Aber wir haben doch bloß diese eine Tochter,« sagte Karen; »wir müssen Bedenkzeit haben.«
»Dazu wäre schon Rat,« sagte Sämund; »aber ich wüßte nicht, was dich dran verhindern sollte, gleich zu antworten, sagte der Bär zum Bauern, da fragte er ihn, ob er die Kuh haben könne.«
»Ich denke auch, wir können gleich antworten,« sagte Guttorm und sah die Frau an.
»Wenn nur nicht das wäre, daß Torbjörn etwas reichlich wild ist,« sagte sie, ohne aufzublicken.
»Darin, glaube ich doch, hat er sich gebessert,« sagte Guttorm, »du weißt ja selbst, was du heute gesagt hast.«
Die beiden Eheleute sahen einander nun abwechselnd an, und das dauerte wohl eine ganze Minute.
»Wenn wir uns nur auf ihn verlassen könnten,« sagte sie.
»Ja,« nahm nun Sämund wieder das Wort, »was diese Sache anlangt, so muß ich wiederholen, was ich vorhin gesagt habe, wenn sie die Zügel hält, geht's gut mit der Ladung. Die Macht, die sie über ihn hat, ist ungeheuer; das habe ich erfahren, als er damals krank lag und nicht wußte, wie es enden würde, ob er wieder gesund würde oder nicht.«
»Du mußt nicht so schwierig sein,« sagte Guttorm. »Du weißt ja, was sie selbst will, und wir leben doch nur für das Mädel.« Da schaute Synnöve zum erstenmal auf und sah ihren Vater mit großen, dankbaren Augen an.
»Ach ja,« sagte Karen nach kurzem Schweigen und fuhr etwas härter mit dem Finger über den Tisch; »habe ich mich so lange widersetzt, so ist es wohl nicht ohne Absicht geschehen. – – Ich war vielleicht nicht so hart, wie meine Worte.« Da erhob Guttorm sich. »Und so ist denn mit Gottes Hilfe das geschehen, was ich auf dieser Welt am liebsten wollte,« sagte er und ging zu Synnöve hinüber.
»Darum ist mir nie bange gewesen,« sagte Sämund und stand auch auf, »was zusammen soll, das kommt auch zusammen.« Und er ging hinüber.
»Nun, und was sagst du dazu, mein Kind,« sagte die Mutter, und ging nun auch zu Synnöve hinüber.
Diese saß noch immer an derselben Stelle, alle standen jetzt um sie herum, mit Ausnahme von Torbjörn, der noch immer da saß, wo er sich zuerst hingesetzt hatte.
»Steh auf, Kind,« flüsterte die Mutter ihr zu. Sie stand auf, lächelte, wandte sich ab und fing zu weinen an.
»Der Herr sei mit dir jetzt und alle Zeit,« sagte die Mutter und umschlang sie, und beide weinten zusammen. Die beiden Männer gingen nun wieder, jeder nach einer anderen Seite.
»Jetzt geh zu ihm,« sagte die Mutter noch weinend, indem sie sie losließ und sie sanft von sich schob.
Synnöve tat einen Schritt, blieb aber stehen, weil sie nicht weiter konnte; Torbjörn sprang auf und ging ihr entgegen, ergriff ihre Hand, hielt sie fest, wußte nicht, was er weiter tun sollte, und blieb so stehen, ihre Hand festhaltend, bis sie sie ihm sanft wieder entzog. So standen sie stumm nebeneinander.
Jetzt ging die Tür lautlos auf, und jemand steckte den Kopf herein. »Ist Synnöve hier?« wurde mit schüchterner Stimme gefragt. Es war Ingrid Granliden.
»Ja, hier ist sie, komm nur herein,« sagte der Vater. Ingrid zögerte noch. »Komm nur, hier ist alles gut,« fügte er hinzu. Sie schien etwas verlegen. »Da draußen ist noch jemand,« sagte sie.
»Wer denn?« fragte Guttorm.
»Mutter,« sagte sie leise.
»Nur herein,« sagten vier auf einmal.
Die Frau von Solbakken ging nach der Tür, während die anderen sich froh ansahen.
»Du kannst gern kommen, Mutter,« hörten sie Ingrid sagen. Und Ingebjörg Granliden mit ihrer schneeweißen Haube kam herein.
»Ich dachte es mir fast,« sagte sie, »obwohl Sämund mir kein Wort gesagt hat. Und da wußten Ingrid und ich uns nicht anders zu helfen, als hierher zu gehen.«
»Ja, hier ist alles so, wie du es haben willst,« sagte Sämund und rückte weg, damit sie nähertreten könne.
»Gott segne dich, daß du ihn zu dir hinübergezogen hast,« sagte sie zu Synnöve, schloß sie in die Arme und streichelte sie. »Du hast bis zum äußersten an ihm festgehalten, mein Kind, und nun ist alles doch noch gekommen, wie du es wolltest,« und sie streichelte ihr Haar und Wangen, und dabei rannen ihr die Tränen übers Gesicht; sie achtete ihrer eigenen Tränen nicht, aber Synnöve strich sie sorgfältig weg.
»Ja, du kriegst einen prächtigen Jungen,« fügte sie hinzu, »und jetzt bin ich auch seiner ganz sicher,« und sie drückte sie noch einmal an ihr Herz.
»Mutter in ihrer Küche weiß mehr vom Leben,« sagte Sämund, »als wir anderen, die wir mittendrin stehen.«
Allmählich legte sich die Rührung und das Weinen. Die Hausfrau begann ans Abendessen zu denken und bat Klein-Ingrid, ihr zu helfen, denn »die Synnöve ist heute doch zu nichts zu gebrauchen«. Und so machten sich die beiden daran, Rahmbrei zu kochen, während die Männer über die Jahresernte sprachen, und was sonst noch vorliegen mochte.
Torbjörn hatte sich ans Fenster gesetzt, und Synnöve glitt leise zu ihm hin und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Wonach schaust du aus?« flüsterte sie.
Er wandte sich um, sah lange und liebevoll zu ihr hinauf, und dann wieder hinaus.
»Ich sehe nach Granliden hinüber,« sagte er, »es ist so wunderlich, es von hier aus zu sehen.«