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In scheuer Hast, wie früher, wenn er verspätet zur Schule kam, betrat Fermin Montenegro das Büro der »Gebrüder Dupont«, der ersten Weinkellerei von Jerez, die die berühmten Weinbe rge Marchamalo ihr eigen nennt und einen Kognak fabriziert, dessen Lob von dem Anzeigenteil sämtlicher spanischer Zeitungen, von vielfarbigen Plakaten auf Bahnhöfen, an Hauswänden und Zäunen und sogar von den eingeätzten Inschriften der Wasserkaraffen in Hotels und Cafés gesungen wird.

Es war ein Montag, und der junge Mann erschien um eine ganze Stunde zu spät. Die anderen Angestellten wagten kaum von ihren Büchern und Papieren aufzuschauen, als befürchteten sie, sich durch irgendeine Miene oder Geste der Mitschuld an dieser unerhörten Unpünktlichkeit verdächtig zu machen. Montenegro aber überflog voller Unruhe den riesigen Raum, um dann ins Privatkontor zu spähen, wo in einsamer Herrlichkeit ein monumentaler Schreibtisch aus Mahagoni prunkte. Gottlob, der Chef war noch nicht da! Und für den Moment beruhigt, setzte er sich an seinen Platz und begann mit dem täglichen Arbeitspensum.

An diesem Morgen mutete ihn das Büro so sonderbar an, als sähe er es zum ersten Male, als hätte er nicht fünfzehn Jahre seines Lebens hier verbracht, seit jenem Tage, als er durch Don Pablo, den zweiten Dupont der Dynastie, als »Stift« angenommen worden war – Don Pablo, den Schöpfer der renommierten Kognakmarke, dank welcher dem Weinhandel neue Horizonte erschlossen wurden, und Vater der Gebrüder Dupont, Könige in einem Reich, das sein Erstehen der Arbeit und dem Glück dreier Generationen verdankte.

Dennoch hatte sich nichts geändert in dem kühlen, nüchternen Raum mit seinem Marmorfußboden, seinen Stuckwänden und bis zur Decke reichenden Fenstern aus mattem Glas, das dem einfallenden Licht eine milchige Weiße verlieh. Außer den dunkel gebeizten Büromöbeln brachte nur eine Reihe von Wandkalendern, die in grellem Buntdruck spanische Madonnen zeigten, etwas Abwechslung in diese frostige Monotonie, und um sich bei dem Chef einzuschmeicheln, hatten überdies etliche schamlose Kriecher unweit ihrer Schreibtische Heiligenbildchen angenagelt – mit mirakelhafter Kraft begabt –, bei denen ein Aufdruck den Frommen gleich über den betreffenden Ablaß sowie das hierzu erforderliche Gebet belehrte. Und die große Wanduhr, deren Ticken allein das beklemmende Schweigen unterbrechen durfte, gemahnte durch ihren gotischen Stil und ihre mittelalterlichen Zinnen und mystischen Pfeile an eine vergoldete Spielzeugkathedrale.

Diese halb religiöse Dekoration eines Büros, in dem man sich mit Wein und Kognak beschäftigte, war es, die Montenegro, obwohl er sie seit Jahren kannte, plötzlich merkwürdig berührte … so stark wirkte der Eindruck des vergangenen Abends in ihm nach. Er hatte bis tief in die Nacht mit Fernando Salvatierra zusammengesessen, der nach einer achtjährigen, im Norden Spaniens verbüßten Zuchthausstrafe still und ohne Wichtigtuerei, als käme er von einer Erholungsreise, den heimatlichen Boden wieder betrat.

Montenegro fand den berühmten Revolutionär kaum verändert; er traf den Don Fernando, den er in seiner Schülerzeit gekannt hatte – dieselbe sanfte Stimme, dasselbe gütige, väterliche Lächeln, dieselben kurzsichtigen Augen, deren Blick, klar und unbeirrbar, hinter schwach blauen Gläsern blitzte. Die Drangsal im Zuchthaus hatte zwar das Haar an den Schläfen gebleicht und weiße Fäden in den dünnen Bart gezogen, aber nach wie vor beseelte die heitere Zuversicht der Jugend sein Antlitz.

»Er ist ein weltlicher Heiliger« – dieses Urteil nötigte er sogar seinen Gegnern ab. Wäre er zwei Jahrhunderte früher zur Welt gekommen, so hätte er wahrscheinlich das Dasein eines Bettelmönches geführt – immer die Plagen anderer mildernd –, und seine Statue hätte schließlich einen Platz auf den Altären gefunden. In die Gärung einer Kampfepoche geraten, wurde er Revolutionär. Die Tränen eines Kindes konnten ihn erschüttern. Unfähig jeglicher egoistischen Regung, war er, wenn es Bedrängten zu helfen galt, zu allem bereit. Unter den Besitzenden jedoch erregte sein Name Ärgernis und Furcht, und es genügte, daß er sich einige Wochen in Andalusien aufhielt, um die bestürzten Behörden zu einer Verstärkung der dortigen Gendarmerie zu veranlassen. Ein Ahasver der Rebellion, schweifte er im Lande umher, verabscheute innerlich die Gewalttätigkeit und predigte sie gleichzeitig dem geknechteten Volk als alleiniges Rettungsmittel.

Als die Landarbeiter der Provinz Jerez einmütig den Streik beschlossen hatten, war Salvatierra unter ihnen aufgetaucht – seine Anwesenheit am Brandherd war das einzige Delikt, dessen man ihn bezichtigen konnte! Nach erfolgter Verhaftung weigerte er sich beim Verhör vor dem Standgericht, den Eid in der religiösen Form zu leisten, und diese frevelhafte Gottlosigkeit eines Mannes, den man ohnehin als Schürer der Streikbewegung betrachtete, gab willkommenen Vorwand, ihn ins Zuchthaus zu schicken – eine Ungerechtigkeit, mit der sich die erschreckte Bourgeoisie an dem ihr gefährlichen Menschen rächte. Der Untersuchungsrichter ging während einer Vernehmung sogar so weit, ihn zu ohrfeigen, worauf Salvatierra, der in seiner Jugend hitzig auf seiten der Insurgenten gekämpft hatte, mit schier evangelischer Friedfertigkeit verlangte, daß der Beamte unter ärztliche Beobachtung gestellt würde, da ein solches Betragen nur durch Geisteskrankheit zu erklären sei.

Im Zuchthaus erweckte dieser seltsame Sträfling allgemeine Verwunderung. Medizinischen Studien leidenschaftlich zugetan, machte er sich aus freien Stücken zum Krankenwärter der Gefangenen. Er gab ihnen den größeren Teil seiner Rationen ab und verschenkte seine Garderobe, um selbst halb nackt und in Lumpen zu gehen. Was seine Freunde in Andalusien auch immer schicken mochten, er verteilte alles restlos unter die Bedürftigsten. Und die Aufseher, die in ihm den ehemaligen Abgeordneten sahen, den berühmten Agitator, der in dem republikanischen Intermezzo einen Ministersessel ausgeschlagen hatte, nannten ihn mit instinktivem Respekt Don Fernando.

»Nennt mich einfach Fernando, und gebraucht wie ich das brüderliche Du!« wehrte er ab. »Wir sind alle nur Menschen.«

Nach seiner Entlassung weilte er einige Tage in Madrid, im Kreise von Journalisten und politischen Gesinnungsgenossen, die gegen seinen Willen um seine Begnadigung eingekommen waren, und reiste dann nach Jerez, wo er sofort die Beziehungen zu den treugebliebenen Freunden wieder anknüpfte. Den Sonntag hatte er in einem unweit der Stadt gelegenen kleinen Weingarten verbracht, der einem Waffengefährten aus der Zeit der revolutionären Aufstände gehörte, und die Kunde von seiner Ankunft trieb ganze Scharen zu ihm hinaus. Es kamen die alten Küfer der Bodegas, die als junge Burschen unter seinem Befehl marschiert waren und mit ihren Flinten die Republik zu verteidigen versucht hatten; es kamen die jungen Feldarbeiter, die dem Don Fernando der zweiten Epoche anhingen – jenem, der die gerechte Verteilung von Acker und Weide verlangte und über den aufreizenden Widersinn des Großgrundbesitzes redete.

Fermin Montenegro hatte es sich gleichfalls nicht nehmen lassen, den Heimgekehrten zu begrüßen; erinnerte er sich doch freudig der häufigen Besuche Salvatierras in seinem Elternhaus, der Geduld, mit der ihm dieser die Anfangsgründe der englischen Sprache beigebracht und in die Seele des Kindes die Liebe zur Menschheit gepflanzt hatte, die im eigenen Herzen so hell brannte.

Als sie sich wiedersahen, streckte Salvatierra dem jungen Mann die Hand entgegen und erkundigte sich angelegentlich, wie es dem Vater, wie es der Schwester ginge, und nichts in Ton oder Miene verriet, daß er eben erst der Qual einer langen Gefangenschaft entronnen war. Wie er stets gewesen, zeigte er sich auch jetzt: unempfindlich für eigenes Leid, ängstlich besorgt um das Ergehen anderer.

Der Besitzer des Weingartens tischte in seiner Begeisterung auf, was Küche und Keller nur hergeben wollten. Die saftigen Schinkenscheiben, die eingelegten Blutwürstchen und ölig glänzenden Oliven reizten den Gaumen, ein Glas goldenen Weins nach dem anderen zu schlürfen, und obwohl die Söhne dieses rebengesegneten Landes das Trinken gewöhnt sind, wurde allmählich manchem doch die Zunge schwer, und seine Gedanken verwirrten sich. Salvatierra aber saß frisch und nüchtern unter ihnen; er hatte nur Wasser getrunken und seinen Hunger mit Brot und Käse gestillt. Nichts anderes genoß er seit seiner Entlassung aus der Strafanstalt, und seine Freunde mußten sich wohl oder übel mit dieser Gewohnheit abfinden. Dreißig Centavos genügten ihm zum täglichen Unterhalt. Er verfocht den Standpunkt, daß er kein Recht auf mehr habe, solange eine schlechte gesellschaftliche Ordnung Millionen seiner Mitmenschen langsam an Entbehrungen aller Art zugrunde gehen ließe.

Ah, die Ungleichheit! … Salvatierras wohlwollende Gelassenheit zerstob, wenn er an die soziale Ungerechtigkeit dachte. Was? Hunderttausende starben jedes Jahr an Hunger, und die Gesellschaft heuchelte obendrein, nichts davon zu wissen, weil sie nicht wie verjagte Hunde plötzlich mitten auf der Straße zusammenbrachen, sondern in den Hospitälern, in ihren Löchern eingingen, dem Anschein nach Opfer mannigfacher Krankheiten. Hunger steckte dahinter, Hunger … Und sich vorzustellen, daß es auf der Welt mehr als genug Lebensmittel für alle gab! Verfluchte Gesellschaftsordnung, die solche Verbrechen erlaubte! …

Und unter dem respektvollen Schweigen seiner Gäste schilderte Salvatierra die revolutionäre Zukunft, den Sieg des Sozialismus, der sowohl materielle Wohlfahrt als auch Frieden der Seele erstrebe. »Keine heuchlerischen Unterdrücker und Ausbeuter mehr!« rief er. »Alle Übel unserer Zeit werden verschwinden. Da man in der neuen Volksgemeinschaft die zum Leben notwendigen Mittel in gerechter Weise verteilt, ohne Mißbrauch und Begünstigungen, wird das Gleichgewicht wieder hergestellt und somit auch die Ursache dieser einzig und allein vom Elend gezüchteten Krankheiten getilgt.«

Solch heiße Überzeugung, solch felsenfester Glaube bebte in seinen Worten, daß der Hörerkreis sie mit derselben widerspruchslosen Ehrfurcht aufnahm, mit der die naiven Massen des Mittelalters der Botschaft eines erleuchteten Propheten lauschten, der ihnen das Nahen des Reiches Gottes ankündigte …

Die alten Waffengefährten Don Fernandos pflegten besonders gern in der Erinnerung an die heroische Epoche ihres Lebens zu schwelgen, an die Streifzüge durch die Sierra und manch tollkühnes Stückchen, wobei die Macht der Zeit im Verein mit südländischer Phantasie die Ereignisse jener fernen Vergangenheit aufbauschte, die Gefahren vergrößerte, die Verwegenheit steigerte. Doch ihr ehemaliger Führer lächelte, als sprächen sie von kindlichen Spielen. Um eine Regierungsform kämpfen? Wahrlich, es gab Besseres in der Welt zu tun! … Und er gestand ihnen, wie sehr ihn diese kurze Republik von 1873 durch ihre Ohnmacht und Nutzlosigkeit enttäuscht hatte. Die Nationalversammlung, die sich damit vergnügte, jede Woche ein Kabinett zu stürzen und es durch ein anderes zu ersetzen, bot ihm einen Ministersitz an. Minister – er? Wozu? Wenn er sich bereit erklärte, geschähe es, um in Madrid einem empörenden Skandal ein Ende zu bereiten. Oder schrie es vielleicht nicht zum Himmel, daß in den kalten Winternächten obdachlose Männer, Frauen und Kinder im Freien schliefen, während die großen Paläste am Paseo de la Castellana, deren reaktionäre Besitzer in Paris für die Wiedereinsetzung der Bourbonen wirkten, leer und unbenutzt standen? … Aber sein ministerielles Programm hatte bei niemandem Anklang gefunden.

Und weiter schürften die alten Revolutionäre begeistert in der Vergangenheit. Ha, damals jene Verschwörung in Cadiz, die zur Meuterei der Flotte geführt hatte! …

Um Salvatierras Lippen zuckte es schmerzlich. Cadiz! Dort lag jetzt die Mutter begraben. Sie war seine einzige Anverwandte gewesen und gestorben, als er hinter Zuchthausmauern saß. Ach, welch unvergleichliche Frau! Nie hatte sie seine verwegenen Aktionen oder sein unbekümmertes Geben gerügt, wenn er – wie oft! – ohne Rock, ohne Mantel, ohne einen Centavo heimkam. Sie glich den Müttern der Heiligen, von denen die christliche Legende zu erzählen weiß und die all den edelmütigen Torheiten ihrer Söhne lächelnd zusahen.

»Wartet, bis ich meiner Mutter Bescheid gesagt habe – dann bin ich ganz der Eure«, erklärte Salvatierra seinen Gefährten wenige Stunden vor jedem neuen revolutionären Versuch, als sei dies die wichtigste Maßregel. Und ohne Protest ließ es die Mutter geschehen, daß das bescheidene Vermögen für seine Bestrebungen geopfert wurde. In Ceuta hörte sie, wie man das Todesurteil über den Sohn fällte, folgte ihm, als man es in lebenslängliches Zuchthaus umwandelte, nach Cadiz; nie klagend, nie verzagt, verstand die Tapfere, daß das Leben ihres Fernando nicht anders sein könne, und enthielt sich jeglichen Tadels und auch jeglichen Rats. Vielleicht sah sie es sogar mit geheimem Stolz, wie er durch die Größe seines Ideals so viele mitriß und durch Tugend und Selbstlosigkeit seine Feinde in Erstaunen setzte.

Auf diese Greisin konzentrierte sich die ganze Zärtlichkeit des unverheirateten Mannes, den die Verwirklichung seines humanitären Traums gehindert hatte, an Liebe zu denken. Nun würde er sie nie wiedersehen, die beste aller Mütter … In Salvatierras Augen tauchte etwas wie Verzweiflung auf, weil ihm die trostreiche Illusion von einem jenseitigen Leben versagt war und er nach dem Tode nichts erwartete als die ewige Nacht des Ausgelöschtseins. Aber gerade aus dieser seelischen Vereinsamung sog der Enthusiasmus des Aufrührers neue Kraft. Fortan existierte nichts anderes für ihn als sein Ideal. Zum zweitenmal in seinem Leben hatten ihn die grauen Zuchthausmauern freigegeben, und vielleicht würden sie ihn bald von neuem aufnehmen. In der Zwischenzeit jedoch wollte er mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft gegen die sozialen Mißstände kämpfen …

Die letzten Worte Salvatierras, seine Kriegserklärung gegen den Kapitalismus und die Religion – jenen die Ungerechtigkeiten der Welt verhüllenden trügerischen Schleier – klangen noch in Fermin Montenegros Ohren, als er am nächsten Morgen seinen Platz im Büro der Firma Dupont einnahm. Und nicht ohne eine gewisse Verwirrung zog er unwillkürlich Vergleiche zwischen diesen schweigsamen Angestellten, die in dem beinahe klösterlichen Raum und beschützt von Heiligenbildchen den Rücken über ihre Papiere krümmten, und jener feurigen Phalanx von Veteranen einer romantischen Republik und von schwer ums Brot kämpfenden jungen Leuten, die sich vereint um den verehrten Führer scharten.

Anderthalb Jahrzehnte kannte Montenegro seine Kollegen. Er wußte, mit welcher Geschmeidigkeit sie sich dem herrischen Willen Don Pablos unterwarfen und daß sie sich mehr darum sorgten, allen von dem Gebieter in der Jesuitenkirche veranstalteten religiösen Zeremonien beizuwohnen, als ihre Büroobliegenheiten gewissenhaft zu erledigen. Er wußte ferner, mit welchem Eifer sie spionierten, um Don Pablos Gunst zu erringen, und zweifelte nicht, daß dieser bereits informiert sei, wo und wie er den Sonntag verbracht hatte.

Auch Don Ramon, der Propagandachef, streifte ihn etliche Male mit einem erstaunten Blick. Doch von dieser Seite befürchtete Fermin nichts. Don Ramon gehörte zu den vom Leben Besiegten. Nachdem er seine Jugend in den Niederungen des Madrider Journalismus verbraucht hatte, um gegen eine verlogene Gesellschaft zu streiten, ohne daß er hierbei eine Peseta für das Alter erübrigte, war er, des Kampfes müde, durch Entbehrungen und die Fruchtlosigkeit seiner Anstrengungen zermalmt, im Büro der Gebrüder Dupont untergekrochen, wo er Plakate, Annoncen und die pompösen Kataloge entwarf. Durch seine Reklamekunst und seine geflissentlich zur Schau getragene Religiosität hatte er sich das Vertrauen Don Pablos erworben; dennoch hielt er im Grunde seines Herzens an den alten Ideen fest.

»Wohin?«, fragte er, als Montenegro mit einem Schreiben in der Hand dem Ausgang zuschritt.

»Zur Musterabteilung. Ich muß diese Bestellung aus England spezifizieren.« Und eilfertig verschwand der junge Mann in der Richtung nach den Bodegas, die mit ihrer lärmenden Bevölkerung von Küfern, Packern und Böttchern eine Ortschaft für sich bildeten und ein ganzes Stadtviertel von Jerez einnahmen.

Ihre Schuppen und einstöckigen Gebäude, überragt von den Bäumen eines alten, parkartigen Gartens, klommen einen sanft abfallenden Hügelrücken empor. Jeder Dupont hatte, im gleichen Maße, wie ihr Handel sich vergrößerte, den ursprünglichen primitiven Schuppen um etliche neue Baulichkeiten vermehrt, und im Laufe dreier Generationen erstand so eine Industriestadt ohne Qualm und Maschinengetöse – friedlich, lächelnd unter einem lichtgetränkten Himmel. Überall blinkten saubere, schneeweiße Wände; überall wuchsen Blumen zwischen den zu beiden Seiten der breiten Alleen aufgetürmten Fässern.

Dem Bürogebäude am nächsten gelegen, erhob sich ein ovaler Pavillon mit Glasdach, das »Tabernakel«. Es barg die edelsten Gewächse des Hauses. Eine lange Reihe von Fässern trug auf den Holzbäuchen die Namen der berühmten Marken, ausschließlich zum Flaschenabzug bestimmt: köstliches Naß, das in allen Schattierungen von Gold spielte, vom rötlichen Schimmer des Sonnenstrahls bis zum blassen, samtweichen Reflex alter Schmucksachen; sanfte, in gläserne Zellen eingekerkerte Glut, die im grauen Nebel Englands oder unter dem kalten Firmament Skandinaviens frei werden sollte.

Am Ende des Pavillons wuchteten die Kolosse dieser stummen Versammlung, die »Zwölf Apostel«, Riesenfässer aus Eichenholz, sorgsam geglättet und poliert, als wären es Luxusmöbel. Ihnen präsidierte der »Christus«, das gigantischste Faß, umspannt von geschnitzten Bändern in Form einer Reben- und Weinlaubgirlande, wie die Bacchusreliefs der Künstler des alten Athens. In seinem Wanst ruhte eine Woge von Wein: dreiunddreißig Stiefel, jeder zu dreißig Liter, wie das Schild besagte. Und der Riese schien in seiner Reglosigkeit sich mit diesem Blut zu brüsten, das genügte, um einem ganzen Dorf die Vernunft zu rauben.

Inmitten des Tabernakels reihten sich auf einem runden Tisch sämtliche Flaschensorten des Hauses zu einem Kranz aneinander, angefangen mit dem beinahe sagenhaft gewordenen hundertjährigen Wein, dessen Erzbischöfe, Fürstlichkeiten und andere Größen zu ihrer Stärkung bedürfen, bis zu dem wohlfeilen, der in den Regalen der Läden traurig altert und dem Unbegüterten in seiner Krankheit hilft.

Montenegro warf einen flüchtigen Blick in den Pavillon. Die reglosen Fässer, durch bunte Wappen und Marken gekennzeichnet, glichen alten, in unirdischer Ruhe schlummernden Idolen, und das Sonnengold, das durch das Glasdach sickerte, umwob sie mit einer Aureole von Regenbogenfarben.

Er stieg weiter, von Terrasse zu Terrasse, durchquerte die Gänge und Alleen mit ihren Faßbatterien voll billiger Weine, die der Sonnenglut ausgesetzt werden, um schneller zu altern. Ein guter Jerez benötigt zehn Jahre, zehn starke Gärungen, damit er sein Aroma und diesen leichten Geschmack nach Haselnuß erlangt, den kein anderer Wein nachzuahmen vermag. Aber bestrebt, die Konkurrenz durch niedrige Preise zu schlagen, beschleunigten die Gebrüder Dupont mit Hilfe des Sonnengestirns den Reifeprozeß.

Nach mancherlei Kreuz und Quer erreichte Montenegro schließlich die Bodega der »Giganten«, die ungeheure Lagerei, das Fegefeuer der Weine, wo ihre Seelen der Läuterung harrten. Erst unter dem hohen Dachfirst endigten die roten Kegel mit ihren schwarzen Reifen, unförmige Holztürme, ähnlich den antiken Belagerungstürmen – Giganten, von denen jeder mehr als siebzigtausend Liter faßte. Wie Polypenarme, die ihnen das Rebenmark aussaugten, wanden sich Gummischläuche von einem Riesen zum andern, um aus den noch rohen Mosten die richtige Mischung herzustellen. Wäre einer dieser Türme geborsten, so würde eine Todeswoge die winzigen Menschlein ertränkt haben, die sich an ihrem Fuß zu schaffen machten.

Durch eine Verbindungstür gelangte Fermin Montenegro endlich an sein Ziel, die Versandbodega, in der sich die namenlosen Weine befanden, mittels derer man alle bekannten Südweine nachahmte. Die Decke des grandiosen Gewölbes wurde von zwei Reihen Säulen getragen; neben ihnen türmten sich endlose Faßbarrikaden, durch Pfade getrennt: viertausend Fuder Weine aller Arten.

Der Propagandachef Don Ramon, der sich in seinen Mußestunden der Malerei befleißigte, verglich diese Bodega mit einer Palette. »Unsere eigenen Gewächse«, sagte er, »sind die Originalfarben. Aber dann kommt der Künstler, nimmt hier ein wenig, nimmt dort ein wenig und schafft, je nach der Bestellung des Kunden, einen Madeira, einen Portwein, einen Malaga.« Und diese in großem Stile betriebene Nachahmung brachte der Firma Gebrüder Dupont mehr Gewinn ein als der Verkauf ihrer edlen Jerezweine.

Am äußersten Ende des Gewölbes befand sich die Musterabteilung, »die Hausbibliothek«, wie Montenegro sie titulierte. Breite Glasschränke, auf deren Regalen Tausende von Fläschchen in Reih und Glied verharrten, sorgfältig versiegelt, etikettiert und mit einem Datum versehen. In jedem Fläschchen hütete man die Probe einer Sendung, die nach den speziellen Wünschen des Kunden ausgeführt worden war, und um ein zweites Mal genau die gleiche Ware zu erhalten, brauchte dieser nur das Datum anzugeben. Dann wurde an Hand der aufbewahrten Probe von neuem irgendein Südwein fabriziert, der in Geschmack, Aroma, Farbe und Stärke genau dem früheren entsprach.

Hier herrschte der greise Vicente. Er war schon so lange im Dienst des Hauses tätig, daß er sich noch des ersten Dupont erinnern konnte. Den jetzigen Firmeninhaber, den er als Kind oft genug auf seinem Knie hatte reiten lassen, behandelte er mit väterlicher Vertraulichkeit, in die sich jedoch ein gut Teil Angst vor dessen herrischem Stolz mischte. Tiefe Runzeln furchten die pergamentartige Haut des Alten, und seinen Körper schien der Weindunst, mit dem die Luft gesättigt war, aufgebläht zu haben. In seiner Dunkelkammer, wo er beim Schein eines roten Lichtes die Mischweine zu prüfen hatte, häufig zu stundenlangem Schweigen verdammt, befiel ihn eine unwiderstehliche Schwatzlust, sobald irgend jemand vom Büro zu ihm hinaufkam, und besonders wenn Montenegro erschien, mit dessen Familie ihn eine alte Freundschaft verband.

»Was macht dein Vater, Fermin?« erkundigte er sich. »Steckt wohl ständig im Weinberg, wie? … Na ja, da wird er älter werden als ich, der in dieser feuchten Höhle hocken muß.« Und den Zettel des jungen Mannes überfliegend, begann er zu nörgeln: »Immer dasselbe! Wieder eine Fälschung für den Export! Früher waren wir das erste Haus für reine Jerezweine, heute panschen wir alles, was sich Südwein nennt, zusammen. Ah, möchte doch die Reblaus unsere ganzen Weinstöcke ruinieren, damit diesem Schwindel ein Ende bereitet wird! Ferminillo, du bist in der Welt herumgekommen – sag, hast du irgendwo etwas Ähnliches gefunden wie unseren Palomino, Vidueño, Perruro oder den Pedro Ximenez? Junge, die Jereztraube ist ein Geschenk Gottes. Doch es gibt keine wahren Bodegas mehr; das hier ist … ist – pfui Deubel! – eine Likörfabrik!«

»Das bringt der moderne Handel so mit sich, Señor Vicente«, versuchte Montenegro zu beschwichtigen. »Der Geschmack der Kunden hat sich gewandelt.«

»Caramba, dann sollen sie nicht mehr trinken! … Lassen wir unsere Weine doch lagern und in Ruhe altern, dann wird der Tag schon kommen, an dem sie uns kniefällig darum bitten … Jetzt weiß niemand sie zu würdigen, die Engländer ebensowenig wie die anderen. England überhaupt! … Gott, muß das Land heruntergekommen sein! Ein Teil seiner Bewohner trinkt nur noch Wasser, und auch bei den übrigen ist ein Räuschchen scheinbar etwas Verpöntes. Da füllen sie sich, statt guten alten Jerez zu trinken, Tag und Nacht den Bauch mit ihrem Whisky-Soda und anderen wässerigen Scheußlichkeiten. Welch entartete Sippschaft! Pitt, Nelson und Wellington waren da ganz andere Kerle; die ließen sich unsere Weine in Stückfässern kommen.«

Unwirsch hob er den Zettel, um die Bestellung in Augenschein zu nehmen. Aber Montenegros amüsierte Miene reizte ihn zu einem neuen Erguß.

»Lach nur, mein Junge, lach! Nur habe auch die Güte, dir das Resultat anzuschauen. Früher war unser Jerez ein gesegnetes Fleckchen Erde. Als die Weingutsbesitzer das Geld in Säcken einheimsten und die Winzer vierzig Reales täglich verdienten, summten überall die Gitarren, tanzten die Leute ihre Seguidillas mit einer Lust, daß dem lieben Gott vor Freude der Leib wackelte. Heute? Heute, mein Lieber, verdienen sie zehn Reales, also den vierten Teil, laufen mit einem Essiggesicht herum und fliegen, wenn sie streiken, ins Gefängnis. Wo siehst du noch, daß die Señores bei der Weinlese wie früher mit den Frauen und Töchtern der Winzer ein Tänzchen machen? Gott bewahre! Dafür kribbelt es überall von Gendarmen; sie spähen und schnüffeln, als wären die Landarbeiter die schlimmsten Banditen. Natürlich sind die stachelig geworden wie die Igel! Und warum das alles? Weil die Welt, dem Beispiel der Engländer folgend, Whisky, Cocktails und üble Likörmischungen trinkt …«

In der Bodega wurde der Ruf eines Küfers laut, der von Señor Vicente eine Auskunft verlangte.

»Ich komme«, schrie der Alte und setzte, zu Montenegro gewandt, hinzu: »Laß mir deinen Wisch hier für die Dunkelkammer, und bring mir so bald nicht wieder einen ähnlichen. Ich hab' es satt, nach Rezepten zu arbeiten wie ein Drogist!«

Und er schlürfte von dannen, verschwand hinter einer seiner Barrikaden, während der junge Mann, den es gar nicht drängte, ins Büro zurückzukehren, nach der Faßwerkstatt schlenderte.

Aus den offenen Schuppen, die einen geräumigen Hof umsäumten, dröhnten ununterbrochen die Hammerschläge. Ein Teil der Böttcher zwängte den hölzernen Bäuchen die Reifen auf, andere erwärmten über einem Feuer aus Hobelspänen die Dauben halbfertiger Fässer, bis sie sich, leicht gekrümmt, dem Reifen fügten. Draußen im Hof strebte eine Säule von Faßdauben himmelan; schon ragte der gebrechliche Turm, wie ein Kartenhaus schwankend, über die Dächer der Gebäude hinaus, und noch immer zogen zwei Lehrlinge mit Stricken neue Hölzer empor, um sie rosettenartig aufzuschichten.

Eine ruhelose Werkstatt, die sich keine Feierschicht gönnen durfte. Jede Woche mußte sie Hunderte von Fässern liefern, in denen die Weine des Hauses Dupont ihre Reise in alle vier Windrichtungen antraten.

Als der Werkmeister Montenegros ansichtig wurde, kam er quer über den Hof geeilt.

»Wie geht es Don Fernando?« Im Flüstertone stellte er die Frage.

Er war ein ehemaliger Arbeiter, dem die Schmiegsamkeit, mit der er sich der Bigotterie Don Pablos anzupassen verstand, aus den Reihen seiner Kameraden hinausgeholfen hatte. Diese Beförderung an einen verantwortungsvollen Posten erstickte jedoch keineswegs die Sympathie für seine früheren Elendsgenossen und die Verehrung für ihren revolutionären Führer Salvatierra.

»Ich werde ihn auch begrüßen«, tuschelte er weiter, »sobald sich eine Gelegenheit bietet, es ohne Wissen unseres Herrn zu tun. Aber nehmen Sie sich in acht, Fermin, hier wimmelt es von Spionen, und ebensogut wie ich von Ihrem Besuch bei Salvatierra erfuhr, wird er auch anderen nicht verborgen geblieben sein.«

Und als fürchtete er, schon zuviel gesagt zu haben, kehrte er hastig zu seinen Böttchern zurück.

Seufzend setzte Montenegro seinen Weg fort und betrat kurz darauf die Hauptbodega, in der die edelsten Gewächse alterten. Mit ihren fünf durch gotische Säulen getrennten Schiffen, ihren hohen Spitzbogenkuppeln und den riesigen Rosettenfenstern hätte man sie für einen Dom halten können, aber einen weißen, lichten Dom, wie ein Gebilde aus Schnee, in dessen flimmerndem Licht irisierende Staubteilchen tanzten, in dem das Echo von Schritten und Stimmen unnatürlich laut widerhallte.

Hier lagerten die Schätze des Hauses. Da gab es ehrwürdige, unter einem Gewand von Staub und Spinnweben schlummernde Fässer, geschmückt mit den Wappen Spaniens, Englands und anderer Länder oder auch mit königlichen Hauswappen, zur Erinnerung an die Monarchen, die im Laufe des Jahrhunderts die Kellereien besucht und geruht hatten, Kostproben zu nehmen. Ganz abgesondert, als könnte durch Berührung mit den anderen sein Holz Schaden leiden, lagerte ein Faß, das aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts stammte und von dem ersten Dupont sozusagen als Reliquie erworben worden war. Es folgten Fässer mit Weinen aller Ernten seit dem Jahre 1800, und schließlich in einer Ecke ein kleineres Tönnchen. Ihm entströmte ein solch scharfes Aroma, daß – wie der Kellermeister sagte – einem das Wasser im Munde zusammenlief. Hundertdreißigjährigen Essig umschloß das Holzgehäuse, und sein durchdringender Geruch stach merkwürdig ab von dem süßen Weinduft, der sich aus den Fugen der übrigen Fässer stahl und die immense Bodega mit einem Hauch süßer Torheit füllte.

Montenegro näherte sich bereits dem Ausgang, als er plötzlich angerufen wurde. Don Pablo! … durchzuckte es ihn.

In Gesellschaft seines nur wenige Jahre jüngeren Vetters Luis führte der Chef zwei Hochzeitsreisende durch seine Schatzkammern.

»Sie müssen sich dem geheiligten Brauch fügen und einen Schwips mitnehmen«, erklärte Luis Dupont dem jungen Ehemann, mit dem er in Madrid oftmals gebummelt hatte. »Es würde für uns eine Schande sein, wenn einer unserer Freunde beim Verlassen der Bodega noch einen ebenso klaren Kopf hätte wie vorher.«

Don Pablo lächelte wohlwollend zu diesen Worten seines Verwandten, um dann wieder die Vorzüge und Eigenheiten irgendeines berühmten Gewächses aufzuzählen. »Los, Juan«, gebot er vor jedem neuen Faß dem Küfer, der starr wie ein Soldat seiner Befehle harrte. Und mit einem Stechheber füllte der Mann die Gläser, ohne einen Tropfen zu verschütten.

Das junge Paar äußerte zwar einen schwachen Protest, trank aber trotzdem, was man ihm kredenzte: leuchtende, transparente Weine in allen Nuancen des Bernsteins, vom blassen Gold bis zum weichen Braun. Einen exotischen Duft, der an phantastische Blumen einer übernatürlichen Welt denken ließ, brachten sie aus dem Mysterium ihres Fasses mit, und wer sie trank, dem schien das Leben köstlicher; die Sinne schärften sich, das Blut floß schneller durch die Adern.

»Hallo, mein Kerlchen!« Jovial streckte der jüngere Dupont seine Hand Montenegro entgegen. »In den nächsten Tagen komme ich zu euch hinaus, ich will ein neues Pferd probieren.«

Nach dieser Begrüßung, die er noch durch einen derben Klaps auf die Schulter ergänzte, wandte er sich wieder den Fremden zu.

Montenegro stand mit ihm auf sehr vertraulichem Fuße. Zusammen im Weinberg von Marchamalo aufgewachsen, behielten sie auch als Erwachsene das Du der Kinderzeit bei. Anders hingegen lag die Sache mit Don Pablo, obgleich der Altersunterschied kaum sechs Jahre betrug. Er war das Oberhaupt der Familie und der Chef der Firma und faßte Autorität im antiken Sinne auf: starr und selbstherrlich wie die von Gott, mit Geschrei und Zornesausbrüchen, sobald er irgendwo die geringste Auflehnung witterte.

»Bleib, ich habe mit dir zu reden!« herrschte er den jungen Angestellten an. Fermin, gezwungen, wie ein Diener stumm und demütig der weiterschreitenden Gruppe zu folgen, betrachtete nachdenklich den breiten Rücken seines Brotherrn.

Don Pablo zählte noch keine vierzig Jahre, aber seine Figur war, trotzdem auch er leidenschaftlich den Reitsport pflegte, durch Fettleibigkeit entstellt. Die Arme erschienen viel zu kurz, wenn sie leicht gekrümmt an dem aufgeschwemmten Körper herunterhingen. Einzig das pausbäckige Gesicht mit den fleischigen Lippen, über denen nur ein paar Härchen hervorsproßten, machte einen jugendlichen Eindruck. Sein gelocktes Haar bildete über der Stirn einen dichten Schopf, durch den die wulstige Hand häufig hindurchfuhr. Geriet er in Wut, so schnappte die Stimme über und wurde zu einem hohen, grellen Keifen. Und wenn man ihm auch eine gewisse Gutmütigkeit nicht absprechen konnte, war er alles in allem ein Despot – sowohl gegen seine Untergebenen als auch gegen seine Familie.

Montenegro sah in ihm einen Kranken, einen Degenerierten, dessen religiöse Exaltiertheit an Wahnsinn grenzte. Gleich den Königen von ehemals glaubte Dupont, daß seine Autorität auf göttlichem Rechte fuße. Gott wollte die Scheidung in Reiche und Arme, und die einen hatten den andern zu gehorchen, weil es die soziale Rangordnung himmlischen Ursprungs befahl.

In Geldsachen nicht kleinlich, aber sprunghaft und kapriziös, richtete Don Pablo sich mehr nach der Sympathie, die ihm die betreffende Person einflößte, als nach ihren Verdiensten. Wenn ihm auf der Straße entlassene Arbeiter begegneten und grußlos vorübergingen, packte ihn der Zorn.

»Hör mal, Bürschchen«, kanzelte er sie ab, »obgleich du nicht mehr bei mir bist, hast du mich doch respektvoll zu grüßen – denn ich war dein Herr!«

Und dieser Potentat der Industrie, der infolge seiner herrischen Selbstüberhebung zu einem Alpdruck für mehr als tausend Menschen wurde, beugte sich demütig, ja sogar servil vor jenen, die er für die Vertreter Gottes hielt. Betrat irgendein Priester oder ein Angehöriger der verschiedenen in Jerez ansässigen Mönchsorden sein Büro, so schickte er sich an, ihnen die Hand zu küssen, was sie natürlich gütig lächelnd verhinderten. Ah, wie strahlte sein Gesicht, wenn die geistlichen Herren ihn duzten und vor seinen Angestellten Pablito nannten, wie sie es früher getan, als ihnen seine Erziehung oblag!

In seinem kindlichen Aberglauben verquickte Don Pablo die Heilige Jungfrau und ihren Sohn mit all seinen geschäftlichen Unternehmungen. Jesus und Maria waren es, die über die Interessen der Firma wachten: er, der arme sündige Mensch, beschränkte sich darauf, ihre Eingebungen in die Wirklichkeit umzusetzen. Diese himmlischen Protektoren hatten seinem Vater auch die Gründung der Kognakfabrik inspiriert; nur ihnen war es zu danken, wenn die Marke Dupont sich konkurrenzlos ganz Spanien eroberte. Und aus Erkenntlichkeit für soviel Gunst ließ er alljährlich einen Teil seiner Gewinne irgendeinem neuen Klosterorden, der sich Jerez als Sitz erkor, zukommen oder half bei den Gott wohlgefälligen Werken seiner Mutter Doña Elvira, die, adligen Geblüts, unausgesetzt Kapellen zu restaurieren und Marienstatuen mit kostbaren Mänteln zu beschenken hatte.

Bisweilen betätigte sich seine religiöse Manie auf die erstaunlichste Weise. Eines Nachts waren mehrere Arbeiter von einem der frei herumlaufenden Wachhunde gebissen worden. Don Pablo eilte sofort herbei, und da er befürchtete, daß es sich um Tollwut handeln könnte, gab er den armen Kerlen in Form von Pillen ein seiner Mutter gehöriges wundertätiges Heiligenbildchen zu schlucken. Allerdings ist es wahr, daß hernach derselbe Don Pablo sie in die Klinik eines berühmten Arztes transportieren ließ und in großzügiger Weise für sie zahlte. Kam gelegentlich ein skeptischer Bekannter auf diesen Vorfall zu sprechen, so erklärte der Millionär mit verblüffender Naivität:

»Erst der Glaube – dann die Wissenschaft; sie hat gewiß manchmal Großes vollbracht, aber einzig und allein, weil Gott es erlaubt.«

Anstatt seinen Vetter und dessen Freunde durch die ganze Anlage zu begleiten, hielt es Dupont jetzt für angemessen, sich zurückzuziehen, als erlaubte ihm seine Würde nur die Führung durch den kostbarsten Besitz des Hauses. Er verabschiedete sich mit hoheitsvoller Huld – eine Geste, die Montenegro gut von Doña Elvira her kannte – und winkte seinem Angestellten, ihm zu folgen.

Draußen blieb er nach wenigen Schritten stehen … Der Moment der gefürchteten Erklärungen war da.

»Gestern habe ich dich nicht gesehen«, begann er, die Augenbrauen zusammenziehend.

»Ich … ich konnte leider nicht kommen, Don Pablo. Einige Freunde …«

»Davon später. Bedauerlich, daß du dem Fest nicht beiwohntest – der Anblick hätte dich gerührt.«

Und in einer plötzlich aufwallenden Begeisterung, die seinen Verdruß zeitweilig in den Hintergrund drängte, malte er jene Zeremonie in der Kirche der »Patres«, wie er sie einfach nannte, mit den leuchtendsten Farben.

»Das blumengeschmückte Gotteshaus übervoll. Fast alle Angestellten und Arbeiter des Hauses waren mit ihren Familien da – fast alle, verstehst du, Fermin? … Die Predigt hielt Pater Urizabal, ein gottbegnadeter Redner, ein Weiser, der uns allesamt zum Weinen brachte. Und dann kam die rührendste Szene: gleich einem General an der Spitze seiner Truppe schritt ich zur Kommunionbank, gefolgt von meiner Mutter, meiner Frau, meinen beiden Brüdern aus London, dem Stab der Firma … und hinter diesen alles, was das Brot des Hauses Dupont ißt. Wie süß klangen die Töne des Harmoniums! Ah, unbeschreiblich wohl tut der Seele solch hehre Feier! Ich muß sagen, daß der gestrige Tag zu den schönsten meines Lebens zählt. Es war die Wiederauferstehung der guten alten Zeit, als der Herr gemeinsam mit seinen Dienern das Abendmahl empfing.«

Don Pablos Augen wurden feucht; die geblähten Nüstern schienen noch immer den Duft von Wachs und Weihrauch einzuatmen. Doch jäh von Rührung zur Wut übergehend, musterte er Montenegro mit hartem Blick. »Und du fehltest! Warum? … Antworte mir nicht – lüge nicht, denn ich weiß alles. Schlimm genug, daß ich wegen der Korrespondenz zwei ausländische Ketzer in meinem Büro dulden muß. Aber du, Fermin, bist doch ein Katholik. Wie kannst du nur dem Hause Gottes fernbleiben, um den Tag mit diesem Salvatierra zu verbringen, den man besser für den Rest seines Lebens hätte im Zuchthaus lassen sollen?«

Bei dem verächtlichen Ton, mit dem er Salvatierras Erwähnung tat, zuckte Montenegro zusammen, als hätte ihn ein Peitschenhieb getroffen.

»Don Fernando Salvatierra ist mein Lehrer gewesen, und ich verdanke ihm sehr viel«, entgegnete er blaß vor Zorn. »Außerdem ist er der beste Freund meines Vaters. Müßte ich mich nicht selbst als höchst undankbar und herzlos verachten, wenn ich ihn nach Beendigung seiner Leidensjahre nicht begrüßt hätte?«

»Pah, dein Vater! … Ein Dummkopf, der nichts vom Leben versteht! Was hat es ihm eingebracht, daß er sich in der Sierra und den Straßen von Cadiz für die Republik und seinen geliebten Don Fernando herumschoß? … Wenn ihn mein Vater nicht wegen seiner Ehrlichkeit und Anständigkeit geschätzt hätte, wäre er Hungers gestorben, und du könntest heute in einem Weinberg schuften.«

»Aber auch Ihr Vater, Don Pablo, ist Salvatierras Freund gewesen und hat ihn mehr als einmal während des Bürgerkrieges um Schutz und Hilfe gebeten.«

»Hm …«, knurrte Dupont sichtlich verlegen, »hm … Mein Vater war schließlich das Kind einer Epoche, in der ein revolutionärer Wind blies, und überdies ein wenig lau in bezug auf das, was jedem Menschen obenan stehen muß: die Religion. Vergiß nicht, Fermin, die heutige Zeit denkt anders. Übrigens gab es unter den damaligen Revolutionären viel wackere Leute: verrückte Köpfe, doch brave Herzen. Ich kannte als Kind einige, die für nichts auf der Welt eine Messe versäumt haben würden; sie haßten die Monarchen, achteten und ehrten jedoch die Priester Gottes. Und meinst du etwa, Fermin, daß der Gedanke an eine spanische Republik mich erschreckt? Beileibe nicht! Ich verspüre keinerlei Sympathie für die jetzige Regierung, diese scheinheiligen Nutznießer, die dem Katholizismus lobhudeln, um von seiner Macht für sich zu profitieren. Was ich mir wünsche« – Don Pablo klopfte sich heftig auf die Brust –, »wäre ein Reich, in dem Christus herrscht und dessen Regierende unterwürfige Söhne des Papstes sind. Eine Republik wie das frühere Paraguay, wo die Jungfrau der unbefleckten Empfängnis oberster Chef der Armee war, wo das Bild des Heiligen Herzens Fahnen und Uniformen zierte und die Staatsmänner sich von der Weisheit der Jesuiten leiten ließen. Solche Republik würde meinen rückhaltlosen Beifall haben, für ihren Triumph gäbe ich sofort die Hälfte meines Vermögens … Aber wenn man mir mit Salvatierra kommt, der Gleichheit predigt, den Kapitalismus verurteilt und die Religion eine Sache für alte Weiber nennt! …«

Dupont riß die Augen unnatürlich weit auf, um den Ekel auszudrücken, den ihm diese modernen Republikaner verursachten.

»Glaube übrigens nicht«, fuhr er fort, »daß mich das, was Salvatierra und seine Anhänger als soziale Zurückerstattung bezeichnen, ängstigt. Du weißt, ich knausere nicht in Geldsachen. Bitten meine Leute um ein paar Centavos Lohnerhöhung oder um eine längere Pause für ihre Zigarette, so bewillige ich es gern, falls es irgend geht; ich gehöre nicht zu den Arbeitgebern, die mit dem Schweiß der Armen handeln. Christliche Nächstenliebe tut not, sehr viel christliche Nächstenliebe. Möchte man doch endlich begreifen, daß sich durch Befolgung der religiösen Prinzipien alles leicht regelt! … Freilich, angesichts der empörenden Behauptung, daß alle Menschen gleich sind, während sogar im Himmel Rangstufen bestehen, gerät mir das Blut in Wallung. Was soll das ewige Gefasel von Gerechtigkeit? Als täte ich nur meine Pflicht, indem ich den Armen helfe! Und dann vor allem diese teuflische Sucht, im Volk das religiöse Gefühl zu untergraben und die Kirche für alles Übel verantwortlich zu machen! …

Mein Haus werde ich jedenfalls vor solchen Störungen bewahren. Neulich hörte ich zufällig, wie ein Böttcher seinen Freunden auseinandersetzte, daß die Religionen von Furcht und Ignoranz erzeugt seien, daß der Mensch der Urzeit, der sich Blitz und Donner, Feuer und Tod nicht zu erklären vermochte, Gott erfunden habe. Er war sonst ein tüchtiger Arbeiter, fleißig, strebsam – trotzdem habe ich nicht eine Minute gezögert, ihm den Laufpaß zu geben. Soll er vor Hunger krepieren, denn in Jerez stellt ihn aus Rücksicht auf mich niemand mehr ein! Wohin wird es mit dem Kerl kommen? … Bomben wird er schmeißen wie alle Leugner Gottes.«

Sie waren beim Büroeingang angelangt, doch Don Pablo verharrte auf der Schwelle, weil er noch nicht alles gesagt zu haben glaubte.

»Du bist mit mir und meinem Vetter Luis groß geworden, Fermin, und wir haben dich stets mit Wohlwollen behandelt. Meinst du trotzdem, Grund zu einer Klage zu haben, so sprich; meinst du, daß du nicht genug verdienst, so sage es. Aber in einem Punkte bin ich unerbittlich: die Religion vor allem! Laß es dir nicht einfallen, der Sonntagsmesse noch einmal fernzubleiben, und mach dich frei von Salvatierras verderblichem Einfluß. Tust du es nicht, so wird es ein böses Ende zwischen uns beiden nehmen.«

Kurz darauf saß Don Pablo an seinem Schreibtisch, vertieft in einen Stoß Papiere, die ihm der Bürochef mit der Verbeugung eines alten Höflings überreicht hatte, und seine präzisen Fragen bekundeten, daß sein Hirn wieder völlig mit geschäftlichen Angelegenheiten ausgefüllt war.

Eine knappe Stunde später beorderte er Montenegro zu sich.

»Diese uns von Pedrera & Co. zugesandten Aufstellungen stimmen nicht. Da sich das telephonisch schlecht aufklären läßt, geh hin und nimm Einsicht in sämtliche Belege.«

Als Fermin auf die Straße trat, übergoß die Novembersonne, warm und lieblich wie die Sonne des Frühjahrs, die hellen Häuser mit ihren grünen Balkonen, und klar und scharf zeichneten sich die Konturen der afrikanischen Söller von dem azurblauen Himmel ab. Gemächlich seinen Weg verfolgend – denn der ihm erteilte Auftrag erforderte ohnehin Stunden –, sah Montenegro einen schlanken, dunkelhäutigen Reiter nahen, gekleidet wie die Schmuggler oder ritterlichen Banditen, die nur noch in populären Erzählungen existieren. Gleich Fittichen öffnete sich beim Traben seine kurze Samtjacke, deren halbmondförmige Taschen rotes Seidenfutter zeigten. Den Hut mit breitem, geradem Rand hielt ein Sturmband. An den halblangen Stiefeln aus gelbem Leder blitzten große Radsporen, und über die Schenkel breiteten sich ähnlich einer in der Mitte aufgeschlitzten Schürze zwei weiße, riemenverschnürte Felle. Vor dem Sattel lag die Decke, quastenbehangen; auf der rechten Seite hing eine Flinte, teilweise durch Felle verdeckt. Mit der Grazie eines Arabers saß der braune Bursche im Sattel – Pferd und Reiter schienen eins zu sein.

»Olé die Reiterei! Guten Tag, kleiner Rafael.«

Der Reiter parierte sein Pferd so scharf, daß es vorn hoch stieg und sein Schweif den Boden fegte.

»Ein schönes Tier!« lobte Montenegro, den seidigen Hals tätschelnd.

Trotz seiner sitzenden Lebensweise als Bürobeamter geriet er in Begeisterung, sobald er ein edles Pferd erblickte. Vielleicht waren es ererbte dunkle Instinkte, die sich meldeten, Einflüsse der Mauren, bei denen das Roß als bester Freund des Mannes gilt. Fermin Montenegro beneidete Don Pablo weder um seine Weinberge oder Kellereien noch um seinen sonstigen Reichtum … nur um seinen Stall, in dem ein Dutzend der edelsten Pferde Andalusiens standen.

Der Mann, den er mit Rafael angeredet hatte, war der Verwalter von Matanzuela, einem der wenigen Güter, die Luis Dupont, dem ausschweifenden und verschwenderischen Vetter Don Pablos, noch blieben. Mit seinen Zügeln spielend, erklärte der Reiter, daß er nach Jerez gekommen sei, um verschiedene dringende Bestellungen und Einkäufe zu machen.

»Bevor ich aber zurückkehre, galoppiere ich trotz aller Eile zum Weinberg, um deinem Vater guten Tag zu sagen«, setzte er hinzu. »Mir fehlt etwas, wenn ich meinen Paten eine Zeitlang nicht sehe.«

»Und meine Schwester willst du vielleicht nicht begrüßen?« spöttelte sein Freund. »Fehlt dir nicht auch etwas, wenn du Maria Luz eine Zeitlang nicht siehst?«

Der andere wurde rot, und anstatt diese Frage zu beantworten, gab er seinem Pferde die Sporen.

»Adios, Fermin! Komm doch gelegentlich mal 'raus zum Gut …«

Lächelnd sah ihm Montenegro nach und bog dann in die Calle Larga, die Hauptstraße der Stadt. Vier Reihen von Orangenbäumen spendeten hier köstlichen Schatten. Die großen Adelspaläste des 17. Jahrhunderts waren blendendweiß gekalkt, aber die oft erneuerte Kalkschicht verwischte die Feinheit der Bildhauerarbeit an den Portalen und den darüber befindlichen Wappen. Weiter abwärts reihten sich an diese Zeugen vergangener Jahrhunderte moderne Cafés, Kasinos und der Reitklub, das Zentrum der reichen Leute von Jerez, die Zufluchtsstätte der Jugend, die als Besitzer von Gütern und Weinbergen geboren wurde. Vom Nachmittag an diskutierten die Señores hier über ihre Neigungen: Pferde, Frauen und Jagdhunde. Ein anderes Thema erörterte man kaum. Auf den Tischen warteten vereinzelte Zeitungen auf einen Interessenten; in der dunkelsten Ecke des Sekretariats stand ein Schrank, der vergoldete Bücherrücken zeigte, aber dessen Glastüren sich nie öffneten.

Plötzlich bemerkte Montenegro eine junge Dame, die durch ihre arrogante Haltung und das aufreizende Wiegen in den Hüften die ganze Straße in Bewegung brachte. Die Männer machten halt, um ihr mit den Blicken zu folgen. Die Frauen wandten sich mit affektierter Verachtung zur Seite; sobald sie aber vorüber war, tuschelten sie miteinander und deuteten mit dem Finger hinter ihr her. Auf den Balkons hörte man Rufe; alte und junge Mädchen stürzten eiligst aus den Zimmern.

Doch die Nichte Doña Elviras, die ältere Tochter des Marquis de San Dionisio, ging weiter, ohne sich um das Aufsehen, das ihr Erscheinen auslöste, zu kümmern. Hier und dort schimmerte zwischen den Maschen ihrer Spitzenmantille eine blonde Locke; ihre schwarzen Augen blitzten, und das kecke, rosige Näschen schien die ganze Welt herauszufordern.

»Gott grüße Sie, scharmante Marquise!« rief Montenegro, seinen Mantel nach Art der galanten Hidalgos von einst über die Schulter werfend.

»Nichts mehr von Marquise, mein Freund! Jetzt züchte ich Schweine.«

Sie lachten beide, und jedesmal, wenn er ihr ein neues, etwas gewagtes Kompliment über ihre Schönheit sagte, bedrohte sie ihn mit ihren rosigen Nägeln.

»Immer derselbe Schmeichler! … Warum lassen Sie sich gar nicht bei mir sehen, Fermin? Sie wissen doch, daß ich Sie liebe – das heißt in allen Ehren, wie eine Schwester. Und trotzdem war mein Dummkopf von Mann auf Sie eifersüchtig. Werden Sie kommen?«

»Ich werde es mir überlegen. Mit dem Schweinehändler möchte ich nicht gern anbändeln.«

Die junge Frau prustete vor Lachen.

»Oh, der ist ganz und gar Kavalier. In seiner Lodenjoppe ist er mehr wert als alle diese Gecken vom Reitklub. Was wollen Sie, Fermin – mir liegt eben das Volk. Im Grunde bin ich wohl eine Zigeunerin.«

Sie schlug dem jungen Mann scherzend auf die Wange, trippelte ein paar Schritte weiter und machte dann nochmals kehrt, um eine Kußhand zurückzuwerfen.

»Schade um das Mädel!« dachte Montenegro. »Trotz ihres verdrehten Köpfchens ist Lola noch die Beste der ganzen Familie. Aber wenn ich denke, daß Don Pablo vor Stolz auf die vornehme Herkunft seiner Mutter beinahe platzt! … Lola und ihre Schwester sind doch ein schlagender Beweis, wie degeneriert der alte Adel ist.«

Unter den hämischen Blicken der Passanten, die Zeugen seiner angeregten Unterhaltung gewesen waren, ging er weiter zur Plaza Nueva, wo das übliche Gewühl herrschte: Wein- und Viehkommissionäre; Getreidehändler; stellungslose Arbeiter aus den Bodegas; magere und von der Sonne verbrannte Knechte und Tagelöhner, die darauf warteten, daß jemand ihre über der Brust gekreuzten Arme mietete.

Aus einer dieser Gruppen löste sich ein Mann, den Montenegro noch am Sonnabend in einer der Bodegas Duponts gesehen hatte.

»Don Fermin! Wissen Sie schon, daß ich heute morgen Knall und Fall entlassen wurde? Und das nach vier Jahren strammer Arbeit und guter Führung! Ist das gerecht, Don Fermin? … Das kommt von der hundsgemeinen Frömmelei,« erläuterte er wutentbrannt, als er des anderen erstauntes Gesicht gewahrte. »Soll ich Ihnen sagen, was ich ausgefressen habe? Ich habe das Papierchen, das man mir am Sonnabend zusammen mit der Löhnung in die Hand drückte, nicht abgegeben!«

Dieses »Papierchen« war die Einladung, der Messe mit anschließender Kommunion beizuwohnen, die Dupont auf seine Kosten in der Kirche des Heiligen Ignatius von Loyola abhalten ließ. Eine Einladung! Jedoch hatten am Sonntag neben der Kirchentür zuverlässige Angestellte gestanden und jedem Arbeiter sein Papierchen abgenommen, so daß es ein leichtes war, die schwarzen Schafe herauszufinden.

»Nun ja, ich habe mich gedrückt, weil ich nicht auch noch den einzig freien Tag in der Woche früh aufstehen mag. Darf ich nicht einmal mehr über meinen Sonntag frei verfügen? … Außerdem widert es mich an, die gleiche Komödie zu spielen wie jene Speichellecker, die um Don Pablos willen in der Kirche antanzen, nachdem sie die ganze Nacht herumgesoffen haben. Verdammt!« – diese Worte waren an die Arbeitergruppe gerichtet – »man kann schuften wie ein Nigger und bleibt für diese Herrschaften doch nur eine Laus, die sie nach Belieben zerquetschen. Stimmt's nicht, Señores?«

Und der Haufe antwortete ihm mit Flüchen und Verwünschungen, die Don Pablo galten.

Der Instinkt der Selbsterhaltung riet Montenegro, nicht länger unter diesen murrenden Leuten zu verweilen, deren Zorn sich gegen seinen eigenen Prinzipal richtete. »O unglückseliger religiöser Fanatismus«, dachte er, während er unwillkürlich seinen Schritt beschleunigte. »Blind und hart und gefühllos macht er den Menschen – verdirbt auch Charaktere, die, wie Don Pablo, von Natur aus gutmütig und harmlos sind …«

 

Wenn Don Pablo einen Tag in seinem berühmten Weinberg Marchamalo zubringen wollte, nahm er außer seiner Familie stets einige Jesuiten oder Dominikaner mit. Wahrscheinlich wäre ihm ohne ihre Beteiligung solche Landpartie mißlungen und reizlos erschienen. Eine seiner Belustigungen dort draußen bestand darin, ihnen seinen Aufseher, den greisen Pedro Montenegro, vorzuführen.

»Hallo, Meister Pedro!« schmunzelte er, den Alten am Ärmel auf die große Esplanade vor den Wirtschaftsgebäuden zerrend. »Gebrauchen Sie mal Ihre Kommandostimme, aber genau so wie damals, als Sie während des Guerillakrieges die ›Roten‹ führten.«

Pedro Montenegro lächelte ein wenig über die erwartungsvollen Gesichter dieser Herren in Soutane oder Kapuze. Aber lag in diesem Lächeln eines pfiffigen Bauern Spott oder Geschmeicheltsein? Schwer zu beurteilen! Froh war er jedenfalls darüber, daß er den Leuten, die hangabwärts ihre schweren Hacken hoben und senkten, eine Atempause verschaffen konnte, und so trat er mit komischem Ernst bis zum Rand der ebenen Freifläche vor.

»An den Taaa … bak!« donnerte es hinunter.

Sofort hörte das Blinken zwischen den Rebstöcken auf. Langsam reckten die Winzer sich hoch, rieben ihre Hände, die von dem starren Griff um den Hackenstiel lahm geworden waren, und zogen aus dem Gürtel Tabak und Papier, um sich eine Zigarette zu drehen.

Der Alte tat dasselbe; doch möglichst umständlich – die gute Laune des Herrn sollte denen da unten so viele Minuten als eben möglich einbringen. Und erst als ihm der Stummel die Finger verbrannte, hallte seine Stimme von neuem:

»Noch eineee … n Zug!«

Der traditionelle Ruf, die Arbeit wieder aufzunehmen, beugte die Rücken, ließ den Stahl der Hacken wieder taktmäßig über den langen Reihen aufblitzen.

Aber nicht allein wegen seiner donnernden Stimme zählte Meister Pedro zu den Kuriositäten, die Don Pablo seinen Gästen vorzusetzen beliebte. Sie ergötzten sich ebensosehr an seiner Schlagfertigkeit, die sich meist der Sprichwörter bediente, an seiner knorrigen, geschraubten Redeweise und an den voll ehrlicher Überzeugung gegebenen Ratschlägen. Und er nahm seinerseits das ironische Lob der Señores mit der Naivität des andalusischen Landmanns auf, der – überwältigt von der Vorstellung des Großgrundbesitzes – noch immer in der Feudalzeit zu leben scheint. Fronknecht seines Arbeitgebers, ohne dieses Unabhängigkeitsbegehren des Kleinbauern, der es als Selbstverständlichkeit betrachtet, daß die Scholle dem gehört, der sie bearbeitet.

Der alte Aufseher hatte ein abenteuerliches Leben hinter sich; Tage der Misere hatten ihm nicht gefehlt. In seiner Jugend war er Winzer gewesen, und auch ihn packte der unruhige Geist, der damals in der Arbeiterschaft gärte. Noch waren es verschwommene, unklare Ideen, deren Größe sie jedoch ahnte. Aber eines Tages begannen in kurzer Entfernung von Jerez, auf dem unsichtbaren Meer, dessen Brise bis zu den Weinbergen herüberwehte, die ehernen Kanonenschlünde der Kriegsschiffe zu sprechen und legten der Königin Isabella ihre Abdankung nahe. Ganz Spanien erwachte: die Bastardrasse floh; das Leben wurde schön, und der Wein schmeckte besser bei dem Gedanken, daß ein jeder nun ein Teilchen dieser Macht besaß, die bisher in der Hand eines einzigen Menschen vereinigt gewesen war. Überdies welch süß einlullende Musik für den Armen, welche Lobreden und Schmeicheleien an das Volk, das nichts gewesen und nunmehr alles war! …

»Republik« lautete das Motto der Tagelöhner. Abend für Abend strömten sie in die Tavernen, um sich die Zeitungen, die Proklamationen und Reden vorlesen zu lassen, in denen Castelar die Vergangenheit verfluchte und Hymnen auf die Mutter, den heimischen Herd, kurz, auf alles sang, was ihre unverdorbenen Seelen ergriff. Zwischendurch kamen phrasenhafte Aufrufe des Bürgers Roque Barcia an seine Freunde hereingeflattert: »Hör mich, mein Volk«, »Kommt zu mir, Arme, und ich werde Kälte und Hunger mit euch tragen!« Wie sollten die Winzer einem Señor, der sich schlicht und einfach wie ein Bruder zu ihnen stellte, nicht Vertrauen schenken? … Um sich aber doch zeitweilig etwas von diesen pathetischen Beteuerungen zu erholen, erzählten sie einander die boshaften Aussprüche des erlauchten Marquis de Albaida; und Winzer, Bauern und Arbeiter, gewöhnt, mit einer Art abergläubischen Scheu zu den Aristokraten emporzusehen, denen Andalusiens Boden gehörte, waren stolz darauf, daß ein wirklicher Marquis auf ihrer Seite stand.

Jahrhundertelange Knechtschaft hatte ihren Seelen einen solchen Respekt vor den oberen Ständen eingeprägt, daß nichts diesen Bürgern, die unaufhörlich mit dem Wort Gleichheit um sich warfen, mehr schmeichelte als der soziale Rang ihrer revolutionären Führer. Unter ihnen befand sich nicht ein einziger Arbeiter. Entweder waren die illustren Verteidiger der »großen Idee« reiche Señoritos aus Cadiz, und als solche gründliche Kenner des genußreichen Lebens einer bedeutenden Hafenstadt, oder Caballeros aus Jerez, Großgrundbesitzer, brillante Reiter, ebenso bewandert im Gebrauch der Waffen wie unersättlich in ihren Ausschweifungen. Sogar einige Geistliche traten der Bewegung bei, indem sie versicherten, daß Jesus Christus der erste Republikaner gewesen sei und am Kreuz etwas Ähnliches wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gesagt habe.

Jedenfalls bedachte sich Meister Fermin nicht lange, als es hieß, die Zeitungen mit der Flinte zu vertauschen, um die Republik gegen dieselben Generale zu verteidigen, welche die Monarchie verjagt hatten. Bei diesem Guerillakrieg lernte er Salvatierra kennen und faßte für ihn eine Bewunderung, die nie erkalten sollte. Flucht und ein langes Exil in Tanger waren das einzige Resultat seiner Begeisterung. Als er schließlich heimkehren durfte, fand er zu Hause den kleinen Fermin vor, seinen Erstgeborenen, dem seine Frau – die arme Märtyrerin nannte er sie – wenige Monate nach seinem Abmarsch in die Berge das Leben geschenkt hatte.

Wie früher arbeitete der Heimgekehrte in den Weinbergen. Der Fehlschlag der revolutionären Erhebung hatte seine Begeisterung ein wenig gedämpft; auch machte ihn das Bewußtsein seiner Vaterschaft zum Egoisten: ihn kümmerte seine Familie mehr als das souveräne Volk, das seine Fesseln ja schließlich auch ohne sein Zutun sprengen konnte. Als jedoch die Republik proklamiert wurde, erwachte der alte Enthusiasmus von neuem. Endlich hatte man sie! … Endlich war das goldene Zeitalter angebrochen! … Aber wenige Monate später versammelte Salvatierra seine Getreuen. »Die Drahtzieher in Madrid sind Verräter!« wetterte er. »Ihre Republik ist nur ein von den Kapitalisten ausgeworfener Köder!« Und wiederum schulterte Pedro Montenegro seine Flinte, um sich in Sevilla, in Cadiz, in den Bergen für die wahre Republik zu schlagen. Diese zweite Kampagne endigte noch schlimmer für ihn. Er wurde gefangengenommen und nach Ceuta ins Zuchthaus gebracht, wo er in buntem Durcheinander mit Karlisten und kubanischen Rebellen ein grauenhaftes Dasein führte. Als man ihn nach neun Monaten entließ, harrte seiner in Jerez ein neuer Schicksalsschlag. Die »arme Märtyrerin« war inzwischen gestorben und hatte die Sorge für ihre beiden Kinder Fermin und Maria Luz bedürftigen Verwandten überlassen. Pedro sah sich vergeblich nach Arbeit um. Die Gutsbesitzer, deren Wut auf die »Friedensstörer« und »Mordbrenner« sich noch nicht abgekühlt hatte, wollten keine Leute auf ihrem Grund und Boden dulden, die erst unlängst, schwer bewaffnet und anmaßend, mit den Señores wie mit ihresgleichen verhandelten.

Endlich wandte sich Pedro, um den Hütern seiner Kinder nicht immer leere Hände zu zeigen, auf den Rat seines Freundes und Mitkämpfers Paco Algar, der das Gewerbe kannte, dem Schmuggel zu. Sie beide verband außer ihrer Waffenbrüderschaft ein Band, das für die Landleute geheiligter ist als Blutsverwandtschaft: Pedro Montenegro war der Pate vom kleinen Rafael, Pacos einzigem Kind.

Die zwei Gevatter führten ihre mühseligen Unternehmungen armer Kontrabandisten stets gemeinsam aus. Während andere – begüterter – truppweise zu Pferde durchs Gebirge zogen, auf der Kruppe ihrer starken Gäule zwei enorme Tabaksäcke, am Sattelknopf die mit Rehposten geladene Flinte, um nötigenfalls mit Bravour zum Ziel zu gelangen, packten sich Pedro und Paco in Algeciras, an der englischen Gibraltargrenze, je dreiviertel Zentner Tabak auf den Buckel. Tagsüber in einem Schlupfwinkel liegend und nachts wandernd, mühten sie sich durch die wildesten Teile des Gebirges, kletterten über Felsen, tasteten sich unter Donner und Blitz, unter Hagelschauern und Schneegestöber und Sturmgeheul auf schmalen Pfaden, die schwindelerregende Abgründe begleiteten, mit ihrer Last vorwärts.

Oh, welch hartes Los, sich das tägliche Brot im Kampf gegen Dunkel, gegen Unwetter und gegen den Menschen – den schlimmsten Feind – verdienen zu müssen! Steinfall, ein Flügelschlag von Nachtvögeln, das Knacken eines dürren Zweiges, fernes Hundegebell warf die beiden, halb erstickt unter ihrer Bürde, jäh zu Boden oder trieb sie in stachliges Zistusgebüsch.

Das Grenzgebiet von Gibraltar zu verlassen, war das wenigste. Hände, die sich aus betreßten Ärmeln hervorstreckten, nahmen dort jedem seinen Tribut ab: dem berittenen Schmuggler einige Duros, dem Packträger einige Pesetas. Zur gleichen Stunde setzte sich der ganze Trupp von Schwärzern in Bewegung, um sich nach Passieren der Zollwache im Dunkel der Nacht wie ein Fächer zu öffnen und verschiedene Richtungen nach Andalusien einzuschlagen. Doch nun erst begann die eigentliche Schwierigkeit. Nun lechzten die Patrouillen längs der Grenze, die keinen Anteil an den Bestechungsgeldern hatten, nach den Prämien für Schmuggelware, und da sie sich mit den Berittenen, deren Antwort auf das »Halt! Wer da?« in Schüssen bestand, ungern einließen, wurden die waffenlosen Ballenträger unbarmherzig gehetzt.

Drei Nächte brauchten die Gevatter für den Heimweg. Den Rücken gekrümmt, ein Dröhnen in den Ohren, mitten im Winter schweißüberströmt, näherten sie sich unruhig den Schluchten, in denen die Kugel schon so manchen ereilt hatte, wenn er dem Befehl »Auf den Bauch!« nicht schleunigst nachgekommen war. Überdies rächten sich die im Hinterhalt liegenden Carabineros für das lange Wachen durch grausame Hiebe. Oft wurde das nächtliche Schweigen der Sierra von Schmerzensschreien unglücklicher Schmuggler zerrissen. Fern jedem Gesetz, in wilder Einsamkeit hagelte es brutale Kolbenschläge, aufs Geratewohl geführt …

Diese Gefahren indes schreckten die beiden kaum. Hingegen saß ihnen die Angst um ihre Tabakballen wie ein Gespenst im Nacken. Die Ballen einbüßen, ihr einziges Existenzmittel, ihr Betriebskapital! Von neuem Geld leihen, wiederum wegen der Rückzahlungen zittern, nochmals das Brot für die Kleinen schmälern! …

Um solch eine Katastrophe zu vermeiden, entschlossen sie sich beim geringsten Alarm zur Flucht. Durch Spalten, wo der Fuß kaum auf einer vorstehenden Felszacke Platz fand, schoben sie sich aufwärts, krochen auf allen vieren über Grate, deren Wände Hunderte von Metern steil abfielen. Unter ihren zerschundenen Händen lösten sich Steinchen, polterten hinab in die grausige Tiefe, und die Erinnerung an irgendeinen ihrer früheren Gefährten ließ ihr Blut gefrieren. »Dort unten liegt Juan!« Doch der Gedanke, daß zu Hause hungrige Mäuler vergeblich warten würden, falls in einem dieser Abgründe die Raben auch ihre Knochen säuberten, gab ihnen neue Kraft.

Ein erbärmliches Leben! Und um welchen Lohn? … Wenn sie den Müßiggängern in Cafés und Kasinos ihren Tabak verkauften, so feilschten diese noch um etliche Centavos. Ach, ahnten sie nur, was die armen Teufel um diese Pakete ausgestanden hatten, die hart wie Ziegel auf ihrem Rücken wuchteten, die getränkt zu sein schienen mit dem Schweiß der Erschöpfung oder der Angst! …

Das Unglück, erbost über den Starrsinn, mit dem die beiden ihm auszuweichen verstanden, packte schließlich zu. Dreimal wurden sie so nahe der Stadt, daß sie sich schon in Sicherheit wähnten, von Carabineros erhascht, die die Ärmsten gräßlich zurichteten und dann mit den Tabaksballen abzogen. Fahrt wohl, Ersparnisse! … Nach dem dritten Zusammenstoß waren sie ärmer als zu Beginn ihrer Schmuggelfahrten. Eine für ihre Verhältnisse enorme Schuldenlast und niemand mehr, der ihnen zur Weiterführung des »Geschäfts« noch Geld leihen wollte …

Paco Algar nahm seinen kleinen Jungen an die Hand und wanderte zurück in sein Heimatdorf, um sich auf einem Bauerngehöft zu verdingen, sofern man einen Knecht mit solch ausgemergeltem Körper einstellen würde.

Was seinen Gevatter anbetraf, so hatte dieser keine andere Zufluchtsstätte als Jerez. Tagtäglich stand er in den Reihen der unfreiwillig Feiernden auf der Plaza Nueva; aber die Vögte und Aufseher, die über seine republikanische Betätigung sowie die wegen Schmuggels erlittenen Gefängnisstrafen Bescheid wußten, gingen mit einem verächtlichen Blick an ihm vorüber. Nichts im Magen als dann und wann ein Gläschen Schnaps, zu dem einer seiner Kumpane ihn einlud, schlotterte er vor Kälte in der Frühe des Wintermorgens, um abends von seiner Schwägerin die ewig gleiche Frage zu hören: »Auch heute nichts?«

Und dann führte das Schicksal ihm jenen in den Weg, den Pedro als seinen Schutzengel zu bezeichnen pflegte – den alten Dupont. Bei einer zufälligen Begegnung erinnerte sich dieser an kleine Gefälligkeiten, die der verhärmte, hohlwangige Mensch seinem Hause in jener Zeit erwiesen hatte, als er bewaffnet und stolz auf seine rote Mütze durch Jerez' Straßen geschritten war.

Entsprang Duponts Handeln einer plötzlichen Laune? Wollte er vor sich selbst groß dastehen, indem er einen von allen Schwellen Verwiesenen als Tagelöhner auf sein schönstes Weingut Marchamalo schickte? …

Aber allmählich erwarb sich Pedro Montenegro durch rastlosen Fleiß und Anstelligkeit das Vertrauen seines Brotgebers und stieg bis zum Aufseher empor. Und nun erfuhren die Ideen des einstigen Rebellen eine erhebliche Änderung. Er betrachtete sich als einen Teil des Hauses Dupont, fühlte sich gehoben durch das Ansehen, das dieses genoß. Nach und nach gewann er die Überzeugung, daß die Señores doch nicht so arg seien, wie die Armen glaubten, und selbst sein Respekt vor Salvatierra, der als Flüchtling außerhalb der Grenze umherirrte, hielt ihn nicht ab, seinen Freunden merkwürdige Geständnisse zu machen.

»Ich bin und bleibe natürlich Republikaner!« versicherte er. »Aber wenngleich unsere Hoffnungen Schiffbruch erlitten haben, so zwingt mich die Gerechtigkeit, anzuerkennen, daß die augenblicklichen Verhältnisse keinen Grund zum Murren geben. Man hat es besser als früher …«

Sein Töchterchen lebte unter der Obhut der Schwägerin jetzt bei ihm, in einem alten Gebäude, weitläufig wie eine Kaserne; sein Sohn ging in Jerez zur Schule, und Don Pablo, dem der aufgeweckte Junge gefiel, hatte versprochen, daß er »einen Mann« aus ihm machen wolle. Und er selbst verdiente täglich drei Pesetas, ohne andere Verpflichtung, als die Arbeitskräfte anzuwerben, sie zu beaufsichtigen und die Lohnlisten zu führen.

Eingedenk der Zeiten eigenen Elends, übersah Pedro bei seinen Untergebenen Nachlässigkeit und saumselige Arbeit soweit wie irgend möglich. Um aber andererseits seinen Eifer für die Interessen der Herrschaft zu bekunden, sprach er zu den Leuten in barschem Ton, mit diesem Übermaß von Autorität, in das der kleine Mann verfällt, sobald er sich über seine früheren Kameraden erhöht sieht.

Durch sein frohes Naturell und sein schlichtes, frankes Wesen hatte er sich allgemach die Sympathien der Duponts in solchem Grade erobert, daß die beiden Familien eine einzige zu bilden schienen. Der alte Don Pablo hörte zu gern Geschichtchen aus Pedros Guerillakriegszeit und seinem Schmugglerleben; den Kindern gefielen seine Basteleien und Schnitzarbeiten weit mehr als die Steifheit ihrer englischen Erzieherin, und sogar die hochmütige Doña Elvira, die Schwester des Marquis de San Dionisio, die ständig mit einer verbissenen Miene einherging, als fühle sie sich durch die Heirat mit einem Bürgerlichen degradiert, geruhte ihm etwas wie Wohlwollen zu erweisen – freilich mit geziemender Reserve, etwa wie eine Dame aus der Ritterzeit einen vertrauenswürdigen Schildknappen mit ein paar freundlichen Worten beehrte.

Pedro sah, wie seine Kinder mit den beiden jüngeren Söhnen des Hauses durch die Pfade des Weinbergs tollten, während der ältere, der künftige Chef, sich zu seiner Mutter hielt und ihre hochtrabende Art nachahmte. Oft aber brauste in einer Staubwolke Don Pablos Vierspänner heran, um eine ganze Ladung Kroppzeug abzusetzen: außer den eigenen drei Sprößlingen den verwaisten Neffen Luis Dupont, dessen reiche Liegenschaften Don Pablo verwaltete, und die Töchter des Marquis, zwei ausgelassene Mädel mit unschuldigen Augen, aber keckem Schnabel, in denen sich der Charakter des Vaters nicht verleugnete. Mit der Einfachheit, die eine Spur jener Frühepoche zu sein scheint, als die Menschen noch nicht die soziale Rangordnung erfunden hatten und wie Brüder lebten, wurden Fermin und sein Schwesterchen Maria Luz von diesen künftigen Erben riesiger Vermögen wie Gleichberechtigte behandelt. Der brave Pedro blickte ihnen gerührt nach. Weil sein Pärchen sich mit den Herrschaftskindern duzte, glaubte er in einer vollkommenen Welt zu leben. Das war doch die erträumte Gleichheit, der er mit Einsatz seines Lebens hatte zum Siege verhelfen wollen und die sich nun für ihn verwirklichte, nur für ihn.

Bisweilen stattete auch der Marquis de San Dionisio dem Weingut einen Besuch ab und stellte trotz seiner fünfzig Jahre alles auf den Kopf. Der fröhliche Lebemann war durch seine Eskapaden ebenso berühmt wie einstmals seine Ahnen durch ihre Tapferkeit. Ein uraltes Geschlecht! Die grüne Fahne, die man nur bei ganz großen Anlässen aus dem Rathaus holte, hatte einer seiner Vorfahren in der Schlacht bei Tolosa den Mauren mit der Streitaxt entrissen. Vizekönige von Peru und Mexiko, heilige Erzbischöfe, Admiräle und Heerführer gingen aus diesem Stamm hervor, aber der Marquis pfiff auf die ganze grandiose Vergangenheit: ihm wäre ein Vermögen wie das seines Schwagers Pablo Dupont lieber gewesen – wohlverstanden, ohne Arbeit und Verpflichtungen.

In den Sälen des riesigen Sarazenenschlosses, von seinen Vorfahren restauriert und umgebaut, gab es nur noch kümmerliche Reste des einstigen Glanzes: schadhafte Gobelins, nachgedunkelte Gemälde blutüberströmter Heiliger und Armsessel mit zerschlissenen Seidenbezügen. Alles andere – eingelegte Tische, Flügelaltäre, Kunstschätze der Inkas und Azteken, kostbare Geschenke europäischer Monarchen an irgendeinen Botschafter aus der Familie, Trophäen der Maurenkriege – hatten die Antiquitätenhändler Sevillas, an die sich der Marquis in Geldnöten wandte, im Laufe der Jahre fortgetragen. Beharrlich kehrte Fortuna dem leichtsinnigsten Spieler von Jerez den Rücken, und um sich über die verlorenen Unsummen zu trösten, hielt er Gelage ab, von denen man tagelang in der Stadt sprach.

Frühzeitig Witwer geworden, überließ er die Beaufsichtigung seiner Töchter hübschen, jugendlichen Erzieherinnen, und mehr als einmal überraschten die beiden Mädchen ihre Hüterinnen in seinen Armen. Als Doña Elvira von diesen skandalösen Vorgängen vernahm, holte sie ihre Nichten zu sich; aber sie – echte Kinder ihres Vaters – protestierten voller Verzweiflung, heulten und wälzten sich auf dem Boden, bis sie dem Leben absoluter Unabhängigkeit in der Burg zurückgegeben wurden, wo Verschwendung und Lustbarkeiten einen tollen Reigen aufführten.

In dem historischen Palast kampierte die Blüte der Zigeunerzunft. Der Marquis war rein vernarrt in Frauen mit olivenfarbener Haut und schwarzen Kohlenaugen, als ob irgendwelche heimlichen Rassenkreuzungen der Vergangenheit sich mit mysteriöser Kraft geltend machten. Er überhäufte Zigeunerinnen, die sich zum Unkrautjäten verdingten und in dem schamlosen Durcheinander der Tagelöhnerbaracken zu nächtigen gewohnt waren, mit Schmucksachen und prächtigen Seidentüchern. Obendrein besaß jede seiner Favoritinnen einen erklecklichen Anhang, der sich mit servilem Gewimmer und der dieser Rasse eigenen Habgier an seine Fersen heftete. Und lachend hörte er ihr höchstes Lob, daß er ein echter Zigeuner sei, mehr Zigeuner als sie selbst.

Die berühmtesten Toreros kamen nach Jerez, um ihn zu ehren, was dem Marquis erfreulichen Grund zu neuen rauschenden Festen gab. Manche Nacht wurden seine Töchter durch Gitarrengeklimper, durch das schwere Seufzen andalusischer Lieder und das Klappern tanzender Absätze aus dem Schlaf geweckt; und hinter den erleuchteten Fenstern auf der anderen Seite des ungeheuren Patios sahen sie dann Männer in Hemdsärmeln, in der rechten Hand eine Flasche und in der anderen ein Glas schwenkend, und Frauen mit verwirrtem, blumengeschmücktem Haar, die unter juchzendem Gekreisch und provozierenden Drehungen des Körpers einem Verfolger entschlüpften oder ihre Fransenschals entfalteten, als wollten sie einen Stier in der Arena reizen. Wenn dann am nächsten Morgen die kleinen Marquisen durch die Gemächer gingen, schnarchten auf den Diwans halb entkleidete unbekannte Burschen, mit rotem gedunsenem Gesicht, während in kurzer Entfernung von ihrer Lagerstatt häufig die Reste, die der überladene Magen von sich gegeben hatte, das Parkett beschmutzten.

Etliche Leute betrachteten diese Orgien als sympathischen Beweis für die volksfreundlichen Neigungen des Marquis. Zu ihnen gehörte auch Pedro Montenegro. Ah, ein Hidalgo, der so alte Adelsbriefe besaß, daß sogar eine Prinzessin ihm – ohne sich etwas zu vergeben – ihr Herz schenken konnte, und der trotzdem auf Mädchen aus dem Volk und Zigeunerinnen versessen war, sich seine Freunde unter Pferdezüchtern und Stierkämpfern suchte und mit dem ersten besten um ein Almosen Bittenden ein Glas Wein trank! … Ah, das war doch echte Demokratie! …

Zu dem Enthusiasmus über die vulgäre Vorliebe dieses spanischen Granden, der die Leute für den Hochmut seiner erlauchten Vorfahren und seiner Schwester entschädigen zu wollen schien, gesellte sich bei Pedro die beinahe religiöse Hochachtung, die physische Kraft bei dem Landvolk stets erweckt. Denn dieser Edelmann war nicht nur ein wirklicher Athlet – wen seine Faust traf, der stand bestimmt nicht wieder auf! –, sondern auch der beste Reiter von Jerez. Welch prachtvolles Bild, wenn er, den wehenden Backenbart von dem breitkrempigen, federngeschmückten Hut beschattet, wie ein Blitz über die ungeheuren Viehweiden galoppierte, um aus Mangel an Muselmännern die Jungstiere mit der Pike umzuwerfen. Und ob ein Pferd beim Zureiten noch so sehr um sich biß, bockte und Schaum werfend in die Luft stieg – seine stählernen Schenkel zwangen es zum Gehorsam.

Alle Tugenden und alle Laster schienen in dem letzten Sproß des alten Geschlechts noch einmal aufzuflammen. Wie seine Ahnen, die sich am königlichen Hof ruinierten und dann gleichmütig übers Meer segelten, um sich als Vizekönige neuen Reichtum zu erobern, streute er das Geld mit vollen Händen aus. Und stolz auf seine Bärenkraft, liebte er Scherze, bei denen es Opfer gab. Ein brutaler Kerl! Aber so waren die Caballeros von Jerez – Vorbilder für die andalusische Ritterschaft – immer gewesen. Hatten sie sich nicht zwei Jahrhunderte lang täglich mit den Mauren gemessen? Umsonst hieß ihre Stadt ja nicht Jerez de la Frontera! … Rauhe Kämpen, wie dies sogar der große Karl V. am eigenen Leibe erfahren mußte. Als der Kaiser nämlich gelegentlich eines Besuches mit ihnen einige Lanzen stechen wollte, faßten sie, aller Spielereien mit den Waffen abhold, die Herausforderung ernsthaft auf. Beim ersten Gang blieben von Seiner Kaiserlichen Majestät Turniergewand nur Fetzen übrig, aus dem zweiten kam sie blutüberströmt zurück, so daß seine Gemahlin ihn angstbebend anflehte, seine Lanze für höfischere Ritter aufzusparen.

Nicht minder bekannt wie seine Körperkraft war des Marquis Hang zu rohen Neckereien. Als er eines Tages über den Markt spazierte, erkannten ihn zwei Blinde an der Stimme und begrüßten ihn, das gewohnte Almosen erwartend, mit pompösen Phrasen. »Da nimm, für euch beide!« rief er ihnen zu, ohne etwas zu geben. Und indes er von dannen schritt, verlangte jeder der beiden Bettler vom anderen die ihm gebührende Hälfte, bis sie derart in Zorn gerieten, daß sie von hitzigen Worten zu Taten übergingen und mit ihren Stäben aufeinander losschlugen.

Ein andermal ließ der Edle von San Dionisio das Gerücht aussprengen, daß er an seinem Namenstage jedem Lahmen eine Peseta aushändigen würde. Wie zu erwarten, war am Festmorgen der weite Patio seines Kastells mit Lahmen aus Stadt und Land übersät. Doch als der Hausherr, von Gästen umringt, auf einem Balkon erschien, öffnete sich die Tür zu den Stallungen, und heraus schoß wutschnaubend ein junger Stier. Die wirklich Lahmen suchten sich hinter den Säulen der Arkaden zu verkriechen; die weitaus meisten jedoch warfen ihre Krücken beiseite, um mit der Behendigkeit von Affen am Gitter emporzuklimmen. Oben auf dem Balkon aber schüttelte sich der Marquis vor Lachen über das wilde Getümmel. Nach einem Weilchen gebot er, den Toro wieder einzusperren und jedem Lahmen – ob echt oder falsch – den verheißenen Obolus zu überreichen.

Dieser bizarre Mann hatte das Glück, daß sein Sterbestündchen zur rechten Zeit nahte – als er nur noch Schulden besaß, als die Salons kein einziges wertvolles Möbel mehr bargen und sein Schwager jedes weitere Darlehen verweigerte. »Mein Haus steht zu deiner Verfügung«, lautete Pablo Duponts unwiderruflicher Entscheid. »Essen und soviel Wein, wie du magst – aber keinen Real in bar.«

Mitten in einer seiner Orgien traf den hochgeborenen Marquis ein Schlaganfall. In den Schoß seiner schönsten Freundin gebettet, mühte er sich, mutig zu lächeln; doch als sich am nächsten Tage der Anfall wiederholte, überredete ihn die fromme Doña Elvira, der er zeitlebens endloses Ärgernis bereitet hatte, »der Welt ein gutes Beispiel zu geben«. Geistliche in Soutanen und Kutten aller Art eilten an sein Bett, räumten, um sich setzen zu können, hier eine Gitarre, dort einen vergessenen Frauenrock oder einen seidenen Schal beiseite und sprachen von dem schönen Himmel, wo ihn dank der Verdienste seiner Vorfahren sicherlich ein Vorzugsplatz erwarte. Auch versäumte es keine der zahllosen frommen Bruderschaften von Jerez – bei allen bekleidete der lustige Sünder ein erbliches Ehrenamt –, den Priester, der ihm die letzte Ölung brachte, in feierlichem Zuge zu geleiten. Als er dann schließlich die Augen schloß, hüllte man ihn der Sitte gemäß in eine Mönchskutte, und die Señora Dupont häufte auf seine Brust sämtliche Heiligenbildchen und Medaillen, von denen sie voraussetzte, daß sie seine sofortige Zulassung in die ewige Glorie bewirken würden.

Die beiden Töchter des Verblichenen, die beinahe schon erwachsen waren und sowohl durch ihre pikante Schönheit als auch durch ihr freies Benehmen die Aufmerksamkeit auf sich lenkten, überließen das Sarazenenschloß den sich streitenden Gläubigern und siedelten zu ihrer Tante Elvira über. Aber die Gegenwart der scharmanten kleinen Teufelinnen rief allerhand häuslichen Ärger hervor, durch den die letzten Jahre Don Pablos sehr verbittert wurden. Seine Frau, von ihrem ältesten Sohn willig unterstützt, versuchte umsonst das Temperament ihrer Nichten zu zügeln. Sie gingen wohl devot mit zur Messe und zu den neuntägigen Andachten zu Ehren irgendeines Heiligen, doch sobald junge Herren in ihrer Nähe auftauchten, kokettierten sie in einer Art und Weise, daß die sehr fromme Tante Herzklopfen bekam. Großer Gott, was waren das für Worte und Gesten? Sollte es ein Echo sein von dem, was ihnen im väterlichen Hause zu Ohren gekommen war? …

»Worüber klagst du?« erwiderte Don Pablo lakonisch, als sie ihm eines Tages ihre Not anvertraute. »Sind sie nicht von deinem Blut?«

Nichts konnte die vornehme Dame mehr verletzen als eine Störung der majestätischen Harmonie ihres Lebens und ihres Salons. Sogar Pablo Dupont erregte ihr Unbehagen infolge seines nüchternen, sachlichen Ernstes, den er sich wahrscheinlich im Umgang mit den englischen Firmenvertretern angeeignet hatte. Sie brachte ihm überhaupt nicht viel Herzenswärme entgegen. Was ihre hochmütige Seele an Liebe geben konnte, schenkte sie ausschließlich ihrem ältesten Sohn.

»Er schlägt ganz in meine Familie. Nichts hat er von den Duponts! …«, pflegte sie in kaum verhehltem Jubel zu äußern. Und es klang, als sollten diese Worte einen Flecken von ihrem Sohn abwaschen.

Tatsächlich färbte bei der Erinnerung an die Herkunft der Duponts und die trübe Quelle ihres fabelhaften Reichtums die Scham Doña Elviras Wangen. Ohne einen Heller in der Tasche hatte der erste dieser Dynastie Jerez betreten, wo ihn ein anderer Franzose in seiner Kellerei anstellte. Dann kam der Krieg mit Frankreich. Den Haß der empörten Volksseele fürchtend, flüchtete der Besitzer in seine Heimat und überließ die Sorge für Hab und Gut dem Landsmann, der nichts Eiligeres zu tun hatte, als spanischer Untertan zu werden und, wie alle Renegaten, schlimmer gegen sein früheres Vaterland zu hetzen als die Spanier selber. Als nach Friedensschluß der wirkliche Besitzer zurückkehrte, setzte Dupont ihm ohne weiteres den Stuhl vor die Tür, mit der Begründung, daß die Firma ihr Fortbestehen nur seinen heroischen Anstrengungen während der Kriegsjahre zu verdanken habe. Ohnehin schon krank, brach der vertrauensselige Franzose unter diesem Schurkenstreich völlig zusammen. Er verschwand für immer, und durch eine Ironie des Schicksals, nicht selten in derartigen Fällen, nahm die Firma einen ungeahnten Aufschwung, so daß sich die Duponts fortan den Luxus der Ehrlichkeit leisten durften.

Die blaublütige Doña Elvira, die so gern mit ihren Ahnen prahlte, fühlte stets ein peinliches Zwicken, wenn sie an diese Geschichte dachte; aber das Bewußtsein, daß ja ein Teil – und kein geringer – des riesigen Vermögens durch sie der Heiligen Kirche zugeführt würde, beruhigte sie wieder.

Als Don Pablo unerwartet und verhältnismäßig früh das Zeitliche segnete, schmerzte dieser Tod keinen so sehr wie den Aufseher von Marchamalo. Ganze Stunden kauerte er, das Kinn zwischen den Händen, mit vagem Blick auf der Terrasse, traurig und apathisch wie ein Hund, der seinen Herrn verloren hat. Die tröstenden Worte Maria Luz', die mittlerweile zu einem jungen Mädchen herangereift war, fruchteten nichts. Erst wenn sie eine der bestaubten, von irgendeinem Fest übriggebliebenen Flaschen hervorholte und der Alte das vierte Glas geleert hatte, seufzte er resigniert: »Ein Dreck sind wir! Heute du … morgen ich!«

Und während er diesen düsteren Monolog fortsetzte, schlürfte er nach Art des andalusischen Bauers, der im Wein den wertvollsten aller Schätze sieht und ihn beriecht und langsam aufsaugt, ganz kleine Schlückchen des köstlichen Tropfens. Nach einer halben Stunde dieses raffinierten, feierlichen Trinkens hüpften seine Gedanken von dem Verstorbenen zu einem anderen Mann, dem er kaum weniger Verehrung zollte: Salvatierra, dem unentwegten Kämpfer für die Sache der Arbeiter. Und allmählich verschwammen die beiden ihm lieben Gestalten. »Ah, Salvatierra … Don Pablo … welche Wohltäter der Menschen! Wäre etwa ohne sie aus meinem Fermin ein Caballero geworden? …«

In der Tat hatte sich der alte Dupont des intelligenten Jungen angenommen, der als Laufbursche ins Kontor eingetreten war und gleichzeitig in seiner Freizeit bei Salvatierra Unterricht genoß. Denn der Revolutionär war, nach Sonne und ländlicher Ruhe dürstend, aus der Verbannung heimgekehrt, um in Marchamalo an der Seite seines einstigen Gefolgsmannes Pedro zu leben. Dieser Brave hatte ihn ohne weiteres aufgenommen, da es ihn bei einem solch berühmten Gast überflüssig dünkte, die Genehmigung des Patrons zu erbitten.

Als Don Pablo von dieser Eigenmächtigkeit erfuhr, fiel kein Wort des Vorwurfs. Ihm imponierte der gerade Charakter Salvatierras; ganz abgesehen davon hielt er es als kluger Geschäftsmann für ratsamer, Nachsicht zu üben. Wer weiß, ob diese Leute nicht gerade, wenn man es am wenigsten vermutete, zur Herrschaft gelangten! … Und eines Tages schüttelten sich draußen in Marchamalo der Millionär und der Führer der Entrechteten die Hände, als hätte sich in den vielen Jahren nichts ereignet.

»Holla, Salvatierra! Man hat mir gesagt, daß Sie Fermin unterrichten. Kommt er gut vorwärts?« erkundigte sich Dupont, worauf der Lehrer dem Schüler ein glänzendes Zeugnis ausstellte.

Geschah es auf Salvatierras Anraten oder aus Don Pablos eigener Initiative? Der alte Pedro hätte es nicht sagen können – jedenfalls erklärte sein Arbeitgeber ihm mehrere Monate später in dem herrischen Ton, dessen er sich stets bediente, wenn er jemandem Gutes tat, daß der Junge zwecks weiterer Ausbildung einige Jahre in der englischen Filiale arbeiten würde.

Der junge Mann reiste also nach London und schrieb begeisterte Briefe über sein neues Leben. Wenn sie der Vater daheim las, begann er von der glänzenden Zukunft zu träumen, die seines Fermin harrte. Alle, alle, die in Duponts Kontor die Feder führten, würde er bei seiner Rückkehr ausstechen! …

Aber auch diese rosigen Bilder vermochten nicht die Langeweile zu bannen, unter welcher der alte Aufseher litt. Außer den Winzern, bei denen er überdies auf eine gewisse Zurückhaltung stieß, hatte er niemand zum Schwatzen. Seine Tochter, zu einer Schönheit erblüht, dachte an nichts als Putz und ging, sobald abends die Lampe angesteckt wurde und der Vater seine Nase in ein paar alte Bücher oder Broschüren versenkte, zu Bett. Wo waren die Zeiten, als Garten und Weinberg von frohem Lärm widerhallten? Selten nur kam Doña Elvira oder ihr ältester Sohn, jetziger Chef des Hauses Dupont, hinaus, noch seltener die jungen Marquisen, deren Liebesaffären ganz Jerez in Aufregung hielten, und Jahre lag der letzte Besuch der jüngeren Söhne zurück, die wie Fermin in London lebten, als Leiter der dortigen Filiale. Sogar das Gutshaus zeigte ein trostloses Aussehen – in seinen hundertjährigen Mauern mehrten sich die Risse und Sprünge. Der neuerungssüchtige junge Chef erwog bereits den Plan, es ganz abzureißen und an seiner Statt einen pomphaften Bau aufzuführen … ein Stammschloß der Duponts, dieser Industriefürsten.

Wie öde erschien dem Aufseher von Marchamalo jetzt das Leben! Salvatierra hatte ihn gleichfalls verlassen, schweifte von neuem durch die Welt, und nun starb auch noch Gevatter Paco, die letzten Jahre als Stellmacher auf einem Bauernhof beschäftigt, so plötzlich an einer Lungenentzündung, daß ihm sein alter Kamerad nicht einmal Lebewohl sagen konnte.

»Und was hast du jetzt vor, Rafael?« fragte Pedro Montenegro sein Patenkind, das die Todesnachricht persönlich überbrachte. »Willst du dich weiter bei einem Bauern verdingen?«

»Feldarbeit? …« Der stramme Bursche lächelte verächtlich. »Die kann mir gestohlen bleiben! Für mich gibt es nur Reiten und Schießen. Außerdem bin ich abenteuerlustig – ich will den Leuten zeigen, was an dem Sohn des Paco Algar dran ist. Keine Bange! Mit so etwas« – er reckte die Brust heraus und hämmerte auf seine Armmuskeln – »stirbt man nicht vor Hunger.«

Und Rafael verhungerte nicht. Wie sollte er auch! … Sein Pate musterte den Achtzehnjährigen bewundernd, wenn er, wie ein Gutsbesitzer aus der Sierra gekleidet, auf seinem rassigen Goldfuchs in Marchamalo einritt. Und was er alles zu erzählen wußte! Ah, dieser Junge rächte sie beide, seinen Vater und seinen Paten, rächte die im Gebirge ausgestandene Angst und die grausamen Hiebe, die ihnen diese Schergen versetzt hatten. Caramba, dem Burschen hier würden sie wohl nicht die Ware wegzunehmen wagen!

Da Rafael das »Geschäft« beritten betrieb, gab er sich nicht mit lumpigem Tabak ab. Die Juden Gibraltars gewährten ihm Kredit, und auf der Kruppe des Goldfuchses schaukelten Ballen mit Seide oder prächtige Manilaschals. Vor seinem verblüfften Paten holte er Fäuste voll englischer Goldpfunde aus dem Gürtel, als wäre es kleines Wechselgeld, und stets kam aus der Satteltasche ein buntes Seidentuch oder auch eine feine Stickerei zum Vorschein, ein Geschenk für Maria Luz, deren Augen nicht einen Moment von ihm wichen.

Die Blicke der beiden jungen Leute waren beredt, aber wenn einer das Wort an den anderen richtete, taten sie verlegen, als ob sie sich nicht von Kindheit an kennten, als ob sie nicht begeistert zusammen gespielt hätten, so oft Paco Algar den Freund besuchte.

Und spitzbübisch lächelnd sagte der alte Pedro:

»Warum so schüchtern, Rafael? Meinst du, ich ahnte nicht, daß du noch etwas anderes als nur mein Patenkind sein möchtest? … Sei sparsam, solange dir das Glück treu bleibt, und wenn du ein Stück Geld auf die hohe Kante gelegt hast, sprechen wir auch von der anderen Sache – du weißt ja, was ich meine.«

Doch »Sparen« war ein Wort, das Rafael haßte. Ihn beherrschte der Glaube an die Zukunft, der keinem energischen, tatkräftigen Mann fehlt, und die tolle Verschwendungssucht derer, die – Banditen, Sklavenhändler oder Schmuggler – das Geld einstreichen, indem sie der Menschen und Gesetze spotten, und die Gewinne jener Lotterie, bei welcher ihr Leben der Einsatz ist, wie wertlose Dinge verschleudern. In den Herbergen des Flachlandes und in den armseligen Hütten der Kohlenbrenner im Gebirge, überall, wo man sich zum Trinken vereinte, zahlte er, ohne zu zählen. In den Tavernen von Jerez gab er Feste, über die sogar die Señoritos staunten. Heiß brannte seine Lebensgier. Doch manchmal tauchte im wildesten Taumel ein graziöses Lächeln vor ihm auf; er glaubte Maria Luz' mahnende Stimme zu vernehmen:

»Rafael, man spricht über dich, und immer Schlechtes … Aber du hast doch ein gutes Herz. Nicht wahr, du wirst dich ändern?«

Und Rafael gelobte es sich selbst, um die angstvollen großen Augen des Engels zu beruhigen, der auf der Höhe eines Hügels nach ihm ausspähte und Hals über Kopf die Rebenterrassen hinabstürmte, sobald er auf der staubigen Landstraße herangaloppierte.

Eines Nachts schlugen die Hunde von Marchamalo wild an. Grau begann gerade der Morgen zu dämmern. Pedro Montenegro griff nach seiner Flinte und öffnete ein Fenster. Draußen hielt ein Reiter sich am Hals seines Pferdes angeklammert, das röchelnd und mit zitternden Beinen dem Zusammenbrechen nahe schien.

»Mach auf, Pate!« stöhnte eine schwache Stimme. »Ich bin's, Rafael.«

Er wankte ins Haus, und Maria Luz, den Kattunvorhang vor ihrem Schlafzimmer lüftend, stieß einen Schrei aus. Sie vergaß alle Scham, sprang im Nachthemd herzu, um ihrem Vater zu helfen, der den jungen Mann kaum halten konnte. Totenblaß war er, die Kleidung vollgesogen von Blut. Hier ein schwärzlicher Fleck, dort ein roter nasser Streifen. Und Tropfen, die unaufhaltsam die Weste entlangglitten und mit leisem Drip-Drip auf den Boden fielen.

Von der wilden Hetze völlig aufgerieben, fiel Rafael wie ein Sack auf das Bett; dennoch vermochte er, bevor ihn Bewußtlosigkeit umfing, in abgerissenen Worten von seinem Mißgeschick zu berichten.

»Die Zollwächter! … Gestern abend … Ich habe auf sie geschossen, um durchzubrechen, habe aber auf der Flucht selbst eine Kugel in den Rücken bekommen … In einer Köhlerhütte hat man mir ein paar Lappen um die Wunde gewickelt. Plötzlich hörte ich Pferdegetrappel in der Ferne. Von neuem in den Sattel und los! … Ein verzweifelter Ritt – es dröhnte in meinen Ohren, vor mir sah ich rote Nebel, und über Brust und Rücken rieselte etwas Klebriges, Heißes, mit dem mein Leben zu entweichen schien … Wo mich verstecken? Kein sichereres Asyl als Marchamalo, wo zu dieser Jahreszeit keine Winzer arbeiten … Und sollte ich sterben, dann wenigstens bei euch, die mir am nächsten stehen.«

Seine bleiernen Augenlider senkten sich.

»Rafael … Rafael!« Maria Luz beugte sich tief über den Verwundeten, und beinahe hätte sie ihn in Gegenwart ihres Vaters geküßt.

Der Goldfuchs überstand die tolle Karriere nicht – am nächsten Morgen streckte er vier steife Beine in die Luft; der Reiter hingegen genas, nachdem er eine Woche zwischen Leben und Tod geschwebt hatte. Pedro Montenegro hatte einen Arzt aus Jerez geholt, der sich auf die Behandlung solcher Wunden verstand: es war einer seiner Kampfgenossen aus der heroischen Epoche, ein großer Freund Salvatierras.

Tagelang lag Rafael im Delirium, stieß, von Wahnvorstellungen gepeinigt, gräßliche Schreie aus. Doch als er endlich die Besinnung wiedererlangte und Maria Luz am Bette sitzen sah, siegte sein Lebenswille. Zusehends besserte sich sein Zustand. Die Wunde schloß sich so rasch, daß der alte Pedro stolz auflachte:

»Ein Hund wäre nicht schneller geheilt. Jedem anderen hätte eine solche Ladung Blei das Licht ausgeblasen, aber was schert diesen Bengel ein Kügelchen mehr oder weniger im Fell? …«

Als Rafael aufstehen durfte, begleitete ihn Maria Luz getreulich auf seinen Exkursionen zur Terrasse und durch die ebenen Queralleen der Weinberge. Von neuem herrschte zwischen ihnen die schamhafte Zurückhaltung, die auf dem Lande seit alters her den Liebespaaren verbietet, ihre Gefühle in Worte zu kleiden. Die junge Samariterin wagte, obwohl sie noch vor kurzem Rafaels nackte Brust verbunden hatte, jetzt nicht einmal, ihm ihren Arm zu bieten, wenn er, auf seinen Stock gestützt, schwankende Schritte unternahm.

Sank dann der Abend hernieder, so setzte sich Pedro auf eine Bank unter den Arkaden und stimmte seine Gitarre.

»Komm her, Mariquita! Wir wollen unseren Patienten ein bißchen aufheitern.«

Und mit ernster Miene und andächtigen Augen, wie in Erfüllung eines geheiligten Ritus, begann das junge Mädchen zu singen. Oh, diese schwermütige Stimme! Diese Stimme einer in ewiger Abgeschlossenheit gehaltenen Maurin, die hinter eifersüchtigen Gittern für unsichtbare Hörer singt … Feierlich verhalten klang sie, in bebenden Modulationen, als wiege sie sich in dem Traum eines nur ihr enthüllten geheimnisvollen Glaubens. Jäh wurde sie hell, erklomm in schnellen Skalen die höchsten Noten und endete, kapriziöse, seltsam wilde Arabesken bildend, in einer Serie greller, schwingender Motive.

In Jerez war diese Stimme berühmt. Wenn die mitternächtlichen Prozessionen der Karwoche durch die Stadt zogen und Maria Luz auf Drängen ihrer Freundinnen schmerzzitternd die tragischen Szenen der Passion besang, so brach das Volk, ohne die inquisitorische Pracht des heiligen Leichenbegängnisses mit seinen vermummten kerzentragenden Kapuzenmännern und seinen düsteren Wimpeln zu respektieren, häufig in jubelnden Beifall aus.

Unter den Arkaden von Marchamalo erweckte ihre Stimme nicht weniger Begeisterung. Rosig schimmerten die fernen Berge unter den letzten Strahlen der untergehenden Sonne; das Häusermeer von Jerez zeichnete sich in leuchtender Weiße von einem violetten Himmel ab, den die ersten Sterne bevölkerten, und vom Zauber dieser Dämmerung getragen, sang Maria Luz wehmütige Volksweisen, bei denen unerklärliche Erinnerungen – Widerhall einer früheren Existenz – wach wurden. Die maurische Seele erzitterte in den beiden Männern, während sie diesen Liedern von Tod und Blut, von verzweifelter Liebe und wilder Drohung lauschten. Und ganz im Bann der Töne, schien der alte Aufseher zu vergessen, daß die Sängerin seine eigene Tochter war.

»Olé, du Mädchen mit dem Goldkehlchen!« rief er und warf ihr den Hut huldigend vor die Füße. »Es lebe die Mutter, die dich gebar! Es lebe der Vater!«

Dann wandte er sich in gewohntem Ernst belehrend an Rafael:

»Das ist der echte andalusische Gesang, mein Sohn. Und wenn man dir vorschnackt, daß es Sevillanas oder Malagueñas seien, so lach die Schwätzer aus. Jerez ist die richtige Wiege des Gesanges – das werden dir alle Gelehrten der Welt bestätigen.«

Als Rafael wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war, sah er ein, daß die süße Idylle ein Ende nehmen mußte, und eines Abends sprach er mit dem Aufseher unter vier Augen.

»Ich kann nicht länger hierbleiben, Pate. Bald treten die Winzer zur Arbeit an, und Marchamalo verwandelt sich wie alljährlich in ein kleines Dorf. Wenn außerdem Don Pablo seinen Plan wahr macht und mit dem Bau des Schlosses beginnt – wie soll ich ihm mein Hiersein erklären? Gar nicht davon zu reden, daß es eine Schande wäre, mich von dir durchfüttern zu lassen. Die Schießerei in jener Unglücksnacht ist scheinbar in Vergessenheit geraten; ich fürchte nicht, daß man mich verfolgt. Dennoch bin ich entschlossen, den Schmuggel aufzugeben. Du hast recht, Pate: es ist ein riskantes Handwerk, und welches junge Mädchen möchte wohl einen Mann heiraten, der zwar mehr Geld als andere nach Hause bringt, dafür aber auch jeden Moment zum Krüppel oder tot geschossen werden kann? Irgendwelche Arbeit wird sich schon für mich finden.«

Damals geschah es, daß Pedro Montenegro zum ersten Male in all den Jahren seine Beliebtheit bei der Herrschaft ausnutzte und für sein Patenkind die Verwalterstelle auf Matanzuela, dem Gute von Don Pablos Vetter, begehrte.

Luis Dupont war nach Jerez zurückgekehrt, nachdem er auf der Jagd nach Professoren, welche mit künftigen Advokaten im Examen besonders glimpflich umgingen, sämtliche Universitäten Spaniens heimgesucht hatte. Von seinem Vormund zur Wahl eines Berufes gezwungen, verschönerte er sich das Studentenleben, indem er große Summen aufnahm und blindlings so viele Wechsel für sie unterschrieb, wie die Wucherer wollten. Als jedoch sein Vetter Oberhaupt der Familie wurde, weigerte sich Luis, die Komödie des Studierens fortzuführen. Er war reich – warum sollte er also mit Dingen, die ihn nicht im geringsten interessierten, seine Zeit verlieren? … Und nach erfolgter Großjährigkeit nahm er Besitz von seinem Vermögen und stürzte sich in den Strudel von Freiheit und Vergnügen, wie er es als Student sich erträumt hatte.

Von neuem begann er von einem Ende Spaniens zum anderen zu reisen, doch nicht mehr, um hier ein Kolleg und dort ein anderes zu hören. Sein Streben ging dahin, in der großen Gemeinde der Stierkampfenthusiasten als Autorität zu gelten. An der Seite seines auserkorenen Toreros zog er von Arena zu Arena und war bei allen Kämpfen des Matadors gegenwärtig. Wenn sein Idol während der Winterzeit ausruhte, lebte er in Jerez »der Sorge um seine Güter«. Diese Sorge äußerte sich dergestalt, daß er jede Nacht im Reitklub verbrachte und rechthaberisch und hitzig die Überlegenheit seines Toreros über alle anderen verfocht. Die simple Frage, ob ein vor Jahren geführter Degenstich den betreffenden Stier, von dem nicht einmal die Knochen mehr existierten, kunstgerecht abgefertigt habe oder nicht, konnte ihn veranlassen, drohend nach Revolver oder Dolch zu tasten, die er immer bei sich trug.

Stand in den Gestüten der Gegend ein hervorragender Jährling, so kaufte ihn unweigerlich Don Luis, wobei er oftmals seinen viel reicheren Vetter überbot. Wenn er abends eine der Vorstadttavernen betrat, durfte man sicher sein, daß binnen kurzem Flaschen, Gläser und Teller klirren, Stühle durch die Luft wirbeln würden, nur damit er seine Kraft bekundete. Und hernach bezahlte er mit der Miene eines Mannes, der es sich leisten kann, den dreifachen Wert des angerichteten Schadens.

Seine beiden großen Passionen waren Frauen und Raufbolde. Den Schönen gegenüber zeigte er sich wenig generös – um seiner selbst willen wollte er, den alle Kavaliertugenden schmückten, geliebt werden, und wirklich bildete er sich ein, daß auf allen Balkonen von Jerez die Herzen erbebten, wenn er auf einem seiner Vollblüter vorbeitrabte. Für seine Leibgarde hingegen hatte er stets eine offene Hand, und natürlich gab es weit und breit keinen Bravo, den diese Freigebigkeit nicht lockte. So übelbeleumundet sie auch sein mochten, in Don Luis fanden sie einen Freund, der sie nicht allein mit Geld versorgte, sondern obendrein noch bewunderte. Je mehr bei den nächtlichen Zechgelagen seine Trunkenheit zunahm, desto weniger kümmerten ihn seine Freundinnen: nur die Männer von Bronze galten etwas, die ihm ihre Narben vorweisen und erzählen mußten, wo sie diese Ehrenmale erworben hatten.

Sein Ehrgeiz war, als Nachfolger des gloriosen Marquis de San Dionisio angesehen zu werden … leider jedoch urteilte der Reitklub, daß er nur dessen Karikatur sei.

»Was ihm fehlt, ist die angeborene Vornehmheit des verstorbenen Marquis«, meinte der alte Pedro, wenn man auf Luis Dupont zu sprechen kam.

Als der Aufseher von Marchamalo ihm sein Anliegen vortrug, fand er sofort ein williges Ohr.

»Soso, dein Patenkind. Ich habe schon von ihm gehört; man munkelt allerlei von einem kleinen Scharmützel in der Sierra. Burschen solchen Kalibers gefallen mir.« Und zu dem jungen Mann gewandt, fuhr er fort: »Mein bisheriger Verwalter ist ein halbblinder Greis, über den sich die Knechte lustig machen. Ich kenne diese Bande! Für die gibt es nur eins: in der einen Hand das Brot, in der anderen den Knüppel. Ein energischer Kerl, der ihnen die Daumschrauben anzieht und für meine Tasche sorgt, tut dort sehr not.«

So trat Rafael seinen Posten auf Matanzuela an und kam nur einmal wöchentlich zum Weinberg, wenn er nach Jerez ritt, um seinem Herrn Bericht zu erstatten. Häufig mußte er ihn erst im Hause irgendeines Dämchens aufstöbern. Don Luis empfing dann seinen Verwalter meist im Bett, den Arm auf das Kissen gestützt, auf dem noch ein zweiter Kopf ruhte. Der Stand der Saaten, die Ernte, die Viehzucht? … Kaum daß er ein Wort darüber verlor; indes kaute er unablässig dieselben Ermahnungen wieder, seine Arbeiter hart anzufassen, diese Canaillen, deren Faulheit allein an den schlechten Erträgnissen schuld war.

Luis Dupont geriet außer sich vor Wut, sooft er an das »blöde Bauernvolk« dachte, das – von falschen Aposteln geschürt – sich erkühnte, die Aufteilung des Großgrundbesitzes zu verlangen.

»Ich habe studiert«, brüstete er sich im Reitklub, ohne auf das Lächeln ringsum zu achten, »und versichere Sie, daß das, was die Arbeiter wollen, eine Utopie ist. Eine Utopie!« – er wiederholte das Wort mit offenbarem Genuß. »Daß diese Ideen überhaupt aufkommen, verdanken wir einerseits der Regierung, die zu schlapp ist, um solche Bewegungen im Keim zu ersticken, und andererseits dem Mangel an Religion. Jawohl, Señores: die Religion ist der beste Zügel für das Proletariat. Und weil sie in den unteren Schichten mehr und mehr schwindet, machen diese unter dem Vorwand, daß sie hungern, Anstalten, die Hand nach dem Besitz auszustrecken, sich an uns, den Herren, zu vergreifen.«

Jetzt lächelten die Klubmitglieder nicht mehr. Sie stimmten ihm sogar bei, alle diese bigotten Großgrundbesitzer, die abweisend die Schultern zuckten, wenn irgendein »Phantast« den Bau von Staubecken und Berieselungskanälen vorschlug, die aber Jahr um Jahr bedeutende Summen für die Feste der Barmherzigen Jungfrau stifteten und ihre Statue in Bittprozessionen herumführten, sobald eine Dürre einsetzte.

Solche Äußerungen Luis Duponts gefielen auch Don Pablo, dem sonst der Vetter und seine ganze Lebensauffassung so gründlich zuwider waren, daß er ihn als einen Schandfleck für eine wegen ihrer Moral und Frömmigkeit hochgeachtete Familie bezeichnete. Und obendrein noch die Plage mit Lola und Mercedes, den Töchtern des Marquis! Wie oft überraschte Doña Elvira die beiden Nichten spätabends an irgendeinem Fenster des Erdgeschosses, wo sie mit Verehrern, die fast jede Woche wechselten, Zwiesprache hielten. Bald waren es freche Leutnants, bald Señoritos aus dem Reitklub oder auch junge Engländer aus den Büros, denen die Landessitte des nächtlichen Tändelns am Fenstergitter der entzückendste aller Volksbräuche erschien.

Jedweden, der vor ihren Fenstern haltmachte, würdigten die beiden einer Unterhaltung. Ging jedoch jemand vorbei, ohne sie zu beachten, so verfolgten ihn Gekicher und spöttisches »Seht! Seht! …«

Endlich verliebte sich der Sohn eines feudalen Gutsbesitzers ernstlich in Lola und bat, obgleich man im Klub den Mut des jungen Mannes allgemein bestaunte, um ihre Hand. Und als fürchtete er, daß sie ihm entschlüpfen könnte, drängte er auf sofortige Heirat.

Doña Elvira und ihr Sohn gaben ihre Einwilligung gern. Noch größeres Wohlwollen aber brachten die Schwestern dem Antrag entgegen. Das war die Erlösung von der gestrengen, herben Tante! … Lola nahm ihre Schwester mit sich, und nach wenigen Monaten herrschten im Hause der Jungvermählten dieselben Gepflogenheiten, die den Duponts so böses Ärgernis bereitet hatten. Mercedes schäkerte mit ihren Liebhabern am Fenstergitter; am nächsten Fenster saß als Anstandsdame die verheiratete Schwester, die sich, um ihre Zeit nicht zu vergeuden, ebenfalls mit diesem oder jenem Kavalier einließ. Wenn der junge Ehemann aufbrauste, erklärten die beiden empört:

»Was willst du? Wir sind doch keine Nonnen! … Das Fensterln ist eine harmlose Zerstreuung. Wer es anders auffaßt, beleidigt unser Schamgefühl.«

Arme, arme Doña Elvira, der das Treiben der »kleinen Marquisen«, wie man sie in der Stadt nannte, natürlich nicht verborgen blieb! Doch sie sollte noch Schlimmeres erleben. Mercedes ließ sich von einem reichen Engländer entführen. Dann und wann drangen Nachrichten von ihr nach Jerez, jede geeignet, die Empörung der stolzen Frau noch zu steigern. Bald in Paris, bald in Madrid, führte die junge Dame das Leben einer Kokotte großen Stils. Dutzende von Liebhabern hatte sie; ihre pikante Grazie zog die einen in ihren Bann, ihr alter Adel schmeichelte der Eitelkeit der anderen. Und die Marquiskrone zierte sowohl ihre Nachthemden als auch die Laken ihres Lagers, auf dem sich ein ebenso reger Verkehr entwickelte wie auf dem Trottoir einer Hauptstraße.

»Sind ihre Ahnen deswegen Erzbischöfe und Vizekönige gewesen«, stöhnte Doña Elvira, »damit all ihr Ruhm einer Verlorenen als Reklame dient? …«

Dennoch traf diese Nichte noch der geringere Teil ihres Grolls. Mercedes lebte ihr sündiges Dasein wenigstens nicht unmittelbar unter den Augen der Familie und gab – was Doña Elvira ein mildernder Umstand erschien – sich immerhin nur mit Leuten von Rang und Klasse ab. Lola hingegen? Gerechter Gott! …

Ihre Ehe war nach der Flucht ihrer Schwester eine Hölle geworden. Der Gatte wurde von ewigem Argwohn gequält, ohne zu wissen, an wen er sich halten sollte, denn seine Frau betrug sich allen Männern gegenüber gleichmäßig herausfordernd und frei. Die häuslichen Auftritte arteten in Schlägereien aus, da der junge Ehemann auf Rat seiner Freunde die »wilde Bestie« durch Hiebe zu bändigen versuchte. Aber Lola, die diese Bezeichnung rechtfertigte, gab Schlag auf Schlag mit solcher Wucht zurück, daß ihr Herr und Gebieter bei diesen Auseinandersetzungen stets am schlechtesten wegkam. Wenn er dann sein zerschundenes Gesicht im Reitklub zeigte, sparten die Freunde, von denen mancher im geheimen hoffte, von Lola erhört zu werden, nicht mit ironischen Beileidsäußerungen.

Schließlich wurde der Skandal so groß, daß der Gatte in sein Elternhaus zurückkehrte, und nun konnte die kleine Marquise endlich nach ihrem Gefallen leben.

»Mach dich fort von hier!« herrschte sie eines Tages ihr Vetter Pablo Dupont an. »Man wagt ja um euretwillen den Mitmenschen nicht mehr in die Augen zu sehen. Verschwinde, und ich werde dir eine monatliche Rente aussetzen.«

Lola antwortete durch eine freche Geste und genoß voll Schadenfreude die Entrüstung des frommen Herrn. In die Fremde gehen? … Hahaha! Was sollte sie dort? Hierher, in den Süden, paßte sie mit ihrem unruhigen Blut.

Konnte man anderswo so tanzen und so lieben wie in Jerez? Gab es anderswo solch goldenen Wein? Und als echte Tochter des San Dionisio hohnlächelte sie über die eleganten Señoritos. Ihr gefielen die Burschen mit breitkrempigem Hut. Und wenn sie Lederhosen trugen, desto besser. So tauchte ihr blondes Gelock, mit dem die zarten Pastellfarben ihres Teints wunderbar harmonierten, nach wie vor in Tavernen und populären Schenken auf. Wohin sie kam, mußten Sängerinnen und Blumenverkäuferinnen an ihrem ausgelassenen Treiben teilnehmen, und bald stand sie mit diesem ganzen sorglosen Völkchen auf du und du. Bisweilen zogen ihrethalben ein paar Trunkene das Messer und gingen aufeinander los; aber das störte weiter nicht – Männerangelegenheiten …

Bei diesen nächtlichen Exkursionen kreuzte sich ihr Weg gelegentlich mit dem Luis Duponts und seiner Bravos. Dann vereinigten sich die beiden Heerlager, und auf der Höhe des Festes tat Don Luis der Welt kund, daß er für jeden, der die kleine Marquise nicht als »saftigstes Weib der Erde« erklärte, eine Kugel übrighabe.

Es war, als ob sie darauf sänne, die öffentliche Meinung auf Schritt und Tritt herauszufordern. Heute sah man sie, sehr elegant gekleidet, zu Fuß oder in einem luxuriösen Wagen, morgen zeigte sie sich in den Hauptstraßen der Stadt mit losem Haar, eingehüllt in einen großen Schal, wobei sie den herausfordernden Gang der kleinen Mädchen nachahmte und auf die Anzapfungen der Männer mit Worten einging, denen es nicht an Derbheit mangelte. Begegnete ihr jedoch ein würdiger Familienvater mit seiner Eheliebsten – Leute, die in der ersten Zeit ihrer Ehe bei ihr verkehrt hatten –, so lächelte sie ihm verschmitzt wie einem heimlichen Komplizen zu und malte sich vergnügt die Szenen aus, die den Unschuldigen zu Haus erwarten würden.

Ihre letzte Liebe war ein Schweinehändler, ein plattnasiger Athlet mit buschigen Augenbrauen, mit dem sie vor den Toren der Stadt wohnte. Dieser kräftige Bursche schien sie verhext zu haben. Sie sprach von ihm voller Stolz, ja sogar den Kontrast zwischen ihrer Herkunft und seinem Gewerbe empfand sie als besonderen Reiz. Zuweilen allerdings regte sich ihr unbeständiger Sinn, und sie verschwand für einige Tage aus seinem Häuschen, ohne daß es dem Goliath einfiel, sie zu suchen. Er war ihrer sicher. Kam das kapriziöse Vögelchen dann in sein Bauer zurückgeflogen, so brachte der Tumult das ganze Viertel in Aufregung. Übel zerzaust stürzte die kleine Marquise auf den Balkon und schrie um Hilfe, bis eine gewaltige Tatze sie vom Geländer fortriß, um drinnen weiterzudreschen.

Als einer ihrer Freunde sie wegen dieser Behandlung uzte, versetzte sie gleichmütig:

»Er haut mich, weil er mich liebt. Und ich liebe ihn, denn er ist der einzige, der mich versteht. Ah, mein Schweinehändler ist ein Mann … ein Mann!«

Lolas Lebenswandel fand in Jerez geteilte Aufnahme. Den kleinen Leuten war sie, die sich keinen Deut um Standesunterschiede scherte, sympathisch; die reichen und frommen Familien hingegen, mit denen sie teilweise mehr oder weniger nahe verwandtschaftliche Bande verknüpften, suchten ihre empörenden Entgleisungen zu bemänteln:

»Sie muß nicht normal sein … Möge Gott sich der Seele der Unglücklichen annehmen! …«

Wer sich aber nicht mit ihrem ungebundenen Treiben abzufinden vermochte, waren die Duponts. Don Pablo und seine Mutter kehrten jedesmal verdrossen und völlig konfus heim, sooft sie Lolas blonden Schopf und ihr übermütiges Lächeln in den Straßen erblickt hatten. Ihnen schien es, daß man sie mit weniger Respekt als bisher grüße; selbst bei den Dienstboten vermeinten sie oft einen versteckten Spott zu entdecken. Und schließlich verzichteten beide darauf, sich in der Stadt sehen zu lassen, und verbrachten ihre freie Zeit wieder in Marchamalo.

Nunmehr dünkte es Don Pablo der richtige Moment, um seine Baupläne auszuführen. Die alten Gebäude riß die Spitzhacke nieder. Neue Kelteranlagen wurden errichtet; ein prächtiges Schloß wuchs empor, eine Kapelle mit wertvollen Bildern und anderen Kostbarkeiten, sowie ein viereckiger Turm, zinnenbewehrt, von dessen Höhe der Blick weithin über die sanfte Wellenlinie der Rebenhügel Marchamalos schweifte. Alles war komfortabel, neu und solide, ohne Rücksicht auf die Kosten. Nur unten das Tagelöhnerhaus rührte man nicht an – vielleicht, damit ein Stück des ursprünglichen Charakters gewahrt bliebe. Es behielt seine vom Rauch vieler Jahre geschwärzte Küche, in der die Winzer rings um den offenen Herd auf einer Bastmatte schliefen, dem einzigen Bett, das ihnen der Herr zur Verfügung stellte.

Fermin Montenegro, der seine Familie jeden Sonntag besuchte, traf infolgedessen meist auch Dupont in Marchamalo. Die friedliche Landschaft schien das hochfahrende Wesen Don Pablos mildernd zu beeinflussen – er begann Fermin mehr als den einstigen Spielgefährten und weniger als seinen Büro angestellten zu behandeln …

Manch wüster Fleck hatte sich als totes Grau in das lebendige Grün der Rebstöcke eingenistet: Spuren der Reblaus, die halb Jerez ruinierte. Den kleinen Weinbauern gebrach es an Mitteln für Neuanpflanzungen, denn einen einzigen Morgen frisch zu bestellen, kostete ebensoviel wie der Jahresunterhalt einer »dezenten« Familie. Aber das Haus Dupont wurde auch durch die Schäden der Reblaus nicht erschüttert.

»Weißt du schon, Fermin«, plauderte Don Pablo, »daß ich beabsichtige, die kahlen Stellen mit kalifornischen Reben zu bebauen? Du sollst staunen, wie sie hier gedeihen werden! Der liebe Gott wird uns seinen Segen nicht vorenthalten – er steht auf Seiten derer, die ihn lieben«, schloß er mit seinem Lieblingssatz.

So weit wie ihr Sohn ließ sich Doña Elvira natürlich nicht herab; immerhin fand aber auch sie bisweilen ein freundliches Wort für die Familie Montenegro. Da sie verschiedentlich beobachtet hatte, daß die Augen von Pedros Tochter verloren in die Ferne schweiften – nach der Richtung, wo Rafael weilte –, deutete sie dieses sehnsüchtige Versunkensein als Wunsch nach frommer Weltabgeschiedenheit und bot sogleich ihre Protektion an.

»Nein, Señora!« lächelte Maria Luz. »Mich lockt das Kloster nicht. Das Leben ist ja so schön! …«

Doña Elviras religiöser Eifer verstieg sich mit den Jahren bis zur krassen Intoleranz. Sie litt förmliche Qualen, weil ihr Sohn mit Andersgläubigen geschäftliche Beziehungen pflog. Umsonst versuchten die Jesuitenpatres ihre Skrupel zu beheben, indem sie ihr klarmachten, daß das Haus Dupont um so mehr Einfluß auf das religiöse Leben der Stadt gewönne, je größer die Machtstellung der Firma würde. Ausgesöhnt mit dem Weinhandel war ihr Beichtkind nur an jenem Tage im Jahr, an dem ein Faß mit edelstem Gewächs gen Rom rollte und – dank der Fürsprache zweier befreundeter Bischöfe – dem Heiligen Vater den Wein für die von ihm selbst zelebrierte Messe lieferte. Trotzdem verursachten ihr diese Ausländer, die die Bibel nach Gutdünken auszulegen sich erdreisteten, die über die Unfehlbarkeit des Papstes spöttelten und oft überhaupt keine Religion besaßen, böse Beklemmungen.

Eines Tages war der Stockholmer Vertreter der Firma, der in den skandinavischen Ländern unzählige Flaschen von dem feurigen Wein Marchamalos absetzte, nach Jerez gekommen, um Don Pablo, mit dem er seit vielen Jahren arbeitete, persönlich kennenzulernen, und dieser fühlte sich selbstverständlich verpflichtet, ihn zu Tisch einzuladen.

Welch grausame Pein für Doña Elvira, diesem Hünen mit der kindlichen Lustigkeit, die den Nordländer bei Sonne und Wein der warmen Länder meist befällt, zuhören und bei der Schilderung seiner Eindrücke von Land und Leuten höflich lächeln zu müssen! Kirchen, schrecklich viele Kirchen, und noch mehr Mönche und Geistliche, und so viele Bettler … schlimm veraltete, beinahe prähistorische Methoden in der Bodenbearbeitung … so wilde, pittoreske Sitten … so unerhörter Reichtum, während – ach! – so ungeheure Mengen armseliger, verlumpter Menschen sich, Zigaretten rauchend, auf den öffentlichen Plätzen herumdrückten, in der Hoffnung, daß jemand sie zu einer Arbeit hole.

Dupont hüstelte verlegen, aber seine Mutter ließ den Fremden nicht einen Moment aus den Augen. Welchen Appetit er entwickelte! Nein, ein Christ schlang nicht so. Überdies hatte er rotes Haar wie Luzifer und Judas. Rot! … die Farbe aller Feinde Gottes.

Als ihr Sohn nach beendeter Mahlzeit seinen Gast in den Salon führte, ließ Doña Elvira Damasttuch, Geschirr, Bestecke, Gläser, kurz alles, was der Gast berührt hatte, im Nu zusammenräumen.

»Auf den Kehricht damit!« befahl sie schroff.

Und nachdem ihre Anordnungen ausgeführt worden waren und die Diener in den Speisesaal zurückkehrten, sahen sie, wie ihre Herrin den Brokatsessel, auf dem der rothaarige Ketzer gesessen hatte, mit Weihwasser gründlich besprengte.

 

Windspiele, Bracken und Schäferhunde gab es in Matanzuela ein gutes Dutzend. Um die Mittagszeit begannen sie freudig zu bellen, zu jaulen, hochzuspringen und an den Ketten zu zerren, und auf dieses Signal hin humpelte der greise Antonio, besser bekannt unter dem Beinamen Zarandilla, zum Tor, um den jungen Verwalter zu empfangen.

Viele Jahrzehnte hatte Antonio Matanzuela betreut; doch als das Gut an den lebenslustigen Don Luis fiel, der sich nur unter Jugend wohl fühlte, ersetzte er bei der ersten Gelegenheit den gebrechlich und sehr kurzsichtig Gewordenen durch Rafael.

»Ich bin wirklich heilfroh, daß der Herr mich nicht betteln gehen heißt«, hatte der Alte, resigniert wie alle Landarbeiter, damals gesagt.

Er durfte mit seiner Frau auf dem Gute bleiben, freilich unter der Bedingung, daß sie für das Geflügel sorgte, während er bei der Schweinezucht helfen mußte. Ein magerer Lohn für Jahre unaufhörlichen Ringens mit der Erdkrume, das zwei gebeugte, abgestumpfte Greise aus ihnen gemacht hatte.

Für diese beiden Invaliden bedeutete Rafaels Gutherzigkeit ein unsagbares Glück. Väterchen Zarandilla konnte sich auf dem Bänkchen vor seiner Tür sonnen und stundenlang die endlos fortrollenden Furchen der Felder betrachten, ohne daß Rafael ihm wegen Müßiggangs eine Rüge erteilte. Seine Frau liebte den jungen Mann bald wie einen eigenen Sohn, flickte und stopfte seine Sachen und kochte all seine Leibgerichte. In dieser liebenden Fürsorge scheute sich die alte Benita sogar nicht, mit ihrem Mann zu zanken, weil er nach ihrer Meinung Rafael gegenüber nicht zuvorkommend genug war. Ihr Ohr vernahm das Traben des Pferdes oft noch früher als die Hunde.

»He, Oller!« jagte sie ihren Lebensgefährten auf. »Hörst du denn nicht, daß Rafael kommt? Los, los, du Faulpelz, sei ihm ein wenig behilflich!«

Und das dürre Greislein schob zur Pforte, starr vor sich hinsehend mit seinen trüben Augen, die durch einen grauen Nebel hindurch nur noch die Silhouette der Gegenstände wahrnahmen. Unausgesetzt wackelten Kopf und Hände hin und her, und diese Zappelei hatte irgendeinen Witzbold veranlaßt, ihm den Beinamen »Quecksilbermännchen« anzuhängen.

Sporenklirrend sprang Rafael aus dem Sattel. Er reichte dem Alten die Flinte, deren Stimme den Mauleseltreibern, welche Holzkohle aus der Sierra vorübertransportierten, häufig mahnend in Erinnerung bringen mußte, daß die fetten Gutsweiden nicht als Tummelplatz für ihre Tiere bestimmt seien. Im Nu waren die Überhosen aus Fell abgestreift, und während Zarandilla mit dem tänzelnden Gaul zum Stall stelzte, betrat der Verwalter, hungrig und gut gelaunt, die Küche.

»Mütterchen Benita, was gibt's heute?«

»Etwas Leckeres, Sie Schlingel – gefüllte Pfefferschoten!«

»Vortrefflich!« Rafael hob lüstern den Deckel der Kasserolle und blieb am Herd stehen, bis sich auch Zarandilla einstellte.

Den Alten interessierten weniger die Erzeugnisse von Benitas Kochkunst als die Flasche auf dem Tisch. Rafael, seit seiner Schmugglerzeit an gutes Leben gewöhnt, hatte den Wein bei den Mahlzeiten eingeführt. Eine ungeheure Üppigkeit nach Antonios Ansicht, der sich während seiner Verwalterzeit höchstens hinter dem Rücken seiner Frau in eine der kleinen Wegschenken getraute oder auch unter dem Vorwande, der Herrschaft bald einen Korb Eier, bald einen fetten Kapaun bringen zu müssen, nach Jerez wanderte und singend, mit verklärten Augen, unsicheren Beinen und einem für die ganze Woche ausreichenden Vorrat an guter Stimmung zurückkehrte. Er betete den Wein an als Quell der Fröhlichkeit für die Elenden, denen meist nur Gesindebrot, eine Knoblauchsuppe, durch etwas Öl schmackhafter gemacht, und dazu Wasser beschert war, betete ihn an als Sonnenstrahl, der wenigstens zeitweilig das trostlos graue Gewölk ihres Lebens durchbrach. Jeden Mittag berechnete er daher mit kindlicher Gier, wieviel wohl Rafael trinken und wieviel wohl auf ihn entfallen würde, ohne bei diesem Rechenexempel seine Frau zu berücksichtigen.

Die Mahlzeit verlief inmitten des ländlichen Friedens, der durch das weit geöffnete Tor in den Hof zu strömen schien. Die Sperlinge zirpten auf dem Ziegeldach, dann und wann gackerte ein Huhn. Von den Ställen kam gedämpft das Schnauben der Pferde, manchmal auch ein aufgeregtes Grunzen der Schweine, die sich mit heimtückischen Bissen das Futter streitig machten. Ein fürwitziges Kaninchen zeigte seine Langohren an der Tür, erschrak beim Laut der menschlichen Stimmen und hoppelte mit wackelndem Schwänzchen davon. Dann lag majestätisches Schweigen über der Landschaft, bis auf der Landstraße, die die gelbliche Weite durchschnitt, leise die Glocken einer vorüberziehenden Saumtierherde klingelten.

Während die beiden Männer in dieser patriarchalischen Ruhe ihre Zigaretten rauchten – eine weitere löbliche Gewohnheit Rafaels, die Zarandilla ihm hoch anrechnete –, erörterten sie ernst und gewichtig, wie Landleute alles behandeln, was sich auf die Scholle bezieht, die laufenden Arbeiten.

Rafael hatte den großen, in einem geschützten Sierratal gelegenen Weideplatz besucht, wo sowohl die Pferde als auch das Rindvieh überwinterten. Obgleich die Pferdezucht ihm eigentlich nicht unterstand, waren häufige Besichtigungen unumgänglich, denn sofern Don Luis sich überhaupt nach etwas erkundigte, betrafen seine Fragen stets die Stuten.

Jedesmal hatte der ehemalige Kontrabandist das Gefühl, als nähme er von dort oben neue Lebenskraft mit hinab in die furchengerillte Ebene, die verbitterte, geplagte Fronknechte mit ihrem Schweiße düngten. In der Sierra hatte sich Rafaels romantisches Schmugglerdasein abgespielt, und noch immer gehörte sein Herz den dichten Wäldern, in denen Kork- und Steineichen mit wilden Ölbäumen wechselten, immer noch lockten die von Mastix überwucherten tiefen Schluchten und die hohen Oleanderbüsche am Rande der Flüßchen. Schäumend schoß ihr Wasser gegen die Reste römischer Brückenpfeiler und verwischte, nagend und spülend, allmählich die antike Steinmetzarbeit. Und auf den Berggipfeln trauerten die Ruinen maurischer Burgen um eine ewig entschwundene glanzvolle Vergangenheit.

Insektenschwärme summten unruhig über Moos und Kraut; zwischen den Steinen schlängelten flinke Eidechsen hin und her. Bisweilen öffnete sich der grüne Wall zu Seiten dieser Pfade, die niemals eine Radspur gekerbt hatte, und aus dem Blattgewucher streckten sich die Hörner und das sabbernde Maul einer Kuh oder der Wollkopf eines Schafes hervor – nicht wenig verwundert über die Gegenwart eines Menschen, der nicht Hirte war. Oder nervöse Stuten erzitterten scheu beim Anblick des Reiters, um dann mit wehenden Schweifen abzugaloppieren. Die Fohlen tobten hinterdrein, auf grotesken Beinen, langbehaart, als trügen sie Hosen.

Jene aber, denen die Pflege dieser Tiere oblag, waren Männer von rauher Rechtschaffenheit; Naturkinder, primitiv in ihren Lebensformen, schwerfällig im Denken, stumpfsinnig geworden durch die Einsamkeit und die Monotonie ihres Daseins, mit mancherlei Aberglauben belastet. Die großen Warzen der Korkeichen, die sich unter ihrem Schnitzmesser in Kalebassen verwandelten, bestaunten sie mit scheuer Ehrfurcht. Sie suchten zwischen den Kieseln das abgeworfene Kleid der Schlange und bekränzten mit den weißlichen Hautgebilden – geheimnisvollen Glücksbringern – die Brunnenrohre der Quellen.

Manche dieser wetterharten Gebirgler hatten ihre Sierra nie verlassen. Schweigend verbrachten sie die Tage; keine andere Silbe formten ihre Lippen als die Zurufe an die Tiere. »Ruhig, Bläß! … Weg von hier, Rotscheck! …« Und Stiere wie Pferde gehorchten der Stimme, als hätte der ständige Umgang mit Menschen den Vierfüßlern das Verständnis für das Wort erschlossen.

Einmal in der Woche erschien der Oberhirt im Gutshof, um den Proviant für seine Leute abzuholen, und diesem tapsigen, verschlossenen Koloß aus Muskeln und Knochen hatte Rafael die Frage vorgelegt:

»Was würdest du wählen, Jacinto, wenn du dir irgend etwas wünschen könntest?«

Der Sohn der Einsamkeit bedachte sich keine Sekunde.

»Eine Frau haben, mich vollfressen und dann sterben!«

Er entblößte seine starken, weißen Raubtierzähne mit einem Ausdruck grimmigen Hungers. Hunger nach schmackhafter Mahlzeit und nach weiblichem Fleisch. Man ahnte, wie er danach gierte, sich mit einem einzigen Schluck all die herrlichen Dinge einzuverleiben, in denen, soweit man vagen Gerüchten glauben durfte, die Reichen praßten; in einem einzigen Zug die brutale Liebe zu genießen, die seine Träume trübte, das Weib kennenzulernen, nach dem er – der unberührte Mann – von ferne lechzte, wenn er in die Ebene hinabstieg, und dessen verborgene Reize er beim Betrachten der glänzenden, beweglichen Kruppen seiner Stuten und der prallen Euter seiner Kühe zu erraten glaubte … Und dann sterben! Als bliebe nach dem Kosten dieser Sensationen für ihn in seinem Leben der Arbeit und Entbehrung nichts mehr übrig.

Die Hirten bezogen dreißig Reales 4 Reales = 1 Peseta = 0,80 M. in damaliger Zeit. im Monat und überdies eine erbärmliche Beköstigung, die das Knurren ihres durch Bergluft und Quellwasser angeregten Magens nie beschwichtigte. Das Brot, vom Gutshof heraufgeschleppt, mußte für acht Tage reichen. Dazu gab es Säckchen voll Erbsen oder Bohnen und ein wenig minderwertiges Öl. Milch, die im Überfluß vorhanden war, ekelte die Männer bald an. Kein Festtag im Laufe des ganzen Jahres; tagein, tagaus dasselbe. Abgeschnitten von der Welt, lebten sie in finsteren Hütten mit Wänden aus losen, unbehauenen Steinen, einem Dach aus Korkbaumrinde und einem Loch, das gleichzeitig als Tür und Rauchabzug diente.

Und welche Werte waren ihrer Hand anvertraut! … Auf den Weiden von Matanzuela grasten achthundert Kühe und zweihundert Ochsen, ein wahrer Schatz von Fleisch, der bei der geringsten Unachtsamkeit vergehen konnte. Dieses Fleisch, das sie behüteten, war für andere, unbekannte Menschen bestimmt: sie selbst bekamen nur davon zu kosten, wenn ein Stück Vieh an einer solch offenkundigen Krankheit einging, daß man es nicht mehr in die Stadt schmuggeln konnte. Und trotzdem schritten die älteren Hirten sofort empört ein, sobald ein junger Bursche aus unbezähmbarer Gier nach Fleisch etwa einmal versuchte, ein Rind abstürzen zu lassen.

»Wo findet man sonst noch solche braven und mit ihrem Los nicht hadernden Menschen! …« rief Rafael aus, als er rauchend neben dem alten Zarandilla am Tisch saß.

»Rechtschaffenheit gibt es eben nur bei den Armen«, nickte das hagere Greislein. »Ich pfeife auf die Ehrlichkeit der Señores! Was ist denn groß dabei, wenn zum Beispiel Don Pablo Dupont mit all seinen Millionen niemanden bestiehlt? Aber diese Kerle, die der Hunger zwickt und zwackt und die dennoch der Versuchung nicht erliegen, das sind die wirklich Braven, ob sie nun Vieh hüten oder ackern.«

»Das stimmt nicht ganz. Die Landarbeiter der Ebene sind wenig zuverlässig. Sie sehen in jedem Menschen einen Feind – sogar mir, der stets beim Herrn für sie eintritt, begegnen sie mit Argwohn, um nicht zu sagen mit Haß. Und träge sind sie, daß man sie wie Sklaven ständig hetzen muß.«

Doch da fuhr der Alte auf.

»Wie können sie denn anders sein? Warum sollen sie auch Interesse an ihrer Arbeit haben? … Gott sei Dank bin ich Verwalter geworden und habe daher die Sechzig erreicht. Wo sind jedoch meine einstigen Gefährten aus der Zeit, als ich mich mit Benita als Tagelöhner abrackerte? Kaum einer ist übriggeblieben. Und wen die Würmer noch nicht fressen, der gleicht einem lebenden Leichnam, krumm und ausgedörrt. Tag für Tag in der glühenden Sonne schwitzen oder sich vor Frost schütteln – für zwei Reales täglich! Ist das menschenwürdig? … Schön, sie haben freie Beköstigung. Aber was ist das für ein Fraß!«

Und nun kam Zarandilla, fauchend wie eine Wildkatze, auf sein Lieblingsthema zu sprechen.

»Während der Ernte gibt es eine Bohnensuppe. Ja … aber von der Erinnerung an diesen außerordentlichen Leckerbissen muß man dann den ganzen Rest des Jahres zehren, denn in der übrigen Zeit werden die Leute mit Brot abgespeist. Trockenes Brot und Brotsuppe, als ob für die Armen weiter nichts als Roggen da wäre! … In ein Viertelliter Öl haben sich zehn Köpfe zu teilen. Etwas Knoblauch, eine Handvoll Salz – und damit glauben die Señores ihre Pflicht gegenüber Männern erfüllt zu haben, deren Kräfte von der Arbeit und dem Klima schonungslos aufgezehrt werden.

»Die Tagelöhner können soviel Brot bekommen, wie sie wollen«, brüsten sich manche Besitzer mit ihrer Großzügigkeit. Sie sagen aber nicht, daß man nur alle zehn Tage backt. Inzwischen werden die aus Kleie hergestellten Brote so hart und schmecken derart bitter, daß nur der grimmigste Hunger die Zähne hineintreibt.

Hunde haben es besser als wir, Rafael. Um acht Uhr morgens – nach dreistündiger Arbeit – erscheint der Topf mit Brotsuppe, aus dem sich jeder mit seinem großen Hornlöffel bedient. Im Kreis umringen sie den Topf, aber ihrer sind so viele, daß ein jeder ein paar Meter von ihm entfernt ist. Man tritt vor, schöpft, geht zurück in die Reihe und schluckt eine Brühe, die der aufgewühlte Staub verdickt hat.

Mittags gibt es an Ort und Stelle bereitete kalte Suppe: Brot in einer Tunke aus Essig, meist schlecht gewordenem Wein der letzten Ernte. Nur die jungen Leute wagen sich an diese Kost; die Veteranen der Arbeit begnügen sich damit, an ihrem trockenen Brot herumzuknabbern.

Und abends bei der Heimkehr in die Baracke, was erwartet sie da? … Wiederum eine warme Brotsuppe. Kann man sich wundern, daß die Leute hinter jedem Karnickel und hinter jedem Raben her sind, um mal etwas anderes zwischen den Zähnen zu spüren? Und diesen armen Teufeln werfen Sie Faulheit vor? … Ja, sollen sie sich für ihre Arbeit vielleicht noch begeistern?

Ich weiß, woran es bei uns hapert, Rafael. Als ich Soldat war, bin ich nach Valencia und Murcia gekommen. Da sieht es anders aus – auf jedem Zentimeter Erdreich grünt und blüht es: Gemüse, Früchte, Blumen. Alles Kleinbauern, die entweder den eigenen Grund und Boden bebauen oder ihn gepachtet haben. Oh, man plagt sich auch dort vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Aber man ißt sich satt! … Tagelöhner sind dort selten; kommt mal etwas Besonderes vor, daß die Arme der Familienmitglieder nicht reichen, so springt der Nachbar helfend ein. Und in jedem grünen Fleck steht eine blitzblanke, weiße Hütte.

Bei uns hingegen … daß Gott erbarm! Endlose Felder und Wiesen. Alles gehört einem einzigen. Keine Bauerngehöfte, keine Weiler. Stunden und Stunden kann man wandern, ohne sich der Grenze eines Gutes zu nähern. In ganze Provinzen Andalusiens teilen sich knapp hundert Besitzer; die anderen gehen leer aus. Und diesen ungeheuren Flächen schwarzer Erde, die in ihrem Schoß eine seit Jahrhunderten angehäufte Fruchtbarkeit birgt, entquillt neben der Saat üppig wuchernd das Unkraut, dessen die Hacken nicht Herr werden, weil kraftlose, unterernährte Menschen sie handhaben. Fällt die Ernte dann schlecht aus, so soll dies unweigerlich durch Lohnverkürzung und minderwertige Beköstigung der Tagelöhner wettgemacht werden. Und da das Elend so groß ist und es keine Organisation gibt, fehlt es nie an Arbeitswilligen, die ihre Arme zu jedem Preise verdingen.

Glauben Sie mir, Rafael, unser Himmel ist blauer als der von Valencia, unsere Sonne hat mehr Kraft; aber unter ihrem goldenen Segen gemahnt unsere andalusische Erde an einen Kirchhof. Öde, als laste der Tod auf ihr. Oben krächzen Krähen, und unten heben Sklaven, von einem Aufseher bewacht, im Takt die Arme, um für Ernten zu sorgen, von denen ihnen nicht ein Körnchen zusteht, um eine Erde zu bestellen, die sie hassen, weil ihnen nicht ein Stäubchen von ihr gehört.

Die Erde, Rafael, ist ein Weib, und damit sich Weiber gut führen, muß man sie liebhaben. Mit Lust und Liebe spendet der Mann seinen Schweiß nur dem eigenen Boden. Wenn diese endlosen Flächen unter jene aufgeteilt würden, die sie bearbeiten, wenn die Leute wüßten, daß sie noch etwas mehr herausholen als ein paar Kupfermünzen und zweimal Brotsuppe am Tage, dann erst könnten Sie beurteilen, ob es hierzulande Faulpelze gibt. In ein Paradies werden sich diese Fluren verwandeln, und die Eidechsen werden nicht mehr ihren runzligen Leib tagelang durch den Staub schleppen, ohne auf eine menschliche Behausung zu stoßen.«

Der junge Verwalter, der den Alten ruhig hatte seine Ideen entwickeln lassen, glaubte jetzt doch einen Einwand machen zu müssen.

»Sie übersehen das eine«, sagte er. »Im Valencianischen, dessen Fruchtbarkeit Sie so preisen, hat man reichlich Wasser. Das fehlt hier bei uns.«

»So? … Haben wir nicht direkt hinter uns die Sierra, an deren Flanken das Wasser herabrinnt, sobald nur vier Tropfen Regen fallen? … Wasser! Die großen Herren scheren sich nur nicht um Bewässerungsanlagen – das ist das Traurige. Ihre ungeheuren Güter werfen eben auch bei schlechten Ernten noch genug ab. Gehörte der Grund und Boden jedoch den Arbeitern, so würden diese, der Not gehorchend, Mittel und Wege finden, sich für ihren kleinen Besitz Rieselwasser zu verschaffen.«

Solche Unterhaltungen entspannen sich öfter zwischen den beiden Männern, und auch an einem Februarnachmittag, während Benita in der Küche das Geschirr wusch, verteidigte der alte Zarandilla mit Feuereifer die Notwendigkeit der Landverteilung. Bohnen, Linsen und Erbsen waren abgeerntet, und die Tagelöhner schickten sich an, die Getreidefelder zu jäten. Noch konnten sie mit der Hacke gegen das Unkraut ankämpfen; später schoß es in dem fetten Boden derartig ins Kraut, daß man es stehenlassen mußte.

Plötzlich neigte Zarandilla, dessen Gehör schärfer zu werden schien, je mehr sein Augenlicht entschwand, lauschend den Kopf.

»Donnert es da nicht?«

Der große Sonnenfleck auf dem Kies verblaßte; die Hühner stoben, aufgeregt gackernd, im Kreis umher, als wollten sie dem Windstoß, der ihre Federn aufplusterte, entschlüpfen.

Von dem Alten gefolgt, ging Rafael zum Tor. Ein finsterer Vorhang schwarzer Wolken zog von der Sierra her geschwind auf die Ebene, zu. Es war erst vier Uhr nachmittags, doch schon begann sich draußen alles in ein ungewisses Dämmerlicht zu hüllen. Der Himmel hatte sich herabgesenkt; die Spitzen der Berge verschwanden in seinem Schoß, als hätte er sie enthauptet. Raubvögel, durch Angst zu Schwärmen vereinigt, schwirrten unter gellendem Geschrei vorbei.

»Das kommt dick!« prophezeite Zarandilla, der mit seinen kranken Augen überhaupt nichts mehr zu erkennen vermochte.

Die hohen Säulenschäfte der Agaven – die einzig vertikalen Linien, durch welche die Einförmigkeit der Felder unterbrochen wurde – beugten sich einer nach dem anderen, und gleich darauf prallte eine kalte, ungestüme Windsbraut gegen das Gutsgebäude. Türen knarrten, Fenster schlugen klirrend zu, die Hofhunde heulten dumpf auf, als sähen sie das Ungewitter, die Regenkappe schüttelnd und ihnen mit seinen Blitzen die Augen blendend, durchs Tor treten.

Eine gelbe Brunst flammte durch den Raum, und schon krachte der Donner und ließ das Gutshaus in seinen Grundfesten erbeben. Ein Echo von Kettenrasseln, Stampfen und Gebrüll antwortete aus den Stallungen. Dann prasselte der Regen nieder, wolkenbruchartig, als sei der Himmel zerplatzt, so daß die beiden Männer unter dem Torgewölbe Zuflucht suchen mußten.

Vom Erdboden, den der Peitschenhieb des Regens züchtigte, stieg warmer Dunst auf. Und fern, ganz fern, strebten in den Furchen, die nicht imstande waren, die ganze Wasserflut einzusaugen, Klumpen von Menschen zum Gutshof hin.

»Na, die werden schön eingeweicht!« meinte Rafael bedauernd.

Der Sturm schien sie vorwärts zu stoßen, denn bei jedem neuen Blitzstrahl hatte sich die Entfernung zwischen ihnen und dem Hof merklich vermindert. Sie liefen unter dem trommelnden Regen wie eine zerstreute Herde. Jetzt langten die ersten am Tor an und flüchteten seitwärts in ihre Baracke, die Männer mit gesenktem Kopf, während von ihren formlosen Hüten kleine Sturzbäche niederplatschten; die Frauen mit hochgeschlagenen Röcken, so daß die Männerhosen, die sie beim Unkrautjäten zu tragen pflegten, sichtbar waren.

Schon hatten beinahe alle Gruppen den trockenen Hafen erreicht, als Rafael durch die schräge Regengardine noch zwei Nachzügler gewahrte. Der eine von ihnen zerrte ein Eselchen am Halfter hinter sich drein, und das Grautier war mit einem Korbungetüm beladen, daß kaum die Ohren und der Schwanz hervorguckten.

Bald erkannte Rafael den vordersten der beiden. Es war ein ehemaliger Tagelöhner, Manolo mit Namen, der seit der letzten Landarbeiterrevolte auf der schwarzen Liste stand. Um sein Leben zu fristen, zog er als Hausierer über Land, verkaufte den Frauen Bänder, Stoff und Zwirn, den Männern Schnaps, zugleich aber auch revolutionäre Zeitschriften – sorgsam in seinem Korbe, diesem seltsamen Laden, verborgen, der auf dem Rücken des Esels durch das ganze Jerezaner Gebiet schaukelte. Nur in Matanzuela und auf einigen kleineren Gütern durfte Manolo sich blicken lassen, ohne daß ihm Unannehmlichkeiten widerfuhren.

Über den Begleiter des Hausierers konnte sich der junge Verwalter nicht schlüssig werden. Der Fremde hatte die Hände in die Taschen gesteckt, den Rockkragen hochgeklappt und die Hutkrempe tief ins Gesicht gezogen. Triefend vor Nässe, da ihn nicht einmal wie Manolo eine Decke schirmte, zog er fröstelnd die Schultern ein, hielt aber trotzdem gleichmütig Schritt mit dem Eselchen, als vermöchte das Unwetter seinem schmächtigen Körper nichts anzuhaben.

»Salud, Kameraden!« grüßte Manolo, sein Tier am Tor anhaltend. »Herrliches Wetter für arme Leute, nicht wahr, Zarandilla?«

Jetzt hob auch der andere Mann den Kopf, und Rafael erblickte ein blutleeres Asketengesicht mit schütterem Bart und zwei sanften Augen hinter bläulichen Brillengläsern.

»Don Fernando!« stieß er überrascht hervor. »Sie hier, Don Fernando? …« Und ungeachtet des niederströmenden Regens verließ er den Schutz des Torgewölbes und ergriff einen Arm Salvatierras, um ihn ins Gutshaus zu geleiten.

Doch dieser versuchte sich frei zu machen.

»Nein … nein, besten Dank. Ich werde mit Manolo zusammen drüben bei den Tagelöhnern das Gewitter abwarten.«

»Wie? … Den Freund meines Paten, den Führer meines verstorbenen Vaters sollte ich an meiner Tür vorübergehen lassen?«

Beinahe mit Gewalt zog Rafael den Durchnäßten in den Hof, während Manolo mit seinem Eselchen weiter trollte.

Kaum hatte Salvatierra in der Küche Platz genommen, als sich zu seinen Füßen große Wasserlachen bildeten. Die alte Benita, voll Mitleid für den »armen Señor«, zündete eiligst das Kleinholz im Ofen an.

»Recht so, Frau!« lobte Zarandilla. »Mach ein gutes Feuer, denn das und noch viel mehr verdient unser Gast.« Und in feierlichem Tone stellte er die Frage: »Weißt du, wer dieser Caballero ist? … Pah, was wirst du schon wissen! Es ist Don Fernando Salvatierra, von dem die Zeitungen so viel reden und der das Recht der Armen verteidigt.«

Benita, die einen Moment ihr Feuer im Stich ließ, betrachtete den Fremden mehr mit Neugierde als Bewunderung.

Inzwischen hatte der junge Verwalter eine Flasche aufgezogen, füllte behutsam ein Glas und brachte es Don Fernando.

»Danke schön, ich trinke nicht.«

»Aber es ist eine ganz vorzügliche Marke, ein Geschenk meines Paten. Der Trunk wird Ihnen gut tun nach all der Nässe.«

Salvatierra schüttelte den Kopf.

»Nochmals danke; ich habe noch nie in meinem Leben Wein gekostet.«

Der greise Zarandilla starrte ihn verblüfft an … Wahrhaftig, die Leute hatten schon recht, wenn sie behaupteten, daß dieser Don Fernando ein ganz außergewöhnlicher Mensch sei!

»Gut, dann einen warmen Happen«, beharrte Rafael und trug Benita auf, Spiegeleier zu bereiten und ausnahmsweise einen für Don Luis bestimmten Schinken anzuschneiden.

»Das erübrigt sich«, wehrte auch diesmal Salvatierra. »Was ich brauche, trage ich bei mir.«

Er holte aus seiner Tasche ein durchnäßtes Papier, das einen Kanten Brot und ein Stück Käse enthielt.

»Aber dann werden Sie doch wenigstens rauchen, Don Fernando.«

»Danke, mein Lieber; ich bin Nichtraucher.«

Während Salvatierra sich fröstelnd dem Feuer näherte, das jetzt mit heller Flamme behaglich knisterte, verschwand der Verwalter, um gleich darauf mit dem dicken Umhang zurückzukehren, den er auf seinen Ritten im Gebirge trug.

»So, Don Fernando, nun müssen Sie unbedingt sich warm einwickeln, bis Ihre Sachen getrocknet sind.« Und ohne dem Gast Zeit zu einem Widerspruch zu lassen, zog ihm Rafael mit Benitas Hilfe Rock und Weste aus, die bald am Ofen zu dampfen begannen.

Um diese einfachen Leute, die ihn mit Gefälligkeiten überhäufen wollten, nicht zu verstimmen, wurde der Rebellenführer etwas gesprächiger und fing an zu erzählen, was ihn in die Gegend von Matanzuela geführt habe.

Mit einem der Maultierwagen, denen die Beförderung von Bündeln, Packen und Menschen nach der Sierra oblag, war er frühmorgens von Jerez aufgebrochen, um Miguel Matacardillas, den Besitzer der zwei Leguas vom Gut entfernten Grajoschenke, zu besuchen. Dieser Getreue, der ihn in allen revolutionären Erhebungen begleitet hatte, wurde von einem schweren Herzleiden gequält; seine geschwollenen Beine waren fast gelähmt. Da er beim Liegen Gefahr lief zu ersticken, schlief er nicht mehr im Bett, sondern hockte Tag und Nacht in seinem Strohsessel und antwortete mit einem traurigen Lächeln auf die gutgemeinten Neckereien der Maultiertreiber und Landarbeiter, die ihm versicherten, daß sein Gesicht von Gesundheit strotze und daß er nur ein klein wenig bemitleidet werden wolle. Ach, er wußte besser, wie es um ihn stand! …

Bei der Nachricht von Salvatierras Rückkehr nach Jerez verschlimmerte sich der Zustand des Kranken, weil ihn der Gedanke, seinen alten Führer nicht aufsuchen zu können, maßlos erregte. Als Salvatierra dann ganz unerwartet die Schenke betrat, rannen dem Wirt dicke Tränen über die Backen. Acht Jahre der Trennung! … Acht Jahre, in denen regelmäßig jeden Monat ein Paket mit Bohnen den Weg von der Grajoschenke nach dem Zuchthaus nahm, wo man seinen Chef hinter Gittern hielt!

In Begleitung Manolos, der zufällig in der Grajoschenke rastete, hatte Salvatierra schließlich den Rückweg nach Jerez angetreten und war unweit Matanzuelas vom Unwetter überrascht worden.

Rafael und die beiden Alten hatten ihm, ohne eine Zwischenfrage zu stellen, zugehört und saßen auch jetzt stumm auf ihren Plätzen; offensichtlich fühlten sie sich durch die Gegenwart dieses ebenso grimmig befehdeten wie glühend verehrten Mannes ein wenig beengt. Erst als Salvatierra seine beinahe trockene Kleidung wieder anzog, brach Zarandilla das lange Schweigen und meinte, zum Verwalter gewandt:

»Vielleicht gefällt es dem Señor, das Gestüt zu besichtigen. Unsere Pferde sind wirklich sehenswert.«

Die Pferde interessierten Salvatierra ziemlich wenig, aber da sie im Leben der beiden anderen Männer eine große Rolle zu spielen schienen, ging er auf den Vorschlag ein.

Noch immer pladderte der Regen hernieder, während sie quer über den Hof zu den Stallungen eilten. Eine Wolke warmer, dicker Luft, die nach Mist und tierischem Dunst roch, schlug ihnen beim Öffnen der Tür entgegen. Hufe scharrten, unruhige Hengste machten lange Hälse, glänzende Augen schielten nach dem Fremden.

Zarandilla schlüpfte in jede Box, tätschelte dem einen Pferd die Flanken, kraulte dem anderen die Stirn und plauderte mit ihnen wie mit menschlichen Wesen. Unterdessen gab Rafael seinem Gast fachkundige Erklärungen.

In den Ställen Matanzuelas standen nur andalusische Vollblüter, und auch der Laie mußte für die edle Schönheit dieser Tiere mit tiefer Brust und schlanken Beinen, die ihren Kopf so anmutig trugen, empfänglich sein. Seidig schimmerte ihr Fell, über das ständig ein nervöses Zucken lief, als genügte der enge Gewahrsam nicht für ihren Lebensdrang.

Der Alte begrüßte jetzt mit drolligen Koseworten und schallenden Klapsen zwei riesige Eselhengste, an Größe den Pferden nur wenig nachstehend. Knochig, eckig, als seien sie mit der Axt geschnitzt, stumpfnasig, mit Augen, die ein Wulst von Haaren fast ganz verbarg, und schlappen Ohren – zwei Tiere von monströser, phantastischer Häßlichkeit, Geschöpfe aus einer apokalyptischen Vision.

»Das sind die braven Kerle, die unsere Maultiere fabrizieren«, erläuterte er, indes seine abgearbeitete Greisenhand mit den herabhängenden grauen Fellohren spielte. »Im Frühling werden ihnen die Pferdestuten zugeführt und die Schweife vorher säuberlich auf dem Rücken angebunden, damit die Sache glatt vonstatten geht. Da die Tiere aber sehr hitzig sind, muß meistens der Oberhirt noch nachhelfen.«

Mit der selbstverständlichen Natürlichkeit des Landmannes – schüchtern und verschämt, wenn Mann und Frau in Frage kommen, hingegen frank bis zur Schamlosigkeit, sobald es sich um Tierbegattung handelt – erörterte er des langen und breiten die Einzelheiten beim Decken. Und als ob die Worte des Alten den geblähten Nüstern der Hengste einen Duft des ersehnten Frühlings brächten, begannen die Tiere zu wiehern. Sie keilten aus, zeigten das Glied, rissen ungestüm an den Halftern, und Zarandilla hatte alle Mühe, mit wahllos verteilten Hieben wieder Ruhe zu schaffen.

Vom Stall geleitete der junge Verwalter seinen Gast in ein geräumiges Zimmer, das ihm als Kontor diente. Er zündete, da sich inzwischen zu der Finsternis des Gewitters die Abenddämmerung gesellt hatte, eine uralte Öllampe an, bei deren weichem Schimmer Salvatierra ein bauchiges Tintenfaß nebst einem Federhalter bemerkte, dessen Stahlfeder wohl einen Finger lang war. Hier führte Rafael, wie er mit einem gewissen Respekt erwähnte, die Bücher. Früher vollzog sich die Buchführung auf den Gütern in patriarchalischer Einfachheit, und den Tagelöhnern gegenüber wirkte sich diese Einfachheit in der Weise aus, daß sie sich stillschweigend mit der Zahl der Arbeitsstunden zufrieden geben mußten, die der Herr ihnen anzurechnen für gut fand. Allmählich aber waren sie mißtrauisch geworden, und jeder einzelne beanspruchte ein eigenes Lohnbuch, das ihm ermöglichte, täglich die angeschriebene Arbeitszeit zu kontrollieren.

Weiterhin bewahrte man in dem Kontor »das große Buch« auf, das man mit Fug und Recht den Adelsbrief von Matanzuela hätte nennen können. Der dicke ledergebundene Foliant enthielt die Genealogie und die Geschichte aller auf dem Gut gezüchteten Pferde und Maultiere, rückwärts bis zu den beiderseitigen Großeltern, eine genaue Beschreibung des Körperbaues, des Haares, der Augen, des Temperaments. Sogar etwaige Fehler wurden ehrlich dem Papier anvertraut, sonst jedoch strikt geheimgehalten. Mochte doch der sachkundige Käufer seinen Scharfsinn anstrengen, um sie zu erraten!

Auch das andere Kleinod des Gutes glaubte Rafael seinem Besucher zeigen zu müssen: eine lange Stange, die in ein eisernes, trichterförmiges Gebilde auslief. Es war die Zuchtmarke von Matanzuela. El Hierro! … das Eisen! Andächtig strich Rafael darüber hin. Ein Kreuz über einem Halbmond, und jedem aus Luis Duponts Gestüt hervorgegangenen Pferde wurde dieses Zeichen aufgebrannt.

Der Blick, mit dem der junge Verwalter Salvatierra streifte, der trotz all seiner Gelehrsamkeit so gar nichts von Pferden verstand, war fast ein wenig mitleidig.

»Wenn die Fohlen aus der Freiheit der meilenweiten Bergweiden kommen, Don Fernando«, suchte er dieser Unwissenheit etwas abzuhelfen, »binden wir sie vorerst einmal einige Zeit im Stall an, damit sie sich an die Futterkrippe gewöhnen. Dann geht es mit ihnen auf die Reitbahn. Sie müssen an der Longierleine die Füße richtig setzen lernen, das heißt, den Hinterfuß an die Stelle, wo der Vorderfuß stand oder, noch besser, ein bißchen weiter vorwärts. Nun fehlt noch das Schwierigste: zuerst das Satteln – ei, diese Bocksprünge, wenn sie den Schwanzriemen spüren und die Steigbügel ihnen am Bauch herumpendeln! – und endlich das Zureiten. Caramba, das ist ein wilder Tanz, Don Fernando! Die jungen Tiere sind rein wahnsinnig, beißen um sich, steigen kerzengerade oder pressen den Kopf auf die Erde, während die Hinterbeine durch die Luft schlagen. Wenn ihnen auch das alles nichts hilft, sausen sie in Karriere los und strengen sich an, die Beine des Reiters an Mauern oder Zäunen abzuquetschen.«

Ein Schatten, der an der offenen Tür vorbeihuschte, ließ ihn seine Belehrung unterbrechen.

»Heda, Alcaparron! Komm mal her!«

Schräg, als fürchte er, die Wand zu streifen, schob sich ein mageres Bürschchen über die Schwelle, dessen gedrückte Haltung schon im voraus für alles, was er tun würde, um Verzeihung zu bitten schien. Seine Augen blitzten in der halben Dunkelheit, ebenso die starken weißen Zähne, und als er in den Lichtkreis der Lampe trat, sah Salvatierra auch die bronzene Zigeunerhaut und die merkwürdige Farbe der Augen – getupft mit tabakfarbenen Fleckchen. Trotz der Kälte umhüllte seinen schmächtigen Knabenkörper nur eine faltige, regendurchweichte Sommerbluse; den Kopf krönten zwei übereinandergestülpte Filzhüte, von denen der äußere eine ziemlich ausgefranste Krempe aufwies.

Der Verwalter packte den Jungen an der Schulter und schüttelte ihn nicht gerade sanft.

»Das ist Alcaparron, von dem Sie sicherlich schon gehört haben«, präsentierte er ihn mit komischer Wichtigkeit Salvatierra. »Der diebischste Zigeuner von ganz Jerez. Sobald ich nicht aufpasse, klaut er, und eines schönen Tages werde ich ihm noch das Hinterteil mit Schrot pflastern.«

Wie ein Aal entglitt der Zigeuner Rafaels Griff und pflanzte sich in sicherer Entfernung auf.

»Hu, Señor Rafael, wie böse Sie sind! … Jesus, Maria und Joseph!« – die schwärzlich braune Hand schlug geschwind ein paar Kreuze –, »ich bin der ehrlichste Mensch auf der Welt. Ich schwöre es bei allen Heiligen, Señor Rafael, schwöre es bei meiner Mutter …«

»Wissen Sie«, unterbrach der Verwalter sein Gezeter, »warum er zwei Hüte trägt? … Der innere ist neu und nur für die Festtage oder den Gang nach Jerez bestimmt. Aber aus Angst vor einem Schabernack seiner Arbeitsgenossen wagt sich das »arme Zigeunerchen« auch alltags nicht von ihm zu trennen. Wupp! wird der alte darüber gestülpt, und Alcaparron verbreitet dann die Flausen, er wolle nur den schönen grauen Seidenglanz schützen. Ein liebliches Früchtchen! … Alcaparron, sieh dir diesen Herrn genau an, und merke dir den Namen: Don Fernando Salvatierra.«

Der Zigeuner sperrte die Augen weit auf.

»Gebenedeite Jungfrau, das ist er? … Seit zwei Stunden spricht man im Leutehaus nur von ihm. Viele glückliche Jahre wünsche ich Ihnen, Señor … Oh, bin ich stolz, daß ich vor einem solchen Herrn erscheinen durfte! Man sieht gleich, daß Euer Gnaden etwas Besonderes sind – Sie haben ein Gesicht wie … wie ein Minister.« Und Alcaparron verbarg seine Verwirrung unter dem kriecherischen Lächeln der seit undenklichen Zeiten verfolgten braunen Rasse.

»Ich wollte«, mischte sich der Verwalter ein, »jemand schenkte dem Alcaparron eine Fahrkarte nach Paris. Vielleicht hat er dort ebensoviel Glück wie seine drei Kusinen. Sie sind Tänzerinnen, und ganz Europa jubelt ihnen zu; sie wühlen nur so in Brillanten. Die eine lebt jetzt als Geliebte eines Grafen auf einem richtigen Schloß. Und was ist an den Mädels dran? Nichts, Don Fernando! Ebenso braun und ebenso häßlich sind sie wie ihr Vetter. Flinke Ratten, aber voll von Unanständigkeiten, über die man erröten muß. Wenn ich denke, daß diese drei Schmutzfinken, die ich habe Obst mausen sehen, jetzt als feine Damen leben, möchte ich laut lachen! …«

»Und meine Mutter und meine arme Schwester Maruja müssen sich für zwei Reales schinden und plagen! Heilige Jungfrau, welche Ungerechtigkeit!« jammerte der kleine Vetter kläglich. »Könnten sie uns nicht helfen, die reichen Kusinen, die im Geld schwimmen? Doch nicht so viel« – er ließ den Daumennagel gegen seine großen Pferdezähne schnippen – »schicken sie uns. Ah, wenn mein Vater noch lebte! Der war ein Adler im Vergleich zu meinem Onkel!«

»Woran starb dein Vater?« erkundigte sich Salvatierra.

»Es fehlte einer auf dem Friedhof, Señor, und da Vater ein guter Mensch war, rief ihn der Rabe, der dort nistet. Und wir blieben allein zurück. Oh, Señor, welches Unglück!«

Den Verwalter schien die wehleidige Klage nicht im geringsten zu rühren. Mit diesem Bauernhumor, der sich besonders gern Schwachsinnige und Vagabunden zu Opfern seines Spottes erwählt, bemerkte er ernst:

»Du kannst jetzt froh sein, Alcaparron, denn dein Glück ist gemacht. Don Fernando will dir eine schöne Stellung verschaffen.«

Der braune Junge witterte zwar eine Hänselei, aber aus purer Angst, einen Fehler zu begehen, stotterte er ein »Gracias« nach dem anderen.

»Und weißt du, was du werden sollst?« fuhr Rafael fort. »Henker von Sevilla oder von Jerez – ganz wie es dir beliebt.«

Alcaparron machte entsetzt einen Sprung nach rückwärts.

»Möge der Teufel Sie holen, Señor Rafael! Möge eine Kugel Ihr schwarzes Eingeweide treffen … möge …« Doch da er innewurde, daß seine Verwünschungen den anderen nur höchlichst ergötzten, schloß er nach einem Moment des Überlegens: »Der liebe Gott soll geben, daß Sie bei Ihrem nächsten Besuch in Marchamalo von Ihrer Liebsten mit einem essigsauren Gesicht empfangen werden!«

Nun lachte Rafael nicht mehr. Er fürchtete die bissige Zunge des Zigeuners und beeilte sich, ihn fortzuschicken.

»Hier, nimm eine Zigarette, und raus, du Unke! Deine Mutter wird schon nach dir suchen!«

Alcaparron, durch die Zigarette versöhnt, streckte, bevor er ging, Salvatierra seine Mulattenhand hin und versicherte, daß man in der Baracke ungeduldig auf das Kommen des Señors warte.

»Raus! …« Schärfer klang jetzt die Aufforderung des Verwalters.

»Was denkt sich der Bengel eigentlich?« sagte er erbost, als die schmächtige Gestalt verschwunden war. »Sie, Don Fernando, im Tagelöhnerhaus übernachten? … Ich stelle Ihnen selbstverständlich mein Zimmer zur Verfügung.«

»Nein, Rafael, ich möchte bei den Arbeitern bleiben. Du weißt ja, von wo ich komme«, entgegnete der Revolutionär. »Acht Jahre habe ich unter Menschen geschlafen, die noch unglücklicher sind als deine Arbeiter.«

Rafael zuckte mißmutig die Schultern.

»Wenn Sie durchaus darauf bestehen, soll Zarandilla Sie hinführen. Es tut mir leid, Don Fernando, daß ich Sie nicht ins Leutehaus begleiten kann. Die Kerle würden das ausnützen, würden vertraulich werden, und ich als Vorgesetzter muß unbedingt die Autorität wahren.«

Er sprach in ehrlicher Überzeugung, dieser ehemalige Schwärzer, der in seinen Abenteurerjahren unzählige Male der Autorität ein Schnippchen geschlagen hatte und sie jetzt als eine Notwendigkeit betrachtete …

Unter dem wütenden Gebell der Hunde verließen Salvatierra und der Greis den Gutspatio und gelangten außerhalb der hohen Hofmauern zu einem schuppenartigen Vorbau der eigentlichen Baracke. Hier draußen standen eine Reihe unförmiger Krüge – der Trinkwasservorrat für die Tagelöhner. Wer von ihnen Durst bekam, mußte aus der erstickenden Hitze des Schlafraums hinaus in die kalte Nacht und ein Wasser schlürfen, das flüssiges Eis zu sein schien, während der Wind um den schweißgebadeten Rücken pfiff.

Auf der Schwelle der Baracke prallte Salvatierra, gewiß an armselige Behausungen gewöhnt, fast zurück. Um Gottes willen, wie konnten menschliche Lungen hier atmen? … Eine verbrauchte, heiße, stickige Luft, durchsetzt mit dem Geruch von nasser Wolle, ranzigem Öl und Knoblauch, von Schmutz und Staub sowie schweißigen, klebrigen, unreinen Körpern.

Ein einziger langgestreckter Raum, der infolge der kärglichen Beleuchtung noch größer erschien. An der jenseitigen Wand ein Backsteinherd, in dem ein Feuer aus trockenem Kuhmist schwelte und stank. Von dem mittleren Dachbalken hing eine Ölfunzel herab, und ihre Flamme zuckte wie eine rote, zitternde Träne in dichten Nebelschwaden. Der Rest lag völlig im Dunkeln. Doch erriet man aus dem Rascheln und Summen, daß die Schatten eine Menge Menschen bargen.

In der Mitte des Saales angekommen, hielt Salvatierra, dessen Augen sich allmählich an die rauchige Atmosphäre gewöhnt hatten, von neuem Umschau. Ein Dutzend Töpfe brodelten auf dem niedrigen Herd, von knienden Frauen betreut, und unter der Ölfunzel saß der Vorarbeiter, der zweite Würdenträger von Matanzuela, dem es oblag, die Leute mit harten Worten anzutreiben. Er und der Verwalter bildeten das, was die Tagelöhner die »Regierung« des Gutes nannten.

Der Vorarbeiter war der einzige, der sich der Annehmlichkeit eines Stuhles erfreute; alle anderen kauerten auf der festgestampften Erde. Neben ihm hatte sich in Gesellschaft einiger Freunde der Hausierer Manolo niedergelassen und versenkte seinen Löffel gemächlich in den gemeinsamen Kump. Nach und nach entdeckte Salvatierra andere Gruppen – Männer, Frauen und Kinder –, alle um Näpfe mit dampfender Abendsuppe geschart und alle offensichtlich sehr beglückt durch die Gewißheit, daß die Folgen des Unwetters, dem sie schon heute eine verkürzte Arbeitszeit verdankten, ihnen morgen zu einem weiteren Feiertag verhelfen würden.

Der klägliche Raum, die Anhäufung von Menschen ließ Salvatierra unwillkürlich an das Zuchthaus zurückdenken. Dieselben gekalkten Wände, aber hier durch den Qualm des Kuhmistes verräuchert und fettig glänzend durch das ständige Scheuern schmutziger Körper. Dieselben Binsenmatten als Lagerstatt, und an den Balken aufgehängt der ganze Hausrat des Elends: Beutel, Umschlagetücher, buntfarbige Blusen, schmierige Hüte, schwere Nagelschuhe. Doch im Zuchthaus war man besser gebettet. Ein jeder hatte dort seinen Strohsack, während hier nur sehr wenige diesen Komfort genossen. Die große Mehrzahl schlief unausgekleidet auf den Binsenmatten.

Und die Gesichter unter den verbogenen Hüten muteten wie Masken der Misere an; Masken des Leids und des Hungers. Die Jünglinge allein hatten sich noch eine gewisse robuste Frische bewahrt; in ihren Augen blitzte die Lust an Spaßen, die Freude, mit keiner Familie belastet zu sein, die Hoffnung des Alleinstehenden, für den, so schlecht es ihm auch gehen mag, immerhin die Möglichkeit des Weiterkommens vorhanden ist. Hingegen trugen die Männer sämtlich den Stempel vorzeitigen Alterns, einer in voller Reife ruinierten Gesundheit. Vielleicht lohte in dem Blick des einen oder anderen zeitweilig ein Funke einstiger Energie auf; jedoch die meisten zeigten die geduckte, resignierte Haltung jener, die den Tod als einzige Befreiung erwarten.

Ausgemergelte Kreaturen, von der Sonne gedörrt, mit rissiger, lederartiger Haut. Die schlechte und knappe Ernährung ließ auch nicht das kleinste Polsterchen zwischen dem Skelett und seiner Hülle aufkommen. Männer, die noch nicht vierzig Jahre zählten, hatten völlig fleischlose Hälse, auf denen die starren Sehnen wie im Alter übermäßig hervortraten. Die von einer Aureole von Runzeln umgebenen Augen, tief in den Höhlen liegend, blinkten wie blasse Sterne auf dem Grund eines Brunnens.

Dieses physische Elend war das Resultat einer Jahr um Jahr verlängerten Ermüdung. Die einst gut gewachsenen Körper nahmen groteske und garstige Formen an. Manche gemahnten durch ihre Verkrümmungen und Knoten an die Strünke wilder Ölbäume; ihre schwärzlichen Arme, durchzogen von dicken Adern, Sehnen und Muskeln, an verflochtenes Rebholz. Und diese unglückselige Schar strömte einen sauren Geruch aus, nach Schweiß, nach monatelang getragener Wäsche, nach fauligem Atem – den ganzen Pesthauch der Armut.

Vielleicht aber boten die Frauen einen noch trostloseren Anblick. Einige waren alte Zigeunerinnen, schreckliche kupferfarbene Vetteln, die das Feuer sämtlicher Hexensabbate durchschritten zu haben schienen. Die jüngeren umwob die schmerzliche, ohnmächtige Schönheit der Bleichsucht – arme Menschenknospen, die welkten, bevor sie sich erschlossen, und deren blasse Haut die Sonnenkraft nicht zu erwärmen vermochte, sondern nur mit häßlich graubraunen Flecken verunstaltete.

Jungfrauen mit seltsam großen Augen, als wären sie bestürzt, daß sie zur Welt kamen. Bläuliche Lippen und blaßrosa Zahnfleisch offenbarten ihr verdorbenes Blut. Das Haar, das unordentlich unter dem Kopftuch hervorquoll, bewahrte in seinen glanzlosen Strähnen kleine Halme und Erdkrümchen, weil die Hände zu müde waren, es zu säubern und zu pflegen. Und der Busen fast all dieser jungen Mädchen hatte die monotone Gleichförmigkeit der Wüste – kein Atemzug enthüllte unter dem dünnen Kattun das Heben verführerischer Hügel, die wie eine Standarte des Geschlechts sich sonst stolz vordrängen. Ihre Hände waren groß wie die der Männer; ihre Arme dürr und stakig. Beim Gehen schlenkerte ihr Rock, als befände sich unter ihm nichts als Luft, und wenn sie sich setzten, zeichneten sich unter den Kleidern scharfe, kantige Winkel ab, ohne die leichteste Rundung. Erbarmungslos verhinderte die bestialische Arbeit jegliche Entwicklung weiblicher Reize. Denselben harten Lebensbedingungen unterworfen wie die männliche Heerschar, erinnerten sie sich ihres Frauentums nur dann, wenn sie nächtlicherweile aus dem schweren Schlaf ermüdeter Lasttiere durch einen heißblütigen Burschen geweckt wurden, der begierig im Dunkeln nach ihnen tastete, indes ringsum die Älteren, geheilt von allen Illusionen dieses Lebens, fürchterlich schnarchten, als wollten sie schneller schlafen, um die tagsüber verlorene Kraft wiederzuerlangen …

Als der Vorarbeiter aufstand und Salvatierra seinen Stuhl anbot, schoß auch schon Alcaparron grinsend aus irgendeiner dunklen Ecke hervor.

»Sehen Sie, Señor: das ist meine Mutter.«

Er wies auf eine betagte Zigeunerin, die soeben einen Topf mit Kichererbsen geholt hatte und drei heißhungrige, sie allzusehr bedrängende Jungen und ein zartes, schwarzäugiges junges Mädchen abwehrte.

»Also Sie sind der berühmte Don Fernando?« begrüßte ihn die Frau. »Möge Gott Sie beschützen und Ihnen ein hohes Alter schenken, damit Sie noch lange als Vater der Armen wirken.«

Mit einer gewissen Feierlichkeit setzte sie den Topf auf die Erde, und im Nu tauchten sechs Löffel hinein. Der Geruch, der diesem ungewöhnlichen Festessen entströmte, rief eine Unruhe hervor, und während die Tagelöhner neidisch herüberschielten, konnte es sich Zarandilla nicht versagen, die Zigeunerin zu reizen.

»Hast dir wohl gestern in Jerez mit Wahrsagen und Liebestränklein ein paar Pesetachen extra verdient, he, du alte Hexe? … Daß es noch immer Leute gibt, die auf deine häßliche Fratze reinfallen …«

Die Frau hatte anfänglich lächelnd zugehört, ohne darüber das Erbsengericht zu vernachlässigen, aber als der Ausdruck »häßliche Fratze« fiel, hielt sie im Schmausen inne.

»Schweig still, du mißgünstiger Gauch! … Als ob du blinder Maulwurf überhaupt noch schön und häßlich unterscheiden könntest! Jedenfalls hat es eine Zeit gegeben, in der mir die stolzesten Hidalgos die Schuhe küßten. Ah, wenn der Marquis de San Dionisio, der Pate von dem Kleinen da, nicht gestorben wäre, säße ich heute nicht hier.«

Ihr Ältester, den sie mit dem Kleinen meinte, ließ für einen Augenblick seinen Löffel in der Luft schweben und reckte sich stolz.

»Pate … Papa – hm, beides fängt mit einem P an«, schmunzelte der frühere Verwalter.

Salvatierra betrachtete verwundert die Triefaugen der Zigeunerin, ihren Ziegenbocksmund und die zwei Büschel grauer Haare, die sich an den Mundwinkeln wie die Schnurrhaare einer Katze sträubten. Und diese Vogelscheuche war eine jener graziösen braunen Schönen gewesen, um deretwillen der berühmte Marquis Torheit über Torheit beging? … Unter dem lustigen Geläut des Maultier-Viergespannes war sie im blumengestickten Seidenschal, ein Sektglas in der Hand und ein Lied auf den Lippen, durch dieselbe Landschaft gebraust, wo sie heute, zerlumpt und abstoßend wie eine Kröte, von morgens bis abends Unkraut jätete und über ihre armen Nieren stöhnte.

Übrigens trog ihr Äußeres. So alt, wie sie aussah, war sie nicht. Aber der Frondienst der Arbeit beschleunigte den rapiden Verfall, dem die Orientalinnen ausgesetzt sind. Unvermittelt gehen sie von der Jugend zum Alter über, ähnlich dem strahlenden Tropentag, der jäh vom Licht in die Dunkelheit springt, ohne irgendwelche Dämmerung.

Auch Salvatierra hatte jetzt inmitten der schmatzenden Herde sein bescheidenes Abendbrot aus der Tasche geholt, und in dem Gedanken, ob er nicht vielleicht einem besonders Hungrigen noch einen Bissen abgeben könne, ließ er den Blick über die vielen Köpfe schweifen, bis er auf den einzigen Menschen traf, der sich nicht um das Nachtmahl kümmerte.

Auf einem Holzklotz saß er, ganz nahe dem Öllämpchen. Ein unansehnlicher junger Mann in einem arg geflickten Hemd und rotem Halstuch. Trotzdem seine Kameraden ihm mahnend zuriefen, daß von der Brotsuppe bald nichts mehr übrig wäre, fuhr er fort, Sätze aus einer alten Zeitung in ein kleines, auf seinen Knien liegendes Heft abzuschreiben, langsam, geduldig wie ein pflügender Ochse.

»Das ist unser Schulmeisterchen«, gab Zarandilla Auskunft. »Kaum von der Feldarbeit heimgekehrt, nimmt er die Feder und strichelt los.«

Salvatierra steckte Brot und Käse wieder in die Tasche und ging zu dem Schreiber hinüber.

»Es ist nicht weit damit her, Don Fernando«, entschuldigte sich der junge Mann. »Wann habe ich denn Zeit? Mit sieben Jahren wurde ich Hütejunge, und seitdem kenne ich nichts als Hunger, Schläge und Arbeit. Aber ich will lernen. Ich will Mensch sein und nicht ein Stück Vieh.«

Voller Bitterkeit musterte er seine Genossen, die, vergnügt in ihrer Unwissenheit, ihn zu foppen begannen, sobald er seine Übungen vornahm.

»Die Welt gehört doch dem, der am meisten weiß, nicht wahr, Don Fernando? Wenn die Reichen jetzt stark sind, uns unter die Füße treten und tun, was ihnen beliebt, so geschieht das nicht nur, weil sie über Geld verfügen, sondern weil sie auch mehr wissen als wir. In der Regierung, in der Verwaltung, im Parlament – überall sitzen ihre Vertrauensleute und sorgen für Gesetze, die nur den besitzenden Klassen zugute kommen und das Wohl der großen Masse nicht in Betracht ziehen. Wir sind rechtlos. Haben wir Arbeiter uns jedoch aus unserer Unwissenheit herausgearbeitet, dann lassen wir uns nicht mehr einwickeln und zwingen sie zum mindesten, die Macht mit uns zu teilen.«

Beneidenswerter Enthusiast, der das Allheilmittel zu kennen wähnte, um aller Drangsal der unendlichen Elendshorde auf Erden abzuhelfen! Wissen erlangen! …

Die Ausbeuter zählten nach Tausenden, die Sklaven nach Hunderten von Millionen. Doch kaum drohte den Privilegien jener die kleinste Gefahr, so lieferte die dumme Masse aus ihrer eigenen Mitte die Henker: Söhne des Volkes legten das Gewehr an, um mit Kugeln das Hungerregime wiederherzustellen, unter dem sie selbst zu ächzen haben würden, sobald sie den bunten Soldatenrock wieder auszogen. Ah, wenn die Menschen nicht so mit Blindheit geschlagen wären, könnte sich dieser absurde Zustand nicht halten! …

Für den friedlichen Weg, von dem dieser wissensdurstige Jüngling träumte, bedurfte es hierzulande, wo achtzig Prozent der Bewohner Analphabeten waren, einer Zeitspanne von Jahrzehnten, vielleicht gar eines Jahrhunderts. Hier nützte nur eins: Propaganda der Tat bis zur Revolution. Die herrschende Gesellschaft verdankte ihr Bestehen der Gewalt, sie stützte sich auf Bajonette. Und nur mit Gewalt konnte man die Dinge zum Besseren wenden. Vermorschte Begriffe wie Gottesgnadentum durften die Söhne des Volkes nicht abhalten, die Kolben gegen dieselben Nutznießer zu erheben, zu deren Verteidigung man sie das Waffenhandwerk gelehrt hatte. Revolution! Und dann fort mit den Armeen, fort mit den für Kapitalisten fabrizierten Gesetzen, die aus der Welt ein Zuchthaus machten. In der Masse das Gefühl ihrer Macht erwecken und die längst überholte Tradition über den Haufen reiten!

»Aber was fruchtet es, wenn der eine oder der andere von uns nach Wissen strebt?« klang die Stimme des Schulmeisterchens in Salvatierras Überlegungen. »Hebt sich einer aus der großen Menge hervor, bringt er es zu was infolge besonderer Begabung, so vergißt er, daß seine Vorfahren durch hundert Generationen hindurch in Sklaverei schmachteten, und schwenkt, statt seiner Herkunft die Treue zu halten und seinen Brüdern eine Stütze zu werden, ins Lager des Gegners über und verkauft ihm seine Intelligenz. Ich wiederhole es, Don Fernando, die Unwissenheit ist das schlimmste Martyrium der Armen. Alle müssen lernen – alle. Die Unterweisung eines einzelnen von Fall zu Fall ist eine Lockspeise und dient nur dazu, Deserteure zu schaffen, die sich mit dem Feind in Reih und Glied aufstellen. Allen müssen die besten Schulen, die besten Bildungsmittel von Kindesbeinen an unentgeltlich zur Verfügung stehen. Und dann werden eines Tages alle gemeinsam den Schrei erheben: wir lassen uns nicht länger ausbeuten!«

Fernando Salvatierra nickte. Ja, so mußte es sein – alle mußten zu gleicher Zeit das Fell des in sein Schicksal ergebenen Tieres abwerfen, das einzige Kleidungsstück, das die Tradition auf den Arbeiterschultern zu erhalten trachtete.

Aber als er grübelnd durch den weiten Raum blickte, schien es ihm, als böte sich die ganze ausgebeutete und unglückliche Menschheit seinen Augen dar. Die einen schlangen noch die Reste der Brotsuppe herunter, mit der sie ihren Hunger überlisteten; andere, lang ausgestreckt, rülpsten zufrieden im Wahn, daß sie nun ihren gebrochenen Körpern neue Kraft zugeführt hätten. Fast ausnahmslos jedoch machten sie einen verdummten, abgestumpften Eindruck – ohne Triebkraft und Willen. Vage glaubten sie an irgendein Wunder, das sie aus ihrer Lage befreien würde, oder rechneten mit einem gelegentlichen christlichen Almosen zur vorübergehenden Linderung ihrer Not. Ach, viel Wasser mußte noch ins Meer fließen, ehe diese Armen sehend wurden! Wer vermochte sie zu wecken und ihnen den Glauben dieses naiven Schreibbeflissenen einzuflößen, der sich mühsam weiter tastete, die Augen starr auf ein fernes Gestirn gerichtet, das nur er sah? …

Die alten Anhänger Salvatierras, denen sich Manolo angeschlossen hatte, ließen die geleerten Kumpe im Stich, gruppierten sich im Kreis um ihren Führer, und ernst, als bedürfe es hierzu ihrer ganzen Konzentration, drehte sich jeder eine Zigarette. Freilich, ein bißchen Rechenkunst war schon vonnöten, damit für diese leidenschaftlichen Raucher die Schachtel Tabak eine Woche ausreichte …

Manolo holte aus dem Packkorb seines Esels ein Fäßchen Schnaps, den er gläschenweise feilbot. Gierig wie Kranke eilten die Alten zum tröstenden Alkohol, während die Jungen erst nach langem Getuschel die Kupfermünzen aus ihrer Leibbinde hervorzogen und diese überflüssige Ausgabe mit der absonderlichen Begründung entschuldigten, daß man am nächsten Tage ja nicht zu arbeiten habe. Auch einige Mädchen stahlen sich in die Gruppe der Männer und ließen sich kichernd von den Burschen bewirten, wodurch diese ein Recht auf Zwicken und andere brutale Zärtlichkeiten erworben zu haben glaubten.

Salvatierra hörte inzwischen seinem alten Kameraden Juanon zu, der einen Arbeitstag geopfert hatte, nur um ihm bei seiner Rückkehr in Jerez die Hand zu drücken. Ein Hüne mit vorspringenden Backenknochen und viereckigem Kinn. Das borstige Haar wuchs ihm tief in die Stirn, und die Augen funkelten in gewissen Momenten im grünlichen Glanz der Raubtiere.

Er war zwar Winzer von Beruf, aber da ihm wegen seiner revolutionären Gesinnung jeder Weingutsbesitzer die Tür wies, hatte er froh sein müssen, als man ihm auf Matanzuela Arbeit als Tagelöhner gab. Impulsiv und von einer rücksichtslosen Energie, die trotz aller Rückschläge keine Schwächeanwandlungen kannte, beherrschte er das ganze Leutehaus.

»Die Situation hat sich gegen früher sehr verändert, Don Fernando. Es geht rückwärts, und die Herren knechten uns schlimmer als je zuvor.« Langsam und eindringlich sprach er, zwischendurch häufig auf den Boden spuckend. »Dem Nachwuchs fehlt der richtige Geist. Sehen Sie sich die jungen Leute an: ihr hauptsächlichster Gedanke ist, wie sie ein Mädel rumbringen können. War das eine Art, Sie zu empfangen? … Manche trieb lediglich die Neugier zu Ihnen, während andere ironisch lächelten, als dächten sie: »Noch ein Schwindler!« Für diese Grünschnäbel ist alles Schwindel – die Schriften, die wir ihnen vorlesen … die Mahnungen, daß einzig und allein der Zusammenschluß in Gewerkschaften die Umwälzung ermöglicht. Mit ihrer Brotsuppe und zwei Reales täglich, einer gelegentlichen Sauferei und einem Mädchen, dem sie einen neuen Elendswurm andrehen, schätzen sie sich glücklich. Und wenn sie bei einem Streik zu uns halten, so nicht etwa der Sache halber, sondern weil ihnen der Klamauk, wie sie es nennen, Spaß macht. Die Alten sind der revolutionären Idee noch immer treu ergeben, aber verzagt und ängstlich geworden, gelähmt von dem Schrecken, den die Besitzer zu verbreiten verstanden. Ja, wir haben wahrlich viel erduldet, Don Fernando, während Sie im Zuchthaus saßen!«

Und er erzählte von der Terrorherrschaft, die das ganze platte Land zum Schweigen verurteilte. Mit unerbittlicher Grausamkeit, unter der sich bange Besorgnis nur schlecht verbarg, wachte die reiche Stadt über die verhaßten Sklaven der Feldarbeit. Bei der geringsten Kleinigkeit schlugen die Gutsbesitzer Alarm. Hatte ein Häuflein Arbeiter mal irgendwo eine Zusammenkunft, gleich erschienen hetzerische Artikel in allen Zeitungen Spaniens, gleich rückten neue Bataillone in Jerez ein, gleich streiften die Gendarmen die Landschaft ab, um jeden, der sich über seinen kärglichen Lohn oder die elende Ernährung beschwerte, zu verhaften.

»Die Schwarze Hand!« … Dieses Schreckgespenst – ein Lug- und Trugbild – hielten die besitzenden Klassen immer parat. Sie benötigten es, um ihrer Tyrannei einen Schein des Rechts geben zu können, und lamentierten laut und vernehmlich über ungenügenden Schutz seitens der Regierung. Ob die Arbeiter um menschenwürdiges Essen baten, ob sie eine Verlängerung der Mittagspause um Minuten oder eine Lohnerhöhung um wenige Centavos wünschten – sofort erhob sich in den Reihen der Señores der Schrei, daß die Schwarze Hand wieder auflebe.

»Und was ist diese berüchtigte Schwarze Hand?« Von seinem Grimm übermannt, sprang Juanon auf die Füße. »Ein riesengroßer Bluff der Kapitalisten! Ich bin seinerzeit verfolgt worden, weil man mich der Zugehörigkeit verdächtigte. Monatelang lag ich im Gefängnis, wurde nachts zum Verhör geholt. Verhör? Haha! … Ein Verhör mit Kolben, daß die Knochen knackten! Da ich nichts auszusagen wußte, gerieten die Beamten in immer helleren Zorn, und noch heute bewahrt mein Körper die Narben jener Mißhandlungen … Als Beweis für den Bestand dieses angeblichen Geheimbundes führten sie den Tod eines Gutsbesitzers ins Treffen, der erstochen wurde. Nichts Besonderes in unserem Weinland, wo das Messer so locker sitzt! Dafür richtete man ein halbes Dutzend Arbeiter hin, und Hunderte erduldeten wie ich im Gefängnis die grausamsten Qualen. Aber seitdem haben die Kapitalisten einen Popanz, um ihn bei jeder Gelegenheit hochzuheben: die Schwarze Hand! Damit werden alle Übergriffe und Schikanen bemäntelt. Von dem Arbeiter, den man wegen eines kleinen Verschuldens blutig schlägt, behauptet man ganz einfach, er sei verdächtig, und der Gendarm steckt dann wegen außergewöhnlicher Tüchtigkeit noch eine Prämie ein.«

Juanon schwieg, und in den Augen seiner Genossen geisterte die Angst vor diesem Phantom, das mit seinen schwarzen Flügeln die ganze Landschaft um Jerez zu bedecken schien.

Manche der Tagelöhner schliefen bereits auf ihren Binsenmatten und kämpften mit lautem Röcheln gegen den Qualm des schwelenden Kuhmistes an. Im Hintergrund saßen die Frauen im Kreis ihrer wie Pilzhüte aufgebauschten weiten Röcke und schwatzten über unglaubliche Heilungen, die eine wundertätige Madonna in der Sierra vollbracht hatte.

Ein jüngerer Mann näherte sich Juanon und bot ihm ein Glas Branntwein an.

»Bleib mir mit dem Zeug vom Leibe!« knurrte der Hüne, indem er das Glas mit einer Handbewegung zurückwies. »Der verfluchte Alkohol ist unser Verderb. Sobald ihr saufen könnt, vergeßt ihr alles. Wenn der große Tag da sein wird, brauchen die Reichen nur die Türen ihrer Bodegas zu öffnen, und ihr seid besiegt.«

Während das Schulmeisterchen, das seine Schreibarbeit endlich beiseitegelegt hatte, ihm lebhaft zustimmte, erhob sich ringsum lauter Widerspruch.

»Was bleibt uns sonst, um unser Elend wenigstens für Augenblicke zu vergessen?«

Das respektvolle Schweigen, zu dem sie sich bisher durch Salvatierras Gegenwart verpflichtet glaubten, war gebrochen, und nun schwirrten von allen Seiten grollende Worte durch die Luft.

»Die Ernährung wird immer schlechter … Sollen wir satt werden von einer Handvoll Bohnen in der Erntezeit und Brotsuppe während der übrigen Monate? … Sogar unsere Notdurft wird ausgebeutet! Früher gab es für je zehn Pflüge einen Ersatzmann, der eintrat, wenn einer aus der Hose mußte. Dieser Ersatzmann wurde abgeschafft; seitdem bekommen wir je fünf Centavos mehr, dürfen aber keine Sekunde vom Pflug fortgehen, und wenn uns die Eingeweide noch so quälen!«

Und mit trauriger Ironie setzte ein anderer hinzu: »Wir haben das »den Arsch verkaufen« getauft.«

Einen ernsten, verheirateten Mann bekümmerte vor allem das Schicksal der jungen Mädchen.

»Jedes Jahr kommen mehr von der Sierra herunter. Bedauernswerte Kücken! … Aber die Agenten der Gutsbesitzer verstehen in den armen Gebirgsdörfern so vortrefflich von dem Überfluß zu flunkern, der auf den Gütern herrscht, daß die Eltern ihnen willig die kaum flüggen Dinger anvertrauen. Sie träumen von dem Säckchen voll Geld, mit dem die Kleinen eines Tages heimkehren werden … ach, und statt dessen überanstrengen sich die Mädels aus Angst vor den schimpfenden, unbarmherzigen Vorarbeitern, untergraben ihre Gesundheit und können sich von ihren ersparten Reales kaum ein neues Kleid kaufen.«

»Was sollen wir machen?« verteidigte sich der Vorarbeiter von Matanzuela. »Wir werden selbst getrieben. Über uns steht der Herr und verlangt die Ausführung seiner Befehle.«

»Ja, ja, alles Schuld der Herrschaft«, griff nun auch der alte Zarandilla ein. »Mit etwas Mildtätigkeit ließe sich das ganz gut regeln.«

»Mildtätigkeit! …« Scharf wie ein Peitschenhieb kam das Wort von Salvatierras Lippen, der bisher stumm dem erregten Wortwechsel gefolgt war. »Mildtätigkeit! Wozu dient sie? Um den Armen durch das Hoffen auf die berühmten Brosamen, die von des Reichen Tische fallen, zu beschwichtigen und in Knechtschaft zu halten. Mildtätigkeit ist der als Tugend verkleidete Egoismus, ist das Opfern eines winzigen, nach Laune gegebenen Teils vom Überfluß. Mildtätigkeit? Nein. Aber Gerechtigkeit! Jedem das Seine!«

Das milde Lächeln war verschwunden, die Augen hinter den bläulichen Gläsern blitzten im Feuer der Empörung.

»Die Mildtätigkeit hat für die Würde des Menschen nichts getan seit ihrer neunzehn Jahrhunderte währenden Regierung. Dichter haben sie als göttliche Eingebung besungen, die Glücklichen sie als größte aller Tugenden gepriesen, und die Welt ist genau so wie an dem Tage, als Christus sie zu lehren begann. Wahrlich genügend Zeit, um ihre Nutzlosigkeit darzutun …

Mildtätigkeit ist die impotenteste und blutarmste der Tugenden. Sie hatte für den Sklaven liebevolle Worte, aber seine Ketten hat sie nicht gesprengt; sie bietet dem Knecht unserer Zeit, dem Arbeiter, ein Almosen, aber einen Vorwurf gegen die gesellschaftliche Organisation, die ihn für sein ganzes Leben zum Elend verdammt, wagt sie nicht. Diese Mildtätigkeit, die dem Bedürftigen einen Moment lang hilft, damit er neue Kraft sammelt, gleicht der Tugend der Bäuerin, die ihr Geflügel mästet, bis es fett genug ist für die Pfanne.

Nichts hat diese blasse Tugend vollbracht, um die Menschen zu befreien. Die Rebellion, dieser Protest der Verzweiflung, ist es gewesen, die die Bande der Sklaverei zerbrach – sie allein wird auch den Arbeiter unserer Zeit entknechten, dem man alle möglichen idealen Rechte, pompöse Bürgerrechte vorgaukelt, aber das Recht auf ein gesichertes Dasein versagt … Seid überzeugt, daß nur die soziale Gerechtigkeit euch retten kann, und diese Gerechtigkeit gehört nicht zum Jenseits, sondern zum Diesseits. Mehr als tausend Jahre haben sich die Parias, im Vertrauen auf eine ewige Glückseligkeit im Himmel, hienieden mit ihrem Schicksal abgefunden. Aber der Himmel ist leer. Welcher Tor kann noch an ihn glauben? … Gott hat sich auf die Seite der Reichen geschlagen, wenn er jene des Paradieses würdig erklärt, die Bruchteile ihrer irdischen Habe verteilen. Wirklich nur Bruchteile, denn ihr Vermögen tasten sie beileibe nicht an, schelten hingegen das Verlangen der Proletarier nach Wohlstand ein Verbrechen.

Das Christentum, zu dem sie sich bekennen, ist eine große Lüge. Was jener Zimmermannssohn von Nazareth lehrte, ist entstellt und ausgebeutet worden durch die herrschenden Klassen, um ihren widerrechtlichen Besitz zu verantworten. Gerechtigkeit, Genossen, und keine Mildtätigkeit! Wohlergehen hienieden für die Entrechteten … dann mögen die Reichen getrost die Freuden des Himmels für sich reservieren, nachdem sie uns ihren Raub herausgegeben haben! Vom Himmel könnt ihr nichts erhoffen. Über unseren Köpfen existiert das Unendliche, gefühllos für menschliche Verzweiflung: andere Welten, die nichts von dem Leben der Millionen Elendswürmer auf dieser durch Egoismus und Gewalttätigkeit entehrten Erde wissen. Die Hungerleidenden, die nach Gerechtigkeit Dürstenden dürfen nur auf sich selbst bauen. Vorwärts, und ginge es in den Tod! … Nach uns werden andere kommen, denen die Ernte der durch unser Blut befruchteten Scholle beschieden ist. Setzt euch in Marsch, Bataillone des Elends, ohne einen anderen Gott als die Revolution, deren rote Sonne, Führerin aller großen Bewegungen der Menschheit, euren Weg erleuchten wird!«

Die Männer verharrten in ergriffenem Schweigen, viele mit weit aufgerissenen Augen, als wollten sie seine Sätze mit dem Blick in sich aufsaugen. Juanon und Manolo, der fliegende Händler, nickten begeistert. Was Salvatierra ihnen predigte, hatten sie auch in dieser oder jener Schrift gelesen; aber das gesprochene Wort packte sie wie eine vor Leidenschaft vibrierende Musik.

Zarandilla glaubte diesem Enthusiasmus keinen Abbruch zu tun, wenn er seinem praktischen Sinn nachgab.

»Das ist alles gut und schön, Don Fernando. Aber der Arme braucht ein Stück Land zum Leben, und das Land gehört den Herren.«

Der alte Revolutionär richtete sich stolz auf.

»Nein, mein Lieber, das Land gehört niemandem. Welche Menschen haben es erschaffen, um es sich als ihr Werk anzueignen? … Das Land gehört dem, der es bearbeitet.

Die ungerechte Verteilung der irdischen Güter, das Elend, das mit zunehmender Zivilisation wächst, die brutale Ausnutzung jeglicher technischen Erfindung, die – eigentlich zur Erleichterung der Arbeit ersonnen – sie nur noch drückender und abstumpfender macht, alle Übel, an denen die Menschheit krankt, haben dieselbe Ursache: weil einige tausend Menschen, die nicht säen, trotzdem aber ernten, das Land usurpiert haben, während Millionen dem Boden ihre ganze Kraft widmen und dennoch seit Jahrhunderten Hunger leiden.«

Salvatierras Stimme schwoll an und dröhnte in dem weiten Raum wie ein Kampfruf.

»Die Welt fängt an, aus ihrem tausendjährigen Schlaf zu erwachen; sie verkündet, daß sie in ihrer Kindheit bestohlen wurde. Das Land ist Allgemeingut – ich sage es euch noch einmal. Wenn es veredelt und seine Fruchtbarkeit erhöht wurde, so ist dies das Werk eurer schwarzen, schwieligen Hände, die euren begründeten Anspruch erhärten. Der Mensch wird geboren mit dem Recht auf die Luft, die er atmet, auf die Sonne, die ihn erwärmt – und er hat den Besitz der Erde, die ihn ernährt, zu fordern. Noch bezweifelt ihr im Bann einer tausendjährigen Knechtschaft euer Recht; noch wagt ihr nicht, die Hand zu erheben, aus Angst, daß man euch Diebe nennt. Ich aber sage euch: wer den Boden für sich allein beansprucht und ihn den anderen streitig macht, wer ihn von Mitmenschen, die er zu Tieren degradiert, bearbeiten läßt, indes er selbst müßig zuschaut – der ist der wahre Dieb!«

 

Die beiden Doggen, die nachts über Marchamalo wachten, lagen zusammengerollt, die Schnauze auf den Schwanz gelegt, unter den Arkaden. Halbwilde Tiere waren es, mit blutunterlaufenen Augen und einem Gebiß, daß einem kalt wurde.

Plötzlich sprangen sie auf, schnüffelten, und ihr muskulöser Leib straffte sich. Dann schlugen sie kurz an und fegten den Weinberg hinunter.

Lautlos warfen sie sich auf einen Mann, der abseits vom Fahrweg durch die Rebstöcke schlich. Der Anprall war fürchterlich. Der Mann schwankte, seine Manta glitt von den Schultern; doch anstatt ihre Fangzähne einzuschlagen, ließen die Doggen jäh von ihm ab und schwänzelten, ein zufriedenes Knurren ausstoßend, um ihn herum.

»Gesindel!« sagte Rafael leise und tätschelte sie. »Kennt ihr mich nicht mehr?«

Sie begleiteten ihn bis zur Höhe, wo sie sich von neuem unter den Arkaden zusammenrollten, während Rafael seine Manta wieder umlegte.

Vom Schimmer der Sterne schwach beleuchtet, ragten die Umrisse des neuen Marchamalo in den schwarzen Nachthimmel. Als Mittelpunkt das bis nach Jerez sichtbare Schloß – ein prunkvolles rotes Backsteingebäude mit einem Unterbau von hellem Sandstein, endlose, rebenbewachsene Hügel beherrschend, die den Duponts die erste Stelle unter den Großgrundbesitzern sicherten. Seine spitzen Zinnen verband eine niedrige, durchbrochene Brustwehr, und dieses mittelalterliche Zubehör gab, wie es vom Bauherrn beabsichtigt worden war, dem Ganzen das Gepräge einer Feudalburg.

Auf der einen Seite schloß sich an das Hauptgebäude die säulengeschmückte und von Marmor strotzende Kapelle. Ihr hatte Don Pablos größte Sorgfalt gegolten. Auf der anderen Seite waren zwei der alten Baulichkeiten erhalten geblieben; das einstöckige Bauernhaus mit seinen Arkaden, in dem die Familie Montenegro wohnte, und etwas abseits die geräumige Winzerherberge.

Dupont, der die besten Künstler Sevillas zur Ausschmückung seiner kirchenähnlichen Kapelle herangezogen hatte, konnte sich merkwürdigerweise nicht entschließen, auch die beiden morschen Häuser bei den Neuerungen zu berücksichtigen. »Sie sehen so malerisch aus«, meinte er, »daß es ein Verbrechen wäre, sie umzumodeln oder viel an ihnen zu reparieren.« Und so hauste der greise Aufseher weiter in seinen engen Zimmerchen, deren Baufälligkeit Maria Luz durch häufiges Tünchen zu verbergen strebte. Und wie vordem schliefen die Winzer auf dem Erdboden ihrer Herberge, während die Heiligenbilder zwischen Gold und Marmor verweilten, ohne daß sie wochenlang jemand zu Gesicht bekam. Denn nur wenn sich der Herr in Marchamalo aufhielt, waren die Portale des prächtigen Gotteshauses geöffnet.

Ein Weilchen beobachtete Rafael angespannt die Aufseherwohnung. Er fürchtete, daß plötzlich eine Kerze aufleuchten und sein Pate, durch das Anschlagen der Hunde alarmiert, am Fenster erscheinen würde. Aber alles blieb still. In den Weinbergen flüsterte der Wind; die Sterne blinzelten heftiger an dem winterlichen Himmel, als fache die Kälte ihre Glut an.

In Sicherheit gewiegt, verließ er die Terrasse und schlüpfte, um die Ecke biegend, in den schmalen Gang, der von der Hausmauer und einer Reihe dichter Feigenbäume gebildet wurde. Leise klopfte er mit dem Knöchel an ein hölzernes Fenstergitter. Fenster und Gitter öffneten sich behutsam, und Maria Luz beugte ihr liebliches Gesicht über die Brüstung.

»So spät, Rafael! … Wieviel Uhr ist es?«

Der junge Mann blickte einen Moment zum Sternenhimmel empor.

»Ungefähr halb drei.«

»Und wo hast du dein Pferd gelassen?«

»In der Taverne unten an der Chaussee; es mußte in den Stall, da ich es unausgesetzt galoppieren ließ. Ach, das war heute ein arbeitsreicher Tag! … Zuerst das Abrechnen mit den Leuten, die den Sonntag in ihrem Bergdorf verleben wollen. Und wie diese Burschen einem den Kopf heiß machen mit ihrem fortwährenden Argwohn, daß man sie übers Ohr haut! Zwischendurch mußte ich einem Kranken heiße Umschläge machen und Medizin eintrichtern. Und zu guter Letzt stellten sich noch die Hirten von der Sierra ein, um Proviant zu holen, so daß ich erst gegen Mitternacht frei war … Sobald der Morgen graut, werde ich nun wieder satteln, und dann reite ich hier vor, als käme ich geradeswegs von Matanzuela. So merkt der Pate nichts davon, daß ich an deinem Fenster gewesen bin.«

Nach dieser langen Erklärung versanken sie in Stillschweigen und blickten einander innig an, wie alle Liebenden, die getrennt waren.

»Hast du mir nichts zu sagen?« begann schließlich Rafael. »Eine ganze Woche sahen wir uns nicht, und trotzdem findest du kein liebes Wort, sondern guckst mich komisch an, als sei ich ein merkwürdiges Tierchen.«

»Was möchtest du denn hören, Schelm? Daß ich dich sehr lieb habe, daß ich von morgens bis abends an meinen Zigeuner denke? …«

Unbewußt mischte Rafael das Girren beliebter Volkslieder, alle zur Gitarre geseufzten Sehnsuchtsworte in seine Antwort.

»Möge sämtliches Leid deines Lebens über mich kommen, Herz meiner Seele, damit dir nichts als Freude blüht. Deine Lippen sind reife Kirschen, und wenn du mich anschaust, dünkt es mich, daß es die süßen Augen des wundertätigen Jesuskindes sind. Ich möchte Don Pablo Dupont sein; dann würde ich die Fässer mit den ganz alten Weinen, die Tausende von Duros kosten, auslaufen lassen. Du müßtest deine niedlichen Füße darin baden, und ganz Jerez sollte meinen Ruf hören: »Trinkt, Caballeros! Dieser Wein ist eine Gnade Gottes!« Und alle, alle würden sagen: »Du hast recht, Rafael – die Madonna selbst kann keine schöneren Füße haben!« Ah, Mädchen, wenn du mich nicht liebtest! … Nonne müßtest du dann werden, denn ich ließe keinen Mann an dich heran. Deine Tür bräche ich ein, und selbst Gott dürfte nicht über die Schwelle.«

Insgeheim freuten Maria Luz seine wilden Eifersuchtsanwandlungen mehr als seine Koseworte.

»Dummkopf!« schalt sie ihn trotzdem zärtlich. »Ich habe nur dich lieb. Wie man auf das große Los wartet, so warte ich auf den Moment, daß ich nach Matanzuela fahre, um für meinen Jungen zu sorgen. Du weißt doch, daß ich mich jeden Tag mit einem der jungen Herren in Don Pablos Büro verheiraten könnte, obwohl Doña Elvira es lieber sähe, daß ich ins Kloster ginge – aber in ein vornehmes Kloster, wo nur Vermögende aufgenommen werden. Sie selbst will alle Kosten tragen … Doch ich erklärte ihr: »Señora, ich will keine Heilige sein; die Männer gefallen mir sehr.« Jesus, Maria und Joseph, was habe ich da gesagt! Nicht die Männer – einer nur, ein einziger! Mein Rafael, der zu Pferde wie ein Sankt Georg aussieht! Ah, du … werde nur nicht gleich eitel, das mit Sankt Georg war ein Scherz. Dennoch lieber einen Topf Brotsuppe mit dir als die ganze Herrlichkeit in Jerez.«

»Gott segne dein Mündchen! Weiter, Mädchen, weiter! Ich fahre bei deinen Worten direkt in den Himmel. Glaub aber nicht, daß du etwas verlierst, wenn du mich liebst. Mag sich dein Vater auch noch so sehr fuchsen, gleich nach der Hochzeit werde ich wieder Schmuggler, um dir die Schürze mit Duros zu füllen.«

Maria Luz, die noch immer mit Grauen an jene Nacht zurückdachte, in der er totenblaß und blutüberströmt vom Pferde sank, bekreuzigte sich entsetzt.

»Nie und nimmer! … Wozu viel Geld? Sich liebhaben, darauf kommt es an. Warte ab, mein Jungchen, was für ein wonniges Nest ich dir bereite! So kann die alte Benita nicht für dich sorgen, wie ich es tun werde. Ich habe mir schon alles überlegt. Morgens früh reitest du auf die Felder, im schneeweißen Hemd, im gebürsteten Anzug. Kein Knopf fehlt an der Weste, kein Riß klafft in der Hose. Und während du draußen nach dem Rechten siehst, mache ich das Haus blank, und wenn du mittags heimkehrst, steht ein schmuckes Mädchen mit blitzsauberer Schürze und einer Blume im Haar vor der Tür. Und wie in der Küche das Essen duftet! … Vater sagt doch stets, ich könnte britzeln, daß ihm das Wasser im Munde zusammenliefe. Nachmittags werde ich nähen und flicken, das Brotbacken beaufsichtigen und mich um das Federvieh kümmern. Und abends … nun ja, abends nimmst du mich ein wenig in den Arm …«

»Gerne, gerne!« murmelte Rafael eifrig.

Ein Weilchen sahen sie sich stumm an, bis der junge Verwalter plötzlich fragte:

»Weißt du überhaupt, wann ich mich in dich verliebte? … In der Karwoche, als du sangst.«

Das Bild des Karfreitags stieg vor ihm auf: die vermummten Kapuzenträger der frommen Brüderschaften; schwarze, von flackernden Kerzen beleuchtete Banner mit den Insignien des Todes; gellende Trompetenstöße und dumpfe Kesselpauken. Düster, als sollte die Welt untergehen, zog die mitternächtliche Prozession durch die Straßen von Jerez. In der Calle Larga machte sie halt, und plötzlich ertönte eine Stimme, die dem wilden Schmuggler Tränen in die Augen trieb.

»Deine Stimme, Liebling, machte die Leute verrückt. Jemand neben mir flüsterte: »Sie ist eine Nachtigall!« Mir aber wurde das Herz schwer, ach, so schwer. Da standest du vor deinen Freundinnen, schön wie eine Heilige, und sangst mit gefalteten Händen dein Lied, die großen schwarzen Augen, in denen sich alle Kerzen widerspiegelten, zum Christus erhoben. Und ich, der ich in der Kinderzeit dein Spielkamerad war, fühlte einen Stich in der Brust. Ich blickte den Heiland neidisch an und hätte ihm sagen mögen: Herr, sei barmherzig und laß mich einen Augenblick deine Stelle am Kreuz einnehmen. Es schadet nichts, daß mich die Leute nackt sehen, wenn nur Maria Luz für mich singt.«

»Rafael, nicht so schwindeln«, mahnte lachend das junge Mädchen.

Doch er ließ sich nicht beirren.

»Dann hörte ich dich nochmals vor dem Gefängnis. Die armen Kerle drängten sich hinter den Gittern und sangen dem Gekreuzigten eine traurige Weise von der Mutter, die um sie weinte, und von den Kindern, für die niemand sorgte. Du antwortetest mit einem süßen Lied, das um Erbarmen für die Unglücklichen flehte, und da schwor ich mir, daß du mein werden müßtest. Am liebsten hätte ich den Gefangenen zugeschrien: Auf Wiedersehen, Kameraden! Wenn dieses Mädchen einen anderen wählt als mich, so steche ich ihn nieder, und übers Jahr singen wir hier gemeinsam zum Dornengekrönten.«

Maria Luz war ernst geworden.

»So etwas mag ich nicht hören, Rafael. Das heißt Gottes Langmut versuchen.«

»Schatz, es ist doch nicht bös gemeint … Wie soll ich dir beschreiben, was ich seit jener Nacht gelitten? Wie oft präparierte ich die schönsten indirekten Erklärungen, damit du begriffest, wie es um mich stand! Und du? … Du verhieltest dich wie die Schmerzensreiche Madonna, die in der Karwoche genau so blickt wie in den restlichen einundfünfzig Wochen des Jahres!«

»O du Einfaltspinsel! Ich wußte vom ersten Moment an Bescheid. Aber ein junges Mädchen darf nicht gleich mit den Augen klimpern.«

»Schweig, grausames Geschöpf! Wenn ich mit meinem Schmuggelpack durch die Sierra ritt, grübelte ich immer: Was soll ich ihr sagen, wie soll ich es ihr sagen? Stand ich dann vor dir, so ging es mir wie in der Schule: die Zunge verhaspelte sich, und im Kopf wurde es finster. Dazu die Angst, daß mir eines schönen Tages dein Vater mit den Worten: »So ein Lausbub, will meinem Töchterchen den Kopf verdrehen! …« ein paar überziehen könnte. Weißt du noch, wie sich dann die Schwierigkeit löste? Als meine Wunde heilte und wir abends unter den Arkaden saßen, fiel mir ein Vers ein, und die Augen auf dich gerichtet, sang ich:

Schon fährt toll ein Wind darein
Und durchstöbert jede Kammer –
Nur für meines Herzens Jammer
Sollte kein Erbarmen sein?

Schon setzt frisch ein Regen ein,
Netzt die ausgedörrten Sparren –
Nur für mich verliebten Narren
Sollte kein Erbarmen sein?

Schon seh' ich den Morgenschein
Alle Augen überfluten –
Nur für meiner Seele Gluten
Sollte kein Erbarmen sein?

Und während dein Vater mich mit schönen Läufen auf der Gitarre begleitete, wurdest du blutrot und senktest die Augen … Seitdem gibt es im ganzen Lande keinen glücklicheren Menschen als mich. Oh, Maria Luz, deine Augen sind zwei schwarze Sterne, und wenn du lachst, hast du auf den Backen zwei wunderliebliche Grübchen.«

In seiner Begeisterung beugte er sich vorwärts, um ins Zimmer zu klettern, gab aber den Versuch schleunigst auf, als das junge Mädchen halb lachend, halb ärgerlich drohte:

»Laß die Dummheiten, oder du bekommst eine Haarnadel zu spüren. Ich habe mich am Fenster gezeigt, weil du versprachst, daß du artig sein würdest.«

»Wie du willst, Herzlose.« Demütig neigte er den Kopf. »Du weißt eben nicht, was Liebe ist; deswegen bist du auch so ruhig, als wärst du in der Kirche.«

»Das soll ich nicht wissen?« versetzte sie. »Schon vor vielen Jahren hatte ich das Bübchen gern, das manchmal an der Hand seines Vaters bei uns auftauchte und einem richtigen kleinen Bäuerlein aus der Sierra glich. Und jetzt liebe ich dich, Rafael, weil du ganz allein in der Welt stehst. Du wirst nie über mich zu klagen haben. Hätte ich indes eines Tages das Gefühl, daß ich deiner nicht wert sei, dann, Liebster, würde ich mich von dir reißen, und wenn mir das Herz darüber bräche.«

Um den traurigen Ernst abzuschütteln, der sie zu überwältigen drohte, erkundigte sich Rafael nach dem Fest, das in wenigen Stunden in Marchamalo gefeiert werden sollte.

»Don Pablo bringt außer seiner Verwandtschaft das gesamte Büropersonal sowie eine Anzahl Küfer mit«, berichtete sie, »und hat befohlen, daß unsere dreihundert Winzer, die Sonnabends gewöhnlich ihre Familien aufsuchen, ebenfalls der Messe und der anschließenden Prozession beiwohnen. Auch Fermin darf natürlich nicht fehlen. Es wird ein Fest so recht nach dem Herzen Don Pablos«, – ein spöttisches Lächeln kräuselte den hübschen Mund. »Jetzt aber lauf, mein Junge! Der Tag naht, und Vater ist ein Frühaufsteher. Außerdem werden sich die Winzer bald rühren. Um Gottes willen, wenn uns jemand zu dieser Stunde überraschte! …«

Nach Jerez zu klaffte am Himmel ein violetter Spalt, der sich allmählich verbreiterte und die Sterne verjagte. Langsam schälte sich aus dem Nebel der Nacht die ferne Stadt heraus mit dem Baumdickicht des Tempul und ihrer weißen Häusermasse, zwischen der die letzten Straßenlaternen wie sterbende Gestirne glimmten. Der Morgenwind begann zu wehen; Erde und Pflanzen schienen sich dem Licht entgegenzurecken. Ein Vogel flatterte piepend von Rebstock zu Rebstock.

»Geh, Rafael … ich bitte dich«, drängte sie ängstlich von neuem.

»Schön, ich gehe, doch nur unter einer Bedingung …« Seine Augen funkelten vor Leidenschaft, als er, sich vorneigend, ihr etwas zuflüsterte …

»Oh, Rafael! Wie kannst du so etwas sagen!«

Das junge Mädchen verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte leise.

»Maria Luz, liebe, einzige Maria Luz, es war ja weiter nichts als ein Scherz … ein häßlicher Scherz. Gib mir eine Ohrfeige, und alles ist wieder in Ordnung.«

Sein Betteln lockte ein Lächeln auf ihr tränenfeuchtes Gesicht.

»Ich verzeihe dir, Rafael. Doch nun geh!«

»Erst gib mir die Ohrfeige, damit ich weiß, daß du mir wieder gut bist.«

»Eine Ohrfeige? … Gut, da hast du sie.«

Eine weiche Hand tätschelte seine Backe, aber ehe sie von neuem im Fenster verschwinden konnte, griff er zu und lutschte der Reihe nach an jedem einzelnen Finger.

Mit einem heftigen Ruck befreite sie ihre Hand und schloß das Fenster. Und nachdem der junge Verwalter noch ein Weilchen auf die unbarmherzigen glatten Scheiben gestarrt hatte, die ihn von seiner Liebsten trennten, stahl er sich aufseufzend im Schutz der Reben bergab.

Erst geraume Zeit später erwachte Marchamalo zum Leben.

Als erster erschien der Aufseher, den die Hunde mit tiefem Bellen fröhlich umsprangen, und allgemach steckten auch die zurückbehaltenen Winzer verdrießlich ihre Nase in die frische Morgenluft.

»Hoffentlich beschert uns der liebe Gott einen schönen Tag!« sagte der Alte. Doch sie schenkten dem wolkenlosen Himmel keinen Blick, sondern brummten irgend etwas Unverständliches vor sich hin oder zuckten die Schultern wie Gefangene, denen es gleichgültig ist, ob außerhalb ihrer Kerkermauern Schlössen fallen oder die Sonne lacht.

Jetzt sauste ein Reiter im Galopp die Anhöhe hinauf.

»Du bist ja früh aus den Federn, Rafael … man merkt, wie dir Marchamalo am Herzen liegt!« begrüßte ihn sein Pate mit gutmütigem Spott.

Der Himmel war zu einem reinen Blau geworden, und am Horizont kündete ein scharlachrotes Band den Aufgang der Sonne an.

Aber noch reichlich zwei Stunden verstrichen, ehe Pedro, der vom höchsten Punkt des Hügels aus die Landstraße beobachtete, auf dem hellen Band eine mächtige Staubwolke gewahrte.

»Sie kommen!« rief er den Winzern zu. »Empfangt den Herrn bitte, wie es sich ziemt.«

Und seiner Anweisung gemäß bildeten die Grollenden auf beiden Seiten der Auffahrt ein viergliedriges Spalier.

Don Pablo hatte dem Feste zu Ehren sämtliche Remisen und Stallungen ihres Inhalts beraubt: Pferde- und Maultiergespanne, die edlen Reitpferde, dazu die silberbeschlagenen Geschirre und Wagen jeglicher Gattung, die er mit der Verschwendung des Millionärs, der keine anderen Möglichkeiten sieht, der Vaterstadt seinen Reichtum besser vor Augen zu führen, meistens aus England bezog.

Er selbst entstieg einem vierspännigen Landauer und reichte sofort dienstbeflissen seine Hand einem Geistlichen mit rosigem Gesicht, in dessen seidener Soutane sich die Sonne spiegelte; erst als er sich überzeugt hatte, daß dieser wohlbeleibte Diener der Kirche ungefährdet auf ebener Erde gelandet war, kümmerte er sich um Mutter und Frau, beide in schwarzer Spitzenmantilla.

Die Winzer hatten zur Begrüßung den Hut abgenommen. Dupont lächelte zufrieden, während der Geistliche nach einem wohlwollenden Blick dem Gutsherrn schmeichlerisch zutuschelte: »Scheinen brave Leute zu sein. Wie wäre es auch anders möglich, da doch ihr Arbeitgeber ihnen mit wahrhaft christlichem Beispiel vorangeht? …«

Unter Schellengebimmel, Hufstampfen und Geschnaube setzte ein Wagen nach dem anderen seine Insassen auf der Terrasse ab, wo Don Pablo sie willkommen hieß. Eine glänzende Kavalkade bildete den Schluß. Sogar Vetter Luis war erschienen, freilich sehr übernächtig, weil er erst gegen Morgen die fragwürdige Gesellschaft seiner Zechbrüder verlassen hatte, um an dem Feste teilzunehmen und sich hierdurch bei Don Pablo angenehm zu machen, dessen Protektion er wegen einer Geldschwierigkeit brauchte.

Als der Herr von Matanzuela die schlanke Gestalt Maria Luz' unter den Arkaden erblickte, stürmte er sogleich auf sie los und stieß Köche und mit Körben beladene Diener, die um ihre Anweisungen für das Festmahl baten, rücksichtslos beiseite.

Fermin Montenegro hatte die Fahrt gemeinsam mit dem Bürochef Don Ramon zurückgelegt, und beide suchten wie auf Verabredung eine entlegene Ecke auf, als wollten sie dem Machtbereich des herrischen Gebieters entfliehen.

Die Glocke der Kapelle sandte ihren ersten Ruf über das sonntägliche Land. Zwar wurden keine fremden Kirchgänger erwartet, aber Don Pablo hatte trotzdem dreimaliges »gründliches und ausdauerndes« Läuten angeordnet. Für ihn bedeutete das metallische Dröhnen die Stimme Gottes, die sich über seine Weinberge verbreitete und sie beschützte, wie es in Anbetracht der Frömmigkeit des Besitzers nicht anders zu erwarten war.

Inzwischen hatte der Geistliche den alten Pedro zu sich herangewinkt und hielt an seiner Seite vom Rand der Terrasse aus Umschau.

»Wie erhaben ist doch die Vorsehung des Allmächtigen!« rief er, mit seiner rundlichen Hand über das sonnengebadete Land weisend. »Welch herrliche Dinge er schafft, nicht wahr, mein guter Freund?«

Pedro Montenegro betrachtete den wohlgenährten Herrn verstohlen … Also so sah sie aus, diese letzte Errungenschaft Don Pablos, von der schon die Kunde bis nach Marchamalo gedrungen war! Ein Jesuitenpater, der sich eines großen Rufes als Kanzelredner erfreute, im übrigen aber wohl den Annehmlichkeiten des Lebens nicht gerade aus dem Wege ging …

In seiner Schwärmerei für die Seelsorger war Dupont wankelmütig und wetterwendisch wie der leichtfertigste Liebhaber. Eine Zeitlang schwor er auf die Patres der Gesellschaft Jesu und fand, daß nur in ihrer Kirche Messe nebst Predigt gut und würdig seien. Urplötzlich, müde der Soutane, bezauberte ihn die Kutte, worauf er seinen Geldschrank und das Portal seiner Villa Karmelitern, Franziskanern und Dominikanern auftat. Beinahe bei jedem Besuch in Marchamalo begleitete ihn ein neuer Priester, dessen Gewandung dem alten Pedro verriet, welchen Orden sein Brotherr gerade bevorzugte. Schwarze Kutten, weiße Kutten, braune Kutten hatten auf dem Seidenpolster seiner Equipage gesessen. Sogar ein langbärtiger Missionar, der aus fernen Landen stammte und kaum ein Wort Spanisch konnte, hatte in dem Reigen nicht gefehlt, und der Aufseher wurde in einem geeigneten Moment der freundschaftlichen Aufklärung für würdig befunden:

»Er ist ein wahrer Held des Glaubens, Pedro! Kommt gerade von der Heidenbekehrung und soll Wunder verrichtet haben. Wenn ich nicht seine Bescheidenheit dadurch beleidigte, würde ich ihn bitten, seine Kutte aufzuschürzen, damit du die Narben der erduldeten Marter sähest!«

Duponts Meinungsverschiedenheiten mit Doña Elvira fußten stets darauf, daß die von ihr erkorenen Favoriten nicht zur selben Zeit auch die seinen waren. Trat er für die Jesuiten ein, so hob die edle Schwester des Marquis de San Dionisio die Franziskaner in den Himmel, indem sie das ehrwürdige Alter dieses Ordens im Vergleich zu den späteren Stiftungen zitierte.

»Du irrst, Mama!« entgegnete er, seinen durch den kleinsten Widerspruch gereizten Jähzorn mühsam bändigend. »Wie kannst du Bettelmönche dem gelehrtesten Orden der Kirche an die Seite stellen?«

Schlug sich die fromme Dame jedoch auf die Seite der Gelehrten, so pries ihr Sohn, fast weinend vor Rührung, den heiligen Einsiedler von Assisi und seine Söhne, die Franziskaner, die den Gottlosen Lektionen über wahre Demokratie erteilen konnten und die auch einmal unverhofft die ganze soziale Frage lösen würden.

Augenblicklich aber hatte sich die Wetterfahne seiner Inbrunst restlos dem Pater Urizabal zugewandt. Ein Baske … ein Landsmann des unvergleichlichen Sankt Ignatius! …

Der Pater, den meist einförmige Klostermauern umschlossen, genoß in ehrlicher Bewunderung die Großartigkeit der Natur. Er kargte nicht mit seinem Lob, wollte belehrt sein über den Weinbau, über den Ertrag, über die verschiedenen Arbeiten, so daß der alte Pedro – in seinem Winzerstolz geschmeichelt – seinen Freund Salvatierra einer etwas ungerechten Beurteilung der Jesuiten zieh.

»Oh, Hochwürden, kein anderes Weingut kann sich aber auch mit Marchamalo messen!« Und bereitwillig schilderte er die Pflege, die man diesem Kalkboden angedeihen ließ, dem der Ruhm des Landes, die weiße Traube mit ihren durchsichtigen, auffallend kleinen Beeren, entsproß. »In den drei letzten Monaten des Jahres werden die »Weihwasserkesselchen« gegraben, runde Löcher rings um jeden Rebstock – zum Auffangen des kostbaren Regens bestimmt. Zur selben Zeit erfolgt das Ausholzen. Und dabei gibt's alljährlich wieder erregte Konflikte, Hochwürden, weil die Weingutsbesitzer die Benutzung von Baumscheren vorschreiben, die Winzer hingegen sich von dem altgewohnten Schlagmesser nicht trennen wollen. Januar und Februar wird alles tief umgegraben und hinterher geglättet, als wäre eine Rasierklinge drüber hingefahren. Im März heißt es das Unkraut jäten, das während der Regenzeit aufschießt, wobei der Boden gleichzeitig eine Auflockerung durch die Hacke erfährt; im Mai kommt das Schwefeln an die Reihe, um die Rebstöcke vor dem Meltau zu schützen, der die Beeren hart macht, und im Lauf der beiden folgenden Monate endlich wird der Boden festgestampft, damit er seinen ganzen Saft behält und ihn den Reben zuführt. Wollen Hochwürden sich bitte unser Erdreich einmal ansehen? …«

Pedro bückte sich und schöpfte eine Handvoll jener Erde, die Gold wert war: winzige Kalkklümpchen, ein weißes Mehl ohne die Spur einer Parasitenpflanze. Gelockert, geglättet, gekämmt dehnte sich der Boden zwischen den endlosen Reihen der Rebstöcke wie der schwellende Teppich eines Salons. Und die Hügel, die zu Marchamalo gehörten, verloren sich am Horizont – fürwahr, eine unheimliche Arbeitsleistung!

Auf dem Pfade unterhalb der Terrasse wurde gleichfalls von dem Weinland gesprochen und die Initiative Don Pablos hervorgehoben, die ihn mit dem Herkömmlichen brechen und amerikanische Reben anpflanzen ließ. Die neuen Stöcke paßten sich überraschend gut dem fremden Boden an, und damit der Himmel auch weiterhin ihre Entwicklung begünstigen möge, hatte der Herr von Marchamalo das heutige Fest veranstaltet.

»Der Wein steht an der Spitze aller Getränke, die der Mensch zu seiner Stärkung und zu seiner Erholung gebraucht«, sagte Don Ramon, der vom Leben besiegte Intellektuelle, zu Fermin Montenegro. »Schon die Sänger der alten Griechen und Römer haben ihn gefeiert, die Maler haben ihn verherrlicht und die Ärzte ihn gerühmt. Im Wein findet der Dichter Inspiration, der Soldat den Mut zum kühnen Wagnis, der Arbeiter Kraft, der Kranke Gesundheit. Weder die griechischen Heroen noch ihre bewunderungswürdigen Dichter könnten wir uns ohne den Anreiz der Weine von Zypern und Samos erklären, und des alten Roms freie Sitten blieben uns ohne die Falerner und Syrakuser Feuerweine unverständlich. Würde der aragonesische Bauer je Zaragoza so heroisch gegen die anstürmenden Mauren verteidigt haben, wenn ihm nicht über Schlaf und Hunger sein Becher Wein hinweggeholfen hätte? … Gewiß, auch andere Länder erzeugen Weine, aber der Jerez ist unbestreitbar das edelste Gewächs, nicht wahr, Fermin?«

Sein Begleiter nickte. All diese Lobpreisungen kannte er zur Genüge aus den großen illustrierten Katalogen der Firma – in Weiß und Blau, den Farben der Madonnen Murillos, gehalten – oder aus den Prospekten, Werbeschriften und ganzseitigen Annoncen, die ebenfalls der Feder des ehemaligen, vom Glück gemiedenen Journalisten entstammten und den Ruhm der Dupontschen Weine in solch pomphaftem Wortschwall verkündeten, daß man manchmal schwanken konnte, ob es dem Verfasser Ernst war oder ob er sich einen Scherz mit dem Publikum erlaubte. Denn nichts weniger behaupteten diese Ergüsse, als daß der Wein von Jerez ebenso unentbehrlich sei wie das Brot und daß alle, die ihn nicht tränken, ein vorzeitiger Tod erwarte.

»Seinen Freund empfängt der Engländer mit der Flasche Jerez – Sherry nennt er ihn«, klang es weiter an Fermins Ohr. »Mit Jerez stärkt man die Rekonvaleszenten in den nordischen Ländern und die Fieberkranken in den Tropen. Die Seeleute loben ihn als Mittel gegen den Skorbut, und die Missionare haben in Australien zahllose durch Klima und Entbehrungen verursachte Fälle von Blutarmut mit ihm geheilt … Und wie haben wir dieses Wunder zu erklären? Der Rebensaft von Jerez vereinigt in sich den natürlichen Alkohol des Weins, Tannin und gewisse nur ihm eigene ätherische Substanzen, die den Appetit heben und den Schlaf herbeilocken … Anreizend und beruhigend! In welchem anderen Erzeugnis – dem Auge wie dem Gaumen gleich angenehm – findet man diese beiden Eigenschaften vereint? …«

Don Ramon schöpfte Atem, aber sein Blick wich nicht von Fermin, als sei dieser ein schwer zu überzeugender Gegner.

»Was für ein Panschgemisch aber wird nicht in London und Berlin als Jerez verkauft! … Gegen diesen Betrug müssen wir laut protestieren, Señores. Der Jerez gleicht dem Gold; es mag rein, hochkarätig oder arm sein – nimmermehr jedoch können wir zugeben, daß man Dublee als Gold bezeichnet. Nur die Bodegas von Jerez, die den Wein selbst keltern und ablagern, exportieren die legitimen Marken. Und das führende Haus unter diesen makellosen Firmen ist Gebrüder Dupont. Anderthalb Jahrhunderte haben die Duponts alles darangesetzt, nur das Beste vom Guten …«

»Aber Don Ramon … Don Ramon! …« unterbrach ihn Montenegro lachend. »Ich bin doch kein Käufer!«

Der Bürochef schien aus seinem rednerischen Taumel zu erwachen. Er lachte ebenso herzlich wie sein Untergebener.

»Nichts für ungut, Fermin … Sie haben ja dergleichen hundertmal in unseren Druckschriften gelesen, doch wollen Sie leugnen, daß es als Reklame gar nicht so übel ist? Und da wir genialen Propagandisten uns einbilden, daß das ganze Geschäft von uns abhängt«, setzte er, sich selbst verspottend hinzu, »sind wir im Gefühl unserer Wichtigkeit immer eins, zwei, drei wieder bei demselben Thema angelangt. Aber nun genug davon! … Eigentlich beneide ich Sie, Fermin, daß Sie jeden Sonntag hier draußen verleben. Wie schön das alles wieder angewachsen ist! Nun mag die Reblaus kommen, an die amerikanischen Reben geht sie nicht.«

»Ohne Umschweife, Don Ramon – wem vertrauen Sie mehr: der Widerstandskraft der amerikanischen Reben oder dem Segen, den der Jesuit ihnen nachher erteilen wird?«

»Junge! Junge!« Der Ältere blickte unruhig in die Runde und erwiderte leise, als könnten ihn die Rebstöcke belauschen: »Warum diese verfängliche Frage? Sie wissen doch, Fermin, daß ich die Augen schließe und den Dingen ihren Lauf lasse. Das Haus Dupont ist meine Zufluchtsstätte. Würde ich daraus verwiesen, so müßte ich mit meinen Kindern wieder zurück in die verzweifelte Misere von Madrid. Ich bin hier wie ein Vagabund, der einen guten Futternapf und Unterkunft fand und sich nicht erlaubt, an seinen Wohltätern Kritik zu üben. Aus der Kampfarena, Fermin, bin ich ausgeschieden. Viele von jenen Aufrechten, mit denen ich einst Elend und Begeisterung teilte, sind ihrer Vergangenheit treu geblieben; aber jene sind zu Helden geboren, während ich ein armseliger Mensch bin, dem der Magen knurrte. Man wird es auch müde, für Aufklärung zu kämpfen und zu schwitzen und zu ewiger Armut verdammt zu sein. Und da ich überzeugt war, daß die Welt über meinen Abgang nicht aus den Fugen geriet, ja nicht einmal von meiner Existenz ahnte, packte ich meine Ideale schön säuberlich ein und beschloß, mich satt zu essen.«

Don Ramon glaubte in Montenegros Augen einen Widerwillen vor solchem Zynismus zu lesen und fuhr hastig fort:

»Trotzdem bin ich derselbe geblieben. Nur ein wenig an der Oberfläche kratzen, Fermin, und der alte Mensch kommt zum Vorschein. Man wechselt das Gewand, aber die Seele nie! Religion? Wer überhaupt einmal zweifelte, die Vernunft zu Worte kommen ließ und kritisierte, kann nie wieder zu dem blinden Glauben der Frommen zurückkehren. Wenn ein Mann in meiner Situation von seiner Gläubigkeit spricht, so sollen Sie wissen, daß er lügt … sei es aus Interesse, sei es, daß er sich selbst zu täuschen sucht, um sein Gewissen einzulullen. Mein lieber junger Freund, das Brot, das ich esse, kostet mich viele Erniedrigungen, über die ich vor mir selbst erröte. Ich mich beugen, der ich früher sofort wie ein Igel die Stacheln zeigte! Oh, das ist bitter … Aber was soll ich tun? Fünf Töchter verlangen von mir gutes Essen, hübsche Kleidung, bis sie sich endlich einen Mann geangelt haben. Und bevor ihnen dies nicht geglückt ist, muß ich für sie sorgen – und sollte ich deshalb stehlen!

Ihr jungen Leute, Fermin, versteht das nicht, wie auch ich es früher nicht verstanden hätte. Jedoch jetzt habe ich mich zu einem stillen, wohlgenährten Haustierchen verwandelt, das zusieht, wie andere sich für die große Revolution aufopfern. Und wenn ich meinen alten Genossen Salvatierra sehe, wie er mitten im Winter ein dünnes Sommerjäckchen trägt, von Brot und Käse lebt, von der Polizei auf Schritt und Tritt belästigt wird und wie in jedem Gefängnis unserer Halbinsel eine Zelle für ihn bereitsteht, so kann ich meine Wandlung nicht einmal bereuen. Möglich, daß er trotz allem eines Tages siegt und Spanien befreit. Dann werden nicht nur, wie jetzt, die Zeitungen über ihn schreiben, sondern sein Name wird für ewige Zeiten im Buch der Geschichte verzeichnet sein. Doch, wie gesagt, solch ein Held bin ich nicht. Ich freue mich meines bequemen Sessels im Büro und des Wohlwollens von Don Pablo, der von einer fürstlichen Freigebigkeit ist, sofern man die Kunst beherrscht, sich ihm anzupassen.«

Die Glocke begann zum dritten Male die Gläubigen zu mahnen, so daß Fermin einer Antwort überhoben wurde. Von den Stufen der Kapelle warf Don Pablo einen letzten Blick auf seine herbeiströmende Herde und verschwand dann hastig in das dämmerige Innere, da er zur besonderen Erbauung der Leute als Messediener amtieren wollte.

Bald war das ganze Schiff mit Winzern gefüllt, von denen die meisten ihr Mißvergnügen so offen zur Schau trugen, daß sogar Dupont hätten Zweifel befallen müssen, ob sie ihm für die ihnen zugedachte Aufmerksamkeit Dank wußten. Seitwärts vom Altar hatten auf rotseidenen Sesseln die Damen des Hauses nebst den Verwandten Platz genommen, hinter ihnen alle Büroangestellten. Und überall blühten in verschwenderischer Fülle die schönsten Treibhausblumen und mischten ihren Duft in das Weihrauchgekräusel und den Schweißgeruch der zusammengedrängten Arbeitermasse.

Dann und wann riß sich auch Maria Luz einen Augenblick aus der Küche los, um von der Tür aus ein »Schnippelchen der Messe« zu erspähen. Aber eigentlich reckte sie sich nur um Rafaels willen auf die Zehenspitzen. Er stand neben ihrem Vater auf den Stufen, die zum Altar führten … gleichsam als Barriere zwischen den Vornehmen und dem gemeinen Volk. Ob der junge Verwalter seine Braut gewahr wurde, war schwer zu sagen; jedenfalls ließ er sich nicht in seiner Andacht stören. Luis Dupont hingegen entdeckte sie rasch, und auf die hohe Rückenlehne von Doña Elviras Sessel gestützt, scheute er sich nicht, ihr lustig zuzuwinken. Unverbesserlicher Schwerenöter! Bis zum letzten Glockenton hatte er in der Küche seine Allotria mit ihr getrieben, als steckten sie beide noch wie ehedem in den Kinderschuhen.

Die Messe nahm ihren Fortgang. Doña Elvira schwoll das stolze, kalte Herz vor Rührung, als ihr Sohn – so demütig wie der Ärmste der Armen – dem geweihten Priester des Herrn als Chorknabe diente. Wenn alle Reichen sich wie dieser Millionär verhielten, bei Gott, die Gefühle der Arbeiter, die jetzt Gehässigkeit und Rachsucht atmeten, würden sich ändern! … Und von der Seelengröße ihres Pablos überwältigt, beugte sie den Kopf, um den aufsteigenden Tränen freien Lauf zu lassen.

Nach dem Segen drängte sich der Aufseher von Marchamalo eilig durch die Menge, öffnete einige am Portal aufgestapelte Kisten und versorgte jeden der Winzer mit einer Wachskerze. Die Arbeiter – wenige nur hatten eine Jacke, meist waren sie in Hemdsärmeln und trugen ein rotes Halstuch – bildeten eine Doppelreihe, und dann sah die Februarsonne, die hell am wolkenlosen Himmel strahlte, verwundert Hunderte von kleinen rötlichen Pünktchen aufblinken und sich langsam hügelabwärts bewegen.

Der alte Pedro Montenegro führte die Prozession. Schon hatte er die Mitte des langen Abhangs erreicht, als im Portal der Kapelle die interessanteste Gruppe erschien: Pater Urizabal in goldüberrieseltem und mit farbigen Nelken besticktem Chormantel; an seiner Seite Pablo Dupont, der seine lange Kerze wie einen Degen präsentierte und gebieterisch umherschaute, ob auch alles einen würdigen Verlauf nahm. Unmittelbar hinter den beiden, sozusagen als Ehrengefolge, marschierten die ganze Verwandtschaft und der Bürostab aus Jerez.

Pater Urizabal öffnete jetzt das an seine Brust gepreßte Ritual Romano und begann die Litanei von allen Heiligen vorzutragen – die große Litanei, wie sie von den Dienern der Kirche benannt wird.

»Heiliger Michael!«

»Bitte für uns!« antwortete Don Pablo mit fester Stimme, nachdem er durch einen raschen Blick seiner Umgebung befohlen hatte, es ihm nachzusagen. Und das »Bitte für uns!« pflanzte sich fort bis zur Spitze der Prozession, wo der Aufseher dem Chor der Winzer den Takt angab.

»Heiliger Rafael!«

»Bitte für uns!«

»Alle heiligen Engel und Erzengel!«

Nun, da mehrere Heilige angerufen wurden, reckte Dupont den Kopf und rief lauter als vorhin, damit ja niemandem ein Irrtum unterliefe:

»Bittet für uns!«

Aber nur seine nähere Umgebung folgte der Anweisung. Der restliche Teil der Prozession stampfte gleichgültig weiter, und aus ihren Reihen schallte eine Antwort von kaum verschleiertem Hohn. Der wehleidigen Zeremonie überdrüssig, suchten sich die Winzer auf eigene Faust zu vergnügen und entgegneten entweder im tiefsten Baß, daß es wie Donnergrollen klang, oder in den höchsten Fisteltönen einer Greisin.

»Heiliger Jakob!«

»… f'r uns«, brummten die Winzer, mit scheinheiligem Gesicht die Entgegnung möglichst verkürzend,

»Heiliger Barnabas!«

»… fruns!« spöttelten sie. Noch mehr beschnitten war jetzt der Satz.

Da hielt es der alte Pedro doch für seine Pflicht, einzuschreiten.

»Benehmt euch, ihr Frechdachse«, mahnte er, sich umdrehend. »Sonst merkt der Herr, daß ihr ihn aufzieht.«

Unnötige Sorge! Marchamalos Herr war viel zu eifrig bei der Sache, um etwas zu merken. Wie bei nächtlichem Hin und Her verspätete und durch den Tag überraschte Irrlichter zitterten die Flammen der Kerzen ohne Farbe und ohne Glanz; der Umhang des Jesuiten blitzte in der Sonne wie die Schale eines riesigen Käfers, weiß, rot und gold. Aber Dupont sah nur zwei Reihen devoter Männer, die sich durch seine Reben schlängelten, hörte nichts als die feierliche Stimme des Priesters.

»Wunderschön, nicht wahr?« seufzte er, als beim Umblättern eine kleine Pause eintrat.

»Erhebend«, beeilte sich Don Ramon zu erwidern.

Doch trotz aller Ergriffenheit vergaß Pablo Dupont weder eine einzige Antwort der Litanei, noch unterließ er es, auf den Pater achtzugeben. Bald nahm er ihn vorsichtig am Arm, um ihn über abschüssige Stellen zu geleiten, bald hielt er vorspringende Zweige zurück, damit sich das goldene Gewand nicht verfing.

»Vom Zorn, Haß und allem bösen Willen!« psalmodierte der Pater Urizabal.

Die Antwort mußte nun anders lauten, und Dupont samt den Seinigen entgegnete auch richtig:

»Erlöse uns, o Herr!«

Jedoch die große Menge weigerte sich mit spöttischer Hartnäckigkeit, von der alten Entgegnung abzuweichen.

»Vom Geist der Unzucht!« fuhr der Geistliche fort.

»Erlöse uns, o Herr!« erklang es hinter ihm, während von vorn das Echo dröhnte:

»F'r uns … uuuns!«

Mittlerweile war die Prozession, wieder hügelaufwärts steigend, bei einer Zisterne angelangt, über der ein großes eisernes Kruzifix zum Himmel ragte. Hier wurden die Leute im Kreis aufgestellt, und als Dupont ankam, gab er seine Kerze ab, um mit bebenden Händen nach Weihwasserkessel und Wedel zu greifen – er selbst würde dem gelehrten Freunde als Sakristan dienen. Jener Moment, den er sich als Höhepunkt des Festes ausgeklügelt hatte, nahte, und die Winzer rissen in der Erwartung von etwas Außerordentlichem die Augen weit auf.

Aber es dauerte noch ein Weilchen, denn der Pater blätterte in seinem Ritual herum, ohne auf das für diesen Spezialfall Zutreffende zu stoßen. Die Kirche ist jedoch für alle Lebenslagen gewappnet – sie hat Gebete sowohl für die gebärenden Frauen als auch für neue Häuser; sowohl für das Bett der Jungvermählten als auch für den Stapellauf von Schiffen; sie hat Gebete um Wasser, Licht, Brot, Eier und alle Arten von Brennstoff. So fand denn auch Pater Urizabal, was er brauchte: Segen über Früchte und Trauben.

Und Dupont blähte sich vor Stolz bei dem Gedanken, daß die Kirche ein lateinisches Gebet für seine Weinberge bereit hielt, als habe sie schon vor Jahrhunderten geahnt, daß einstmals in Jerez ein Knecht des Herrn ihre Fürbitte benötigen würde.

»Oremus!« Noch feierlicher als bei der Litanei, empfahl der Priester die Trauben bis zu ihrer Reife dem Schutz des Höchsten … »Per Dominum nostrum Jesum Christum!«

»Amen!« schloß Dupont, dem Pater den Wedel reichend.

Und dieser tauchte ihn in den Weihwasserkessel und reckte sich, um die Gefilde besser zu überschauen.

»Asperges …« – ein geweihter Sprühregen fiel nach vorn. »Asperges« – der Wedel fuhr nach rechts, fuhr nach links.

Dann raffte der Priester mit einem freundlichen Lächeln für die Señoras seinen Chorrock zusammen und schritt zur Kapelle zurück.

»Nu können wir woll verduften«, meinte phlegmatisch ein alter Winzer.

»Wartet einen Augenblick.« Pedro Montenegro rannte Don Pablo nach, um ihn zu befragen. Gleich darauf brachte er den Bescheid:

»Für euch ist das Fest zu Ende. Schnell, lauft jetzt zu euren Familien; aber ich bitte mir aus, daß ihr heute abend alle zurück seid. Morgen geht es sehr früh an die Arbeit … Die Kerzen dürft ihr behalten«, fügte er hinzu. »Der Herr schenkt sie euch, damit eure Frauen sie zu Hause als Andenken bewahren.«

Das Bankett im Schloß war angerichtet. Doch Don Pablo, der den Arbeiterscharen nachblickte, versicherte, daß seine Seele noch völlig im Bann des eben Erlebten stände und er noch nicht essen könne.

»Welch herrlicher Tag, meine Lieben!« rief er. »Herren und Arbeiter, reich und arm in Gott vereinigt und einander in wahrer christlicher Nächstenliebe zugetan. Im übrigen aber jeder mit dem Platz zufrieden, auf den ihn der Allmächtige gestellt hat, und nicht nach etwas anderem begehrend …«

Seine Winzer hatten es eiliger als er; manche sprangen in großen Sätzen den Abhang hinab. Die ganze Woche hatten sie geschuftet, immer im Gedanken an den Sonnabend, der ihnen die Wärme des Familienlebens, ihren einzigen Trost, bringen würde. Und nun? Betrogen um eine ganze Nacht und einen halben Tag! Nur wenige Stunden blieben ihnen, wenn sie sich bei Anbruch der Dunkelheit wieder einstellen sollten. O erbärmliche, nichtswürdige Schinderei!

 

Als Fermin Montenegro an einem Sonnabendnachmittag das Büro verließ, begegnete er seinem einstigen Lehrer, der einen weiten Spaziergang außerhalb der Stadt machen wollte.

Salvatierra war den größten Teil des Tages durch englische Übersetzungen und Artikel für die sozialistische Presse an den Schreibtisch gefesselt. Das Honorar, das ihm diese Tätigkeit einbrachte, reichte nicht nur für seine eigenen bescheidenen Ansprüche und die Unterstützung des Genossen, in dessen Häuschen er wohnte, sondern ermöglichte es ihm auch, stets eine kleine Reserve für andere Bedürftige bereit zu halten. Und die Zahl derer, die sich in der Not an ihn wandten, war nicht gering.

Seine einzige Erholung nach getaner Arbeit waren die Spaziergänge. Mehrstündige, schon eher Ausflüge, so daß er häufig ganz unvermutet in einem meilenweit entfernten Gehöft auftauchte. Freunde und Bekannte scheuten sich meist, den unermüdlichen Wanderer zu begleiten, der das Gehen als Gesundbrunnen und Lebensverlängerer pries und als bestes Beispiel für die Richtigkeit seiner Theorie den Philosophen Kant zitierte.

»Darf ich mich Ihnen anschließen, Don Fernando?« fragte Fermin, von der milden Frühlingsluft verlockt.

»Gern. Nur wird Dupont dich abkanzeln, wenn er es erfährt.«

Der junge Mann zuckte mit den Achseln.

»Was tut's? Solche Strafpredigten nehme ich nicht mehr ernst.«

Als die Stadt hinter ihnen lag, folgten sie eine Zeitlang den Umzäunungen von kleineren Weingärten, deren farbenfrohe Sommerhäuschen durch das Frühlingslaub alter Baumgruppen lugten. Und dann tat sich die Ebene von Caulina vor ihnen auf, eine grüne Steppe. Kein Baum, kein Gebäude. Bis zur dunstigen Ferne der Berge, die den Horizont abschlössen, erstreckte sie sich – ein unbestellter, wilder Landstrich mit der Feierlichkeit unberührter Erde.

Ein dichter Filz von schlechtem Gras und Kräutern überzog den Boden; sein dunkles Grün hatte der Frühling jetzt mit dem Weiß und Rot der Wiesenblumen gespickt. Am Wegrand spreizten Aloe und wilde Feige, die widrigen, rauhen Kinder der Wildnis, ihr spitzes Gezweig. Gleich schwarzen Warzen beulten sich verstreut auf dieser glatten Steppenhaut die Ranchos der Hirten, aus Laubwerk erbaut und mit so niedrigem Dach, daß man eher an den Unterschlupf von Reptilien als an menschliche Behausungen dachte. Wildtauben tummelten sich am Himmel, dessen Wolken die untergehende Sonne mit Gold verbrämte.

Auf dieser Ebene, die das Auge nicht zu erfassen vermochte, bewegten sich Stiere mit gemächlichem Schritt oder lagen, wie aus einer Spielzeugschachtel herausgeschüttelt, unbeweglich am Boden. Und das ferne Läuten der Leittiere erhöhte noch die melancholische Note dieser toten Landschaft.

»Schau, Fermin!« lachte Salvatierra spöttisch auf. »Da hast du das fruchtbare Andalusien! … Während zahllose Menschen sich vor Hunger krümmen, bleibt in allernächster Nähe einer zivilisierten Stadt eine Fläche, die Hunderte von Familien ernähren könnte, den Tieren vorbehalten. Und welchen? Ah, nicht etwa dem Ochsen, einem nützlichen Haustier, sondern dem Stier, der einst in der Arena zur Belustigung der Städter kämpfen soll und dessen Wildheit vom Züchter noch gepflegt und gefördert wird. Natürlich, der Stierkampf ist viel wichtiger als das Wohlergehen des Proletariats! … Als ich mir vor Jahren den Vorschlag erlaubte, diese riesige Ebene durch Kanäle vom Fuß des Gebirges aus zu bewässern und die ganze Horde verzweifelter Arbeitsloser anzusiedeln, nannte man mich einen Tollhäusler!

Ach, Fermin, man kann es nie genug predigen, daß der Großgrundbesitz ein Verderb für Spanien ist. Er richtet es zugrunde; es verarmt unter seiner brutalen Faust. Nichts als Gutshöfe mit Söldnern des Elends, die sofort ersetzt werden, wenn sie durch Alter oder Strapazen geschwächt sind. Das ganze Leben konzentriert sich in der Stadt, und nur zur Saat und Ernte bevölkert sich das Land. Sind diese Arbeiten beendigt, so fällt ein Todesschweigen über das ungeheure Gelände – die Massen ziehen wieder hinauf in ihre Bergdörfer, um von weitem die harte Bedrückerin, die Stadt, zu verfluchen.«

Salvatierra drehte sich um und betrachtete das ferne Häusermeer, das in leuchtender Weiße vor dem rosigen Abendhimmel stand.

»O Jerez! Stadt der Millionäre, umringt von einem unbeschreiblichen Elend! … Seltsam fürwahr, daß man an dich, die du über Menschennot lachst, noch nicht Feuer gelegt hat …«

Das ganze zu Jerez gehörige Land – fast so groß wie eine Provinz – war unter achtzig Eigentümer verteilt. Entweder zählten sie zur Adelskaste und verdankten ihren Besitz den Vorfahren, die mit der Lanze auf die Mauren losgaloppierten, oder es waren politische Drahtzieher, denen die Regierung als Dank für tätige Wahlhilfe riesige Staatsländereien schenkte. Und meist verwandelten die neuen Herren diese Gebiete schleunigst in Weiden. Ob dabei Dörfer ruiniert, ob Familien, die vorher von diesem Boden gelebt hatten, in die Taglohnsklaverei getrieben wurden, wen kümmerte das? … An manchen Stellen der Sierra traf man Siedlungen mit zusammenstürzenden Häusern, verödet, verlassen, als sei die Pest hindurchgezogen.

»Im übrigen Andalusien ist's zwar nicht viel besser bestellt«, fuhr Salvatierra fort, »doch prallen dort die Gegensätze nicht so hart aufeinander – der Reichtum brüstet sich in Jerez weit mehr. Die Gutsbesitzer, die reichen Inhaber der Bodegas, die Exporteure mit ihren ungeheuren Vermögen machen durch ihre prunkhafte Verschwendung den Armen ihre Armut noch bitterer. Dieselben Leute, die zehn Stunden Arbeit mit zwei Reales bezahlen, vergeuden willig fünfzigtausend für ein Pferd, das ihnen in die Augen sticht. Glaub mir, Fermin, unzählige vernunftbegabte Wesen fallen hierzulande abends mit dem Wunsche auf ihre Binsenmatten, daß sie am nächsten Morgen als Pferde wieder erwachen möchten …

Aber das Volk schweigt und duldet. Es duldet, weil die Lehre von der christlichen Resignation, die ihm von klein auf eingeimpft wird, sich stärker erweist als sein Grimm. Barfuß und hungernd schauen die Entrechteten nach dem Bilde Christi, der, wie man ihnen sagt, für sie gestorben ist; keiner von ihnen denkt daran, daß beinahe zweitausend Jahre verflossen sind, ohne daß sich eins seiner Versprechen erfüllte. Und die Frauen bewundern in echt weiblicher Sentimentalität noch immer seine Augen, welche nichts sehen, und erwarten ein Wort aus seinem Munde, der verstummt ist. Zuschreien müßte man ihnen: Hört auf mit eurem Flehen! Trocknet eure Tränen und sucht lieber bei den Lebenden das Heilmittel für eure Leiden! …«

Salvatierras leidenschaftliche Stimme klang seltsam laut in dem Schweigen der Dämmerung. Die Sonne war hinter der weißen Stadt verschwunden, der sie als Abschiedsgabe einen roten Feuerschein zurückließ, während über der Sierra der erste Abendstern aufblitzte.

»Diesen mysteriösen Ruf: ›Christus ist für euch gestorben‹ hören alle Seelen in Momenten der Verzweiflung«, hob der Rebellenführer von neuem an. »Doch vergebens verkünden jedes Jahr jubelnd die Glocken, daß er wieder auferstand. Ja, für die, welche von seiner Erbschaft leben, steht er wieder auf. Jene hingegen, die nach Gerechtigkeit hungern und seit Tausenden von Jahren auf Erlösung hoffen, wissen, daß er ebensowenig wiederkommen wird wie die seelenlosen und launenhaften Götter der Griechen.

Die Menschen haben, als sie ihm folgten, keinen neuen Horizont entdeckt; sie wanderten auf bekannten Pfaden. Nichts als das Äußere wechselte, die Bezeichnung der Dinge. Im grauen Licht einer Religion, die das Leben verdammt, sah die Menschheit dasselbe, was sie vordem gesehen hatte. An Stelle des von Christus erlösten Sklaven, dem im Ergastulum das Brot nie fehlte, ist der moderne Arbeiter getreten, mit seinem Recht, Hungers zu sterben. In den Winternächten wimmelt es in den Städten von Menschen ohne Brot und Dach. Kinder weinen vor Kälte und bergen die Hände in den Achselhöhlen; Frauen kauern sich wie herrenlose Tiere auf einer Türschwelle zum Schlaf zusammen; arbeitslose Männer starren nach der lichtstrahlenden Front der Paläste oder nach den luxuriösen Wagen, in denen von weichen Pelzen umhüllte Glückliche zu irgendeinem Vergnügen fahren.

Ist Christus wirklich zu Nutz und Frommen jener Hungernden gestorben? Nein … und nochmals nein! Weder sein Leben noch sein Tod hat die Menschheit auch nur von einem einzigen Übel befreit. Der sanfte Nazarener hat im Gegenteil dem Proletariat insofern einen unermeßlichen Schaden zugefügt, als er ihm die Demut predigte und seinem Geist die Unterwerfung sowie den Glauben an eine Belohnung in einer besseren Welt einprägte. Die Erniedrigung des Almosens und die Hoffnung auf eine überirdische Gerechtigkeit haben die Masse seit zwanzig Jahrhunderten in ihrem Elend erhalten.

Ganz sacht, ganz allmählich jedoch wacht das Volk aus seiner Lethargie auf. Nichts mehr von stiller Ergebung in das Schicksal: dem toten Christus gegenüber proklamieren wir den Triumph des Lebens. Und während eine vergangene Welt auf dunkle Weissagungen vom kommenden Messias lauschte, beginnt jetzt die ungeheure Masse der Enterbten zu verstehen, daß ihr Erlöser nur einen Namen tragen kann: Revolution!

Revolution! …« Wie einen Fanfarenruf wiederholte Fernando Salvatierra das Wort. »Mit ihr fängt die Verwirklichung des Ideals jenes Jesus von Nazareth an: Brüderlichkeit. Zugleich aber verschwinden Resignation und Almosen. Jedem, was ihm gebührt. Keine Konzessionen, die demütigen; keine Privilegien, die den Haß entflammen. Die wahre Brüderlichkeit heißt soziale Gerechtigkeit! …«

Der Arbeiterführer schwieg. Erst jetzt schien er zu bemerken, wie weit der Abend schon vorgeschritten war.

»Komm, Fermin, wir müssen heim«, sagte er zu seinem nachdenklichen jungen Begleiter und machte kehrt.

Schon war der Mond über der Sierra aufgegangen und warf die Schatten auf den weiß schimmernden Weg.

Sie waren noch ziemlich entfernt von den ersten Häusern der Stadt, als ein lautes Schellengeläute frech den abendlichen Frieden störte. Die langsam heimkriechenden Ochsenkarren wichen unter dumpfem Knarren bis an den äußersten Wegrand, und Salvatierra rettete sich mit Fermin in den Straßengraben, von wo sie ein Viergespann heranrasen sahen, mit großen Quasten und einer Schnur grell bimmelnder Glöckchen geschmückt. Im Wagen eine zusammengepreßte Menschenschar, stehend, sitzend, die Mädchen auf den Knien der Männer. Und sie lachten, sangen, kreischten, schrien, klatschten in die Hände.

Blitzähnlich sauste das Gefährt vorüber. Desungeachtet hatten Fermins scharfe Augen das Paar auf dem Kutschbock erkannt: Luis Dupont, der die beinahe durchgehenden Pferde mit Wort und Peitsche noch mehr antrieb, und neben ihm die kleine Marquise. Auch sie mußte den ehemaligen Spielgefährten erkannt haben, denn aus der grauen Staubwolke winkte eine Hand.

»Das ist das neueste Liebespaar, Don Fernando«, meinte der junge Mann, als der Lärm in der Ferne verhallte. »Die Stadt ist ihnen wohl zu eng geworden für ihre Feste, und so fahren sie nach Matanzuela, um sich nach Herzenslust auszutoben.«

Tatsächlich war Doña Elviras lebenslustige Nichte plötzlich des groben Schweinehändlers endgültig überdrüssig geworden und hatte ihre Liebe Luis Dupont geschenkt. »Es gelüstet mich wieder nach Kavalieren«, sollte sie erklärt haben, und da sie über ihre Herzensaffären niemals einen Schleier breitete, machte sie auch aus der neuen Liebschaft kein Hehl, sondern lebte ganz ungeniert in Luis' Hause.

»Da sind zwei Tolle zusammengeraten«, glaubte Montenegro seinen Bericht vervollständigen zu müssen. »Ein Fest jagt das andere, als ob ihnen ihr Honigmond ohne die Würze dieser Orgien fade und monoton erschiene, als ob sie fürchteten, an dem Tage, an dem sie einmal nüchtern würden, all ihre Illusionen zu verlieren. Von Jerez aus statten sie befreundeten Gütern oder den Nachbarstädten Besuche ab, immer mit dem Troß von Musikanten und Raufbolden, ohne den sich Dupont nie in der Öffentlichkeit zeigt. Vor einigen Tagen erst hat in dem Badeort Sanlucar ein rauschendes Fest stattgefunden, zu dessen Krönung die kleine Marquise zwei vom Wein überwältigten Kellnern die Köpfe ratzekahl rasierte. »Famoses Weib!« meinen die jungen Herren im Reitklub. ›Einen unglaublichen Dusel hat dieser Dupont! …‹ Wie wütend hingegen Don Pablo und die Seinen über den letzten Skandal ihrer nächsten Anverwandten sind, können Sie sich denken, Don Fernando!«

Salvatierra hatte mit grimmigem Vergnügen Fermins Erzählung in sich aufgenommen. Luis Dupont interessierte ihn aus dem Grunde, weil sich bei ihm am krassesten die Faulheit und der Müßiggang jener offenbarte, denen der Grund und Boden der ganzen Region gehörte.

Während die beiden Spaziergänger die Vorstadtgäßchen durchschritten, war Duponts Wagen im Gesichtskreis von Matanzuela aufgetaucht, und die Hunde begannen beim Nahen dieses rasenden Galopps wütend zu bellen.

»Das kann nur der Herr sein«, sagte Zarandilla zu seiner Frau.

Er eilte in den Patio, dessen Pflaster einen Augenblick später unter dem Trommeln der Pferdehufe widerhallte.

Mit einem gewandten Satz sprang die Marquise vom hohen Bock, und auf beiden Seiten quollen Menschenleiber aus dem Wagen hervor.

»Die Gäule gut abreiben!« befahl Dupont, indem er dem Alten die Zügel zuwarf.

Rafael näherte sich, den Hut in der Hand.

»Donnerwetter, zu welchem Prachtkerl du dich entwickelt hast, mein Junge!« Mit unverhohlener Bewunderung musterte ihn die kleine Marquise von oben bis unten. »Wenn ich mich nicht scheute, Maria Luz zu betrüben, würde ich jenem Herrn da ganz gern mit deiner Hilfe ein Hörnchen aufsetzen.«

»Jener Herr da« – alias Luis Dupont – amüsierte sich köstlich über die Unverfrorenheit seiner Geliebten und den stillen Vergleich, den Lolas Augen zwischen seinem schon etwas verlebten Körper und der kräftigen Statur des jungen Verwalters anzustellen schienen. Dann wandte er sich von den beiden ab, um sich zu überzeugen, daß er auch keinen von seinem Gefolge unterwegs verloren hatte. Nein, sie waren alle da: die Drossel, eine berühmte Kneipensängerin, und ihre Schwester; der Vater der beiden, ein Veteran andalusischer Tanzkunst, unter dessen Absätzen die Bühnen aller spanischen Varietés gebebt hatten; ferner drei Schützlinge Duponts, ernste Gesellen mit zusammengewachsenen Brauen, die rechte Hand herausfordernd in die Hüfte gestemmt, und schließlich ein Kerlchen mit Doppelkinn, sorgfältig gekräuseltem Haar und einer Gitarre unter dem Arm.

Die drei Vertrauensleute krümmten, nicht gerade willig, den Rücken und schleppten die mitgebrachten Delikatessen zur Küche, und die alte Benita bekam alle Hände voll zu tun, obwohl ihr die drei Damen zu helfen suchten. Rafael entzündete die Kerzen in den beiden großen Armleuchtern des Salons, um hierauf, von Zarandilla unterstützt, die besten Weine aus dem Keller zu holen.

»Los, Meister! Wir möchten deine Zauberhände richtig am Werk sehen!« forderte Don Luis den Gitarrenspieler auf, der ganz versunken wahllos Arpeggios griff.

Meister Pacorro – rühmlichst bekannt als der Adler – räusperte sich ein paarmal, dann zitterte die Primsaite in seufzenden Läufen, von dem rauschenden Chor der anderen dumpf unterstützt. Sofort ließen Duponts Sbirren die Pfropfen knallen.

»Hallo, die Drossel!« schrie der Hausherr, als sich, von der Musik herbeigelockt, nun auch die Damen zu ihnen gesellten. »Kommst gerade recht! Singe, mein Vögelchen! …«

Und sie sang ein Lied von Lieb und Treu, das sogar die drei ernsten Männer der Leibgarde ein wenig rührte.

Ohne eine Aufforderung abzuwarten, führte nunmehr der Drosselvater – er kannte seine Pflichten – seine andere Tochter in die Mitte des Salons und tanzte mit ihr einen Fandango.

Und unausgesetzt floß der Wein in die Kelche …

Rafael schlich sich, nachdem er das zweite Glas getrunken hatte, verstohlen hinaus. Wer weiß, ob sein Brotherr nicht in der Betrunkenheit späterhin den Einfall bekam, eine nächtliche Besichtigung des Hofes vorzunehmen! Da war es besser, wenn er vorher noch einmal nach dem Rechten sah.

Auf den Stufen zum Patio stolperte er über Alcaparron. Den Zigeuner hatte der Lärm in dem sonst so stillen Gutshause aufgestört, und aufdringlich wie eine Schmeißfliege, wartete er auf eine Gelegenheit, sich an die Gäste heranzuschlängeln.

»Fort, du Strolch!« fuhr ihn der Verwalter an. »Was hast du hier zu suchen?«

Als Rafael eine Stunde später von seinem Rundgang in den Salon zurückkehrte, hatte sich die Zahl der leeren Flaschen erheblich vermehrt. Der ehrenwerte Drosselvater tanzte gerade ein Solo. Kleine weibliche Schreie ausstoßend, drehte er die Hüften in geilen Bewegungen und zog gleichzeitig den Bauch ein, damit sein Hintern möglichst hervortrat.

Seine Töchter quiekten vor Vergnügen; die Männer feuerten ihn mit schlüpfrigen Worten an. Und der Alte fuhr in seiner anzüglichen Mimik fort, während die kleine Marquise, die auf Duponts Schoß thronte, ihrem Entzücken dadurch Ausdruck verlieh, daß sie dem Tanzkünstler ihr gefülltes Glas vor die Füße schmetterte.

»Olé, alter Knabe!«

Als der Drosselvater endlich schweißgebadet auf einen Stuhl fiel und sich der begeisterte Applaus für seine Schamlosigkeit gelegt hatte, herrschte eine matte Stille im Salon.

»Hier fehlen Frauen!«

Es war der Bock, der Führer der drei Leibgardisten, der, nachdem er kräftig auf den Perserteppich gespuckt, mit dem feierlichen Ernst eines schweigsamen Messerhelden, diese Worte äußerte.

»Und wir? Was sind wir, du Kaffer?« protestierte die kleine Marquise.

»Jawohl, was sind wir?« echoten die Sängerin und ihre Schwester.

Der Bock geruhte sich näher auszulassen. Ihm lag es fern, die anwesenden Damen beleidigen zu wollen. Jedoch würden ein paar schöne Frauen mehr die Festfreude noch erhöhen.

»Hoho, Frauen wollt ihr?« Luis Dupont hatte sich mit einem Ruck erhoben. »Frauen? Gibt's hinreichend in Matanzuela! …« Und zwei Flaschen ergreifend, befahl er Rafael, ihn zur Tagelöhnerbaracke hinüberzuführen. Wie immer am Sonnabend, waren die Arbeiter, die aus einigermaßen erreichbaren Sierradörfern stammten, spätnachmittags heimgewandert. So brach die lustige Schar in einen verhältnismäßig leeren Schlafraum ein. Hauptsächlich Zigeunerfamilien und junge Mädchen aus dem oberen Bergland. Einige schlummerten bereits; andere, zu Grüppchen vereinigt, tuschelten sich seltsame Mären von Hexen und ihren Künsten zu.

»Der Herr!« klang Rafaels Stimme durch den Rauch.

»Hopp, hopp, aufgestanden!« schrie Luis Dupont jovial. »Wer möchte Wein haben?«

Im Nu war alles auf den Füßen. Während die Augen der jungen Mädchen bewundernd über die bunten Seidenschals der Damen und die prachtvollen hohen Schildpattkämme ihrer Frisuren glitten, umstanden die wenigen Männer den Gebieter, den manche von ihnen zum erstenmal sahen. Nach einigen verlegenen Ausflüchten tranken sie alle.

»Heilige Madonna, welch ein Weinchen!« flüsterten die ausgemergelten Gestalten, indem sie sich mit dem Handrücken über den Mund strichen.

Wieder ergriff Luis Dupont, die leeren Flaschen in der Luft schwenkend, das Wort.

»Ich bin gekommen, um die Mädchen zum Essen einzuladen. Die hübschesten – versteht sich. Ja, so bin ich nun mal, immer offen mit der Sprache heraus. Du darfst mit … und du … du, du und du.« Er zeigte auf einige mit dem Finger und musterte dann Maruja, die zarte Stiefschwester Alcaparrons. »Du, Zigeunerin, gleichfalls. Bist zwar ein häßliches Würmchen, aber wirst wohl singen können.«

»Wie die Seraphime, Señor«, beteuerte ihr Bruder eilfertig.

Jedoch die Mädchen zupften verschämt an ihren Röcken, stammelten schüchterne Dankesworte für die ihnen zugedachte Ehre; aber die Einladung anzunehmen wagte keine, obwohl ihnen die sichtliche Enttäuschung ihrer verschmähten Kameradinnen wohltat.

Da griff die alte Alcaparrona energisch ein.

»Seid doch nicht so spröde, ihr Gänschen! … Wenn ihr keine Lust habt, euch den Bauch mit Leckerbissen vollzuschlagen, so hebt sie nur schön für mich auf.«

Die übrigen Frauen pflichteten ihr bei. »Wie? Sich gegen eine solche Einladung sträuben? Warum denn? Don Luis ist ein Caballero, und da auch noch diese Damen dabei sind, alles hochanständige Personen, kann niemand behaupten, daß ihr etwas Unschickliches begeht.«

Unter diesem Zureden schmolz der Widerstand dahin. Dupont führte die Erkorenen fort und befahl dem Verwalter, auch in die Arbeiterbaracke reichlich Wein schaffen zu lassen.

Noch mehr Wein? … Ah, welch ein gütiger, auf das Wohl der Armen bedachter Herr! … Und »Viva Don Luis!« schallte es hinter ihm drein.

Im Gutshaus überwanden die jungen Mädchen rasch ihre letzte Scheu. Während sie unter Benitas Leitung den Tisch deckten, ging Luis Dupont zwischen ihnen umher und bot ihnen mit einer Kordialität, die ihrer Eigenliebe nicht wenig schmeichelte, zu trinken an. Gleichzeitig heftete sich der Drosselvater an ihre Fersen, um ein gewagtes Geschichtchen nach dem anderen zum besten zu geben, bis sie schamrot vor Lachen gurgelten wie glucksende Hennen.

Rafael beobachtete das Treiben von der Tür aus, unschlüssig, ob er gehen oder bleiben solle. Doch als man – eine Runde von zwanzig Personen – sich schließlich zu Tisch setzte, befreite ihn Don Luis aus dieser Verlegenheit.

»Komm … darfst mit uns essen«, befahl er großmütig. »Ich erlaube es dir.«

Man rückte noch mehr zusammen.

»Hierher, an meine Seite!« klang da die helle Stimme der kleinen Marquise, noch ehe der Verwalter seinen Stuhl am unteren Ende des Tisches einschieben konnte.

Armer Rafael! Ihn überlief es heiß und kalt. Er hätte weglaufen mögen und mußte es doch dulden, daß sich unter dem Schütz eines weiten, falbelverzierten Seidenkleides Lolas warmer, fester Schenkel gegen den seinen preßte.

Die jungen Mädchen wiesen anfänglich aus Angst, daß ihnen die ungewohnte Kost nicht bekommen würde, jedes Gericht zurück. Aber dieser märchenhafte Duft von gebratenem Fleisch, das im Leutehaus als Götterspeise galt, schien sie noch mehr zu berauschen als der Wein. Erst pickten sie ein wenig, hier ein Häppchen, dort ein Häppchen, dann endlich stopften sie gierig so viel wie möglich in sich hinein.

»Ich leere mein Glas auf das Wohl der Mädels, die gut einhauen können«, schrie Dupont, dem es darum zu tun war, sich in dieser Tafelrunde als »echter Demokrat« zu gebärden. »Jetzt müßt ihr aber feste trinken, Kinder, damit es besser rutscht!«

Maruja, die schmächtige Zigeunerin, war die einzige, die nichts anrührte. Was auf ihrem Teller lag, steckte sie verstohlen ihrem Bruder zu, der wie ein hungriger Wolf die Tafel umkreiste und, sobald er etwas ergattert hatte, für ein paar Minuten in den Patio verschwand, um die Beute in Ruhe zu verzehren.

»Trink, Rafael, trink, damit du auftaust!« ermunterte auch die kleine Marquise. »Was sagst du dazu, wie mein teurer Luis um die Liebe seiner Sierramädchen buhlt? Siehst du, wie sie ihm den Kopf verdrehen, diese schlecht gewaschenen Schönen? Ja, solch derbe Reize findet er in der Stadt freilich nicht! …« Und lachend schmiegte sie sich enger an ihren schweigsamen Nachbarn.

Gegen Mitternacht ging das Mahl zu Ende. Die Hitze in dem geschlossenen Raum war unerträglich geworden, so daß die jungen Mädchen ihre jungfräuliche Prüderie vergaßen und sich die Blusen aufrissen. Berauscht vom Wein und berauscht von diesem Fest, das wie ein Blitz ihr trauriges, dunkles Leben erleuchtete, überließen sie sich der Umschlingung sehniger Arme und lächelten in einer Art Seligkeit, als sprächen sie sich schon im voraus von jeder weiteren Sünde los, in die sie an diesem köstlichen Abend noch verstrickt werden könnten.

Erbost, daß die Männerwelt sich ausschließlich für die Bauerndirnen interessierte, beschlossen die Drossel und ihre Schwester, aus Rache Alcaparron nackt auszuziehen und als Kerzenleuchter auf den Tisch zu stellen. Doch der Junge, der sich sogar während des Schlafes noch nie entkleidet hatte, schlug um sich, biß, kratzte und riß sich, zitternd um seine Zigeunerscham, aus den Händen seiner Peinigerinnen los.

Diesen Tumult übertönte plötzlich Luis Duponts Stimme.

»Warum bleiben wir eigentlich im Zimmer, gedrängt wie die Heringe?« Er warf Rock und Weste ab und umfaßte seine beiden Nachbarinnen. »Hinaus in den Patio! Die Nacht ist herrlich, und wir können im Mondschein allerhand Kurzweil treiben.«

Ah, frische Luft! »Bravo, Don Luis!« Alles strömte zum Ausgang. Die meisten der jungen Schönen schwankten und lehnten hilfesuchend den Kopf an die Brust ihrer Kavaliere. Meister Pacorros Gitarre gab eine dumpfe Wehklage von sich, als sie gegen den Pfosten der Tür schlug, die anscheinend enger geworden war und nicht mehr Raum genug bot für den Künstler und sein Instrument.

Rafael wollte gleichfalls aufstehen, aber die nervöse, heiße Hand der Marquise hielt ihn fest.

»Du bleibst hier und wirst mir Gesellschaft leisten. Laß das Gesindel sich draußen amüsieren … Halt! Nicht auskneifen, du Bösewicht! Weiß Gott, man könnte glauben, du hättest Angst vor mir.«

Draußen schluchzte die Gitarre eine volkstümliche Serenade; die heiser gewordene Drossel grölte eine Strophe mit. An der offenen Tür flitzten die Tagelöhnerinnen vorüber, von trunkenen Männern verfolgt. Und bald drangen aus den Scheunen und Ställen, aus dem Backofen und allen dunklen Verstecken leises Gekicher und halberstickte Laute …

In all seiner Betrunkenheit hatte Rafael nur einen klaren Gedanken: sich vor den kecken Händen der Marquise zu retten, vor der Last dieses gepflegten, duftenden, verführerischen Körpers, gegen den er sich, seiner Niederlage sicher, ungeschickt verteidigte.

Trotzdem schwieg er, gehemmt durch das Ungewöhnliche des Abenteuers, durch den Respekt vor Rang und Titel. Die Tochter des Marquis de San Dionisio! Das war es, was ihn auf seinen Stuhl fesselte, das war es, was ihn sich nur kraftlos und lau gegen ein Weib verteidigen ließ, das er mit einem einzigen Griff hätte abschütteln können. Schließlich nahm er dennoch seine Zuflucht zum Wort.

»Ich bitte, mich in Frieden zu lassen, Señorita … Doña Lola … es darf nicht sein!«

Da die trunkene Bacchantin ihn mit zimperlicher Zurückhaltung ihren Liebkosungen ausweichen sah, sprudelte sie böse Schmähworte.

»Ach, wo ist der verwegene Schmuggler von einst, der seine Augen zu jeder Frau, die ihm gefiel, erhob? … Verhext hat ihn das brave Jüngferchen Maria Luz! Der Tugendengel eines Weinbergs, in dem sich Hunderte von Männern tummeln …« Noch mehr Gift verspritzte sie gegen Rafaels Liebste, ohne daß es auf ihn Eindruck machte. Im Gegenteil fühlte er, daß sie auf diese Art die Kraft seines Widerstandes stählte.

»Feigling! Gefalle ich dir etwa nicht?« schrie sie ihn mit der Wut der verschmähten Frau an.

Plötzlich erschien der alte Zarandilla in der Tür, als wünsche er, Rafael zu sprechen. Aber er blieb auf der Schwelle, denn von draußen zürnte die Stimme des Herrn von Matanzuela hinter ihm drein:

»Wenn ich hier bin, dann geht dich der Verwalter einen Dreck an! … Tu sofort, was ich dir befohlen habe, du blinder Esel!«

Und ebenso plötzlich, wie er eingetreten war, verschwand der Greis.

Lola hatte inzwischen den blonden Kopf in Rafaels Schoß gebettet. Die Augen – unschuldig, als seien sie noch nie durch die Wolke eines unreinen Gedankens getrübt worden – zu ihm erhoben, murmelte sie: »Ich werde mir mein Kleid ausziehen und es dir überstreifen, du Hasenfuß. Rafaela müßtest du heißen. Solch gute Gelegenheit …«

Entsetzte Schreie im Patio unterbrachen sie. Gleich darauf stürmten drei Mädchen mit blassen, verstörten Gesichtern herein und verkrochen sich unter den Tisch.

Rafael sprang auf, so ungestüm, daß die Marquise zu Boden fiel, und ohne sie zu beachten, rannte er in den Hof.

In seiner Mitte schnaubte ein Tier, den Mond anstierend, als sei es erstaunt, daß es sich in Freiheit befand. Ein helles Bündel lag unweit seiner Hufe.

Aus dem tiefen Schatten des vorspringenden Scheunendachs drang brutales Gelächter und grelles Gekreisch aus weiblichen Kehlen. Meister Pacorro indes saß unbekümmert auf einer Steinbank und zupfte mit der heiteren Ruhe eines Trunkenen, den nichts überraschen und nichts stören kann, an den Saiten seiner Gitarre.

»Arme Maruja! Das Biest wird sie töten«, jammerte Alcaparron, zusammengekauert auf den Stufen zum Patio. »O Gott, es wird sie töten!«

Nun verstand der Verwalter, was sich abspielte. Ein Streich des Herrn. Um seinen Freunden einen Spaß zu bereiten und sich mit ihnen an dem Schrecken der Mädchen zu weiden, hatte er Zarandilla gezwungen, einen jungen Kampfstier aus dem Stall zu lassen. Und die Zigeunerin, die der Toro eingeholt hatte, war vor Angst in Ohnmacht gefallen.

Ein prächtig gelungener Spaß!

 

Maruja wird sterben!«

So klagte Alcaparron allen Menschen auf dem Gutshof, ohne den Protest seiner Mutter zu beachten.

»Was verstehst du davon, du dummer Bengel! … Andere, denen es viel, viel schlechter ging, sind von meiner Gevatterin geheilt worden.«

Aber der Junge teilte ihren blinden Glauben an die Kunst der Gevatterin nicht. Er hatte in der Unglücksnacht Flügelrauschen gehört, und wer konnte das anders gewesen sein als jener Rabe, der sich immer meldete, wenn jemand auf dem Friedhof fehlte? Arme Maruja!

Damit die Kranke seine Gedanken nicht erriete, getraute er sich nicht nahe an die Binsenmatte heran, die ein mitleidiger Arbeiter ihr abgetreten hatte. Arme, kleine Schwester! Zart und schwächlich war sie immer gewesen; doch dieses Unheil hatte der Señorito verschuldet mit seinem elenden Scherz.

»Ah, der Teufel soll dir …« Und nur die eingefleischte Ehrerbietung hielt auf Alcaparrons Lippen den üblichen Zigeunerfluch zurück.

Als Maruja zwei Tage nach dem nächtlichen Gelage stark fieberte und nicht imstande war, ihrer Arbeit nachzugehen, hatte die Mutter folgende Diagnose gestellt:

»Ein steckengebliebener Schreck … Das arme Ding hatte gerade die monatliche Regel, und in dem Zustand schadet jede plötzliche Aufregung. Da ist ihr das verdorbene Blut in die Brust gestiegen und droht sie zu ersticken. Deshalb verlangt sie auch unaufhörlich zu trinken.«

Und als einzige Medizin ließ sie frühmorgens, ehe sie mit den übrigen Kindern aufs Feld ging, einen Krug Wasser neben der Binsenmatte zurück.

Die Kranke blieb allein in dem dunkelsten Winkel der Baracke. Bisweilen zeigte sich ein umherstrolchender Hund, schnüffelte an ihren Lumpen und versuchte, das bleiche Gesicht zu belecken.

Gegen Mittag, wenn ein Sonnenstrahl seine goldene Barre in das Dämmerlicht des fensterlosen Raumes schob, tanzten die Insekten des Frühlings ihren Reigen bis in die finstere Ecke und belebten mit ihrem Gesumm die düstere Einsamkeit.

Hin und wieder sahen sich auch Zarandilla oder seine Frau nach der Fiebernden um.

»Brauchst nicht den Mut zu verlieren, Maruja«, trösteten sie. »Heute schaust du schon viel besser aus.«

Gleich streckten sich die mageren Arme des Mädchens nach dem Krug. Es trank und trank, in der Hoffnung, daß das Wasser den heißen, erstickenden Klumpen lösen würde, der den Atem behinderte und Fieberglut über den ganzen Körper verbreitete.

Zog sich der Sonnenstrahl zurück, erstarb das Gesumm der Fliegen, färbte sich das von der Tür umrahmte Stückchen Himmel zartviolett, so erholte Maruja sich ein wenig. Die schönste Stunde des Tages nahte: gleich würden die Ihrigen kommen. Ein frohes Lächeln grüßte die Geschwister, die sich im Halbkreis auf den Boden setzten und sie mit forschenden Augen stumm betrachteten, als wollten sie die flüchtende Gesundheit einfangen.

Auch die Gegenwart der übrigen Tagelöhner belebte die Kranke. Ein jeder trat, bevor er sich die abendliche Brotsuppe kochte, an ihr Lager, um sie mit rauhen, aber wohlgemeinten Worten aufzumuntern. Der gefährliche Juanon, der sich mehr als alle anderen um Maruja kümmerte, schlug gelegentlich auch eine energische Kur vor.

»Was dir not tut, Kleine, ist essen, ordentlich präpeln. Du hast Hunger – weiter nichts. Hier, nimm!«

Sämtliche Schätze, die er bei seinen Kameraden hatte auftreiben können, bot er ihr an: ein Stück Stockfisch; eine harte geräucherte Wurst – wie durch ein Wunder ins Leutehaus gelangt – sowie einen runden, schimmelüberkrusteten Schafkäse.

Als die kleine Zigeunerin diese Herrlichkeiten lächelnd ablehnte, mahnte er:

»Mädchen, Mädchen! Wenn du nicht ißt, wirst du noch an Auszehrung eingehen!«

Der Zustand Marujas rechtfertigte seine Besorgnis. Ein Skelett mit Haut überspannt, und selbst diese schien dünner und dünner zu werden. Das Leben hatte sich restlos in die Augen geflüchtet – Augen, die täglich an Schwärze und Glanz zunahmen. Und bei dem Licht der flackernden Öllampe sah Alcaparron mit Grauen und Schmerz, wie Ohren und Nasenflügel durchscheinend waren wie eine Oblate.

Schließlich hielt es Rafael für seine Pflicht, einzugreifen.

»Das geht doch nicht so weiter«, redete er auf Marujas Mutter ein. »Du läßt ja das arme Geschöpf dahinsterben wie ein Tier … Morgen wollen wir einen Arzt aus Jerez holen.«

Aber wie begehrte da die Alte auf!

Was? Einen Arzt? Das paßte für die Señores, für die Reichen. Wer sollte den Arzt bezahlen, he? … Außerdem hatte sie ihr ganzes Leben lang noch keinen Doktor benötigt – die Leute ihres Volkes, sogar die Armen, verfügten über einen kleinen Schatz von Kenntnissen, zu dem oft genug auch fremdrassige Menschen ihre Zuflucht nahmen …

Und von ihr gerufen, präsentierte sich am nächsten Tage eine steinalte Zigeunerin im Gutshofe, die man sowohl in Jerez als auch auf dem Lande als große Heilkünstlerin lobte.

Nachdem sie das elende Skelett befühlt und beklopft hatte, bestätigte sie voll und ganz das Urteil der Alcaparrona. Jawohl, schlechtes, infolge des jähen Schrecks zur Brust emporgestiegenes Blut …

Hierauf verging ein ganzer Nachmittag mit Kräutersuchen auf den nächsten Hügeln. Heimgekehrt, erbaten die beiden Kurpfuscherinnen von Benita die merkwürdigsten Ingredienzen, worauf unter dem gläubigen Schweigen des Tagelöhnerkreises abends ein Sud bereitet wurde, den die Kranke gehorsam trank. Des weiteren erhielt sie einen Brustumschlag, mit mysteriösem Hokuspokus aufgelegt, als sei er mit übernatürlicher Kraft begnadet.

Als die wunderwirkende Gevatterin sich verabschiedete, geschah es mit den Worten:

»Wenn das Kind nach zwei Tagen den Klumpen in der Brust nicht los ist, könnt ihr mich einen elenden Stümper schelten …«

Und die zwei Tage verstrichen. Es verstrichen sogar zwei weitere, ohne daß die arme Maruja eine Linderung verspürte.

»Oh, Señor Rafael, es wird immer schlimmer!« schluchzte Alcaparron, während die Tränen seltsame Rillen in die Schmutzkruste seines Gesichtes wuschen. »Sie kann nicht mehr liegen; pfeifend geht ihr Atem, und die Mutter wagt auch tagsüber nicht, sie allein zu lassen. Oh, Señor Rafael, ich habe es gleich gesagt, daß sie sterben wird.«

Der junge Verwalter scheute sich vor einem abermaligen Ratschlag und besuchte die Kranke auch nur während der Arbeitszeit, wenn sämtliche Männer auf dem Felde beschäftigt waren. Die Erkrankung Marujas und die Orgie Don Luis' hatten eine feindselige Stimmung geschaffen, die sich gegen den völlig unschuldigen Rafael richtete.

Wieder nüchtern geworden, faßten etliche der jungen Mädchen den Entschluß, nicht länger auf Matanzuela zu arbeiten, sondern in ihre Dörfer heimzukehren. Sie berichteten den Tagelöhnern, als diese sich Sonntag abend wieder einstellten, von den skandalösen Vorgängen im Herrenhaus und beklagten sich, daß gerade jene Frauen, die nach dem Willen ihrer Eltern über sie wachen sollten, sie zur Annahme von Luis Duponts Einladung gedrängt hätten.

Da der Gutsherr – gut ausgeschlafen und wie immer in ausgelassener Stimmung – mit seinem Troß bereits Sonntag nachmittag nach Jerez zurückgefahren und daher für den Zorn der Männer unerreichbar war, entlud sich dieser über des Verwalters Haupt. Aber auch die wenigen Arbeiter, die in jener Nacht auf dem Gut geweilt hatten, wurden davon getroffen. »Ihr Schweine … ihr Erzhalunken!« hieß es. »Für den Preis von ein paar Flaschen Wein gabt ihr zu, daß man die jungen Dinger verschleppte? …« Die Beschuldigten versuchten sich reinzuwaschen – ohne Erfolg. Und weil ihnen die Atmosphäre im Leutehaus nicht geheuer schien, packten sie ihre kümmerlichen Habseligkeiten und zogen von dannen.

Juanon übernahm es, mit dem Verwalter abzurechnen.

»Also du bist es«, sagte er, verächtlich ausspuckend, »der dem Señorito die Mädels für seine Feste verschafft? … Du wirst Karriere machen, Rafael. Und wir wissen jetzt wenigstens, wozu du taugst.«

Der Verwalter zuckte zusammen, als wäre er von einer Schlange gebissen.

»Ich tauge auch dafür, einem Beleidiger das Licht auszublasen!« brüllte er und ging, um zu beweisen, daß er die Arbeiter, deren Groll nach einem Sündenbock verlangte, nicht fürchtete, zur Rechtfertigung Duponts über. »Carajo, was wollt ihr überhaupt? Don Luis ließ den Stier zum Scherz los, nicht aber, um jemandem Böses zuzufügen. Alles andere ist ein unglücklicher Zufall.«

In seinem Stolz verschwieg er, daß er den Stier, dessen Hörner schon in den Kleidern der Zigeunerin wühlten, eigenhändig in den Stall zurückgeschafft hatte, erwähnte auch nicht den wilden Auftritt zwischen ihm und seinem Brotherrn, dem er bittere Vorwürfe zu machen sich erdreistete.

Wütend über die Zurechtweisung vor Dritten wollte Don Luis den Verwalter ohrfeigen, aber die schon erhobene Hand blieb in der Luft hängen, denn in Rafaels Rechten blitzte im selben Moment ein Dolch. »Töte mir diesen unverschämten Lümmel!« schrie der betrunkene Dupont dem »Bock« zu. Doch irgend etwas in Rafaels Blick lähmte sogar diesen berüchtigten Messerhelden.

Als acht Tage später ein Brief den Verwalter nach Jerez beorderte, ritt er in der festen Überzeugung fort, daß Don Luis ihm den Laufpaß geben würde. Statt dessen empfing ihn der unberechenbare Narr höchst leutselig.

Er hatte sich tags zuvor mit seiner Kusine Lola entzweit, müde ihrer Kapricen und ihres Lebenswandels; beabsichtigte, sich der Politik zu widmen, ins Parlament wählen zu lassen … Anderen, ohne weitere Verdienste als Vermögen und guter Name, war das ebenfalls geglückt. Warum nicht auch ihm, der überdies mit der Unterstützung der Jesuiten rechnen durfte? Sie würden sich gewiß freuen, wenn ihr ehemaliger Zögling hinfort die geheiligten Interessen der Gesellschaft Jesu verteidigte und vertrat … All dies erzählte er in bester Laune dem ob dieser Vertraulichkeit etwas verwirrten jungen Verwalter, brach plötzlich ab und musterte ihn neugierig.

»Weißt du wohl, Rafael, daß du ein sehr verwegener Bursche bist?«

Das war die einzige Anspielung auf die Szene jener Nacht. Dann setzte er, als reue es ihn, so uneingeschränkt das Zeugnis der Tapferkeit ausgestellt zu haben, bescheiden hinzu:

»Wir drei – ich, du und der Bock – sind die tapfersten Kerle von ganz Jerez. Wer kann sich mit uns messen?«

Rafael hörte ihm gleichmütig zu, mit der Willfährigkeit des guten Dieners. Mut, Tapferkeit – was für Nebensächlichkeiten! Daß er nicht von Matanzuela vertrieben wurde, war für ihn das allein Wichtige!

Hierauf begehrte Don Luis zu wissen, was sich Neues auf dem Gut ereignet habe, und gähnte gelangweilt, als der Verwalter von der schweren Erkrankung der Zigeunerin Maruja berichtete.

»Na, na … wird schon nicht so arg sein, Rafael; Zigeuner übertreiben immer. Aus Schreck ernstlich krank werden? Wegen eines Jungstiers? … Schnickschnack! Schenk den armen Teufeln ein paar Duros. Außerdem soll die Kleine während ihrer ganzen Krankheit den vollen Tagelohn erhalten. Ich will beweisen, daß ich, wenn es not tut, ebenso wohltätig sein kann wie mein Herr Vetter.«

Als Rafael den Heimweg antrat, der über Marchamalo führen sollte, wurde er am Reitklub angehalten. Die Señoritos von Jerez, denen Duponts Verwalter bekannt war, umringten sein Pferd, um Genaueres über das Fest in Matanzuela zu erfahren. Dieser Luis schnitt oft gar zu toll auf, wenn er seine Erlebnisse schilderte! …

Rafael gab kurz Auskunft, und seine Worte entfesselten wahre Lachstürme. Köstlich, köstlich! … Ein richtiger Kampfstier, der hinter den fliegenden Röcken trunkener Arbeiterinnen herraste! … Jammerschade, daß man das Schauspiel nicht miterlebt hatte!

»Ist nicht irgendein Mädel von dem Toro gehascht worden?« erkundigte sich einer aus der lachenden Schar.

»Ja, eine junge Zigeunerin.«

Ach, nur eine Zigeunerin … Was lag schon daran …

Nachdem ihre Neugier gestillt worden war, wandten diese reichen Erben von Jerez, die ihre Zeit mit Trinken, Reiten und Diskussionen über Frauen totschlugen, dem »blöden Bauern« grußlos den Rücken.

Rafael spornte das Pferd zum Galopp an, um Marchamalo möglichst schnell zu erreichen. Maria Luz! jubelte sein Herz. Doch ihm wurde ein böser Empfang zuteil. Denn auch hierher war die Kunde von dem Gelage gedrungen – aufgebauscht, entstellt obendrein. Der alte Montenegro hatte mißbilligend den Kopf geschüttelt, und seine Tochter fiel, die Abwesenheit des Vaters benutzend, über ihren Verlobten her, als sei dieser für alles verantwortlich.

»Du schändlicher Mensch! Also deswegen hast du dich so lange nicht blicken lassen … Der Señor nimmt seinen lockeren Lebenswandel wieder auf, wie? Und während ich von einem Heim in Matanzuela träume, macht er daraus ein Freudenhaus. Pfui! Pfui! …«

Der arme Verwalter brach angesichts solch grausamer Ungerechtigkeit beinahe in Tränen aus. Ihn derart zu behandeln, nachdem er sich aus Liebe zu Maria Luz so tapfer der lüsternen Marquise erwehrt hatte …

»Trifft mich die Schuld? Was bin ich denn? Ein Angestellter, der, um seinen Posten zu behalten, vor manchem die Augen schließen muß«, verteidigte er sich. »Was würde denn dein Vater tun, wenn er einen ähnlichen Herrn hätte wie ich?«

Als er wieder in den Sattel stieg, war Maria Luz zwar etwas ruhiger, der Abschied trotzdem aber so kühl, daß die Erinnerung daran zentnerschwer auf Rafael lastete. Der Teufel mochte die launigen Einfälle Don Luis' holen, aus denen Mißhelligkeit über Mißhelligkeit entstand! Feindselige Gesichter der Leute, die Krankheit des jungen Mädchens, für das es keine Rettung mehr zu geben schien, indes die Tagediebe in der Stadt lachend über seine Qualen hinweggingen.

Bei der Arbeiterbaracke übergab er das Pferd einem der herumlungernden Knaben und hörte, noch bevor er bei dem elenden Lager im Winkel ankam, Marujas rasselnden Atem – ein Schnaufen, wie es ein zerrissener Blasebalg ausstoßen mag. Die Zuversichtlichkeit der alten Zigeunerin hatte inzwischen doch einen Stoß erlitten. Sanft wischte sie den kalten, klebrigen Schweiß von dem eingefallenen Gesicht der Unglücklichen, um ihr dann den Wasserkrug an die Lippen zu halten.

»Trink, Herzenskind! Trink, meine süße Taube!«

Und die todkranke Taube zwängte, nachdem sie getrunken hatte, die Zunge ein wenig zwischen den bläulichen Lippen vor, als wollte sie das Gefühl der Kühle verlängern. Eine trockene Zunge, dunkelrot wie ein Stück geröstetes Fleisch …

Bisweilen unterbrach das Röcheln ein trockener Husten, der schleimigen, von Blut durchzogenen Auswurf herausschleuderte. Die Alte seufzte. Sie wartete auf etwas anderes, auf den schwarzen, monströsen Ballen, die verweste Masse, mit der zugleich alles Übel aus dem Körper weichen würde.

Aber als Rafael ihr flüsternd mitteilte, daß Luis Dupont sie mit fünf Duros bedacht habe, strahlten ihre Augen.

»Wirklich? … Ah, Don Luis ist ein edler Herr! Kann er dafür, daß die Kleine Pech gehabt hat? … Gott lohne seine Güte! Morgen früh, Señor Rafael, hole ich mir das Geld.«

Drei Tage vergingen. Nunmehr waren es zwölf, seitdem Maruja auf ihrer Binsenmatte lag, und die Leute hatten sich allgemach an den rasselnden Atem der Kranken gewöhnt. Ohne einen Blick nach ihr zu werfen, strichen sie an ihrem Winkel vorbei, lachten und unterhielten sich laut und stutzten höchstens, wenn das angstvolle Röcheln manchmal sekundenlang aussetzte.

Doch eines Nachmittags erhob die Alcaparrona ein wildes Geschrei. Maruja, die sonst vor Schwäche die Arme nicht bewegen konnte, krümmte ihr Knochengerüst mit der unglaublichen Kraft der Todesangst, so daß ihre Mutter sie kaum festzuhalten vermochte. Auf die Hacken gestützt, warf sie den Leib hoch, spannte sich, die Brust gewaltsam vorgereckt, zum Bogen, während das verzerrte Gesicht blau anlief.

»José!« schrie die Alte. »José, zu Hilfe!«

Anstatt dem Ruf seiner Mutter Folge zu leisten, raste der junge Alcaparron zur Tür hinaus. Vor einer Stunde hatte er einen Mann in der Richtung zur Grajoschenke wandern sehen. Ihn, von dem alle Arbeiter mit Ehrfurcht sprachen. Und plötzlich durchflammte den Jungen jener Glaube, den die großen Hirten der Massen um sich verbreiten.

Salvatierra, der in der Taverne mit seinem alten Kameraden plauderte, fuhr unwillkürlich zurück, als der Zigeuner wie ein Irrsinniger hereinplatzte und sich ihm zu Füßen warf.

»Don Fernando, Sie können alles! Sie vollbringen Wunder, wenn Sie wollen … Meine Schwester stirbt, Don Fernando, Maruja stirbt …«

Eine braune, zuckende Hand zerrte den Revolutionär ins Freie, gab ihn auch draußen nicht frei, nicht eher, bis er in dem halbdunklen Leutehaus stand und bei dem Schein der Öllampe, die ein Zigeunerchen hochhielt, Marujas krampfhaft verzerrten Mund und die Todespein in ihren übergroßen Augen erblickte. Salvatierra legte das Ohr an die klebrige Haut dieser zum Brechen gespannten Brust. Die Untersuchung währte nicht lange. Als er sich wieder aufrichtete, nahm er mechanisch den Hut ab.

»Nicht wahr, das verdorbene Blut, das heraus möchte und nicht kann?« fragte die Mutter.

Salvatierra schüttelte den Kopf. Seine Liebe zur Medizin, regellose, aber umfassende Studien im Zuchthaus und seine ständige Verbindung mit dem Elend befähigten ihn, die Krankheit ohne weitere Untersuchung zu erkennen. Tuberkulose, die die Lunge zerfressen und vereitert hatte und in dem vorliegenden Fall mit Erstickungserscheinungen verbunden auftrat; galoppierende Schwindsucht, zum Ausbruch gelangt durch die übermäßige Erregung dieses kläglichen Organismus, der allen Krankheitskeimen offenstand und eine wahre Brutstätte für Bakterien war.

Er setzte sich auf einen Holzklotz und verfolgte mit bekümmertem Blick die Agonie jener Kreatur. Vermutlich eine elende Frucht des Alkoholismus und nun durch die bestialische Laune eines Bezechten vorzeitig aus dem Leben gestoßen.

Ein Schleier schien vor ihren Augen zu schweben, deren Pupillen sich mehr und mehr verengerten. Der Atem kam gurgelnd und ruckweise, als ob die Luft sich in der Kehle durch hindernde Fremdkörper hindurchquälen müsse.

Aus Mangel an anderer Medizin gab die Mutter Maruja immer wieder zu trinken. Das Wasser ließ die Wände der paralysierten Speiseröhre knistern, als sei sie aus Pergament, und fiel dann wie in einen leeren Topf geräuschvoll in den Magen der Sterbenden. Die Gesichtszüge verwischten sich; die Schläfen fielen ein; die Nase wurde spitz, und der Mund verzerrte sich auf einer Seite zu einer scheußlichen Grimasse.

Langsam begann die Nacht herniederzusinken und machte der Feldarbeit ein Ende. Die heimkehrenden Tagelöhner blieben in einiger Entfernung von Marujas Matte stehen. Erschüttert sahen sie den gräßlichen Todeskampf. Cristo! So viel kostete es zu sterben? … Und bei dem Gedanken, daß dieses furchtbare Ringen mit seinen Verzerrungen und Krämpfen keinem erspart blieb, dünkte sie ihr Leben harter Fron auf einmal erträglich und beinahe beneidenswert.

»Maruja, mein Täubchen!« seufzte die Alte. »Siehst du mich?«

Und der junge Alcaparron flehte:

»Antworte doch, Maruja. Ich bin's, dein Bruder José.«

Aber die kleine Zigeunerin antwortete nur mit heiserem Röcheln, ohne die halbgesenkten Lider zu heben, in deren Schlitz eine trübe Hornhaut glitzerte. Bei einer stärkeren Zuckung schob sich unter den Lumpen ein kleines Füßchen hervor, vollkommen schwarz. Und nun begannen auch Ohren und Hände sich dunkel zu färben.

»Was ich gesagt habe«, jammerte die Mutter und bedeckte das Gesicht der Sterbenden mit wilden Küssen, als könnte sie hierdurch das entschwindende Lebensfünkchen anblasen. »Das verfaulte Blut breitet sich jetzt im ganzen Körper aus. Oh, Don Fernando, sie stirbt!«

Salvatierra verwies die Alte zur Ruhe.

Allmählich wurde der rasselnde Atem schwächer, die Krämpfe hörten langsam auf. Dann öffneten sich in einem letzten Schauer die Lider und zeigten zwei gläserne Augen …

Aus der Dunkelheit kam das Schluchzen der Frauen, hastiges Gemurmel von Gebeten – aber die Familie Alcaparron schien zu Stein geworden zu sein. Gepackt von der abergläubischen Furcht, mit welcher der Zigeuner dem Tod gegenübersteht, stierten sie den Leichnam an, bis die Alte jäh einen gellenden Schrei ausstieß und sich das Haar, dessen schwarze Farbe den Jahren trotzte, wild zerraufte.

»Aaaa … y! Mein Täubchen ist tot! Mein zartes Aprilröschen!«

Sie fuhr sich mit den Nägeln ins Gesicht und krallte blutige Schrammen in das Runzelgespinst – unbeherrscht und maßlos, wie die Südländer ihren Schmerz äußern.

Ihr Schrei hatte auch den ältesten Sohn aus seiner Betäubung geweckt. Brüllend wie ein verwundetes Tier warf er sich nieder, um mit dem Kopf auf den Boden zu hämmern.

Und nun, als gehorchten sie einem Ritus ihrer Rasse, setzten sich die kleinen Alcaparrones gleichfalls in Bewegung. Allesamt stürmten sie zur Tür hinaus und erfüllten den ganzen Hof mit ihrem Jammern.

»Chuy, Chuy! Die arme Maruja ist tot! Chuy! …«

Wie kleine Kobolde rasten sie durch alle Baulichkeiten, als sollte selbst die Tierwelt von ihrem Schmerz erfahren. Sie flitzten in den Ställen zwischen den Beinen von Eseln und Pferden hindurch, rannten in den Geflügelhof, immer wieder ihre Klagen um den Tod der Schwester wiederholend; sie huschten durch Scheunen und Tennen, stießen, blind vor Tränen, hier einen Pflug um, dort einen Stuhl, prallten bald gegen einen Türrahmen, bald gegen eine Mauerecke. Und überallhin jagten ihnen die Hunde nach und vereinigten ihr Gebell mit dem verzweifelten Wehgeschrei.

Einige Arbeiter griffen die besessenen Kerlchen im Vorbeigehen auf und hoben sie hoch in die Luft. Aber auch so – gefangen wie sie waren – bewegten sie ihre Arme und Beine nicht weniger heftig und heulten ohne Unterlaß:

»Chuy, Chuy! Maruja ist tot. Chuy … y … y.«

Schließlich bildete die Familie, erschöpft von ihren wilden Schmerzkundgebungen, von neuem einen Kreis um die Verblichene. Juanon erbot sich, mit einigen Freunden die Totenwache zu halten, damit die Hinterbliebenen nach so vielen schlaflosen Nächten endlich einmal der Ruhe pflegen könnten. Doch die alte Zigeunerin bedeutete ihm heftig, daß die Tote keinen Augenblick länger in Matanzuela bleiben solle.

»Auf einem Karren, auf einem Esel oder, wenn nötig, auch auf unseren Schultern bringen wir sie sofort nach Jerez. Wie eine Königin soll sie begraben werden! Meint ihr, die Alcaparrones seien Vagabunden, daß sie sich hier einscharren lassen? Zahlreich wie Sand am Meer ist unser Geschlecht. Obwohl wir hier arm sind, haben wir dennoch Verwandte, die euch von oben bis unten mit Goldunzen zudecken können und Pferde und Maultiere regimenterweise zu den Viehmärkten treiben. Nein, vor Tagesanbruch soll meine Turteltaube, so herausgeputzt und so hübsch wie die Mutter Gottes selbst, aufgebahrt sein und der Großvater, der älteste Zigeuner Andalusiens, sie mit seinen zitternden Händen segnen.«

»Ich werde euch einen Gutswagen zur Verfügung stellen. Wenn ihr wollt, kann Zarandilla sogleich anspannen.« Es war Rafael, der dieses Angebot machte.

Die alte Zigeunerin fuhr herum; ihre Äuglein funkelten giftig.

»Bist du da, du Schuft? … Sieh hin – da liegt das arme Kind, das du ermordet hast!«

»Deine Schmähreden kannst du für dich behalten, alte Hexe«, herrschte der Verwalter sie an. »Was jene Nacht anbelangt, so sollte ich meinen, daß du schuldiger bist als ich.«

Aber seine Worte gössen nur Öl ins Feuer.

»Hört den Erzlügner!« kreischte seine Feindin. »Du Lump, du hast das alles angezettelt. Verflucht sollst du sein und mit dir dein Herr!« Sie schien das letzte Wort zu bereuen, hielt inne und verbesserte sich gleich darauf. »Nein, der Herr nicht. Er ist reich und jung; er hat das Recht, sich zu amüsieren. Aber dich soll mein Fluch treffen, dich, der du die Arbeiter hetzst, als wären es Neger, und dem Gebieter die jungen Mädchen verschaffst, damit er bei deinen Spitzbübereien ein Auge zudrückt. Da, nimm deine fünf Duros, du Kuppler!«

Hastig durchwühlte sie ihre Taschen nach dem Gelde – mit dem festen Vorsatz, es nie zu finden. Nichtsdestoweniger war ihr Gehabe ungemein dramatisch.

»Nimm es, du krätziger Hund! … Dein Dreckgeld soll zu Gift werden und dir das Herz lähmen!« Und mit hochmütiger Miene tat sie, als ob sie etwas auf den Boden würfe.

»Lärm doch nicht so am Totenbette deines Kindes«, mischte sich Don Fernando ein und trat zwischen die beiden, womit er erreichte, daß die Alte hinter dem Schutzwall seines Körpers noch heftiger zu keifen begann.

»Das Mädchen, das du liebst, soll verrecken, hörst du wohl?« Ihr braunes Hexengesicht spähte über Salvatierras Schulter. »Steif und starr wie meine Maruja soll es vor dir liegen …«

Während der junge Verwalter bisher kühl, halb verächtlich ihren Wortschwall hatte über sich ergehen lassen, mußten ihn die Leute jetzt festhalten.

»Du Satanshexe!« brüllte er. »Mir sag, was du willst! Sprichst du jedoch noch einmal von ihr, so wirst du was erleben!«

Die Arbeiter hatten Mühe, den Rasenden wegzuführen. An der Tür traf ihn die letzte schrille Verwünschung.

»Ja, scher dich raus, du Galgenstrick … Und Gott geb's, daß dein Mädchen im Weinberg von einem anderen Mann entjungfert wird!«

Zwanzig Minuten später fuhr Zarandilla vor der Tagelöhnerbaracke vor.

»Armes Würmchen, wiegt nicht mehr als ein Strohhalm«, äußerte Juanon traurig, als er die in ein Laken gehüllte Leiche auf den Wagen legte.

Dann setzte sich das Gefährt in Bewegung. Hinter ihm schritt die Alte, umringt von ihren kleinen Sprößlingen, weinend und jammernd; in einem gewissen Abstände folgte ihr ältester Sohn mit Salvatierra, der es sich nicht nehmen ließ, die verzweifelte Familie bis zur Grajoschenke zu begleiten.

»Sie war zu gut, Señor, deswegen mußte sie so bald von uns gehen«, stöhnte Alcaparron. »Wie sorgte sie für uns alle, wie nahm sie mich stets bei der Mutter in Schutz, wenn ich etwas ausgefressen hatte! Ich habe Maruja sehr geliebt, Señor. Einmal hatte ich eine Braut – das heißt, ich habe viele gehabt; diese jedoch war, obwohl sie nicht zu unserem Volk gehörte, eine richtige Braut. Eine Waise, Eigentümerin eines netten Häuschens in Jerez und wegen meiner Stimme bis über die Ohren in mich verliebt. Kurz vor der Hochzeit sagte ich ihr: »Meine Mutter und meine Stiefschwester haben so lange ein Hundeleben in der Tagelöhnerbaracke geführt, daß sie sich jetzt ein Weilchen bei uns ausruhen sollen. Wir beide sind gesund und stark und werden derweile im Stall schlafen.« Meine Braut weigerte sich und setzte auch mich vor die Tür. Doch das hat mich nicht sehr bekümmert, denn ich blieb bei Maruja, und die war mehr wert als alle anderen zusammen. Kein anderes Mädchen ist mir so lieb gewesen wie Maruja … Wie soll ich Ihnen das nur erklären? Es war so … ja, beinahe so, wie der Pfarrer die Madonna liebt. Und nun ist sie tot, meine Rosenknospe, mein süßes Nesthäkchen! Aaaay! …«

Und das kleine Völkchen vor ihm beantwortete seinen Klageruf durch eine Explosion schriller Jammerlaute, die das Schweigen der Felder unheimlich zerriß.

»Señor«, flehte der Zigeuner, »Sie wissen so viel: glauben Sie, daß ich Maruja noch einmal wiedersehen werde?«

Unwillkürlich wurde Salvatierra bei dieser Frage an den schmucklosen Erdhügel in Cadiz erinnert. Barg er wirklich alles, was von der seltenen Frau, deren Leben aus Liebe und Aufopferung bestanden hatte, übriggeblieben war? …

»Alcaparron«, begann er, um der einfachen Seele, die in ihrer Beklommenheit von ihm Trost begehrte, zu helfen, »die Wissenschaft lehrt und unser Verstand bestätigt es, daß es kein jenseitiges Leben gibt, daß das Paradies der Religionen eine Lüge ist. Aber als ich am Grabe meiner Mutter stand, habe ich zum erstenmal meine Überzeugung wanken gefühlt. Etwas von uns bleibt wohl doch bei denen, die wir auf Erden zurücklassen – etwas Ungreifbares, Undefinierbares, das der Stempel unserer Persönlichkeit war. Und wenn ich bei der Erinnerung an diesen dürftigen, von Gänseblümchen überwucherten Erdhügel weinen möchte, so tröste ich mich mit dem Gedanken, daß etwas von ihr mich begleitet, mich umwebt und zärtlich einhüllt … ›Lüge‹, ruft mir die Vernunft zu. Doch ich mache mich taub; ich will träumen, will schöne Lügen zu meinem Trost erfinden … Und vielleicht ist in diesem Lufthauch, der mir jetzt das Gesicht fächelt, etwas von den weichen Händen, die mich zum letztenmal streichelten, als ich ins Zuchthaus ging.«

Er blieb stehen, um sich von dem Zigeuner zu verabschieden, denn zu sehen des Weges blinkten die erleuchteten Fenster der Grajoschenke.

»Wiedersehen, wie du sie gekannt hast, wirst du Maruja nicht, Alcaparron. Wer weiß jedoch, ob nicht in jenem Stern dort oben, der dir zublinzelt, etwas von dem Lichte jener Augen ist, die du so liebtest …«

Müde stieg Salvatierra die Stufen zur Taverne hinauf, während das Knarren der ungefügen Räder im Dunkel der Nacht verklang.

 

Als mit dem Monat September die Weinlese nahte, sorgten sich die Reichen von Jerez weniger um den guten oder schlechten Ausfall der Ernte als um die Haltung der Winzer.

Selbst die leichtlebigsten Señoritos des Reitklubs sprachen nur noch von diesen sonnenverbrannten, gehässig blickenden Leuten.

Was wollten sie eigentlich, diese unzufriedenen Gesellen? Ihr Tagelohn betrug zehn Reales nebst acht Zigaretten; man gewährte ihnen eine Stunde Mittagspause; jeder einzelne schlief auf einer Binsenmatte, über die er sich nach Belieben ein Laken breiten konnte. War das nicht ein Schwelgerdasein? Und dennoch verlangten sie Reformen und drohten mit Streik?

»Von euren Tagelöhnern stammt dieser aufrührerische Geist«, sagten die Herren der Weinberge zu den Gutsbesitzern, »und die armen Kerle verdienen ja auch ein besseres Los. Zwei Reales Lohn, die ewige Brotsuppe und der nackte Boden als Bett!«

Zornentbrannt wiesen die Gutsherren den Vorwurf zurück. Als ob sich die Löhne nicht nach den Erträgnissen des Grund und Bodens richten müßten! Als ob man Weizen, Gerste oder Vieh mit den weltberühmten Reben vergleichen könnte! … Wahre Goldgruben waren die Weinberge! Und die Winzer hatten schon recht, wenn sie sich über die Knickrigkeit jener, die dank ihrer Arbeit im Gelde schwammen, beklagten …

So ging der Zank ständig hin und her. Jede Behaglichkeit schwand – das Roulette stand still, die Karten blieben unberührt auf dem grünen Tuch liegen, und sogar die hübschen Mädchen trippelten unbeachtet an den Kasinos der Calle Larga vorbei.

Der Kastellan vom Reitklub suchte wie verrückt nach dem Schlüssel zur »Bibliothek«, wie man den im dunkelsten Winkel des Spielsaals trauernden alten Wandschrank in den Statuten hochtrabend nannte. Denn etliche Mitglieder wurden von heftigem Wissensdurst befallen und wollten aus den verstaubten, nie beachteten Büchern nunmehr erfahren, was es mit den sozialistischen Ideen, die den Arbeitern den Kopf verdrehten, auf sich habe. Es mangelte andererseits auch nicht an solchen, die diese Anwandlungen von vornherein verdammten.

»Bücher? Damit erschwert man sich das Leben. Wenn die Arbeiter heutzutage weniger erpicht auf Zeitungen und Broschüren wären, stände alles besser. Je weniger ein Mensch weiß, desto glücklicher ist er.«

Und unwirsch schauten sie nach dem schmalen Schrank, als wäre er ein Depot von Schlechtigkeit, während das unglückliche Möbel in Wirklichkeit einen Schatz harmloser Bände verwahrte, zum größten Teil Geschenke des Landwirtschaftsministeriums. Ratgeber für Schafkreuzungen, Leitfäden für Kaninchenzucht; Richtschnüre zur sachgemäßen Pflege von Kanarienvögeln und dergleichen mehr, nicht zu vergessen die patriotischen Liedersammlungen sowie die Gesänge zu Ehren der Jungfrau Maria.

Indes die Reichen sich entrüsteten und stritten, zog die Bewegung unter den Arbeitern immer weitere Kreise. Hie und da kam es zu kleineren Streiks, die wegen mangelnder einheitlicher Führung allerdings wenig Erfolg zeitigten. Immerhin verstanden sich verschiedene Weingutsbesitzer aus Angst, daß ihnen zur Zeit der Lese die unentbehrlichen Arme fehlen könnten, zu gewissen Zugeständnissen, freilich nicht ohne den hinterhältigen Vorsatz, Vergeltung zu üben, sobald die letzte Rebe in der Kelter lag.

Andere, gerade die reichsten, hielten es für »schimpflich«, mit Sozialisten zu verhandeln. Don Pablo Dupont war der hitzigste von ihnen. Eher würde er seine gesamten Kellereien schließen, eher die ganze Ernte von Marchamalo preisgeben, bevor er sich vor dieser Bande duckte und ihr zu Willen war. Ihm Bedingungen zu stellen, ihm, der wie ein Vater für das leibliche Wohl seiner Arbeiter sorgte und sich noch mehr die Rettung ihrer Seelen angelegen sein ließ, indem er sie vor dem »groben Materialismus« bewahrte! …

»Es ist eine Prinzipienfrage«, erklärte er im Kontor auch seinen Beamten, die zustimmend mit den Köpfen nickten, noch ehe er zu Ende gesprochen hatte. »Ich bin fähig, ihnen sogar mehr zu geben, als sie jetzt wünschen. Doch sie sollen mir keine Forderungen stellen – das bedeutet, mein geheiligstes Herrenrecht verneinen.«

Und Pablo Dupont, emsig auf die Verteidigung dessen bedacht, was er seine Rechte betitelte, weigerte sich nicht allein, die Vorschläge seiner Arbeiter auch nur anzuhören, sondern jagte, noch bevor es zu irgendeiner Aktion ihrerseits gekommen war, fast zweihundert Winzer, die man ihm als Hetzer bezeichnet hatte, Knall und Fall davon. Vorher hatte er sich indes genügend Ersatz gesichert. Junge Mädchen aus der Sierra und Zigeunerinnen aus Jerez begannen, durch den ungewöhnlich hohen Lohn verlockt, auf den Hängen von Marchamalo umherzuklettern und die Reben abzuschneiden, während die arbeitslosen Winzer ihnen vom Weg aus Schimpfworte zuriefen.

Diese Streikbewegung fiel zusammen mit Luis Duponts Abkehr von seinem früheren Lebenswandel. Keine Weiber, kein Skandal mehr. Tatsächlich schien es dem Liederjan ernst zu sein, so daß sogar sein mächtiger Vetter ihm eitel Wohlwollen zeigte. Gewiß zechte der Señorito auch weiterhin in seinen geliebten Tavernen, aber jetzt mit Politikern, mit Leuten, die bei den Wahlen mitzureden hatten, um so rechtzeitig für Popularität zu sorgen. Und eine gelegentliche Sauferei nahm ohnehin niemand übel – es war Landessitte.

Im Reitklub mied er die Gesellschaft der jungen Herren und setzte sich zu den Papas, gravitätischen Großgrundbesitzern, die seinen Worten eine gewisse Aufmerksamkeit schenkten. Er plapperte allerdings nur nach, was er von Vetter Pablo und von den im Dupontschen Palais verkehrenden Geistlichen über die Arbeiterfrage gehört hatte, aber sein eigener Vorschlag, sie mit Gewalt zu lösen, entsprach durchaus dem Empfinden seiner ebenso reichen wie brutalen Zuhörer.

»Immer wird es Reiche und Arme, Hungernde und Satte geben«, eiferte der Señorito, »und lediglich Verrückte oder Verbrecher können von Gleichheit träumen. Gleichheit!« Er lachte hämisch über diese edelste aller menschlichen Bestrebungen. »Nicht einmal im Himmel gibt es das! Verdient ein Kerl, der davon faselt, nicht die Zwangsjacke?«

Die würdigen Papas nickten mit gönnerhafter Miene und fanden es höchst bedauerlich, daß nur ihr kleiner auserlesener Kreis diese gerechte Kritik vernahm.

»Was den Proletariern not tut, sind nicht so sehr hohe Löhne, als die Tröstungen der Religion«, fuhr, durch ihre Zustimmung angefeuert, der Redner fort. »Sehen Sie sich unsere Leute in Jerez an – sie glauben an nichts, gehen nicht zur Messe, machen sich lustig über die Geistlichen und denken einzig und allein an ihre soziale Revolution, in der Kapitalisten und Jesuiten der Hals abgeschnitten wird. Weil ihnen der Trost fehlt, daß alles Ungemach hienieden im Jenseits wieder gutgemacht wird, empfinden sie ihr Elend natürlich als unerträglich. Diese religionslose Horde verdient ihr Geschick. Weiß Gott, sie hat kein Recht, sich über ihre Herren zu beklagen, denn die bemühen sich, sie auf den guten Weg zurückzubringen; sie soll lieber die wahren Urheber ihres Unglücks zur Verantwortung ziehen: Salvatierra und ähnliche, die ihr den Glauben nahmen!

Wozu, glauben Sie, Señores, würde eine Lohnerhöhung führen? … Das Laster zu pflegen, weiter nichts. Was kann von Leuten Gutes kommen, denen der Suff am Herzen liegt? … Diese Proletarier sparen nicht, haben nie gespart. Bitte, zeigen Sie mir doch einen Arbeiter, der etwas auf die hohe Kante gelegt hat.«

Wiederum nickten die Köpfe, und der Redner schaute triumphierend umher, blind gegen die grausame Ironie, daß ein Mensch von seinen paar Reales Lohn – zuwenig zum Leben und zuviel zum Sterben – Ersparnisse machen sollte.

»Daß es zu den heutigen anarchistischen Zuständen gekommen ist, daran hat die Regierung ein gut Teil schuld. Sobald sich die ersten Streikgelüste regten, hätte sie einige Bataillone nach Jerez schicken müssen – und Kanonen. Señores, ich habe mich mit Geschichte befaßt: Wissen Sie, warum Frankreich ein viel reicheres und blühenderes Land ist als unser Spanien? Weil es die Kommune in Blut erstickt hat, weil es innerhalb weniger Tage mit reichlich vierzigtausend dieser Banditen aufräumte und, um schneller mit ihnen aufräumen zu können, Mitrailleusen gebrauchte. Meine Herren, ich bin wahrlich kein Freund Frankreichs; schon daß es eine Republik ist, stößt mich ab, und außerdem diese vielen Freigeister, die unsere heilige Kirche und ihre Diener verspotten. Aber einen Mann von Thiers' Art wünsche ich unserem Lande, so einen, der die Canaille zusammenschießen läßt.«

Luis Duponts Lächeln offenbarte, daß er sich durchaus die Eigenschaften zutraute, um als spanischer Thiers zu wirken.

»Der Aderlaß, der vorzunehmen ist, muß so groß sein, daß er der revoltierenden Bestie alle Kraft nimmt«, entwickelte Don Luis seine Theorien; »meines Erachtens wäre es daher zweckmäßig, den Stier zu reizen, das heißt die Arbeiter derart zu drangsalieren, daß sie sich, noch ehe der Generalstreik erklärt wird, zu Gewaltakten hinreißen lassen. Und dann das Militär einsetzen. Wozu bezahlen wir denn sonst das Heer? … Die Führer und Schürer sollten allerdings noch früher unschädlich gemacht werden. Eine Salve für all diese Kerle, durch die das flache Land mit giftigen Broschüren und Büchern verseucht wird! Eine Salve für die Redner bei den geheimen nächtlichen Zusammenkünften sowie für die gefährlichen Intellektuellen in den Weinbergen, die, des Lesens und Schreibens kundig, ihren Kumpanen die sozialistischen Zeitungen vorlesen! Fernando Salvatierra mag meinetwegen mit dem Irrenhaus davonkommen, wo er für den Rest seines Lebens von Revolution und Aufteilung des Großgrundbesitzes schwätzen kann.«

Die Graubärte, die stundenlang in feierlichem Schweigen bei der Flasche zu hocken pflegten, wurden lebendig.

»Der Junge hat Talent«, bemerkte einer, als Dupont sich bescheiden zurückgezogen hatte. Und der reichste Pferdezüchter dekretierte kurz: »Abgemacht, wir stellen ihn bei den nächsten Wahlen auf. Sein Mandat ist gesichert, sofern Pablo Dupont noch etwas Geld für Propaganda springen läßt.«

Gänzlich aber vermochten diese Triumphe in Klubs und Kasinos Luis nicht für die Fadheit eines gesitteten Lebens zu entschädigen.

»Jetzt habe ich die Herren aber wirklich satt«, gestand er seinem getreuen Bock. »Komm … ein wenig Landluft wird dem Körper guttun.«

Lebhaftes Interesse für die Weinlese heuchelnd, womit er sich noch fester in Don Pablos Gunst einzuschmeicheln hoffte, fuhr er hinaus nach Marchamalo und scherzte mit den jungen Winzerinnen, die so herzhaft über seine Spaße zu lachen verstanden.

Der alte Pedro betrachtete diese häufigen Besuche als eine Ehre. Über das böse Vorkommnis in Matanzuela war Gras gewachsen; Don Luis hatte sich ja völlig geändert, war ein ernsthafter Mann geworden, der vor den Versuchungen der Stadt in den Weinberg floh.

Auch Maria Luz nahm ihn freundlich auf, duzte ihn wie in den Kinderjahren und sagte sich, daß es schon die Klugheit erfordere, sich gut mit Matanzuelas Herrn zu stellen, von dem ihr und Rafaels Geschick abhing.

Immer häufiger fand sich Luis Dupont ein, entzückt von dem ländlichen Leben, und blieb, wenn es spät geworden war, sogar über Nacht.

»Ich lebe dort wie ein Patriarch – umgeben von jungen Mädchen, die mich lieben, als wäre ich ihr Vater«, versicherte er seinen Freunden in Jerez, obwohl diese nicht so recht an die harmlosen Zerstreuungen des Schürzenjägers glaubten.

Wenn nach Sonnenuntergang ein frischer Abendwind zu wehen begann, wurde es auf der tagsüber öden Schloßterrasse lebendig. Der Bock mußte einige erlesene Flaschen Wein entkorken, und von ihrem Vater auf der Gitarre begleitet, sang Maria Luz die schönsten Volkslieder. Freundlich funkelten die Sterne auf den frohen Kreis herab, und die Arbeiterinnen, die so viel über den schrecklichen Don Luis gehört hatten, meinten, daß er doch nicht so schlimm sein könne wie sein Ruf.

Dann nahm er Maria Luz bei der Hand, führte sie in die Mitte, und die beiden tanzten Sevillanas mit einer Anmut, daß die Zuschauer stürmisch Beifall klatschten.

»Bravo, bravo!« rief Pedro Montenegro, seine Gitarre ungestümer schlagend. »Das ist ein Tänzerpaar, wie man es nicht jeden Tag findet.«

Bald regierte Luis Dupont über den Weinberg, als sei er der Herr. Der allmächtige Don Pablo weilte mit seinen Damen in einem Seebad der Nordküste, um anschließend hieran der Geburtsstätte des Heiligen Ignatius von Loyola einen Besuch abzustatten, und erhielt von seinem Vetter lange Berichte über den Stand der Arbeiten in Marchamalo und die unermüdliche Sorge, mit der dieser persönlich die Ernte überwachte.

Und man konnte nicht leugnen, daß Luis, dem die Besuche anfänglich nur ein Zeitvertreib gewesen waren, sich allmählich ernstlich um die Lese kümmerte. Ihn trieb der Wunsch, die Winzer zu besiegen und den Streik wertlos zu machen. Schließlich siedelte er ganz ins Schloß über und schwor, daß er sich nicht von der Stelle rühren würde, ehe die Weinlese beendigt sei.

»Das klappt«, meinte er, boshaft mit den Augen blinzelnd, zu Pedro Montenegro. »Oh, diese Banditen werden vor Wut platzen, wenn sie sehen, daß wir mit Frauen und einigen wenigen getreuen Männern alles ohne sie schaffen! Und jeden Abend ein fröhliches Tänzchen, Pedro, damit sich ihre Wut zur Weißglut steigert …«

So vollzog sich die Weinlese unter Musik, Lachen und Gläserklang. Im Leutehaus, dem sonst, wenn Don Pablo Dupont zugegen war, eine klösterliche Stille und Disziplin auferlegt wurde, herrschte bis zur vorgerückten Nachtstunde fröhlicher Trubel. Die an schmale Kost gewohnten Frauen und Mädchen rissen ihre Augen erstaunt auf, als Don Luis nicht nur so viel Wein, wie sie mochten, spendierte, sondern auch dann und wann frisches Fleisch aus der Stadt bestellte. Und seine dankbare Schar musternd, lachte er:

»Solltet ihr mit einem der Streikenden zusammentreffen, so sagt ihm, wie die Duponts ihre Leute behandeln. Sagt die Wahrheit, die nackte, pure Wahrheit!«

Tagsüber, wenn der kalkige Boden von der Sonne unbarmherzig geröstet wurde, schaukelte sich Don Luis – in Gesellschaft des Bocks und einer eisgekühlten Flasche – in der Hängematte und glaubte ernstlich, eine große soziale Funktion zu erfüllen, wenn er von seinem schattigen Fleck aus Hunderten von Menschen zusah, die unter dem Feuerregen keuchten. An den Hängen leuchteten blaue oder rosa Kleider, hin und wieder auch das weiße Hemd eines Mannes. Die bunten Flecke bewegten sich von Rebstock zu Rebstock, um zwischen dem Gewirr grüner und roter Ranken die Trauben zu schneiden, die voll und schwer auf dem Kalkboden ruhten und bis zum letzten Moment seine Wärme aufsogen.

Junge Mädchen schleppten auch die vollen Körbe zur Kelter, und wenn sie im endlosen Rosenkranz an dem Señorito vorbeizogen, schenkte er ihnen, beim Gedanken an die Schönheit der Arbeit, ein gütiges Lächeln.

Bisweilen wurde ihm jedoch das Alleinsein oder die Gesellschaft des maulfaulen Bocks langweilig, worauf er den von Hügel zu Hügel wandernden Aufseher herbefahl, um sich mit ihm über die Streikbewegung zu unterhalten.

»Der Hunger ist groß«, meinte Pedro mit der Überzeugung des Bauern, der den Magen als Urheber aller Aktionen betrachtet. »Und Hunger bedeutet Unordnung, Schlägerei und Tumult. Mich soll's wundern, ob nicht die Zimmerleute schließlich wieder auf dem Gefängnisplatz Gerüste aufschlagen …«

Der Greis schien die Katastrophe zu riechen, aber er wartete ihr Nahen mit egoistischer Ruhe ab, da die beiden Männer, an denen sein Herz hing, nicht in Jerez waren.

Fermin befand sich in Malaga, wo er bei dem Zusammenbruch einer dortigen Firma die Interessen der »Gebrüder Dupont« wahrnahm. Der Herrgott mochte geben, daß ihn die Abwicklung der Geschäfte dort noch recht lange festhielt! Denn der Junge, aufgewachsen in den Ideen Salvatierras, würde sicherlich Partei für die Streikenden ergreifen.

Salvatierra selbst war durch die Gendarmerie aus Jerez entfernt worden. Bei den ersten Vorboten des Streiks hatten die Gutsbesitzer den betagten Führer, dessen Einfluß sie die unbotmäßige Haltung der Arbeiterschaft zuschrieben, durch Dritte wissen lassen, daß es besser sei, wenn er ungesäumt das Feld räume. Auch die Funktionäre der wenigen Organisationen bestürmten ihn daraufhin, rechtzeitig zu flüchten. An Unterdrückung und Gewalttätigkeit gewöhnt, legten sie diese Aufforderung der Machthaber als eine verblümte Todesdrohung aus – vielleicht würde man ihn nachts in einer geeigneten Straße erstechen oder bei einer seiner Wanderungen über Land einfach verschwinden lassen, wie es schon manchem von geringerer Bedeutung geschehen war.

Don Fernando indes antwortete auf alle Vorstellungen hartnäckig: »Ich bleibe.« Schließlich gruben die Behörden die Akten eines der vielen gegen ihn schwebenden Verfahren wegen revolutionärer Umtriebe aus, mit dem Erfolg, daß irgendein Untersuchungsrichter ihn nach Madrid lud. Begleitet von Gendarmen, trat Don Fernando die Fahrt nach der Hauptstadt an, als sei es ihm vom Schicksal bestimmt, immer zwischen zwei Gewehren zu reisen.

»Es wird fraglos Blut fließen, Señorito«, fuhr der Aufseher fort. »Vorläufig schreien nur die Winzer; bedenken Sie jedoch, daß es der schlimmste Monat für die Landarbeiter ist. Das Getreide wurde eingebracht, der Drusch beendet, und bis die Saatzeit beginnt, sind Tausende und aber Tausende gezwungen, die Hände in den Schoß zu legen; sie werden sicher nach der Weise tanzen, die man ihnen vorspielt, und mit den Winzern gemeinsame Sache machen. Und dann? … Schon sind mehrere Strohschober in Flammen aufgegangen, ohne daß man die Brandstifter faßte.«

»Um so besser, wenn sie gemeinsame Sache machen«, klang es aus der Hängematte. »Dann kann man die ganze Bande auf einmal massakrieren und den Geist der Ordnung und Zucht wiederherstellen.«

Doch Pedro schüttelte bestürzt den Kopf.

»Das wäre schlimm, sehr schlimm. Auf diese Art wird keine Verständigung mit den Arbeitern erzielt. Ein blutiger Friede ist ein schlechter Friede. Glauben Sie es einem alten Manne, der genug Aufstände erlebt hat.«

Wußte Don Luis auf die Einwände des Alten nichts mehr zu erwidern, so suchte er Maria Luz auf. Er hatte ihre brünette Schönheit stets gewürdigt, aber infolge der Enthaltsamkeit, deren er sich in Marchamalo befleißigte, erschien ihm das junge Mädchen plötzlich reizvoller und verführerischer als die kleine Marquise und sämtliche Mädels von Jerez.

Doch er bändigte seine Regungen und versteckte sie unter einer fröhlichen Vertraulichkeit. Wenn er sich dennoch gelegentlich eine Dreistigkeit erlaubte, die dem Mädchen mißfiel, dann mußte gleich die gemeinsame Kinderzeit herhalten.

»Sind wir nicht zusammen aufgewachsen, du Dummerchen … Wie kannst du in mir etwas anderes sehen als einen Bruder – genau wie Fermin es ist?«

Er hatte heillose Angst, sich gerade im Haus seines gestrengen Vetters etwas zuschulden kommen zu lassen. Den Teufel auch, was würde Pablo sagen, der aus Ehrfurcht vor seinem verstorbenen Vater die Familie Montenegro wie einen bescheidenen Zweig der eigenen behandelte!

Trotzdem konnte er es sich nicht versagen, das junge Mädchen, so oft er es erblickte, mit einem Schwall süßer Komplimente zu überfallen. Aber seine Schmeicheleien machten auf Maria Luz, die an die überschwengliche Galanterie Andalusiens gewöhnt war, gar keinen Eindruck.

»Tirili, Luis!« lachte sie ihn aus. »Was bist du doch für ein scharmanter junger Herr! Wenn du so fortfährst, werde ich mich noch in dich verlieben.«

Einmal jedoch gab er seiner Gier so weit nach, daß er eine zudringliche Liebkosung mit den Händen wagte.

Maria Luz sprang auf, starrte ihn zornig an.

»Was fällt dir ein, Luis? Willst du vielleicht eine Backpfeife haben, die man bis Jerez hören kann?«

Und wie immer verschanzte sich Don Luis hinter ihrer gemeinsamen Kinderzeit.

»Mein Gott, sei doch friedlich! Ich habe dich nur geneckt, weil du dann dein Mäulchen so nett verziehst. Du weißt doch, daß ich dein großer Bruder bin.«

»Gut, aber der Bruder halte seine Pfoten gefälligst dort, wohin sie gehören … Süßholz raspeln darfst du, soviel du willst; doch wenn du mich anfaßt, mein Junge, so bestelle dir vorher ein anderes Gesicht, denn von dem da werden meine Nägel nicht viel übriglassen.«

Alle acht Tage kam auch Rafael von Matanzuela herübergeritten. Doch sogar er, dessen Hand gleich zum Messer zuckte, sobald sich jemand um seine Verlobte bemühte, glaubte an die brüderlichen Gefühle Duponts. Höchstens empfand er ein wenig Neid, daß der Señorito so viel eleganter tanzte als er selbst …

Als die Weinlese beendet war, kannte Don Luis' Stolz keine Grenzen.

»Was sagst du nun, Pedro? … Nicht einer von den Streikenden hat sich gemuckst und versucht, die Arbeit zu stören. Na ja, sie wissen ganz gut, daß ich sie mit Kugeln empfangen hätte … Diesen Sieg müssen wir extra feiern. Und wie feiern! … Ich fahre jetzt zur Stadt, um das Allerbeste aus meines Vetters Bodega zu holen. Ein paar nette Sängerinnen bringe ich ebenfalls mit, damit Maria Luz nicht immer allein die Kosten der Unterhaltung bestreiten muß. Wie meinst du? … Solche Weiber gehörten nicht nach Marchamalo? … Pedro, du bist ein eingerosteter Pedant. Gut, ich tue dir den Gefallen, aber dafür wollen wir uns am Wein schadlos halten. Und getanzt wird, bis die Beine lahm sind.«

Er kehrte zurück bei hereinbrechender Nacht. Eine schwüle Sommernacht ohne den leisesten Windhauch. Vom Boden stieg ein heißer Dunst auf, und das Blau des Himmels trübten Schleier, die das Licht der Sterne verschwommen durchbrach. Heimchen zirpten, wütend über die Glut der Erdscholle; die Frösche quakten erregt, als brächte ihnen ihr Wassertümpel keine Erfrischung.

Während Duponts Leibwächter die unzähligen Flaschen unter den Arkaden in Reih und Glied aufstellten, packten die jungen Mädchen die schweren Körbe aus und verteilten Aufschnitt, kalte Braten und die saftigen, durstreizenden Oliven auf die lange Tafel.

Wie hübsch sie aussehen mit ihrem hellen Kattunröckchen, dem schneeweißen Hemd, das die braungebrannten Arme freiläßt, und dem bunten, über der Brust verschlungenen Tuch! dachte Don Luis, der zwischen dem Aufseher und Maria Luz an einem kleinen Tische saß. Starr und unbeweglich stiegen die roten Flammenzungen der Kerzen in die ruhige Nacht, und ringsum hielten die niedlichen Winzerinnen ihr Glas gegen den Lichtschein, um die wunderbare Farbe des Weins, der sie weit mehr als die Leckerbissen interessierte, zu bewundern. Und als sie kosteten, malte sich auf ihren Zügen eine maßlose Überraschung.

»Das sind die wahren Tränen Christi«, erklärte eine, wollüstig mit der Zunge schnalzend.

»Nein«, widersprach eine andere. »Es ist die echte Milch der Gottesmutter Anspielung auf die berühmten Weinmarken Lacrimae Christi und Liebfrauenmilch.

Luis Dupont ergötzte sich an ihrem Erstaunen, das gerechtfertigt war. Denn der Wein, den er ihnen kredenzte, gehörte zu den ältesten und kostbarsten Sorten der Firma. Jeder Tropfen war eine Peseta wert, und Don Pablo würde nicht schlecht über diese Plünderung seiner Kellereien wettern, wenn er demnächst davon erfuhr. Dennoch reute Luis seine Freigebigkeit nicht. Er kam sich wie ein altrömischer Patrizier vor, der seine Clientela und Sklaven mit einem Göttertrank berauscht.

»Trinkt, Kinder!« rief er in väterlichem Ton zu der großen Tafel hinüber. »Nutzt die Gelegenheit aus – so etwas wird euch nie wieder geboten werden. Ihr müßt nämlich wissen, daß dieser Jerez viel teurer ist als Champagner.«

Die Flaschen, die auf seinen Tisch kamen, waren eisgekühlt, wodurch der Wein noch süffiger wurde.

»Wie das runterläuft, ohne daß man es merkt«, schmunzelte der greise Aufseher. »Kühle auf der Zunge und Feuer im Bauch! Wir werden samt und sonders einen kleinen Schwips kriegen.«

Nichtsdestoweniger nahm er nach jedem Bissen einen kräftigen Schluck von dem kalten Nektar, den auf der ganzen Welt nur eine einzige Bodega führte. Auch seine Tochter mußte trotz anfänglichen Sträubens mithalten. Fortgesetzt stieß Don Luis mit ihr an, und ehe sie es sich versah, stand wieder ein volles Glas vor ihr.

»Nicht so schnell, Luis«, wehrte sie sich. »Dieser Wein ist gefährlich.«

»Gefährlich? Oh, du Klugschnabel! … Wie Wasser ist er. Wenn er dich auch ein bißchen benebelt – keine Angst, das gibt sich binnen kurzem.«

Als die Schüsseln leer waren, ertönten plötzlich die Gitarren. Im Nu hatten die jungen Mädchen die Tische beiseitegeräumt und setzten sich vor den Musikanten im Halbkreis auf den Boden. Obwohl sie bereits berauscht waren, tranken sie weiter. Auf ihrer Haut glitzerten Schweißtropfen; ihre Brust hob sich, als litten sie unter Luftmangel.

Und von ihrem taktmäßigen Händeklatschen angefeuert, tanzte der Señorito jetzt mit Maria Luz, deren Augen wie Kohle brannten, die berühmten Sevillanas.

Nie hatte man sie so leidenschaftlich tanzen sehen. Ihre nackten, weißen Arme rundeten sich um ihren Kopf wie zwei Henkel von Perlmutt. Unter dem Saum des im rasenden Wirbel zur Glocke gewordenen Kleides sah man die flinken kleinen Füße, kokett beschuht wie die einer eleganten Señorita.

»Ah, ich kann nicht mehr!« seufzte sie und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Alles fing an, sich um sie zu drehen … die Terrasse, die Menschen, ja selbst der große Turm von Marchamalo.

»Das macht die Hitze«, meinte der Vater.

»Ja, natürlich«, stimmte Luis Dupont bei, und ein neues Glas einschenkend, wandte er sich an die Erschöpfte: »Komm, trink … das wird dich erfrischen.«

Maria Luz stürzte das eiskalte Getränk hinunter, gierig, mit einem unstillbaren Durst. Und gleich hinterher ein zweites Glas.

»Luis, ich werde betrunken … ach, mir scheint, ich bin es schon!«

»Und wenn?« erwiderte er. »Mir, deinem Vater, uns allen geht es nicht anders. Dafür feiern wir eben … Noch ein Gläschen. Stoß an!«

Gitarren und Mandolinen klimperten und zirpten eine neue Melodie, zu der die Leibtrabanten mit leeren Flaschen einen klirrenden Takt schlugen. Schon drehten sich einige Winzer und Winzerinnen im Tanz, und da es an Männern fehlte, tanzten hie und da auch zwei Mädchen zusammen.

Maria Luz fühlte sich von Luis fortgezogen. Tanzen – wenn ihr der Kopf schwindelte und alles vor ihren Augen kreiste? … Aber zu betäubt, um sich ernstlich zu weigern, folgte sie ihrem Partner.

Nach kurzer Zeit lief Dupont der Schweiß von der Stirn. Starr und schwer hing die Tänzerin in seinen Armen; fast mußte er sie fortschleifen.

»Laß mich, Rafael«, murmelte sie jetzt. »Mir ist nicht gut.«

»Rafael? …« Dupont schaute lachend auf sie herab. »Ich heiße Luis, mein Fräulein.«

Maria Luz' Augen schlossen sich; sie lehnte, als hätte sie ihn nicht verstanden, ihren Kopf an seine Schulter, und im wilden Taumel der Gedanken wähnte sie im Leeren zu hängen. Gottlob, daß dieser Männerarm sie hielt! Wenn er losließ, mußte sie fallen, endlos fallen.

Luis Dupont war nicht weniger verwirrt. Er fühlte unter dem dünnen Stoff die festen Mädchenbrüste, und der Duft gesunder Schönheit, der Maria Luz' bloßen Armen und ihrem freien Hals entströmte, der leise Hauch ihrer Lippen, der kitzelnd seine Wange streifte, jagten wollüstige Schauer über seinen Rücken … Als er seine Tänzerin schließlich an ihren Platz zurückführte, schwankte sie hin und her, stöhnte und legte eine Hand auf die Stirn, wie von Schmerz gepeinigt.

Die übrigen Paare tanzten weiter, wild und ausgelassen, stießen sich und rempelten sich an. Plötzlich begannen zwei der Winzer sich dieselbe Tänzerin streitig zu machen. Flüche … Schmähworte … Drohungen, so daß die Musik abbrach. Und weil die Trunkenheit ihnen das Blut erhitzte, liefen die beiden zum Leutehaus, um den Konflikt mit den breiten, schweren Rebenmessern auszutragen.

Aber Don Luis war schneller als sie.

»Seid ihr verrückt«, schalt er, indem er ihnen den Weg versperrte, »daß ihr euch wegen eines Mädchens umbringen wollt, wenn hundert andere auf einen Tänzer warten? … Los, vertragt euch, und verderbt uns nicht das schöne Fest!« Und er ruhte nicht, bis die zwei sich die Hand gegeben und miteinander angestoßen hatten. »So, jetzt wird weitergetanzt … Musik!«

Von neuem drehten sich die Paare, und Dupont kehrte in den Kreis der Zuschauer zurück. Wo aber war Maria Luz? Ihr Vater saß allein am Tisch, ganz versunken in die Beobachtung der geschwinden Finger Meister Pacorros, und hatte das Fehlen seiner Tochter wohl noch gar nicht bemerkt.

Von niemanden beachtet, schlich sich Luis Dupont zum Häuschen des Aufsehers, durchsuchte sämtliche Räume, wobei er, ohne zu wissen warum, die Türen geräuschlos öffnete und schloß. Maria Luz war aber weder hier noch in der Winzerherberge. Nun spähte er ins Kelterhaus, durch dessen Fenster die Sterne ein ungewisses Licht hereinträufelten.

Plötzlich glaubte er leise Atemzüge zu vernehmen, und als er dem Geräusch nachging, stolperten seine Füße über einen niedrigen Stoß übereinandergeschichteter Packleinwand. Er bückte sich, um besser sehen zu können, aber nicht seine Augen, sondern seine Hände gaben ihm schließlich die Gewißheit, daß es Maria Luz war … vielleicht hierher geflüchtet in einem dumpfen Gefühl von Scham.

Unter der Berührung von Duponts Händen schien sie einen Moment lang aus der Betäubung des Rausches zu erwachen. Ihr Körper richtete sich halb auf, die schwarzen Augen kämpften verzweifelt gegen die bleierne Schlafsucht an.

»Rafael … mein Rafael!« wisperte ihr heißer Mund, während die nackten Arme Duponts Hals umschlangen.

Mehr und mehr rollte sie in den dunklen Abgrund des Unbewußten und klammerte sich bei diesem schwindelnden Fall unter Aufbietung aller Energie an den einzigen Halt, den sie noch wahrnahm, indes der Rest ihres Körpers sich gefühllos ergab.

 

Gegen Mitte Januar hatte der Streik bereits die ganze Provinz ergriffen. Da jedoch die landwirtschaftlichen Arbeiten im Winter ruhten und die Pflege der Rebstöcke ortsfremden Streikbrechern anvertraut worden war, sahen die Besitzer dem Konflikt gelassen zu.

»Sie werden schon zu Kreuze kriechen«, hörte man in Kasinos und Klubs; »es ist ein harter Winter, und der Hunger zwickt sie arg.«

Aber ungeachtet dieses zur Schau getragenen Gleichmuts veranlaßten die Reichen von Jerez die Presse, vor allem die hauptstädtische, den Streik als ein Verbrechen an der ganzen Nation hinzustellen.

Die Regierung wurde wegen ihrer Schlappheit scharf angegriffen, und zahllose Artikel schilderten die Sachlage unentwegt so, als ob jeder Gutsbesitzer in seinem Hause belagert würde und sich mit Kugeln gegen die umstürzlerische Masse verteidigen müsse.

Wie immer, wenn die kapitalistische Presse Lamento erhebt, gab man in Madrid klein bei und schickte eine Abteilung Gendarmerie, ein Bataillon und eine Schwadron Dragoner nach Jerez, und die »anständigen Leute« – um Luis Duponts Worte zu gebrauchen – lächelten selig über die Bereicherung des Straßenbildes. Das Säbelrasseln war ihnen die schönste Musik, und ihr Herz ging auf, als sich in den Kasinos Offiziersuniformen zwischen die nüchternen Zivilkleider mischten.

Während die Besitzer sich bislang an den Streikenden, in deren Augen Hunger und Verzweiflung lauerten, scheu vorbeigedrückt hatten, lachten sie ihnen nunmehr überlegen ins Gesicht und geizten nicht mit hämischen Bemerkungen. Denn den Behörden dünkte es der geeignete Augenblick, Gewaltmaßregeln zu ergreifen.

»Über vierzig Gewerkschaftler sind bereits eingelocht«, frohlockten die Señores abends in den Kasinos. »Wenn erst mal zweihundert hinter Schloß und Riegel sitzen, werden sich die Wogen des Aufruhrs schon glätten.«

Gingen sie satt und selbstzufrieden gegen Mitternacht heim, so streckten ihnen Frauen in zerschlissenen Tüchern bettelnd die Hand entgegen.

»Caballero, wir verhungern. Unsere Kinder haben nichts zu essen!«

Aber die vornehmen Herren lachten höhnisch. Nun, warum holte man sich nicht bei Salvatierra und den übrigen Schürern das fehlende Brot? … Und beinahe verliebt blickten sie nach den Straßenpatrouillen.

»Fluch über euch!« gellte es ihnen aus dem Munde verzweifelter Mütter nach. »Gott geb's, daß wir Armen eines Tages zu befehlen haben!«

Fermin Montenegro verfolgte ingrimmig die Entwicklung dieses stillen Kampfes, doch ohne Beziehungen zu den Streikenden zu unterhalten. So oft der alte Pedro den von Malaga Heimgekehrten sah, riet er ihm strengste Neutralität an.

»Junge, da nützt weder die Gerechtigkeit ihrer Sache noch aller guter Wille – sie kämpfen vergeblich. Wie sollen sie denn gewinnen, wenn Don Fernando in ihrer Mitte fehlt? … Sie sind ein Heer ohne Führer, ein planlos zusammengeballter Gewalthaufen, den die Kapitalisten über kurz oder lang dezimieren werden. Warum willst du dir die Finger bei einer von vornherein verlorenen Sache verbrennen?«

Sein Sohn gehorchte; er schwieg, wenn im Büro die Speichellecker ihre Entrüstung gegen die Ausständigen möglichst laut und vernehmlich bekundeten, und schwieg auch, wenn sie Salvatierra persönlich verunglimpften. Überdies wurden durch Ereignisse im Familienkreis Fermins Gedanken bald gänzlich von dem Streik abgelenkt.

Als er eines Mittags aus dem Verwaltungsgebäude trat, um sich zum Essen zu begeben, stand auf dem kleinen Platz, den die Dupontschen Bodegas begrenzten, der Verwalter von Matanzuela. Aber wie hatte sich der schmuckste aller Reiter verändert! Ein hageres Gesicht, dessen Augen in dunklen Ringen versanken. Und seine Kleidung, auf die er sonst so viel Wert legte, war verstaubt und vernachlässigt.

»Was ist dir, Rafael? Bist du krank?« rief Fermin erschreckt.

»Kummer«, entgegnete der Gefragte lakonisch.

»An den beiden letzten Sonntagen hast du dich nicht in Marchamalo blicken lassen. Warum? Schmollt ihr beide, du und Maria Luz?«

»Ich muß mit dir sprechen, Fermin, aber nicht hier. Es nimmt Zeit in Anspruch.«

»Gut, gehen wir zum Montañes. Und während ich meinen Hunger stille, magst du mir dein Herz ausschütten.«

Im großen Speisezimmer der Taverne gab – wie der Wirt erzählte – Don Luis Dupont zu Ehren einer schönen Frau, die er sich aus Sevilla geholt hatte, ein kleines Fest, und um nicht von der Musik und der geräuschvollen Unterhaltung gestört zu werden, wählten die beiden Freunde einen kleinen Raum ganz am Ende des Korridors.

Kurz nachdem der Kellner die bestellten Speisen aufgetragen hatte, erschien er ungerufen noch einmal mit zwei Flaschen Wein.

»Don Luis hat erfahren, daß Sie hier sind, und schickt Ihnen dies. Außerdem läßt er sagen, Sie könnten verzehren, wonach Ihnen der Sinn steht – er wird alles bezahlen.«

Der Kellner verschwand, und Fermin reichte seinem Freund eine Schüssel.

»Greif zu!«

»Danke, ich esse nicht!«

»Ach so, du lebst wie alle Verliebten von Luft. Aber vielleicht trinkst du ein wenig?«

Rafael quittierte diese überflüssige Frage mit einem Achselzucken und stürzte zwei Glas Wein hinunter.

»Ich glaube, ich bin verrückt …«, murmelte er, als er das dritte in der Hand hielt. »Total verrückt.«

»Scheint mir auch so«, pflichtete ihm sein Gegenüber bei, ohne im Kauen aufzuhören.

»Fermin, der Teufel bläst mir furchtbare Greuel ein: wenn dein Vater nicht mein Pate wäre, würde ich Maria Luz schon lange umgebracht haben. Wirklich, ich schwöre es dir bei dem hier, dem einzigen Erbe meines seligen Vaters.«

Und mit einer wilden Geste öffnete er ein Dolchmesser in gelb gewordenen Elfenbeinschalen.

»Ein bißchen Selbstbeherrschung könnte dir nicht schaden.« Montenegro hatte die Gabel fallen lassen; über seine Stirn lief eine rote Wolke. Doch diese Aufwallung dauerte nur Sekunden. »Bah, alter Freund, ich denke nicht daran, dich ernst zu nehmen!«

Dem anderen stiegen Tränen in die Augen … jetzt rann eine sogar langsam über seine braune Backe.

»Du hast recht, Fermin: mein Mund spricht Barbareien, von denen mein Herz nichts weiß. Ich wollte, ich wäre tot.«

»Aber was soll denn das Geschwafel heißen?« verlor sein Freund die Geduld. »Sitzest da und heulst wie ein altes Weib bei der Fronleichnamsprozession. Was ist los mit meiner Schwester?«

»Maria Luz hat mit mir gebrochen. Sie will nichts mehr von mir wissen, will mich nicht mehr sehen.«

Montenegro lächelte.

»Das ist alles? Rafael, wegen einer Mädchenlaune stellst du dich so an? … Ich für mein Teil bin ja überhaupt nicht für diese jahrelangen platonischen Verlobungen mit Seufzern, Gram und Eifersüchteleien, wie sie bei uns Sitte sind. Dann und wann 'ne Nacht bei einem soliden Mädchen – das scheint mir bekömmlicher für die Gesundheit. Zu dem anderen Scharwenzeln fehlt mir außerdem die Zeit … Gräm dich doch nicht so, Junge! Dieser böse Wind wird schon vorübergehen; eines Tages wird dir Maria Luz ganz unvermutet gestehen, daß sie dich nur auf die Probe stellen wollte und dich noch viel lieber hat als früher.«

»Nein, Fermin. Ich habe gebettelt, ich habe gefleht – doch sie blieb unerbittlich.«

»Die Mädels sind unberechenbare Geschöpfe, und meine Schwester macht anscheinend keine Ausnahme. Welchen Grund gab sie dir denn an?«

»Daß sie kein Spürchen Liebe mehr für mich empfindet und nicht heucheln will. Als ich mich in meiner Verzweiflung schließlich zu Drohungen hinreißen ließ, schloß sie wortlos ihren Fensterladen. Seitdem bin ich zweimal nach Marchamalo geritten, aber sie versteckt sich vor mir.«

Fermin hatte nachdenklich zugehört.

»Hat sie sich etwa in einen anderen verliebt?« fragte er gedehnt.

»Nein, das nicht!« beeilte sich Rafael zu beteuern, als ob ihm diese Überzeugung zum Trost gereichte. »Auf denselben Gedanken bin auch ich zuerst verfallen und sah mich bereits im Gefängnis. Denn dem Schurken, der mir meine Liebste abspenstig gemacht hätte, wäre eine Kugel sicher gewesen. Aber niemand hat sie mir abspenstig gemacht, Fermin. Siehst du, ich habe Tage und Nächte spioniert; tagsüber von der kleinen Wegschenke aus und nachts hinter einem Rebstock versteckt, die geladene Flinte zur Hand – außer den Doggen ließ sich niemand blicken … Meine Pflichten in Matanzuela vernachlässige ich darüber; Zarandilla springt für mich ein, so schlecht oder gut er eben kann, und wenn Don Luis von meinem fortwährenden Fernsein erfährt, wird er mir sagen, daß er solch einen Verwalter nicht länger gebraucht.«

»Hm … hm.« Montenegro zeichnete mit seinem Löffelstiel nachdenklich Figuren auf das Tischtuch. »Hast du sie vielleicht durch einen kleinen Seitensprung erzürnt?«

»Das noch viel weniger. Seit ich mit deiner Schwester einig bin, habe ich keinem anderen Mädchen auch nur einen Blick gegönnt. Für mich sind sie alle häßlich, und Maria Luz weiß das auch. Als ich sie bei unserem letzten Gespräch bestürmte, mir zu verzeihen, falls ich sie unwissentlich gekränkt haben sollte, antwortete sie weinend: ›Armer Rafael, du bist so gut, so anständig. Vergiß mich, da du mit mir unglücklich werden würdest.‹ Was nun?«

»Meiner Treu, dieses Rätsel löse auch ich nicht. Sie bricht mit dir und hat doch keinen anderen im Sinn; sie sagt, du seist gut, und sperrt doch den Fensterladen vor dir zu … der Teufel hole die ganzen Weiber!«

Aus dem Zimmer, wo Luis Dupont fröhlich mit seinen Freunden tafelte, klang ein weicher Bariton:

Du stößt mich von dir, braune Maid,
Verlachst mein Herzeleid …

Rafael hielt sich die Ohren zu. Die naive Trauer dieses volkstümlichen Liedes, das er selbst früher oft gedankenlos gesungen hatte, zerriß ihm das Herz.

»Fermin, du bist der einzige, der alles einrenken kann«, begann er nach einer Weile. »Maria Luz hört auf dich mehr als auf ihren Vater. Bitte, lege ein gutes Wort für mich ein, Ferminillo. Du mußt mein Schutzengel sein. Ach, ich möchte einen Altar für dich bereiten, dir Kerzen anstecken und eine Litanei zu dir beten!«

»Laß die fromme Salbaderei; das riecht zu sehr nach Don Pablo«, versetzte Montenegro. »Im übrigen aber will ich natürlich tun, was in meinen Kräften steht. Na, bist du zufrieden?«

Ein gläubiges, kindliches Lächeln flog über Rafaels verhärmte Züge. Aber seine Freude war nicht frei von Ungeduld.

»Wann wirst du mit ihr sprechen?«

»Morgen.«

Im Nu umwölkte sich die frohe Miene. Morgen erst! Noch eine Nacht voll schlafloser Stunden, voll qualvoller Ungewißheit … Warum denn warten? Warum nicht heute? … Und er quälte und drängte so lange, bis Fermin sich bereit erklärte, sofort nach Marchamalo zu gehen.

»Eigensinniger Dickkopf!« schalt er gutmütig. »Meinst du, ich kann mich so nach Belieben vom Dienst drücken? Da muß ich Don Ramon wahrhaftig deinetwegen vorschwindeln, daß Vater erkrankt sei.«

Eine halbe Stunde später trug der Goldfuchs auf seinem Rücken zwei Reiter nach Marchamalo. Unbarmherzig gebrauchte der Verwalter die Sporen, obwohl ihn Montenegro ein paarmal mahnte:

»Du wirst ihn zu Tode hetzen, Barbar! Das hält ja das beste Pferd nicht aus.«

Rafael achtete der Warnung nicht. Vielleicht hatte er sie auch gar nicht gehört, da seine Gedanken sich um Maria Luz und die kommende Unterredung drehten.

Bei der Wegschenke, wo der Goldfuchs schon so oft untergestellt worden war, trennten sie sich.

»Geh, Fermin, tu dein Bestes«, lauteten Rafaels letzte Worte. »Und ich werde hier auf dich warten – wenn es sein muß bis zum Tage des Jüngsten Gerichts.«

Als Pedro seines Sohnes ansichtig wurde, forschte er ängstlich, ob sich in Jerez etwas Besonderes ereignet habe. Fermin verneinte. Weshalb sollte er sich nicht auch einmal wochentags nach Vater und Schwester umsehen, da es im Büro zur Zeit nicht viel Arbeit gab? …

Aber so schnell war der Alte nicht beschwichtigt.

»Wenn es noch zu keinen Zusammenstößen gekommen ist, so stehen sie doch bevor, Fermin. Ich höre hier draußen mehr als ihr: ein junger Madrilene, der in Salvatierras Namen handelt, hat für morgen eine gewaltige Arbeiterzusammenkunft in der Ebene von Caulina anberaumt. Tausende und Tausende werden daran teilnehmen, sogar von Malaga sind sie unterwegs. Wir befinden uns am Vorabend einer wirklichen Revolution, Junge. Der Fremde hat verlauten lassen, daß Jerez gestürmt und alles Hab und Gut der Besitzenden verteilt werden soll. Schon sieht sich das Volk am Ende seiner Leiden; schon raunen manche, daß Don Fernando sich irgendwo in der Nähe versteckt halte, um in der entscheidenden Stunde die Führung wieder zu übernehmen.«

Fermin wiegte ungläubig den Kopf.

»Ich traue diesem Madrilener nicht, Vater. Don Fernando hat mir vor wenigen Tagen aus der Untersuchungshaft geschrieben. Wie soll er da jetzt plötzlich frei sein? Und glaubst du, er würde solchen Unsinn gutheißen, Jerez in einem Augenblick zu überfallen, wenn es von Soldaten und Gendarmen wimmelt?«

»Da hast du recht«, erwiderte der Greis. »Trotzdem, Fermin, geh morgen nicht unnötig auf die Straßen, falls es doch zu Tumulten kommt.«

Maria Luz, die schweigsam neben Vater und Bruder saß, schien indes den wahren Grund von Fermins überraschendem Besuch zu argwöhnen, denn hin und wieder, wenn sein Blick länger auf ihr verweilte, stieg ein leichtes Rot in ihr Gesicht.

»Wie wär's mit einem kleinen Spaziergang vor dem Abendessen, Schwesterchen?« schlug Fermin schließlich vor.

»Gern.«

Er wählte einen Weg, der auf der Rückseite des Schlosses hügelabwärts zu einem Olivenwäldchen führte, an dessen Rand eine roh zusammengefügte Holzbank stand.

»Nun beichte mir mal, du kleiner Querkopf, warum du mit dem armen Rafael gebrochen hast«, begann Montenegro, als sie sich gesetzt hatten, und tätschelte zärtlich ihre Hand.

Maria Luz aber beliebte es, die Sache wie einen Scherz zu behandeln. Sie lachte. Doch das Lachen wurde zu einer verzerrten Grimasse.

»Warum? Weil ich ihn nicht mehr liebe, weil ich ihn satt habe – nun weißt du es. Er ist ein alberner Trottel, der mich langweilt. Habe ich nicht das Recht, den zu lieben, der mir gefällt?«

»Kleine, du lügst ja, man sieht es an deinem Gesicht! Du bist kein wetterwendisches Geschöpf, das grundlos einen Mann fortschickt, den es jahrelang nur zu gern an seinem Rock hängen hatte … Liebe kleine Maria Luz, bin ich nicht dein bester Freund? Hast du mir nicht immer alles, was du Vater nicht sagen mochtest, anvertraut?«

Aber auch dieses zärtliche Zureden hatte keinen Erfolg. Trotzig warf das junge Mädchen den Kopf in den Nacken.

»Bilde dir nur nicht ein, daß du mich kennst! … Ich will eben nichts mehr von Männern wissen, weder von Rafael noch von irgendeinem anderen, und ziehe das friedliche Leben mit Vater allen Liebesplänkeleien vor. Und niemand hat das Recht, mir dreinzureden!«

Um ihre Verwirrung zu verbergen, sprach sie in einem schroffen Ton, der Fermin empörte.

»O du falsche Zunge, du treulose Seele! Glaubst du, daß ein Mann, den man jahraus, jahrein mit honigsüßen Worten betörte, dem man am Fenstergitter tausendmal schwor, ihn mehr zu lieben als das eigene Leben, sich so mir nichts, dir nichts wegschicken läßt? Schon manch eine hat solche Falschheit mit ihrem Blut bezahlt … Rede nur ruhig weiter von deinem Recht, Entschlüsse zu fassen – ich aber denke daran, daß du aus dem tapfersten Burschen ringsum einen Jammerlappen gemacht hast. Ah, du bist schlimmer als eine Zigeunerin, du Wetterfahne! Wenn du wüßtest, mit welcher Qual der arme Junge auf das Resultat unseres Gespräches …«

Er konnte den Satz nicht vollenden, denn Maria Luz war in ein verzweifeltes Weinen ausgebrochen.

»Oh, der Ärmste!« wimmerte sie, alle Verstellung vergessend. »Rafael, du einzig Geliebter! …«

»Siehst du wohl, daß du ihn noch liebst!« fuhr Fermin mit milderer Stimme fort. »Warum dann diese Bockigkeit, die ihn an den Rand der Verzweiflung bringt? Mariquita, sprich doch, um Gottes willen!«

Wie durch ein grünes Gitter sah man hinter dem Gezweig der Olivenbäume die kirschrote Sonnenscheibe, deren letzte Strahlen Stämme und Bodengestrüpp vergoldeten.

»Sprich!« brüllte Fermin, als sie auch jetzt noch keine Antwort gab.

Seine Schwester ließ die Hände vom Gesicht sinken.

»Schlag mich, Fermin. Töte mich! Aber zu Rafael kann ich nicht zurück, und wenn mir darüber auch das Herz bricht. Ich bin« – ihre Stimme sank zu einem Wispern – »seiner nicht mehr würdig.«

Lange blieb es still zwischen den beiden. Die Sonne war verschwunden; schwarz hob sich nun das Gezweig von einem violetten, goldverbrämten Himmel ab.

»Es gibt also, wenn ich dich recht verstehe, etwas in deinem Leben, dessen du dich schämen mußt?« brach Fermin das Schweigen.

Ohne die Augen niederzuschlagen, hauchte seine Schwester ein leises Ja.

»Und was ist das? … Ein Bruder darf alles wissen.«

Von neuem vergrub sie den Kopf zwischen den Händen.

»Laß mich, Fermin! Das geht über meine Kräfte – habe ich nicht schon genug gesagt?«

Sie sah in ihrer zusammengesunkenen Stellung so trostlos aus, daß seine Empörung verrauchte; es blieb nur die Angst um dies hilflose Geschöpf, der heiße Wunsch, ihr beizustehen.

»Mariquita, du hast unsere Mutter nicht mehr gekannt. Aber habe ich mich nicht getreulich bemüht, sie zu ersetzen? Wer hat dich gepäppelt, dich behütet, wenn du krank warst? Und wer hat für dich gebettelt in jenen trüben Zeiten, als Vater keine Arbeit hatte? … Niemals hast du vor mir ein Geheimnis gehabt; und gerade jetzt, da es sich um das Schicksal zweier Menschen handelt, versagst du mir dein Vertrauen! Habe ich das verdient?«

Was Drohungen und Heftigkeit nicht erreicht hatten, gelang diesem traurigen Vorwurf. Maria Luz richtete sich stöhnend auf und begann ihre Beichte …

Schnelle Bilder entwarf sie vor Fermins Geist. Er sah alles: die allgemeine Trunkenheit an jenem letzten Abend der Weinlese, den bösen Rausch seiner Schwester, ihre Flucht aus dem Kreis der Tanzenden und Zechenden, ihr schamvolles Verkriechen, ihr Hinsinken – betäubt und halb besinnungslos – in einer Ecke des Kelterhauses. Und dann die Ankunft des Señoritos, der die Situation ausnutzte.

»Der Wein … der verfluchte Wein!« stieß Maria Luz hervor.

»Ja, der Wein!« wiederholte Fermin. Er dachte an den Bannfluch, den Salvatierra zeitlebens gegen diese schädliche Gottheit geschleudert hatte, die alle Handlungen und Affekte des ihr hörigen andalusischen Volkes beherrschte.

»Oh, dieses entsetzliche Erwachen!« stöhnte neben ihm Maria Luz. »Die Verzweiflung, als ich zu mir kam! … Alles zu Ende, vorbei alle Träume von einem Glück an Rafaels Seite. Und da ich ihn weder hintergehen noch ihm die Wahrheit eingestehen kann, muß ich Gleichgültigkeit heucheln, Wankelmütigkeit – muß ihm wehe tun!«

In den herrschenden Anschauungen erzogen, welche Jungfräulichkeit als heiligstes Gebot der Liebe betrachten und von der Tochter einer ehrbaren Familie verlangen, daß sie als Tribut ihrer Zuneigung dem Gatten einen unberührten Körper darbringt, dünkte sie ihr Unglück unheilbar.

Fermin war aufgestanden. Das Kinn auf die Brust gesenkt, die Augen geschlossen, verharrte er in der Unbeweglichkeit einer Statue. Plötzlich aber erwachte die menschliche Bestie, die sich wütend und tobend gegen das Elend wendet.

»Ah, du geile Hündin! … Du verdammte Hure!«

Mit erhobener Faust trat er dicht an seine Schwester heran. Doch Maria Luz rührte sich nicht, bewegte den Kopf auch nicht um eines Haares Breite, um dem Schlag auszuweichen.

Und die Hand, die sie hatte züchtigen wollen, sank kraftlos herab. In dem roten Nebel seines Zorns wähnte Fermin die Brillengläser Salvatierras blitzen zu sehen. Wie würde er, der Meister, an seiner Stelle handeln? … Verzeihen, unzweifelhaft; die Schuldige in das unerschöpfliche Mitleid einhüllen, das ihm die Verfehlungen der Schwachen stets abrangen.

Montenegro seufzte tief.

»Nicht eine Silbe von all dem zu unserem Vater – es wäre sein Tod«, sagte er endlich. »Und auch keine Silbe davon zu Rafael. Ich kenne ihn, der arme Bursche würde wegen deines Fehltritts im Zuchthaus endigen … Du aber wirst Luis Dupont heiraten.«

»Fermin!« schrie sie entsetzt. »Ich verabscheue ihn, ich hasse ihn!«

»Still! Gefühle haben nicht dreinzureden, wenn es sich um die Ehre der Familie handelt. Du könntest ja deine Schande erheimlichen und als Mädchen weiterleben, obendrein noch mit dem Trost, daß du wenigstens Rafael nicht hintergangen hast. Aber wie soll ich Luis Dupont begegnen, ohne Genugtuung für diesen Schimpf zu verlangen? Soll ich fortab unter der Vorstellung kranken, daß dieser Elende sich über uns alle lustig macht? … Schweig und gehorche, Maria Luz!« setzte er barsch hinzu. »Da du dich nicht rein zu halten wußtest, muß dein Bruder über die Familienehre wachen.«

Nach einer qualvollen Nacht, während der Fermin jenseits der dünnen Zwischenwand seine Schwester fassungslos weinen hörte, verließ er das Aufseherhäuschen von Marchamalo schon beim Morgengrauen. Das erste, was seine Augen unten im Tal erblickten, war ein Reiter, der mitten auf der Landstraße hielt.

»Wenn du so früh kommst, bringst du sicherlich gute Kunde!« rief Rafael mit einer Zuversicht, die seinem Freund das Lügen noch erschwerte. »Sag, wie steht's?«

»Wie es steht?« wiederholte Montenegro, um noch einen Augenblick Zeit zu gewinnen. »Nun, so lala. Aber absolut nicht hoffnungslos. Wie ich vermutete: Mädchenlaunen ohne ernsthaften Grund. Von dem einen kannst du aber überzeugt sein, nämlich, daß Maria Luz dich ebenso lieb hat wie früher.«

O das strahlende Gesicht des jungen Mannes!

»Ferminillo, du hast mehr Talent als alle Advokaten von Sevilla, Jerez und Madrid zusammen. Ich wußte ja, wen ich als Fürsprecher erkor! Steig auf, du Engelszunge! Im Handumdrehen bist du in der Stadt.«

Er jagte los, juchzte seine Freude in die Luft, schmetterte Liebesliedchen nach Liebesliedchen und geriet so außer Rand und Band, daß Fermin ein Würgen in der Kehle verspürte und sich feige und hinterhältig vorkam, weil er das Vertrauen dieses braven Menschen so täuschen mußte.

»Hast du auch gehört, was die Streikenden planen?« forschte der junge Verwalter, bevor sie sich an der Stadtgrenze trennten. »Die Maultiertreiber in der Taverne meinten, daß mehr Köpfe fallen würden als je zur Zeit der Maurenkriege … Ich reite jetzt spornstreichs nach Matanzuela zurück. Und wehe dem, der sich dort mit schlechten Absichten blicken läßt! Solange ich noch eine Flinte halten kann, wird in Matanzuela nicht geraubt und geplündert – das bin ich Don Luis schuldig.«

Fermin Montenegro fühlte einen neuen Stich der Bitterkeit. Armer Rafael, wenn du wüßtest, was dir Don Luis angetan hat! …

Den ganzen Tag über schrieb Fermin als fleißiger Beamter englische Briefe oder addierte Zahlenreihen, ohne daß er ihren Sinn erfaßte. Bisweilen hob er den Kopf, um durch die breite Glastür des Privatkontors Don Pablo Dupont zu betrachten, der dort mit befreundeten Großgrundbesitzern die Lage erörterte. Und die anfänglich besorgten und verzagten Mienen dieser Herren hellten sich unter Duponts energischer Beredsamkeit zusehends auf; einige fanden sogar ihr überlegenes Lachen zurück.

Wenn Don Pablo zwischendurch allein an seinem Mahagonischreibtisch saß, fühlte sich Fermin jedesmal versucht hineinzugehen. Aber nein, nicht dort! Zu gut kannte er die Unbeherrschtheit des Chefs – er würde im ersten Moment toben und wettern, so daß keinem der Angestellten der Anlaß ihrer Unterredung verborgen bliebe …

Auch nach Geschäftsschluß begab sich Fermin erst auf Umwegen nach dem Palais der Duponts, wo ihn der hochtrabende Portier einer gnädigen Verbeugung würdigte. Selbst hier wußte man um die Sonderstellung, die der junge Montenegro bei der Firma innehatte. Ohne mit Fragen behelligt zu werden, trat Fermin in den weiten Patio, den weiße Marmorarkaden umzogen. Schlanke Platanen strebten aufwärts in den andalusischen Himmel; exotische Palmen senkten anmutig ihre vielfingrigen Wedel, und rauschend brach ein Springbrunnen aus einem Stalaktitengebirge, das in einer bogenförmigen Nische eine Statue der Jungfrau von Lourdes barg, die Arbeit eines französischen Bildhauers, süßlich und geziert, aber von dem Hausherrn als unvergängliches Meisterwerk geschätzt.

Der Diener, der Fermin gemeldet hatte, kehrt sofort zurück, um ihn ins Herrenzimmer zu führen. Don Pablo stand neben dem Telephontischchen. Den Hörer am Ohr, bedeutete er seinem Angestellten durch eine Handbewegung, in einem der tiefen Sessel Platz zu nehmen, und Fermin hatte daher Zeit, sich diesen Raum, den er zum erstenmal betrat, in Muße anzusehen.

Ein schwerer holzgeschnitzter Goldrahmen, mit dem Kopf des Heiligen Petrus und dem päpstlichen Wappen geschmückt, umgab die glorreichste Urkunde des Hauses: das Breve, durch das der Papst allen Duponts bis zur vierten Generation seinen Segen in der Todesstunde gewährte. Etwas kleinere, aber kaum minder prunkvolle Rahmen hüteten die ebenso ehrenvollen wie heiligen Auszeichnungen, deren sich der augenblickliche Chef der Firma erfreute: Pergamente mit roten, blauen und schwarzen Siegeln, die ihn zum Komtur des Ordens vom Heiligen Gregorius, zum Ritter des Ehrenkreuzes Pro Pontifice et Ecclesia, zum Johanniterritter und zum Ritter vom Heiligen Grabe ernannten. Bescheiden – wie es sich für die weltliche Macht gegenüber der Vertretung Gottes geziemt – begnügten sich die Urkunden über die Orden, welche den Duponts von spanischen Herrschern gelegentlich eines Besuches der berühmten Bodegas verliehen wurden, mit weniger hervorragenden Plätzen.

Nur den Adelsbrief hatte Don Pablo nicht von Rom angenommen. Seine dortigen Freunde stellten ihm die ganze Heraldik zur Verfügung: Graf, Marquis, Herzog – was er begehrte. Und wenn ihm der Name Dupont nicht genehm sein sollte, ei, da gab es ja so unzählige Heilige, nach denen man das Adelsprädikat benennen konnte. Doch in diesem einen Punkte zeigte sich Doña Elviras Sohn obstinat. Die Kirche selbstverständlich über alles! … War aber der historische Adel nicht auch ein Werk Gottes? Und stolz auf seinen mütterlichen Stammbaum, lächelte er ein wenig ironisch über die Industriellen und Neureichen, die mit Titeln von Rom behängt einherstolzierten. Nein, er, Pablo Dupont, würde eines Tages um den uralten Titel »Marquis de San Dionisio« einkommen, den seit dem Tode seines berühmten Onkels kein Sterblicher mehr führte.

»Was gibt's, mein Junge?« wandte er sich, den Hörer auflegend, an Fermin. »Kommst du mit irgendeiner Hiobspost … vielleicht in bezug auf die Versammlung in Caulina? Ich erfahre soeben, daß sie von allen Seiten in Massen herbeiströmen. Bis jetzt schätzt man bereits drei- bis viertausend Mann.«

Montenegro schüttelte den Kopf.

»Dieses Massenaufgebot kümmert mich wenig, Don Pablo. Mein Hiersein hat einen ganz anderen Grund.«

»Das freut mich wirklich.« Dupont setzte sich in seinen Schreibtischsessel, der direkt unter dem päpstlichen Segensbreve stand. »Du bist leider ein bißchen von den umstürzlerischen Ideen infiziert worden, Fermin – ich weiß das sehr wohl. Um so besser, wenn du dich jetzt nicht einmischst. Denn daß die Leute Hiebe bekommen, furchtbare Hiebe, ist sicher. Und wenn deines Vaters Idol, der große Salvatierra, hier wäre, so hätte wohl sein letztes Stündlein geschlagen … Aber nun zu deiner Angelegenheit! Was führt dich her?«

Nun, da er sich erklären sollte, fand Fermin es doch nicht so leicht, sein Anliegen in Worte zu fassen. Unfrei und stockend begann er:

»Sie sowohl, Don Pablo, als auch Ihr seliger Herr Vater haben meiner ganzen Familie stets ein besonderes Wohlwollen entgegengebracht, und … und außerdem kenne ich Ihre Frömmigkeit, die unfähig ist, sich mit dem Laster und der Ungerechtigkeit auszusöhnen …«

Dupont beobachtete unter den halbgesenkten Lidern hervor den verlegen vor ihm Sitzenden.

»Gut, gut«, drängte er ungeduldig, »aber komm zur Sache. Bedenk, daß heute ein ungewöhnlicher Tag ist; jeden Augenblick kann ich wieder ans Telephon gerufen werden.«

Trotz dieser Mahnung starrte Fermin eine Weile schweigend vor sich hin. Aber schließlich raffte er sich zusammen, berichtete ohne Beschönigung, was sich in Marchamalo beim Weinlesefest zugetragen hatte, und je weiter er kam, desto mehr schwoll die Zornesader auf Don Pablos Stirn. In seinem Egoismus dachte der Millionär nur an sich, an den Schmutzfleck, den dieses Attentat auf den Namen Dupont warf, an den persönlichen Schimpf, den ihm sein Vetter angetan, indem er sein Haus nicht respektierte.

»Was, solche Schweinereien in Marchamalo?« schrie er, mit beiden Fäusten auf die Schreibtischplatte trommelnd, während sein Gesicht blaurot anlief. »Mein Haus, das Schloß der Duponts, wohin ich so oft meine Familie führe, in eine Lasterhöhle verwandelt? Zwei Schritt von der Kapelle, in der Diener unserer heiligen katholischen Kirche die erhebendsten Worte gesprochen haben, treibt der Dämon der Unzucht sein Wesen? … Oh, oh …« Er hustete, vor Wut fast erstickend. »Dazu hat also die Beute gedient, die mein Vetter sich unter meinen besten Weinen suchte? Kann denn auch was Gutes daraus entstehen, wenn man den Wein der Reichen dem Pöbel eingießt? … Jesus, Jesus, welche Schande!

Beklage mich, Fermin, ich trage ein schweres Kreuz. Gewiß, der Herr hat mich mit irdischen Gütern reich gesegnet; ich habe zudem eine fromme Mutter, eine tugendsame Gattin, doch die Prüfungen, die Gott der Allmächtige mir auferlegte, wiegen deshalb nicht weniger schwer. Die beiden Töchter des Marquis und dieser Luis, der nicht frei kommt aus den Krallen Satans, sind meine Henker. Frühzeitig werde ich aus Kummer in die Grube fahren. Oh, Fermin, habe Mitleid mit mir – ich bin der unglücklichste Mensch auf dieser Erde!«

In seiner Exaltiertheit, die an Delirium grenzte, streckte er Montenegro fast flehend die gefalteten Hände entgegen. Dann sank er jäh zurück in seinen Sessel und barg ächzend den Kopf in den Händen: »Ach, meine Mutter, meine edle Mutter! Ach, meine arme Familie! …«

Montenegro, der mit einem Gemisch von Neugier und Erbitterung dies merkwürdige Gebaren verfolgte, fragte sich, wann der Mitleid heischende Chef sich wohl endlich mal der anderen Familie erinnern würde, die mehr Grund zur Klage hatte als er. Und etwas von diesem Gedanken mußte wohl in seinen Augen zu lesen sein, denn als Don Pablo schließlich den Kopf hob und dem Blick des jungen Mannes begegnete, sagte er unsicher: »Ja … was meinst du denn, das ich in der Sache tun kann?«

Fermin warf kurz entschlossen alle Zaghaftigkeit über Bord.

»Don Pablo, Sie legen Wert auf Ihren Ruf als guter Christ und Ehrenmann; Sie sind außerdem das Haupt der Familie. Sorgen Sie dafür, daß der uns angetane Schimpf gesühnt wird.«

Dupont starrte grübelnd vor sich hin. Schließlich begann er von Maria Luz zu sprechen. Wie konnte sie nur solch eine Sünde begehen, die auch durch die Trunkenheit nicht entschuldigt wurde! Solch eine Todsünde! … Jetzt galt es, wenigstens die Seele der Unglücklichen zu retten.

»Das beste ist, scheint mir«, fügte er nach abermaligem Nachdenken hinzu, »daß deine Schwester in ein Kloster geht. Ah, verzieh nicht das Gesicht, Fermin – ich denke nicht an das erstbeste Kloster; es soll ein Kloster sein, das nur Damen der Gesellschaft aufnimmt. Das hierfür nötige Vermögen bewillige ich ihr von Herzen gern, ganz egal, ob es viertausend, fünftausend oder mehr Duros ausmacht. Ja, wirklich, diese Lösung ist für alle Teile die beste. Ich werde mit den Meinigen wieder schöne Tage im Weinberg verbringen können, ohne sie dem Kontakt mit einer Gefallenen auszusetzen, und Maria Luz wird, abgeschnitten von jedweder Versuchung, im Frieden des Klosters ihre Seele läutern und obendrein das Leben einer verwöhnten Dame führen – mit allen Annehmlichkeiten. Sogar Bedienung hat sie zur Verfügung. Sag selbst, Fermin, ist das nicht besser als in Marchamalo Töpfe scheuern und Essen kochen?«

Montenegro hatte sich erhoben, bleich, mit gerunzelter Stirn.

»Das ist alles, was Sie mir vorzuschlagen haben?«

Der Ton, in dem diese Frage gestellt wurde, schien Don Pablo stutzig zu machen.

»Wie … du findest, daß das nicht genug ist? Hast du einen zweckmäßigeren Ausweg gefunden? …« Und ganz verdutzt fügte er hinzu: »Fermin, du hast doch nicht etwa an eine Heirat zwischen meinem Vetter und deiner Schwester gedacht?«

»Das wäre nicht mehr als recht und billig. Es ist das Logischste, das Natürlichste; es ist die Lösung, die die Ehre verlangt und die ein Christ wie Sie gelten lassen muß.«

»Tatata!« schnitt ihm der Millionär, in einer neuen Aufwallung, das Wort ab. »Ihr Roten braut euch ein Christentum nach eurem Geschmack zusammen. Nur oberflächlich kennt ihr die Religion und schmeißt uns dann gewisse Formeln, die in eurem Gedächtnis hängengeblieben sind, an den Kopf, wenn es euch gerade paßt. Natürlich sind wir alle Kinder Gottes, und alle Guten werden in die himmlische Herrlichkeit eingehen. Nichtsdestoweniger verlangt die vom Höchsten selbst geschaffene Ordnung, daß – solange wir hier auf Erden leben – Klassenunterschiede nicht verwischt werden dürfen. Befrage kluge Menschen – ich meine tatsächlich kluge, wie zum Beispiel den Pater Urizabal oder andere hervorragende Geistliche –, und du wirst dasselbe hören. Wir sollen als gute Christen unseren Feinden vergeben, Almosen verteilen, dem Nächsten helfen und für sein Seelenheil sorgen; aber jeder soll bleiben in dem Kreis, der ihm durch Geburt bestimmt ist. Die Barrieren niederreißen, durch welche die einzelnen Klassen geschieden werden, das ist nicht Freiheit, sondern Zügellosigkeit.«

Mit Mühe nur bewahrte Montenegro seine Ruhe.

»Trotz allem ist Maria Luz ein braves, ehrbares Mädchen«, erwiderte er, »und gegen den Ruf meines Vaters können Sie erst recht nicht das geringste einwenden. Wir sind arm, doch deswegen hat niemand – verstehen Sie, Don Pablo: niemand! – das Recht, uns zu entehren. Wer es aber wagt, kommt nicht ungestraft davon … Und für eine Familie, die solch üble Kreaturen wie Luis und die jungen Marquisen in ihren Reihen hat, bedeutet die Verbindung mit meiner Schwester bei Gott keine Herablassung.«

»Sachte, sachte, mein Freund!« mahnte Dupont. »Solch hartes Urteil über meine Verwandten steht dir nicht zu, vor allem nicht, wenn du dich in meinem Hause befindest. Wissen wir denn überhaupt, welche Gnade der Allmächtige ihnen vorbehalten hat? Maria Magdalena war schlimmer als diese beiden jungen Frauen und starb trotzdem als Heilige. Sankt Augustinus hat in seiner Jugend ein sehr liederliches …«

Unehrerbietig schrillte die Telephonklingel in seinen Erguß über das Leben des großen Afrikaners. Don Pablo Dupont nahm eiligst den Hörer ab, und es folgte ein mehrere Minuten währendes Gespräch, das ihn offensichtlich sehr befriedigte.

Als er sich schließlich wieder am Schreibtisch niederließ, schien er die Ursache von Montenegros Besuch völlig vergessen zu haben.

»Ha, sie werden kommen!« frohlockte er, sich die Hände reibend. »Der Alkalde läßt mir melden, daß sich die Streikenden von Caulina nach der Stadt zu in Bewegung setzen. Und haben wir sie erst einmal hier, so wird das Militär im Verein mit der Gendarmerie unter ihnen so gründlich aufräumen, daß für ein paar Jahre unsere Ruhe gesichert ist … Jetzt muß ich schleunigst die Eingangspforten schließen und die Fenster im Erdgeschoß durch Jalousien sichern lassen. Wenn du nicht bleiben kannst, Fermin, ist es höchste Zeit für dich fortzugehen.«

»Und welchen Entschluß haben Sie gefaßt, Don Pablo?«

»Ah, richtig … die Sache mit deiner Schwester! Nun, komm nächster Tage noch mal vorbei. Inzwischen berate ich mit meiner Mutter, wie die Geschichte am leichtesten aus der Welt zu schaffen ist. Aber die Heirat, mein Junge« – er klopfte ihm väterlich auf die Schulter –, »mußt du dir aus dem Kopf schlagen. Schone uns! Haben wir denn nicht schon genug Kummer? Willst du ihn noch vergrößern, indem du verlangst, daß ein Dupont eine einfache Winzerstochter heiratet? Hab Mitleid mit mir, mein Junge!«

»Ja, Don Pablo, das habe ich«, versetzte Montenegro ironisch. »Mitleid mit Ihnen und Ihrer berühmten Religion!«

Dupont fuhr zurück – das letzte Wort hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Und einer seiner Angestellten erkühnte sich, solche Sprache zu führen? …

»Meine Religion?« brüllte er. »Darauf erhältst du morgen im Büro eine Antwort, du Unverschämter! Vielleicht aber …«

Fermin Montenegro schnitt ihm kurzerhand die Rede ab.

»Das dürfte nicht so leicht sein – wir werden uns weder morgen noch später einmal wiedersehen. Adios, Don Pablo! Keine Angst, ich belästige Sie nicht mehr. Und was zu tun ist, werde ich allein tun …«

 

Am frühen Nachmittag waren die ersten Arbeiterscharen in der ungeheuren Ebene von Caulina eingetroffen, und bald zeigten sich überall am Horizonte dicke schwarze Klumpen.

Die einen stiegen von der Sierra herab, die anderen kamen von den Gütern des Flachlandes und mußten, um zum Ziel zu gelangen, teilweise erst um Jerez herumwandern. Und auch aus den Grenzbezirken von Malaga und Sanlucar de Barrameda stellten sie sich ein. Von Rancho zu Rancho war die geheimnisvolle Aufforderung geflogen, und all jene, die Pflug und Egge, Spaten, Sense, Hacke oder Rebenmesser handhabten, eilten herbei in der Erwartung, daß die Stunde der Vergeltung geschlagen habe.

Wilde Blicke suchten die Türme von Jerez. Heute abend würde sie als Brandfackel die Nacht erhellen, diese üppige weiße Stadt, diese Stadt der Millionäre mit ihren Bodegas und aufgespeicherten Schätzen …

Gruppe nach Gruppe lagerte sich auf dem Steppengras. Die im Umkreis weidenden Stiere zogen sich, erschreckt durch den schwarzen Fleck, der unaufhörlich wuchs und wuchs, weiter ins Innere zurück und überließen diese Weideregion vorübergehend der Horde des Elends.

Manche der erbärmlichen Gestalten hüllten sich in ausgefaserte, flickenbesäte Decken, während die meisten in der dünnen Bluse vor Kälte zitterten. Unter den Hutkrempen erschienen Gesichter, die die verschiedenartigsten Merkmale menschlichen Charakters trugen, von der abgestumpften, tierischen Gleichgültigkeit bis zur aggressiven Lebhaftigkeit desjenigen, der für den Lebenskampf gut ausgerüstet geboren wird. Heute aber reckten sich auch die Zaghaften mutiger.

»Wie das anfeuert, wenn man so viele von uns um einer großen Sache willen vereinigt sieht!« riefen sie aus.

Schon war die Menge auf viertausend Köpfe angeschwollen, und noch immer trafen neue Gruppen ein. Und aus jeder kam die eifrige Frage:

»Wie lautet der Plan?«

Der Plan?

Alle waren sie da – ohne recht den Grund oder den Zweck des Treffens zu wissen, ohne überhaupt genau seinen Urheber zu kennen.

Über die weiten Fluren, über die Rebenhügel hin war eines Tages das Geraune geweht, daß heut bei Sonnenuntergang die große Revolution ausbrechen würde, und infolge der Entbehrungen und der aus dem Streik herrührenden Verfolgungen zur Verzweiflung getrieben, hatten sie sich pünktlich in Marsch gesetzt, veraltete Pistolen, Sicheln, Dolche oder die gefährlichen Rebenmesser im Gürtel tragend.

Aber noch etwas anderes brachten sie mit: die Begeisterung, welche die Masse stets im ersten Stadium einer Revolte beseelt, und die Leichtgläubigkeit, mit der selbst die unwahrscheinlichsten Gerüchte aufgenommen werden, wobei jeder beim Weitererzählen das Gehörte noch übertreibt und aufbauscht, um sich selbst zu betrügen, gerade als ob er die Wirklichkeit mit dem Gewicht seiner unsinnigen Erfindungen bezwingen könnte.

Die Greise erwiesen sich als besonders vertrauensselig, hatten sie doch noch erlebt, wie Salvatierra mit anderen berühmten Führern die Königin Isabella verjagt und Spanien – wenn auch nur vorübergehend – zur Republik gemacht hatte. Warum sollte das Militär nicht zu den Arbeitern überschwenken, damit die Revolution von Jerez aus ihren Siegeszug über ganz Spanien anträte? …

Die Zeit verging. Doch obwohl es bereits zu dunkeln begann, harrte die Menge geduldig aus.

Zwischen den einstigen Arbeitern von Matanzuela, die eine Sondergruppe bildeten, tappte auch der alte Zarandilla umher. Weder die Ratschläge Rafaels, sich nicht in dies Abenteuer zu stürzen, noch das Keifen Benitas hatten ihn zurückzuhalten vermocht. Törichtes Weib – sollte er, wenn sein sehnlichster Traum sich verwirklichte und das Land unter die Pfleger der Scholle verteilt wurde, auf der Ofenbank hocken? …

Nun wartete auch er schon stundenlang, und alles war danach angetan, seine Begeisterung zu dämpfen und ihn skeptisch zu stimmen. Schließlich konnte er seine Besorgnisse nicht länger verhehlen.

»Jungens, ich habe schon eine Revolution erlebt und weiß mehr davon als ihr, die ihr heute zum erstenmal in die Schlacht zu ziehen beabsichtigt. Wo ist euer Führer? Wo ist die rote Fahne?« Seine schwachen Augen blinzelten über die dösende Menge. »Nichts, gar nichts habt ihr! Das ist schlimm. Ich glaube, meine Alte hat recht, daß man euch ordentlich versohlen wird.«

Ein Murren, ein Grollen entstand. Es lief über das weite Feld und schuf endlich den Führer.

»Wo ist der Madrilene, von dem der Befehl ausging, uns zu versammeln?« übertönte Juanons Donnerstimme den Tumult. »Er soll herkommen.«

Sofort scharten sich um Juanon die Arbeiter aus der Stadt, viel besser diszipliniert als ihre Genossen vom Lande.

»Der Madrilene! Her mit dem Madrilenen!« begehrten auch sie.

Der Fremde aus der Hauptstadt tauchte auf. Doch als er sich in schwülstigen Phrasen ergehen wollte, stampfte Juanon ungeduldig auf den Boden und fragte barsch:

»Wo ist Salvatierra?«

Ja, gesehen hatte ihn der Madrilene nicht … indessen wußte er … oder hatte erfahren, daß Don Fernando in Jerez den Einzug der Revolutionäre erwarte. Und die vagen, unkontrollierbaren Gerüchte bestätigend, die in der Menge kreisten, schloß er: »Soviel ich weiß, haben wir die Truppen für uns. Die Gefängniswache geht jedenfalls bestimmt mit uns durch dick und dünn. Sobald wir erscheinen, werden die Soldaten eigenhändig die Tore öffnen und unsere eingekerkerten Genossen in Freiheit setzen.«

Der Gigant aus Matanzuelas Tagelöhnerbaracke rieb sich die Stirn, als wolle er hierdurch seinen widerstreitenden Gedanken helfen.

»Los, Genossen!« rief er plötzlich, und sein harter Blick kündete den Entschluß, die Verantwortung zu übernehmen. »Geben wir unseren Gefangenen die Freiheit wieder! Salvatierra erwartet uns.«

Manolo, der Hausierer, dem fast alle Gutshöfe den Zutritt verwehrten, war der erste, der an seine Seite eilte.

»Wer Mut hat, der folge mir!« brüllte Juanon.

Aber ungeachtet seines Appells an Energie und Männlichkeit scheuten die meisten seiner Zuhörer instinktiv vor einer Aktion zurück. Mißtrauen und ungeheure Enttäuschung verbreiteten sich. Unvermittelt trat an Stelle der Begeisterung geheimer Argwohn und Furcht. Ihre stets auf das Unverhoffte und Wunderbare eingestellte südländische Phantasie hatte ihnen vorgegaukelt, daß Salvatierra unversehens inmitten eines waffenklirrenden Gefolges auftauchen würde. Das wäre etwas gewesen, im Schutz dieses bewehrten Verbündeten Jerez einzunehmen! Statt dessen sollten sie sich allein in jene Stadt hineinwagen, deren Licht satanisch am Horizont zu gleißen schien, als lockte es in einen Hinterhalt … Ah, so einfältig waren sie nicht! Ihr Leben übermäßiger Arbeit und ewigen Hungers war gewiß hart, schlimmer jedoch war der Tod. Nach Haus! Nach Haus! …

Und langsam zerstreuten sich die Scharen im Dunkeln, ohne auf die Verwünschungen Juanons und anderer Beherzter zu achten.

»Auf nach Jerez!« brüllte Juanon von neuem. Er fürchtete, daß die Desertion noch weiter um sich greifen würde, wenn man untätig bliebe.

Etwa tausend Mann, darunter als kleine Kerntruppe die in der Stadt beheimateten Arbeiter, traten den Marsch an. Neben Juanon schritt das Schulmeisterchen, jener junge Mann, der in Matanzuela seine Nächte darauf verwandt hatte, Lesen und Schreiben zu lernen.

»Ich habe beobachtet, daß verschiedene Burschen Hals über Kopf fortrannten«, bemerkte er besorgt. »Das bedeutet nichts Gutes. Spitzel vermutlich – sie werden die reichen Städter warnen.«

»Schweig gefälligst!« herrschte ihn der nunmehrige Führer an, den jeder Einwand eine Unbotmäßigkeit dünkte. »Wenn du Angst hast, so troll dich wie die anderen. Für Feiglinge haben wir keine Verwendung.«

Das Schulmeisterchen japste nach Luft. »Ich … ein Feigling? Vorwärts, Juanon, und sollte es das Leben kosten!«

Man hätte meinen können, daß sie sich genierten, die breiten und hell erleuchteten Straßen zu betreten, denn anstatt auf schnurgeradem Wege in Jerez einzurücken, machten sie einen erheblichen Umweg, schlängelten sich durch krumme, winklige Gassen hinein, und viele, die noch niemals oder nur selten das Weichbild der Stadt betreten hatten, fragten sich ängstlich, wie sie im Falle einer Niederlage wohl diesem Häuserwirrwarr entrinnen könnten.

Stumm und schnell – eine lebende Lawine – wuchtete diese Masse über das Pflaster. Die Haustüren schlossen sich; die Lichter hinter den Scheiben erloschen. Von einem Balkon herab schmähte eine Frau:

»Canaillen! Ihr gemeines Pack! Wenn ihr nur erst am Galgen hinget! …«

Und auf dem Steinpflaster zerschellte ein Nachttopf, den die erboste Dame auf die Vorüberziehenden geschleudert hatte.

Endlich! … Dort lag das Gefängnis!

Öde und leer war der große Platz. Alle Tore des ehemaligen Klosters, in dem statt frommer Kuttenträger jetzt schuldige und schuldlose Sträflinge die engen Zellen bewohnten, waren geschlossen. Sogar die Posten hatte man eingezogen.

Verblüfft hielten die ersten Reihen des Zuges inne und widerstanden dem Druck der Nachrückenden. Niemand? … Wer, zum Teufel, würde ihnen denn helfend beispringen? Wo waren die Soldaten, die mit ihnen gemeinsame Sache machen wollten?

Nicht lange sollten sie darüber im unklaren bleiben. Hinter den Gittern des Erdgeschosses blitzte es auf … Salve nach Salve dröhnte und knatterte.

Überraschung und Schreck entfachten in etlichen Arbeitern einen naiven Heroismus. Sie stürzten vorwärts, mit ausgestreckten Armen.

»Schießt nicht, Brüder! Wir haben doch nichts Böses gegen euch im Sinn.«

Aber die Brüder waren schwerhörig. Und da sie das Feuer fortsetzten, wandte sich der Menschenschwarm zur Flucht. Nicht nur die Hasenfüße, sondern auch die Mutigen jagten, hetzten, rannten in die verstopfte Gasse zurück, als peitschten die über den weiten, leeren Platz fegenden Schüsse ihre Rücken.

Ein paar Straßen weiter gelang es Juanon, die Flut zum Stillstand zu bringen. Die Reihen schlossen sich wieder, jedoch die tausend waren auf sechshundert zusammengeschmolzen.

»Wo ist der Madrilene?« schrie der Gigant. »Her mit ihm. Er soll Rechenschaft ablegen.«

Vergeblich suchte man ihn. Längst hatte sich der Bursche davongeschlichen und mit ihm alle, die sich in der Stadt zurechtzufinden wußten. Lediglich aus Leuten der Sierra bestand Juanons Heerbann.

»Das riecht nach Verrat«, wagte das Schulmeisterchen von neuem seine Meinung zu äußern. »Ich halte den Kerl für einen Provokateur. Don Fernando befindet sich gar nicht in der Stadt und ahnt wahrscheinlich überhaupt nichts von diesem ganzen Unternehmen.«

»Carajo, mir sieht's jetzt auch so aus!« Juanons Gesicht wurde bleich vor Wut. »Da wir jetzt aber einmal hier sind – auf ins Zentrum der Stadt, zur Calle Larga!«

Seltsamerweise stießen sie nirgendwo auf ein Hindernis. Weder Gendarmerie noch Militär widersetzte sich ihrem Vorhaben, wodurch in manchem Herzen wieder die Hoffnung, daß die Truppen vielleicht doch zu ihnen hielten, zu glimmen begann. Und nun führte ihnen ihr guter Stern endlich auch einen dieser verhaßten Bourgeois in den Weg. Dort drüben ging er: in steifem Hut und Capa. Sofort wurde er umringt; aus den Gürteln fuhren die Sicheln und Rebenmesser …

Doch der Mann blickte ihnen unerschrocken in die Augen.

»Genossen, ihr irrt euch. Ich bin Arbeiter, genau wir ihr.«

»Zeig die Hände!« brüllten sie, ohne die Waffen zu senken.

Unter der Capa kamen zwei starke, breite Hände hervor, mit Nägeln, die die Arbeit abgewetzt hatte. Sie wurden geprüft, sie wurden betastet …

»Stimmt, er hat Schwielen; er gehört zu uns.«

»Freilich gehöre ich zu euch«, versicherte der Unbekannte. »Ich bin Schreiner. Doch gehe ich abends lieber ins Theater als in die Kneipe und ziehe mich hierfür gern ebenso an wie die Señoritos. Jeder verlebt den Feierabend eben nach seiner Weise, nicht wahr, Genossen?«

Sie hatten nichts dawider. Aber die Enttäuschung, keinen Reichen erwischt zu haben, spiegelte sich auf aller Mienen. Ha, wo steckten sie denn, diese Blutsauger, diese Menschenschinder? Warum kamen sie nicht hervor aus ihren Häusern? …

Allgemach hatte sich der zuerst geordnet marschierende Zug in regellose Gruppen verzettelt, und gerade als die letzten fünf, die noch mit dem Schreiner verhandelten, dem Haupttrupp nacheilen wollten, kam jemand aus einer Querstraße und versuchte beim Anblick der Demonstranten wieder unbemerkt zurückzuhuschen. Es gelang ihm nicht … Schon war er umzingelt, schon war er festgehalten.

»Zeigen Sie Ihre Hände vor, Bürger!«

Der Bürger war ein schmächtiger, achtzehnjähriger Mensch in abgetragenem Anzug, aber mit hohem weißem Stehkragen und billiger kunstseidener Krawatte. Er zitterte wie Espenlaub, als er seine schmalen, anämischen Hände vorstreckte, die in einem sonnenlosen, engen Bürozimmer tagtäglich Akten hefteten. Er starrte mit verzerrtem Gesicht auf den grausigen Stahl der bloßen Klingen … er stammelte weinend und abgehackt Entschuldigungen.

»Ich … verdiene ja nur vier Pesetas, Señores … wirklich nicht mehr. Tun Sie mir nichts … ich bin auf dem Heimwege zu meiner Mutter … habe Überstunden gemacht … Aiiii!«

Ein Schmerzensgeheul, entsetzlich und verzweifelt, gellte durch die Straße. Rücklings fiel der Unglückliche zu Boden. Um den zerschmetterten Schädel bildete sich eine schwarze Lache, während die Beine sich konvulsivisch zusammenzogen und wieder streckten.

Inzwischen war Juanon, nicht ahnend, daß da hinten ein schuldloses Opfer für die Sünden der Reichen hatte büßen müssen, mit der Spitze des Zuges in die Calle Larga eingebogen. Auch hier fehlte jeder Verkehr von Fußgängern oder Wagen. Aber im Gegensatz zur übrigen Stadt strahlten die Fenster der Kasinos, Cafés und Restaurants eine Lichtflut auf das Pflaster.

Niemand aus der Schar der Hungernden und Frierenden kam auf den Gedanken, sich den Zutritt zu diesen Stätten des Komforts und Wohllebens mit Gewalt zu erzwingen, so sehr sie es auch alle ersehnten, mit ihren Unterdrückern abzurechnen. Ja, wenn man ihrer draußen auf der Straße habhaft werden könnte! …

»Hoch die Revolution!« schrie das Schulmeisterchen, als sie an dem berühmten Reitklub vorbeizogen.

»Hoch die Revolution!« nahmen ein paar hundert Männerkehlen den Ruf auf.

Und dann kam das Grauen …

Hinter ihnen, am Eingang der Calle Larga, wurde Pferdegetrappel laut: es blitzten Säbel und die lackierten Dreimaster der Guardia civil. Und am anderen Ende der langen Prachtstraße starrte gleich darauf ein Wald von Bajonettspitzen. Jene, die bisher die bewaffnete Macht in den Kasernen gehalten hatten, weil ihnen die maßvolle Haltung der Streikenden nicht die ersehnte Handhabe zum Einschreiten bot, sahen ihre Stunde gekommen. Blut war geflossen; ein junger Mensch lag starr und kalt in einer schmalen Querstraße. Und dieser eine Tote rechtfertigte die grausamsten Vergeltungsmaßnahmen.

Juanons Schar wurde niedergeritten, während gleichzeitig in ganz Jerez eine fanatische Menschenjagd begann. Militär riegelte die Straßenblocks ab; Gendarmen siebten Haus bei Haus. Wen kümmerte es, ob einer wirklich zu den Streikenden gehörte? Es genügte, daß er eine Bluse, einen bäuerlichen Hut, Hosen von grobem Stoff trug – kurz, im entferntesten nur einem Arbeiter ähnelte. Und da das Gefängnis sich als viel zu klein erwies, wurden auch noch die Kasernen mit Verhafteten vollgepfropft.

Fermin Montenegro blickte schweren Herzens diesen endlosen Reihen Gefesselter nach, denen er auf Schritt und Tritt begegnete. Ihn, der sich in seiner eleganten Londoner Kleidung und Wäsche in nichts von dem Sohne eines wohlhabenden Bürgerhauses unterschied, belästigten die Soldaten nicht. Müde war er und abgespannt, denn seit Stunden streifte er alle Tavernen ab, in denen Luis Dupont zu verkehren liebte.

Er überlegte einen Augenblick, ob er nicht in seine Pension heimkehren und die Regelung der Angelegenheit bis morgen verschieben solle. Aber nein, dergleichen regelt man besser sofort. Und so spähte er weiter, bis ihm unweit der Plaza Nueva der Gesuchte in die Quere lief.

»Ein Vivat der Guardia civil! Ein Vivat allen anständigen Leuten!« brüllte jemand, als ein neuer Schub Gefangener vorbeigeführt wurde. Es war Luis Dupont, ziemlich betrunken, wie seine glitzernden Augen unschwer erkennen ließen. Hinter ihm standen der Bock und ein Kellner, jeder mit einem Korb voll Weinflaschen und Gläser ausgerüstet.

»Was für ein Tag! Und was für ein Sieg! …« begrüßte er Montenegro und versuchte ihn zu umarmen. »Zwei Dutzend von den Kerlen habe ich allein festgenommen und dem Militär überantwortet, und Gott weiß, wieviel Ohrfeigen und Fausthiebe ich außerdem verteilte! … Wein her!«

Der Befehl galt dem Bock, der auch eilfertig zwei Gläser kredenzte.

»Trink, Fermin!«

Montenegro lehnte ab.

»Nein, danke. Aber ich möchte mit dir etwas sehr Wichtiges besprechen, jetzt gleich.«

»Gut, plaudern wir … plaudern wir drei Tage lang. Vorher jedoch muß ich meine Pflicht erfüllen und alle, die mit mir zusammen Jerez gerettet haben, zu einem Glas einladen. Ich war nämlich auf meinem Posten, Ferminillo, indessen die anderen sich in ihren Häusern verbarrikadierten. Die Stadt hat allen Grund, mir ihre Dankbarkeit zu beweisen.«

Ein Zug Dragoner kam herangeritten. Luis Dupont stürzte, ein gefülltes Glas in der Hand, auf den Offizier los, der, ohne die Einladung zu beachten, seinen Weg fortsetzte. Diese Ablehnung schmälerte Duponts Enthusiasmus jedoch nicht im mindesten.

»Olé die tapfere Reiterei!« rief er, dem letzten Pferdebacken als Anerkennung seinen Hut nachwerfend.

Wohl oder übel wappnete sich Montenegro mit Geduld und schloß sich diesem Triumphzug durch die Straßen an. Wo immer Militär stand, wurden die beiden Körbeträger herbeigewinkt und die Gläser gefüllt.

»Hoch die Infanterie! Hoch die Kavallerie … und hoch auch die Artillerie – obwohl sie nicht zur Stelle ist … Ein Glas bitte, Herr Leutnant.«

Doch die Offiziere, schlecht gelaunt wegen der unrühmlichen Aufgabe, die man ihnen stellte, fertigten ihn barsch ab.

»Weitergehen! Das ist keine Freudennacht.«

So sah sich Luis meistens genötigt, mit seinen Trabanten allein zu trinken, was seine gute Laune nicht beeinträchtigte.

An einer Straßenecke stieß er auf einheimische Gendarmerie. Aber selbst der ergraute, schnauzbärtige Sergeant, der wußte, daß er einem Dupont gegenüberstand, lehnte die Einladung ab … allerdings mit wohlwollendem Lächeln und unter Berufung auf das Reglement.

»Na schön, ehrbarer Veteran«, entgegnete der Señorito. »Trotzdem trinke ich einige Gläschen auf Ihr Wohl. Hol der Teufel das Reglement! Stoß an, alter Bock! Stoß an, Fermin! Die Dreimaster sollen leben!«

Endlich beschloß er, der fortwährenden Absagen überdrüssig geworden, die weitere Nacht beim Montañes zuzubringen …

»Wie schon gesagt, habe ich etwas mit dir zu bereden«, begann Montenegro, als dort in einem reservierten Zimmer eine neue Flaschenbatterie auf dem Tisch stand.

»Ach ja, ich erinnere mich … Sprich, mein Teuerster, sprich!« lallte der Bezechte, dessen Lider halb zufielen.

Fermin warf einen Blick zum Bock hinüber, der, seiner Gewohnheit getreu, sich an der Seite seines Protektors niedergelassen hatte.

»Luis, die Angelegenheit ist ein bißchen delikat; ich möchte lieber ohne Zeugen …«

»Meinst du etwa den Bock?« Dupont riß vor Erstaunen die Augen wieder auf. »Der Bock und ich sind eins. Vor dem habe ich kein Geheimnis. Und wenn mein Vetter Pablo hierher käme und mit mir zu sprechen wünschte, könnte der Bock auch zuhören.«

Montenegro sah ein, daß er, sollte sich die Unterredung nicht verzögern, die Gegenwart des üblen Schmarotzers in Kauf nehmen müsse.

»Du errätst wohl, weshalb ich dich gesucht habe, Luis«, sagte er, seine Worte so wählend, daß der unwillkommene Dritte ihren Sinn nicht verstand. »Ich weiß alles, was sich beim Weinlesefest zugetragen hat, und du wirst dich auch gewiß daran erinnern … Siehst du, Luis, du mußt einstehen für das, was du angerichtet hast. Ich habe dich immer für einen Freund gehalten und hoffe, daß du dich dementsprechend benehmen wirst. Wenn ich mich aber getäuscht haben sollte, so …« Überreizt durch die seelischen Aufregungen der letzten sechsunddreißig Stunden und das Umherirren in dieser Nacht war er unwillkürlich aufgesprungen.

Während sich Dupont, um seine Verwirrung zu verbergen, betrunkener stellte, als er war, hielt der Bock nunmehr eine Intervention für angebracht.

»Drohen? … Das gibt's hier nicht, Sie Küken! Wo ich bin, da hat kein Mensch den Señorito zur Rechenschaft zu ziehen«, brüllte er.

Aber diese Einmischung war nicht nach dem Geschmack seines Protektors. »Was fällt dir ein? Steck deine Zunge in den Arsch oder sonstwohin, wo sie Platz hat! Ein Dreck bist du hier, und wenn du den Mund auf tun willst, so hast du gefälligst um Erlaubnis zu bitten.«

Montenegro atmete auf. Ah, jetzt war die Gelegenheit da, sich der lästigen Gesellschaft zu entledigen, und zu Dupont gewandt, meinte er achselzuckend:

»Tatsächlich, Luis, ich verstehe dich nicht … da redest du immer von Mut und Tapferkeit und läßt dich trotzdem auf Schritt und Tritt wie ein Schulbub begleiten. Nicht einmal wenn ein einzelner Mann mit dir sprechen will, wagst du, dich von deinem Schatten dort zu trennen! Mein Lieber, du müßtest kurze Knabenhosen tragen …«

Jetzt schüttelte Dupont – an seiner empfindlichsten Stelle getroffen – die Trunkenheit ab, um sich vor Fermin in der ganzen Größe seiner Bravour zu blähen.

»Ferminillo, was du sagst, glaubst du ja selbst nicht. Als ob du nicht genau wüßtest, wie ganz Jerez mich fürchtet! Gleich sollst du sehen, daß ich keinen Gefährten nötig habe … Bock, scher dich raus!« Und da der störrische Raufbold sich nicht von der Stelle rührte, schrie Don Luis mit der Frechheit, die keine Strafe zu gewärtigen hat: »Raus! Oder soll ich dich mit einem Fußtritt hinausbefördern?«

Der Kerl gehorchte, wenn auch brummend, und die beiden Jugendfreunde nahmen ihre Plätze wieder ein. Luis Dupont war ziemlich nüchtern geworden; er mühte sich, als Herr der Situation zu erscheinen, maß Fermin mit einem stechenden Blick, der diesen einschüchtern sollte, und grollte, um diesen Zweck noch besser zu erreichen:

»Wenn du wünschst, werden wir uns gegenseitig die Kehle durchschneiden. Hier allerdings nicht, weil der Wirt mein Freund ist und ich ihm Unannehmlichkeiten ersparen möchte.«

Montenegro bekundete durch eine Geste, wie sehr er diese großmäulige Komödie verachtete.

»Sprechen wir lieber vernünftig, Luis. Also rund heraus: wie gedenkst du deine Missetat wieder gutzumachen?«

Bei diesem direkten Angriff verlor Dupont seine geheuchelte Sicherheit. »Fermin«, sagte er kläglich, »ich erkenne ja an, daß ich mich vergangen habe. Ich war meiner Sinne nicht mächtig … der schwere Wein …« Und ebenso plötzlich schlug seine Stimmung wieder um. »Das alles kommt von meiner Gutmütigkeit! Wenn ich mich nicht in Marchamalo vergraben hätte, um die Interessen meines Vetters wahrzunehmen, wäre nichts passiert. Dafür sitze ich nun in der Patsche! Denn als Ehrenmann und Freund deiner Familie denke ich natürlich nicht daran, mich von meiner Pflicht zu drücken, Fermin. Mein Vermögen steht zu deiner Verfügung. Bestimme du selbst die Summe, die ich deiner Schwester auszahlen soll, und es wäre doch recht sonderbar, wenn sie mit einer stattlichen Mitgift keinen netten Mann finden sollte. Paßt dir das nicht, mein Lieber? … Nun, dann gibt's ja noch eine andere Lösung. Maria Luz kann zu mir nach Jerez kommen. Ich werde ihr eine schöne Villa kaufen und alles, was in meiner Kraft steht, tun, um ihr ein angenehmes Leben zu bereiten. Wie viele Reiche haben nicht Freundinnen, denen alle Welt genau solche Achtung entgegenbringt, als wären sie die legitimen Gattinnen! Auch das benagt dir nicht? Na, dann schlage du etwas vor, damit wir endlich zum Schluß kommen.«

»Ja, Luis, kommen wir zum Schluß«, wiederholte Montenegro. »Was sollen auch die vielen Worte! Also höre: morgen gehst du zu deinem Vetter, um ihm mitzuteilen, daß du dich verpflichtet fühlst, Maria Luz zu heiraten. Gibt er seine Einwilligung, um so besser; verweigert er sie, so findet die Heirat trotzdem statt. Und du wirst, indem du dem Kneipenleben Adieu sagst, versuchen, deine Frau nicht unglücklich zu machen.«

Luis Dupont war so jäh aufgesprungen, daß sein Stuhl zu Boden polterte. »Und meine Karriere? Meine Zukunft? Gerade jetzt leiten die Jesuitenväter auf Pablos Wunsch meine Verlobung mit einer reichen Erbin aus Sevilla, einem früheren Beichtkind Pater Urizabals, in die Wege. Was meinst du, wie mir ihr Geld für meine politische Laufbahn zustatten kommt! Lieber Fermin, eine Heirat mit deiner Schwester wäre ein törichter Streich – eine Verrücktheit.«

»Eine Verrücktheit ja«, brauste Montenegro auf, »doch für Maria Luz. Oder bildest du dir ein, es sei ein Glück, sich einen Menschen aufzuhalsen, dem kein Laster fremd, keine Dirne zu gemein ist? … Ein Opfer bedeutet solch eine Ehe für meine arme kleine Schwester. Aber leider gibt es keinen anderen Ausweg, um der Schande zu entgehen. Was schwatzst du? Die ganze Sache geheimhalten? … Ah, ich kenne dich zu gut – in einer deiner Saufnächte würdest du dich mit der köstlichen Frucht brüsten, die dir im Weinberg deines Vetters zufiel! Und ehe wir zum Gespött von ganz Jerez werden, Carajo! …«

Jetzt packte den Señorito die Angst. Um Zeit zu gewinnen, bat er:

»Laß uns die Sache beschlafen, Ferminillo. Morgen haben wir beide einen kühleren Kopf und werden weiter darüber reden.«

Aber der andere ließ sich nicht abfertigen.

»Nein! Du versprichst mir jetzt sofort, sie zu heiraten, oder einer von uns ist zu viel auf der Welt.«

Dieser Satz weckte Duponts Manie des Draufgängertums. Überdies fühlte er sich stark bei dem Gedanken, daß der Bock in der Nähe war, vielleicht sogar die Worte hörte.

»Du wagst mir zu drohen, du Fant? Das tut in Jerez kein Mensch ungestraft.« Er steckte die Hand in die Hosentasche, und als er den Griff des Revolvers fühlte, wähnte er gewonnenes Spiel zu haben. »Genug der Redereien! Weiß Gott, mit Geld will ich nicht knausern, aber heiraten tue ich nicht. Hörst du wohl: ich heirate nicht … Bin ich übrigens allein schuldig?« warf er zynisch hin. »Laß dir gesagt sein, du Narr, daß man eine Frau nur vergewaltigen kann, sofern sie es selbst will. Mag ich ein verworfenes Subjekt sein – meinetwegen; doch deine Schwester … deine Schwester ist eine kleine Hure!«

Das letzte Wort ging unter in wüstem Lärm. Fermin, einen Dolch in der Hand, hatte sich mit ungeheurer Wucht nach vorn geworfen, so daß der schwere Tisch bis zur Wand rutschte.

Zwar fuhr Duponts Revolver noch aus der Tasche heraus, aber die Hand besaß nicht mehr die Kraft, abzuziehen.

Der Tapferste aller Tapferen taumelte. Er stieß ein Röcheln aus wie ein abgestochenes Tier, ein Keuchen, das den dunklen Strahl, der aus seinem Halse quoll, beschleunigte.

Dann sackte er zusammen unter dem Klirren von Flaschen und Gläsern, die ihm in seinem Fall folgten, als wolle der Wein sich mit dem alkoholverseuchten Blut vermischen.

 

Drei Monate waren verflossen, seitdem der alte Pedro den Weinberg verlassen hatte.

»Armer Kerl, er ist nur noch ein Schatten seiner selbst!« dachten Nachbarn und Freunde, wenn sie ihn verhutzelt an der

Tür des elenden Häuschens sitzen sahen, das er und Maria Luz in einer Vorstadt von Jerez bewohnten.

Er war in eine schon eher Blödsinn zu nennende Apathie verfallen. Viele Stunden lang saß er unbeweglich, starrte vor sich hin, den Kopf gesenkt. Wenn seine Tochter sich ihm näherte, um anzukündigen, daß das Essen auf dem Tisch stünde, schien er aufzuwachen, sich Rechenschaft zu geben, wo er sich befand, und seine Augen folgten dem Mädchen mit einem bitterbösen Blick.

»Verfluchtes Weibsbild!« murmelte er. »Verkommenes Frauenzimmer!« Sie allein hatte das Unglück verschuldet, das auf der Familie lastete.

Sein Zorn eines Vaters nach altem tyrannischem Brauch, unfähig des Erbarmens und der Verzeihung, sein Mannesstolz, der das Weib zeitlebens als untergeordnetes Wesen eingeschätzt hatte, setzten der armen Maria Luz hart zu. Auch sie hatte sich sehr verändert – blaß, abgemagert, und Augen, denen man das viele Weinen ansah.

In dem neuen Leben, das sie mit ihrem Vater in jener jämmerlichen Hütte führte, mußte sie Wunder der Sparsamkeit verrichten und obendrein noch den stummen Vorwurf seiner Blicke erdulden, die Fluchworte anhören, die jedesmal auf seine Lippen traten, wenn sie ihn seinem dumpfen Brüten entriß.

Stur krampften sich Pedros Gedanken an die verhängnisvolle Nacht, als die Streikenden hatten Jerez erobern wollen. Darüber hinaus ging sein Denken nicht. Noch glaubte er die Tür von Marchamalo unter dem ungebärdigen Pochen eines Unbekannten erzittern zu hören – eine Stunde vor Morgengrauen. Er hatte sich erhoben, hatte das Fenstergitter geöffnet, die Flinte schußbereit … Da draußen stand kein Fremder, sondern Fermin, sein Sohn … ohne Hut, mit blutbefleckten Händen und einem tiefen Riß im Gesicht.

Viel Worte wurden nicht gewechselt.

»Vater, ich habe Don Luis erstochen und muß sofort weiter, denn hier wird man zuerst nach mir fahnden.«

Einen Moment lang wollten die Knie des Alten versagen. Gerechter Gott! … Doch dann öffnete er, während Fermin sich die Wunde auswusch, die er beim Ringen mit dem Bock davongetragen hatte, die Schubfächer seiner Kommode, zerrte Wäsche heraus, wühlte suchend alles durcheinander.

»Nimm, mein Junge! Nimm, was ich besitze.«

Und er füllte ihm die Taschen mit Duros und Pesetas, mit all dem Silber, das er tropfenweise im Laufe der Jahre erspart hatte.

»Und jetzt komm!« Er packte ihn am Arm. »Noch ehe es hell wird, müssen wir in Matanzuela sein. Rafael kennt die Schmugglerpfade übers Gebirge und wird dich nach Gibraltar bringen. Dort kannst du dich einschiffen, wohin du willst; die Welt ist groß, mein Junge.«

Zwei Stunden hetzten die beiden durch die Nacht, wieder und wieder vom Weg abweichend und ängstlich lauschend, so oft sie verworrene Stimmen oder Pferdegetrappel zu hören vermeinten.

Oh, dieser schlimme Weg schmerzvoller Enthüllungen! Sein Fermin, dieser junge Herr in der viel beneideten Vertrauensstellung und mit den glänzenden Zukunftsaussichten, bleich und blutend auf der Flucht! … Immerhin brauchte man deswegen nicht zu verzweifeln; ein Dolchstich war nichts Ehrenrühriges. Als jedoch Fermin kurz vor dem Ziel offenbarte, warum er zum Mörder geworden war, übermannte den armen Vater die Schwäche. Ihn schwindelte. Er mußte sich an den Feldrain setzen. Ah, diese Hündin. Ihretwegen brach alles zusammen … Der Junge aber – welch ein Prachtkerl! Wie er sich für die Ehre seiner Schwester geopfert hatte!

»Fermin, mein guter Junge, du hast recht getan«, sagte Pedro mit der ganzen Überzeugung seiner einfachen Bauernseele. »Es gab keine andere Abhilfe als die Rache. Du bist der Beste in der Familie, bist mehr wert als ich, der ich ein dummes Mädchen nicht zu hüten wußte.«

Dann die tragische Ankunft in Matanzuela … das verstörte Gesicht des jungen Verwalters, den die Kunde wie ein Schlag traf. Tot sein Herr, und gefallen durch Fermins Hand? Warum, um Gottes willen? Was hatte sich zwischen den Jugendgefährten ereignet?

»Vertrödeln wir nicht kostbare Zeit mit unnützen Fragen«, verlor sein Pate die Geduld. »Sag, willst du Fermin retten oder nicht?«

Als Antwort sattelte Rafael außer seinem Fuchs eins der besten Pferde vom Gut, und gleich darauf stoben die beiden von dannen, während Pedro den Heimweg einschlug, plötzlich vom Alter gebeugt, als flüchte – zusammen mit dem einzigen Sohn – auch sein Leben davon.

Freiwillig verließ er noch am Abend desselben Tages den Weinberg und bezog das leerstehende Häuschen einer Verwandten seiner verstorbenen Frau. Wie hätte er in Marchamalo bleiben können, nachdem Blut zwischen seiner Familie und jener seines Gebieters stand? Er wies auch das Almosen zurück, das ihm Don Pablo, um ihm den Lebensabend zu erleichtern, anbot, obwohl seines Erachtens Pedro durch mangelnde religiöse Erziehung seiner Kinder die Hauptschuld an diesen traurigen Ereignissen trug.

Fünf Tage nach der Flucht brachte Rafael die Nachricht, daß Fermin sich in Gibraltar befinde und mit dem nächsten Dampfer nach Argentinien auswandern würde.

»Er hat's besser als wir«, meinte er trübsinnig, während er sich neben den Greis auf die Bank setzte. »Besser als du, Pate, in dieser elenden Hütte, besser als ich, der ich im Augenblick brotlos bin, denn meine Verwalterstelle habe ich aufgegeben.«

Der Greis streifte ihn mit einem traurigen Blick.

»Ja, du Ärmster bist auch von der verfluchten Schlange gebissen worden, die uns vergiftet hat.«

»Pate, auf unserem Ritt durch die Sierra hat mir Fermin alles erzählt … alles.« Rafael sah scheu nach der Haustür, als fürchte er, Maria Luz könne erscheinen. »Und zu denken, daß ich mich nicht einmal rächen kann an dem schurkischen Verführer! Christo, ich möchte ihn von den Toten auferwecken, um ihn noch einmal zu töten. Wie oft mag er sich innerlich über mich lustig gemacht haben, diese Canaille …

Wozu arbeiten, wozu brav sein?« fuhr er nach einer Pause fort. »Ich werde wieder Schmuggler. Doch damit nicht genug. Der halben Welt will ich den Krieg erklären – den Reichen sowie jenen, die das Heft der Regierung in der Hand halten, mit ihren Gewehren Schrecken verbreiten und die Ursache sind, daß man die Armen unter die Füße tritt. Jetzt, da draußen auf dem Land die Tagelöhner zittern und auch nicht eine Minute von der Feldarbeit aufzusehen wagen, jetzt, da in Jerez das Gefängnis übervoll ist und jene, denen man die Freiheit gelassen hat, verschüchtert in die Messe rennen, um nicht auch verdächtigt und verfolgt zu werden – jetzt begebe ich mich ans Werk. Die Reichen sollen merken, welche Bestie sie entfesselt haben, als einer von ihrer Sippschaft all meine Illusionen zerstörte … Das Schmuggelhandwerk – das nur als kleine Spielerei. Aber wenn die Ernte eingebracht ist, Pate, dann werden Scheunen und Mühlen in Flammen aufgehen, dann werden die Herden auf den Weideplätzen vergiftet werden. Und finde ich genug verwegene Burschen, so stelle ich eine berittene Bande zusammen und drangsaliere die Reichen, daß der große Tempranillo seligen Angedenkens wie ein Säugling neben mir erscheint. Möglich, daß sie mir eines Tages den Garaus machen, doch vorher – glaube mir, Pate – habe ich mit halb Jerez aufgeräumt.«

Der Greis nickte billigend mit dem Kopf. Wäre er jung gewesen, so hätte die Bande ein Mitglied mehr gehabt …

Seit jenem Besuch hatte sich Rafael nicht mehr blicken lassen. Dagegen stellten sich hin und wieder eine alte Zigeunerin oder auch einer jener Händler, von denen die Cafés und ihre Stammgäste billig Tabak bezogen, bei Pedro Montenegro ein.

»Hier, Großvater! Das schickt dir Rafael.«

Schweigend übergab der Greis Maria Luz das Geld und stierte, döste und brütete weiter auf seinem Bänklein, unempfindlich für das, was um ihn herum vorging, taub für alles, was man sagte.

Aus diesem Dämmerzustand weckte ihn nur einmal das beklommene Schweigen der Stadt – an jenem Tage, als die »Rädelsführer der Rebellen« hingerichtet wurden.

Da man es für dringend notwendig erachtete, eine ehrenwerte Bürgerschaft zu beruhigen, die allmählich die Demonstration der Streikenden als eine Revolution voll unmenschlicher Greuel darzustellen und den Tod Luis Duponts ebenfalls auf das Schuldkonto des Pöbels zu setzen beliebte, hatte man das Verfahren beschleunigt. Der Richter hatte Zuchthausstrafen über Zuchthausstrafen auf diese elende Herde regnen lassen, in deren Augen die bestürzte Frage stand, was sie denn eigentlich in jener Nacht so Schlimmes verbrochen habe. War es eine so unerhörte Anmaßung, ein etwas menschenwürdigeres Dasein auf dieser Erde zu begehren?

Außer jenen beiden, die in einem Anfall blinder Wut den jungen Schreiber töteten, traf das Todesurteil auch Juanon, den Hausierer Manolo und – grausame Ironie – das Schulmeisterchen. Ihm blieb es rätselhaft, inwiefern seine utopistischen Träume ihn zu einem gemeingefährlichen Individuum machen konnten; aber Poet, der er war – freilich, ohne es zu wissen –, glühte in seiner Seele der unerschütterliche Glaube an den künftigen Triumph seiner Ideen, und er tröstete sich und seine Genossen mit der Hoffnung über die Todesangst hinweg, daß nach ihnen andere kommen würden, um der Bewegung neuen Anstoß zu geben.

»Noch sind wir wenige. Aber wie die Wassertropfen zusammenrinnen und eine Überschwemmung verursachen, so werden wir eines Tages durch die Wucht der Masse alle Hindernisse niederreißen …«

Kurze Zeit, nachdem die fünf Unglücklichen ihren letzten Atemzug getan hatten, erhielt der greise Pedro Nachricht von seinem Sohn. Fermin schrieb aus Buenos Aires, schrieb, daß in diesem Lande ein Mensch mit Fleiß und Ausdauer unbedingt Erfolg haben müsse und daß der Vater sich seinetwegen keine Sorge zu machen brauche. Fortan hatte der Alte eine Beschäftigung, die ihn ein für allemal seiner Lethargie entriß: mühseliges Briefeschreiben und sehnsüchtiges Warten auf die Antwort von drüben.

Und wie er von seiner Bank aus wieder einmal die Gedanken übers Weltmeer schickte, gewahrte er den Schatten eines Menschen, der nicht von der Stelle wich. Er hob den Kopf und stieß einen kleinen Freudenschrei aus. Es war Salvatierra, aber weiß geworden, und müde blickten die Augen hinter den blauen Brillengläsern.

Man hatte ihn »losgelassen«, wahrscheinlich, weil man wußte, daß er nirgendwo einen Winkel finden würde, um sich ein Nest zu bauen, daß seine Worte ohne Echo in dem Schweigen des Schreckens verlorengehen würden.

Heimgekehrt nach Jerez, mußte er erleben, wie auch die guten Freunde aus Angst, sich zu kompromittieren, vor ihm flüchteten. Andere maßen ihn mit haßerfüllten Blicken, als sei er, den man nach Madrid verschleppt hatte, für den mißlungenen Aufstand verantwortlich. Doch der Señor Pedro gehörte nicht zu diesen. Behende aufspringend, wie in seinen guten Tagen, schloß er seinen Abgott in die Arme.

»Ach, Don Fernando! … Don Fernando!«

»Mut, mein Lieber«, tröstete Salvatierra. »Ich weiß von Rafael, welch schweres Leid Sie heimgesucht hat. Aber noch ist es nicht zu spät für Sie, ein neues Leben anzufangen, drüben, wo auch Ihr Sohn sein Brot fand.«

Verschiedentlich leistete er seinem getreuen Pedro vormittags auf dem Bänkchen Gesellschaft; dann verschwand er aus dem feindlichen Jerez, um weiter umherzuirren auf dieser andalusischen Erde, welche die Reste des einzigen Wesens barg, dessen Liebe sein Leben versüßt hatte.

Ein Monat mochte seit seinem letzten Besuch verflossen sein, als abends, nachdem der greise Pedro schon zu Bett gegangen war, an die Tür geklopft wurde. Maria Luz öffnete und wich zurück. Ihre Knie zitterten, es brauste in ihren Ohren. Eine heiße Blutwelle schoß in ihr Gesicht, flutete wieder fort und ließ eine grünliche Blässe zurück.

»Mariquita! … Mariquita!«

Rafael sprach in demselben sanften, flehenden Ton wie ehedem am Fenstergitter, und unwillkürlich trat sie wieder auf die Schwelle.

»Maria Luz, nur zwei Wörtchen«, murmelte er. »Du liebst mich, und ich liebe dich. Warum also unser ganzes Leben in Wut und Gram verbringen? … Freilich bis vor kurzem noch hätte ich dich kalten Blutes töten können. Aber ich habe mit Don Fernando gesprochen, und er hat mich zu einer besseren Ansicht bekehrt. Jetzt ist es aus mit der dummen Eifersucht auf einen Toten, aus mit dem Groll wegen eines Unglücks, für das dich keine Schuld trifft.

Laß uns fortgehen von hier, Maria Luz, viele Meilen Land und Wasser zwischen uns und diesen Fleck Erde legen. Die Entfernung löscht die häßlichsten Erinnerungen aus, und wenn wir Jerez und seine Landschaft nicht mehr sehen, so werden wir das; was wir hier erduldeten, vergessen. Wandern wir auch aus nach Argentinien. Ich habe Glück beim Schmuggel gehabt, schier unglaubliches Glück; ganze Maultierkarawanen sind unbehelligt über die Sierra gestiegen, und der Gewinn genügt, um die Überfahrt für uns alle drei zu bestreiten.«

Heller und heller wurden die Augen des jungen Mädchens. Es getraute sich jetzt sogar, den unerwarteten Gast zum Sitzen aufzufordern.

»Don Fernando hat mir jenes Land beschrieben«, fuhr Rafael fort. »Da gibt es zahllose Herden wilder Pferde, die auf einen eisernen Schenkel warten, um zugeritten zu werden; da gibt es ungeheure, herrenlose Ländereien, wo ein Mann Großes schaffen kann. Ist das nicht ein Paradies für einen Bauern, der bisher für andere schuften mußte? Freiheit und Glück winkt uns in diesem Winkel der Welt, der noch nicht von den Verbrechen der Zivilisation und dem Egoismus reicher Müßiggänger geschändet wurde, sondern nur ein Privileg kennt: die Arbeit. Dein Vater wird sich nicht sträuben, Maria Luz, denn Don Fernando hat mir versprochen, ihm klarzumachen, daß dies für uns alle das beste sei. Fort aus diesem Lande, wo Gewehrläufe die Mission zu erfüllen haben, den Hunger zu besänftigen! In zehn Tagen fährt ein Dampfer. Kommst du mit, Mariquita?«

Und Maria Luz, dieses sonst so strenge, schamhafte Mädchen, sank ihm in die Arme und bot ihm den Mund, ohne sich um die entrüsteten Passanten zu kümmern.

Im Hafen von Cadiz schüttelte Fernando Salvatierra seinem Freund und einstigen Waffengefährten, der mit Rafael und Maria Luz die Reise nach der Neuen Welt antrat, zum letztenmal die Hand.

»Adios, Pedro. Wir werden uns nicht wiedersehen – für die Armen ist die Welt zu weit.«

Er fühlte, wie ihm die Tränen hochstiegen. So entschwand ein Freund nach dem anderen – der eine durch den Sensenmann geholt, der andere durch Not und Unglück fortgetrieben. Allein blieb er inmitten eines Volkes, dessen Befreiung er beabsichtigt hatte und das ihn nicht mehr zu kennen wünschte …

Und noch einmal mußte er nach Jerez. Ein Sterbender verlangte ihn zu sehen.

»Dieses Mal geht es mit meinem Mann wirklich zu Ende«, schrieb die Wirtin der Grajoschenke. »Die Ärzte haben ihn aufgegeben.«

Tags darauf, an einem Sonntag, wanderte Salvatierra denselben Weg entlang, auf dem er einmal nachts, in umgekehrter Richtung, der Leiche eines Zigeunermädchens gefolgt war.

Er kam zu spät.

Drinnen, in der einzigen Stube, lag auf dem armseligen Bett eine aufgedunsene Leiche, ohne andere Gesellschaft als die Fliegen, die sich rings um das bläuliche Gesicht tummelten. Die Witwe schenkte an der Theke Gläser ein und ließ sie durch ihre Kinder den im Freien sitzenden Gästen – meist Arbeiter von Matanzuela – servieren.

An den Türpfosten gelehnt, betrachtete Salvatierra die weite, in sonntäglicher Ruhe daliegende Ebene. Er fühlte sich einsam, trostlos einsam. Der letzte Gefährte seiner revolutionären Jugend war dahin. Von allen, die mit ihm den Guerillakrieg in der Sierra geführt und Tod und Zuchthaus getrotzt hatten, blieb ihm keiner mehr.

Wie viele heroische Anstrengungen! Wie viele Blutopfer! … Und nun schien es, als wäre alles fruchtlos gewesen. Denn die neue Generation verleugnete die Alten; sie weigerte sich, aus ihren müden Armen die Last von Haß und Hoffnung zu übernehmen.

Traurig suchte sein Blick die Gruppe der Tagelöhner. Sie kannten ihn nicht, oder wollten ihn nicht kennen. Keiner zog den Hut zum Gruß.

Aber jetzt kam von der anderen Seite ein Greis herangetappt. Zarandilla … so erblindet, daß ihn erst die Wirtin über die Person des einsamen Gastes aufklären mußte.

»Sind Sie's wirklich, Don Fernando?« stammelte er. »Ja, ja, viel ist geschehen, seit Sie zum letztenmal hier waren; viel hat sich auch in Matanzuela geändert, seit Rafael uns verließ. Das Gut ist jetzt Eigentum von Don Pablo, und die Leute sind von ihm begeistert, weil er den Tagelohn um einen halben Real erhöhte. Wenn ihr gehorsam und demütig seid, werdet ihr immer einen guten Herrn an mir haben, lauteten seine Worte. Demütig und gehorsam … das heißt: schuften in der Woche, und Sonntags bei Strafe keine Messe versäumen. Demütig und gehorsam, das heißt: nie ein Stückchen Land als eigen besitzen. Ach, Don Fernando, und ich dachte, ich würde es noch erleben, daß die Scholle verteilt wird! Aus … vorbei!« Er seufzte tief. »Statt dessen ist man sehr um unser Seelenheil besorgt«, erzählte er weiter. »An den Feiertagen schickt Don Pablo sogar einen Pater aus Jerez, der religiöse Vorträge hält, und wer sie besucht, dem werden nachmittags auf Kosten des Herrn ein paar Glas Wein hier in der Taverne verabfolgt. Und die Arbeiter beten und beichten und katzbuckeln in der Hoffnung, hierdurch noch einen halben Real mehr zu gewinnen.«

Neugierig geworden, was der alte Zarandilla wohl so lange mit Salvatierra zu bereden hatte, kamen ein paar der Tagelöhner langsam herübergeschlendert.

»Wenn Sie etwa wieder eine Propagandatour auf dem Lande beabsichtigen, Don Fernando«, begann der betagteste von ihnen, »so sparen Sie sich nur die Mühe. Denken Sie an das Sprichwort: Gebranntes Kind scheut Feuer. Können Sie es den Leuten verargen, daß sie lieber darben, als hinter Zuchthausmauern sitzen oder den Kopf verlieren? … Wir Alten halten ja immer noch große Stücke auf Sie, Don Fernando, denn wir wissen, daß Sie sich nicht, wie manche andere, durch Ihre Propaganda bereichert haben, im Gegenteil, viel Böses erduldeten. Aber sehen Sie sich mal das junge Volk an.« Er zeigte auf die Burschen, die bei den Gläsern sitzengeblieben waren und ab und zu den greisen Revolutionär mit einem frechen Blick musterten. »Soll ich Ihnen sagen, wie diese über Sie urteilen? ›Ein Drahtzieher wie alle, die uns einwickeln wollen. Die Dummen, die seiner Lehre folgten, verfaulen jetzt auf dem Friedhof; er selbst aber lebt vergnüglich weiter … Was schert diesen Señor, der gar nicht zu uns gehört, überhaupt das Schicksal der Arbeiter? Pah, auf unsere Kosten will er es sich wohl sein lassen!‹ So reden sie, Don Fernando … Warum vergällen Sie sich das Leben, indem Sie Unmögliches versuchen? Die Reichen kriegen wir nicht klein, heute nicht und morgen nicht; und wahrscheinlich nie.

Trinken Sie, Don Fernando«, forderte er auf, dem greisen Revolutionär ein volles Glas anbietend. »Der Wein ist das beste auf der Welt, das einzige, was Freude in unser Dasein bringt. Trinken Sie! Wir haben ihn billig bekommen – eine Stunde Messehören, mehr kostet er nicht.«

Der stets beherrschte Salvatierra bebte vor Zorn. Am liebsten hätte er das Glas auf den Boden geschmettert. Verfluchtes goldfarbenes Gift! Unseliger Dämon, der diese Bedauernswerten unterjochte, sie vertierte, ihren Willen lähmte, sie zu Verbrechern, Narren oder Feiglingen machte. Und ihre Brotherren, klug und umsichtig, bedienten sich seiner, um die arbeitende Herde in den Taumel falschen Frohsinns zu lullen.

Unglückliche Sklaven! Sie selbst flochten die Peitsche, die sie duckte; sie selbst schmiedeten die Ketten des Hungers, der durch Trunkenheit betäubt wurde. Und sie lachten! Spotteten noch über uneigennützige Bestrebungen! …

Herrgott, sollte die Sklaverei denn ewig währen? Sollten menschliches Sehnen und Trachten denn für immer zum Schweigen gebracht werden durch die flüchtige Zufriedenheit des brutalen Genusses?

Es dunkelte. Die Nacht kam.

Aber folgte ihr nicht ein neuer Tag? Und bei diesem Gedanken schwand Salvatierras Grimm; Hoffnung und Glauben kehrten zurück. Einmal würden die Gerechtigkeit und die Freiheit, die im Gewissen jedes Menschen schlummerten, doch erwachen.

Jenseits dieser Felder und Berge lagen Städte, die großen Menschenanhäufungen der modernen Zivilisation. Auch dort gab es Herden Verzweifelter, die jedoch den falschen Trost des Weins verschmähten. Sie würden die Auserwählten sein. Und während der Landarbeiter mit der Resignation des Ochsen weiter Frondienst leistete, würden sich in den Städten die Enterbten sammeln, um dem einzigen Freund der Elenden und Hungernden zu folgen, ihm, der in der Geschichte aller Religionen geschmäht worden war – dem Flammenengel … der sozialen Rebellion.


Die Verse auf Seite 93 sind in der Übersetzung von Rudolf Großmann (»Katalanische Lyrik der Gegenwart«, Casa Editorial Fausto, Soc. Ltda.) wiedergegeben.



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