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Im Gutsgarten von Alaine leuchteten die weißen Blüten der Heckenrosen aus dem dicken Grün. Selbst im und undurchdringlichen Gebüsch, dort, wo das rote Ziegelhäuschen des Gärtners sich an die hohe Mauer schmiegte, prangte ein großer Strauch in voller Blüte. Einer der Zweige schlug von Zeit zu Zeit leicht an die Scheibe des offenen Fensters und ließ seinen feinen Duft in das Zimmer strömen, das Christine soeben betreten hatte. Sie legte das Gesangbuch auf den Tisch und setzte sich der Mutter gegenüber.

»Es ist warm«, sagte sie und nahm das weiße, schwarz gepunktete Kopftuch ab. »Wie warm das ist, Muttchen!« Die Mutter umfasste mit zärtlichem Blick die jugendliche Gestalt der Tochter, ihr hellgraues Wollkleid und das goldene Haar, das, in zwei lange Zöpfe geflochten, herabhing.

»Du bist wohl sehr schnell gegangen?« fragte sie.

»Ja, Mutter«, erwiderte Christine, während sie die zerdrückten Zipfel des Tuches glättete und das Tuch sorgsam zusammenlegte. Dann stand sie auf und legte es in die Kommode. Diese Kommode war aus rotem, vor Alter dunkel gewordenem Holz mit glänzenden Messinggriffen. In früheren Jahren war sie offenbar die Zierde eines reicher ausgestatteten Zimmers gewesen. Die beiden Stühle mit den verblichenen Baumwollbezügen, der Kupferstich an der Wand und der Bettvorhang mit dem wunderlichen Muster schienen gleichfalls aus dem Herrenhause herübergewandert zu sein. Diese Zeugen vergangener Zeiten gaben dem Zimmer einen unerwarteten Glanz ... Überall herrschte eine erstaunliche Sauberkeit.

»Waren viele Leute in der Kirche?« fragte die Mutter. »Nicht sehr viele, wie immer in der Erntezeit.«

»Worüber hat der Pastor denn gepredigt?«

»Über den Splitter im Auge des Bruders ... Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet ... aus dem Matthäus-Evangelium.«

»Hast du Bekannte gesehen?«

»Ja ... Emma ... Maria Klusch ... Um fünf Uhr wird unten Singstunde sein.«

»Und sonst hast du niemanden getroffen?« forschte die Mutter weiter.

»Gott ja, getroffen schon ...«

Christine stützte sich mit dem Ellbogen auf die Kommode und betrachtete die schwankenden weißen Blüten am Fenster. Nach einer Weile setzte sie hinzu:

»Akmentin war auch da.«

Das freundliche, abgezehrte Gesicht der Wäscherin wurde heiter. Sie fuhr ein paarmal mit dem Finger über die glänzende Tischplatte, als wollte sie ein unsichtbares Stäubchen wegwischen und fragte dann:

»So ... Nun, und was hat er ... Habt ihr miteinander gesprochen?«

»Er hat mich bis zum Garten des Verwalters gebracht«, antwortete Christine. »Wir haben ein bisschen geplaudert ... Ich habe getan, wie du gesagt hast, Muttchen, und bin freundlich zu ihm gewesen.«

Auf die Wangen der Wäscherin trat eine kaum merkliche Röte, ihre Augen begannen zu glänzen. Sie wollte noch etwas sagen, schwieg aber aus Furcht, ihre Stimme könnte zittern. Sie schämte sich, der Tochter zu zeigen, wie sehr diese Kleinigkeit sie freute.

In Erwartung, die Mutter würde noch etwas sagen, drehte Christine sich um. Als sie deren Erregung bemerkte, nahm sie einen Stuhl und setzte sich neben sie.

»Nun, was hast du denn!« sagte sie mit zärtlichem Vorwurf. »Nicht doch, Muttchen, nein, nicht so! Denk doch bitte nicht ... denk doch nicht, dass gleich ... gleich alles ... Offen gestanden war es mir schwer, freundlich mit ihm zu sprechen ... schwer!«

Das Mädchen nahm die welke Hand der Mutter und streichelte sie, als wollte sie um Verzeihung bitten.

Die Mutter schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe das nicht«, sagte sie. »So ein guter Mensch ... Und du bist so freundlich zu allen, nur zu ihm nicht ... Hat er dich denn gekränkt?«

»Aber nein, wirklich nicht!« gab Christine lebhaft zur Antwort. »Ich weiß selbst nicht, woher das kommt; aber so oft ich ihn neben mir sehe, hasse ich ihn geradezu ... so sehr verlangt mich, ihm zu zeigen, wie widerwärtig er mir ist. Er ist geradezu wie ein Ertrinkender. Klammert sich an das nichtigste Wörtchen von mir. Auch jetzt am Garten – es war, als hätte er die Absicht, mit mir zu reden ...«

Die Wäscherin seufzte.

»Das wäre doch ein Leben!« flüsterte sie.

Christine schwieg.

»Akmentiniene«, fuhr die Mutter fort. »Ich habe immer gehofft, du würdest einmal Akmentiniene werden!«

Christine nahm nun beide Hände der Mutter und drückte sie an ihre Stirn.

»O Muttchen, hoffe nicht! Am besten, du hoffst überhaupt nichts.«

»Ja, willst du denn unverheiratet bleiben?«

Das Mädchen ließ die Hände der Mutter los, erhob sich schnell, ging zum Fenster und blickte über den alten Apfelbaum zum Himmel hinauf. Sie stieß einen Seufzer aus.

»Ach Mutter, Mutter! ... Sind die unseren noch nicht zum Mittagessen gegangen?«

»Die Köchin hat noch nicht gerufen ... Es ist noch Zeit ... Wir wollen noch ein wenig reden. Du denkst doch nicht an Edgar ...?«

»Ängstigst du dich wieder wegen Edgar?« fragte Christine heftig.

»Das weiß ich gewiss«, antwortete die Mutter, und ihre Augen röteten sich, »wenn du ihn heiratest, wird er dich zugrunde richten. Und deshalb ängstige ich mich so.«

»Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass ich ihn nicht heiraten werde.«

»Das ist wahr, und ich habe auch nicht gewaltsam darauf gedrungen, dass du es mir versprichst. Du sollst es aus eigenem freien Willen tun. Und warum sprichst du jetzt so gereizt?«

»Weil du mich immerfort damit quälst. Jede Minute ein und dasselbe, ein und dasselbe.«

»Was einem weh tut, davon spricht man. Ich will doch nur dein Glück. Meinst du, ich wüsste nicht, warum dich meine Reden so erbittern. Mit dem Munde verleugnest du ihn, aber im Herzen zieht es dich zu ihm hin. Ach – zu einem solchen Menschen!«

»Mutter, ich habe dir doch gesagt, dass der Pastor heute ...«

»Ach lass doch, ich bitte dich darum!« unterbrach die Mutter sie. »Ich verurteile ja auch niemanden. Man mag sagen, was man will, aber wie er war, so ist er auch noch.«

»Nun, dann wollen wir lieber nicht mehr von ihm reden!« sagte Christine.

»Gut, reden wir nicht mehr davon ... Gut ... Nur versprich mir, dass du dich nicht mehr mit ihm abgibst!«

»Aber habe ich mich denn je mit ihm abgegeben? Ich kann ihm doch nicht verbieten, sich mit mir Zu unterhalten. Soll ich denn unhöflich zu ihm sein? Er hat mir doch nichts Böses getan. Und ich habe ja gesagt – heiraten werde ich ihn nicht, und ich halte mein Wort!«

Ihr Gespräch wurde durch ein Läuten unterbrochen, das über die Umfriedung drang. In diesem Augenblick klappte die Tür, und zwei Männer gingen in lautem Gespräch am Gärtnerhäuschen vorüber.

»Sie sind zum Essen gegangen«, sagte die Mutter. »Nun gehst du auch bald.«

»Gehst du denn nicht?«

»Mir hebt die Köchin etwas auf. Geh nur allein!« Christine ging. Die Wäscherin ließ die Hände in den Schoß sinken und gab sich ihren Gedanken hin. Jedesmal, wenn sie mit Christine ins Gespräch kam, drangen ihr vor Kummer die Tränen in die Augen. Wie heiß war sie bemüht, ihrem Kinde das Schicksal zu ersparen, das sie selbst getroffen hatte. Sie war die Witwe des früheren Kutschers auf dem Gut Alaine. Goba hatte mit einem Ruck ein Viergespann der feurigsten Pferde zügeln können, aber mit seiner Leidenschaft für den Trunk war er nicht fertig geworden. Und trotzdem hatte sie ihn geheiratet, gegen das Verbot der Eltern, ihn geheiratet in der Hoffnung, die Kraft ihrer Liebe könnte ihn zur Selbstbeherrschung bringen. Aber die Hoffnung war trügerisch gewesen, und für ihren Irrtum hatte sie mit langen Jahren eines bitteren Ehelebens voller stiller Qualen büßen müssen. Dann war Goba plötzlich gestorben. Der Baron jagte die so schwergeprüfte Witwe nicht hinaus, sondern wies ihr ein kleines Zimmer im Gärtnerhäuschen an und beschäftigte sie als Wäscherin, und als Christine erwachsen war und das bisherige Zimmermädchen nach langer Dienstzeit geheiratet hatte, war sie auf die frei gewordene Stelle gekommen. Das Leben von Mutter und Tochter kam allmählich in geregelte Bahnen. Die düstere Vergangenheit der armen Wäscherin begann bereits zu verdämmern, als plötzlich die Gestalt Edgars auftauchte und das Mutterherz von neuem mit brennender Sorge erfüllte.

Edgar, der Sohn des Hundewärters, war Reitknecht. Seine Kinderjahre hatte er auf dem Guten verbracht. Mit Christine und den anderen Kindern der Gutsleute war er im Sommer in dem großen Park umhergelaufen, dort hatten sie Verstecken gespielt und in dem kleinen Flüsschen Alaine geplantscht und im Winter auf dem Berge gerodelt, auf dem sich die Ruinen eines alten Schlosses erhoben. Gemeinsam mit Christine war er zur Schule gegangen, hatte beim Gärtner gearbeitet und war schließlich Reitknecht geworden. Während dieser ganzen Zeit bestand zwischen Edgar und Christine keine Zuneigung, eher hätte man von Feindschaft sprechen können. Wenn das Mädel einmal mit zerschlagener Nase nach Hause gekommen war, dann war fast immer Edgar der Übeltäter gewesen.

Plötzlich aber hatte sich alles geändert. Der ältere Bruder des Barons und Edgars Pate hatten sich in Polen ein Gut gekauft und den Jungen als Kutscher mitgenommen. Nach drei Jahren ging das Gut wieder in andere Hände über, und Edgar kehrte nach Alaine zurück. Als rotbäckiger kleiner Bursche war er gegangen, zurück kam ein schlanker junger Mann mit einem blassen Gesicht, auf das die Leidenschaften schon ihren Stempel gedrückt hatten. Der Baron hatte Edgar schon früher als ausgezeichneten Zureiter geschätzt, so übernahm er ihn sofort als Reitknecht. Und damit begann für die Wäscherin eine Zeit der Sorgen.

Noch wusste niemand auf dem Gute, was für Gewohnheiten Edgar aus Polen mitgebracht hatte, aber die Mutter bemerkte schon, dass er sich Christine gegenüber ganz anders benahm. Auch Christine war in diesen drei Jahren gewachsen und voll erblüht. Er hänselte sie nicht mehr wie früher, er machte sich nicht mehr über sie lustig, sondern grüßte sie mit ebenso tiefer Verbeugung wie den Baron selbst. Und als dann Gerüchte über Edgars liederlichen Lebenswandel aufkamen, war Christine die einzige, die ihnen keinen Glauben schenken wollte oder die, wenn sie nicht anders konnte, wenigstens versuchte, den Burschen in Schutz zu nehmen. Besonders entsetzt war die Mutter, als sie einmal unbeabsichtigt mitanhören musste, wie Christine dem Burschen zärtliche Vorwürfe machte und ihm das Versprechen, sich zu bessern, abverlangte. Genau so hatte auch ihr Unglück begonnen. Auch sie hatte Goba bessern wollen. Nun zögerte die Mutter nicht mehr, der Tochter die Augen zu öffnen, und Christine, die in ihrer Unschuld nicht einmal geahnt hatte, dass sie verliebt war, erschrak nun selbst. Nur zu gut erinnerte sie sich des Lebens, das die Mutter an der Seite des ewig betrunkenen Vaters geführt hatte, und sie fasste den festen Entschluss, Edgar zu meiden. Aber wie leicht überspringt das Gefühl die Grenze, die der Verstand zieht. Nach einiger Zeit hörte die Wäscherin von neuem, wie Christine Edgar zärtliche Vorwürfe machte. Auf die neuerlichen Ermahnungen der Mutter gab Christine ihr Wort, Edgar nicht zu heiraten und versuchte, so gut sie konnte, der Mutter Befürchtungen zu zerstreuen, so oft diese in jammernde Vorwürfe übergingen. So war es auch heute gewesen, und der Mutter war etwas leichter ums Herz geworden. Dennoch fielen ihr unwillkürlich heiße Tränen auf die abgezehrten Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte.

Als Christine zum »zweiten Tisch« kam – ins Esszimmer der Bediensteten, das sich neben der Gutsküche befand – saß der Kutscher schon beim Mittagessen. Edgar stand in der Tür und unterhielt sich mit der alten Wirtschafterin. Als er Christine erblickte, drehte er sich rasch um, ging zum Tisch und wollte sich neben den Kutscher setzen. Dann aber bemerkte er, dass das Mädchen keinen Sitzplatz fand; er lief ins Zimmer der Wirtschafterin und holte einen Stuhl.

»Aber warum denn ... Ich konnte doch auch selbst ...«, flüsterte sie verlegen und setzte sich. An ihren zusammengepressten Lippen und hastigen Bewegungen sah man, dass sie ihre Verlegenheit mit Mühe zu unterdrücken suchte. Auch Edgar nahm Platz, füllte seinen Teller mit Suppe und begann ohne aufzusehen zu essen.

Auf das Fensterbrett gestützt, stand der Kammerdiener und lächelte.

»Edgar«, sagte er, »der Baron lässt dir etwas sagen.«

»Was denn?« fragte Edgar kurz und unfreundlich.

»Ich weiß nicht, ob es dir angenehm ist, wenn Damenohren ...«

»Was heißt schon Damenohren!« bemerkte Edgar ebenso unfreundlich, und ein stechender Blick aus seinen großen Augen traf den Kammerdiener. »Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag's, aber rede kein dummes Zeug.« »Gut, gut, ich werde es sagen ... Aber du brauchst dich nicht zu ärgern. Oder bin ich schuld, wenn du vorige Nacht nicht ausgeschlafen hast? Der Baron lässt dir sagen, du möchtest künftig nicht solchen Lärm machen.« »Wo und wann habe ich Lärm gemacht?«

»Hier nicht. Hier bist du ein vollendeter Kavalier ... Es heißt, du hättest die Tür vom Pferdestall so laut zugeknallt und beim Dienstmädchen vom Verwalter so ans Fenster geklopft, dass die Frau Verwalterin nicht einschlafen konnte ... Letzte Nacht hast du sogar eine Scheibe eingeschlagen.«

Eine tiefe Zornesfalte erschien auf Edgars bleicher Stirn, seine Nasenflügel zitterten.

»Bist du fertig mit deinem Geflunker?« fragte er grob. »Ja«, entgegnete der Kammerdiener und lächelte noch breiter und süßer. »Das also lässt dir der Herr Baron sagen. Und von mir aus kann ich dir sagen, dass der Verwalter befohlen hat, die Scheibe auf deine Kosten wieder einsetzen zu lassen.«

»Heute früh ist auch schon der Gärtner mit der Glaskiste am Pferdestall vorübergegangen«, bemerkte der Kutscher mit seiner feinen Frauenstimme.

»Ich werde den Baron fragen, wer ihm das aufgebunden hat«, sagte Edgar. »Ich war bei denen ... Ich bin dort ... heute nacht gar nicht gewesen.«

Der Kutscher kniff seine sanften Augen zusammen, zog die Brauen hoch, rümpfte die Nase, als ob er einen schlechten Geruch spüre, und sah Christine an.

Aber das Mädchen fuhr fort zu essen, ohne den Blick zu erheben.

»Frage, bitte, frage nur«, sagte der Kammerdiener. »Dann wirst du erfahren, dass es der alte Drache selbst ist, der dir dein Glück missgönnt (als ›alten Drachen‹ bezeichneten die Dienstleute des Gutes den Schwiegervater des Verwalters). Er hat selbst gesehen, dass zwei Beine in Wildlederhosen durchs Fenster schlüpften ... Na, und Wildlederhosen hat Baron Edgar nur seinem Patenkinde geschenkt. So reimt sich das zusammen!«

Eine Stille trat ein, nur vom Geklapper der Löffel, Gabeln, Messer und Teller unterbrochen. Edgars Teller klapperte am lautesten.

»Leiser, leiser, hast doch gehört, sollst leiser sein«, witzelte der Kutscher mit seinem zarten Stimmchen.

»Pass auf, dass du nicht eins ins Genick kriegst«, sagte Edgar leise mit verhaltener Wut, schob den leeren Teller mit einem Stoß von sich und erhob sich vom Tisch. Er ging ins Nebenzimmer, sein höfliches »Danke, Madam Asta«, klang heraus, dann kam er in die Küche zurück und schritt stolzerhobenen Hauptes in den Hof hinaus.

»Glücklicher Mensch«, lächelte der Kammerdiener, »seine eigenen Streiche nimmt er anderen übel.«

»Was hat der Pastor heute denn Neues bekanntgegeben?« wandte sich der Kutscher an Christine in der Meinung, es sei nun Zeit, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

»Die Verlobung von August Maskrauklen.«

»War das alles?«

»Ja, Sie haben gefragt, was es Neues gab, und die Gebete waren die alten wie immer«, sagte Christine ruhig.

Der Kutscher brummte etwas Unverständliches und seufzte.

»Ach Kammerdiener, Kammerdiener, wann werden wir beide endlich so weit kommen wie Maskrauklen?« jammerte er im Scherz.

»So weit wie Maskrauklen können wir schon nächsten Sonntag sein. Sie ist doch arm«, sagte der Kammerdiener.

»Dafür liebt er sie und sie ihn«, bemerkte Christine. »Aber ihr denkt wahrscheinlich, jedes arme Mädchen wird Ja sagen, wenn ihr sie mit eurer Liebe beglückt?«

»Richtig, richtig«, bestätigte der Kutscher im süßesten Tone. »Meinst du, Christine wird midi nehmen, wenn ich um sie anhalte? Bei der werde ich ganz vergeblich anklopfen.«

Christine maß den Kutscher mit einem stolzen Blick. Sie wusste wohl, dass der Kutscher nur Scherz machte, aber es war ihr unangenehm, das zu hören.

»Allerdings vergeblich«, erwiderte sie, außerstande, den verächtlichen Klang ihrer Stimme zu unterdrücken. »Allerdings vergeblich«, wiederholte sie noch einmal, erhob sich und ging hinaus. Als sie bei der Wirtschafterin eintrat, zog sie die Tür kräftig hinter sich zu.

Der Kutscher strich seinen großen Bart.

»Maja«, brummte er.

»Maja!« klang das spöttische Echo vom Fenster. Die Beine übereinandergeschlagen, trommelte der Kammerdiener vergnügt aufs Fensterbrett, sah den Kutscher an und lächelte.

Der Baron speiste heute erst um vier Uhr. Als Junggeselle, nicht an die Bedingungen des Familienlebens gebunden, hielt er sich an keine bestimmte Tischzeit und aß den einen Tag um eins, den anderen um fünf Uhr. Heute hatte er sich eigentlich um drei zu Tisch setzen wollen, aber ein schwerer Anfall von Hypochondrie hatte ihn bis gegen vier warten lassen. Aber auch jetzt schmeckte ihm das Essen nicht. Selbst der dreierlei Wein in drei verschiedenen Gläsern konnte ihm kein Interesse abgewinnen. Er befahl, den Rest der Wirtschafterin zu

bringen, setzte seine helle Jockeimütze auf und sprengte alsbald in Edgars Begleitung über den Hof.

Der Kammerdiener klingelte nach Christine. Als sie kam, hatte er die weißen Handschuhe noch nicht ausgezogen.

»Was gibt's, Wiskrelis?«

Der Kammerdiener liebte es, vor Christine im Frack zu prunken, in tiefausgeschnittener Weste und weißen Handschuhen. Auch heute stand er so da, die Ellbogen nachlässig auf den Stuhl des Barons gelehnt, und deutete schweigend mit dem weißbehandschuhten Finger auf die Sektflasche.

»Hinaustragen? Wegstellen?« fragte Christine.

»Nein, trinken«, erwiderte Wiskrelis, nahm die Flasche und schenkte ein großes Glas ein. »Der Baron ist heute so so ... schmeckte ihm alles nicht. Und diese Flasche sollte ich mit Madam Asta austrinken.«

»Und da willst du mir ihren Anteil überlassen?«

»Ihren Anteil? Aber liebe Christine, warum ... warum beleidigen Sie mich so. Das ist mein Anteil! Bitte sehr!«

»Danke. Trinken Sie ihn nur allein!«

»Aber Sie werden doch nicht ablehnen! So ein Wein ... Nur ein Gläschen ... So etwas bekommt man nicht jeden Tag ... Etwas ganz Besonderes!«

»Dann will ich Ihnen das Vergnügen erst recht nicht rauben. Nein, nein! Trinken Sie ihn nur allein!«

»Ich weiß wahrhaftig nicht, was mit Ihnen ist, Christine? Früher waren Sie nicht so zu mir. Was ist das schon, ein Gläschen Schaum? Und da lehnen Sie ab! Ich will es Ihnen ja nicht aufdrängen ... Nur eine kleine Aufmerksamkeit, und Sie – und Sie ...«

»Soll ich die Flasche zu Madam bringen?«

»Sie wollen also wirklich nicht trinken?« fragte der Kammerdiener gekränkt. »Nun, dann sind Sie aus irgendeinem Grunde auf mich böse. Sicher ist es wahr, dass Sie…

»Was ist wahr?« fragte Christine rasch und in drohendem Tone. »Sagen Sie, was ist wahr?«

»Sie ... Sie regen sich auf, dann lassen wir das lieber«, gab der Kammerdiener schroff zurück, vortrefflich den arroganten Ton des Barons kopierend. »Bitte, nehmen Sie auch dieses Glas weg!«

Christine nahm die Flasche und das gefüllte Glas. Wiskrelis öffnete ihr die Tür, und das Mädchen trat in den engen Korridor, der in die Küche führte. Nachdem der Kammerdiener die Tür hinter ihr geschlossen, zog er die Handschuhe aus und warf sie wütend auf den Boden.

»Ach!« schnaufte er verächtlich und begann den Tisch abzuräumen.

Zu Hause wartete Besuch auf Christine. Im Zimmer saß am Fenster ein blühender junger Mann mit langem hellem Schnurrbart und sehr roten Lippen. Der helle, feine Tuchanzug passte ihm ausgezeichnet, und der hohe gestärkte Kragen, zu dem er eine bescheidene schwarze Krawatte trug, glänzte wie Schnee. Als der Gast Christine erblickte, stand er auf und verneigte sich. Er errötete dabei.

»Herr Akmentin wollte dich besuchen«, sagte die Wäscherin mit glückstrahlenden Augen.

»Ja?« gab Christine zurück. »Das ist ... das ist ...« sie sah die Mutter an, deren Gesicht vor Aufregung rote Flecken zeigte, » ... sehr hübsch.«

»Alle Sänger sind schon in der Schule«, erklärte Akmentin. »Wir haben gewartet und gewartet ... und da wollte ich mich doch einmal erkundigen, ob vielleicht etwas passiert ist.«

»Der Baron hat heute spät gegessen, ich konnte midi nicht eher frei machen«, erklärte Christine. »Aber so lange können Sie auch nicht gewartet haben, die Uhr im Esszimmer hat eben erst fünf geschlagen. Jetzt können wir gehen.«

Sie holte aus der Kommode das Batisttuch mit den schwarzen Pünktchen und legte es um die Schultern. »Auf Wiedersehen, Muttchen!«

»Warte noch ein Weilchen, Herr Akmentin wollte dir noch etwas sagen.«

»Mütterchen Goba, wir können ja unterwegs darüber sprechen.«

Christine hatte schon die Türklinke in der Hand. Jetzt ließ sie diese rasch wieder los.

»Nein nein, bitte sprechen Sie gleich!«

»Eigentlich brauchte ich mit Ihnen nicht mehr darüber zu sprechen«, begann Akmentin liebenswürdig. »Ihre Mama hat für Sie schon zugestimmt.«

»Ich verstehe nicht, wovon Sie reden.«

»Ihre Mama war so liebenswürdig zu versprechen, dass Sie beide uns am nächsten Sonntag besuchen werden«, sagte Akmentin. »Sie werden doch nicht ablehnen, nachdem Ihre Mama schon zugesagt hat. Sie würden meiner Schwester und mir eine große Freude machen.«

»Nächsten Sonntag? Aber wenn der Baron mir nicht frei gibt? Kann sein, dass er Besuch bekommt.«

»Nun, dann den folgenden Sonntag.«

»Aber wir wissen den Weg nicht.«

»Ich habe mit Ihrer Mama schon verabredet, dass ich Sie mit dem Wagen abhole.«

»Aber wenn ich nicht frei bekomme, hetzen Sie die Pferde sinnlos ab.«

»Sie legen wohl keinen großen Wert darauf, uns zu besuchen?«

»Und wo wollen Sie Vorfahren?« fragte Christine. »Vorm Pferdestall. Am Gärtnerhäuschen kann man wohl nicht Vorfahren?«

»Am Pferdestall auch nicht.«

»Warum nicht? Und wo denn sonst?«

»Ich möchte nicht, dass wir wie die Barone durch das ganze Gut kutschieren. Und dazu noch am Hause des Herrn Verwalters vorüber! Seine Frau klatscht gern ... Kommen Sie lieber zur Kirche, nach dem Gottesdienst fahren wir dann gemeinsam zu Ihnen.«

»Sehr schön. Danke!«

Christine ging. Ehe Akmentin sich von der Wäscherin verabschiedet hatte, war das Mädchen schon jenseits der Pforte und Akmentin holte sie erst am Pferdestall ein. Schweigend gingen sie über den Hof, schweigend über die Landstraße den Berg hinunter.

Anscheinend wusste Akmentin nicht, wie er ein Gespräch anknüpfen sollte. Er räusperte sich ein paarmal, endlich sagte er:

»Hoffentlich ist nächsten Sonntag gutes Wetter.«

»Wir wollen es hoffen«, antwortete Christine, »wir wollen es hoffen.«

Obwohl das ziemlich höflich herauskam, klangen die Worte doch wie das Klappen einer Schere, die den Gesprächsfaden abschneidet.

Sie kamen an der Kirche vorüber, gelangten vom Berge auf den Weg, der schon mehr einem Graben glich, und wandten sich der Schule zu.

Hier spazierten die schon versammelten Burschen und Mädchen in Erwartung der Singstunde auf und ab. Plötzlich tauchte auf dem Hügel hinter dem Schulhaus ein Reiter auf und galoppierte an ihnen vorüber – es war der Baron. Unmittelbar hinter ihm ritt Edgar. Er hielt gerade auf Christine und Akmentin zu. Vom Hügel aus hatte er natürlich sehen können, dass Christine und Akmentin zum Schulhaus gingen. Wie ein Blitz schoss Edgar an der Schule vorüber, grüßte keinen und sah keinen an.

»Ein ausgezeichneter Reiter!« rief Akmentin, »sitzt auf dem Pferde, als wäre er mit ihm verwachsen!«

»Ein toller Kerl!« bemerkte ein anderer anerkennend und begrüßte Christine.

»Ein feiner Mann!« setzte ein dritter hinzu.

»Fein?« rief das Fräulein vom Baltinhof. »Na, fein wirklich nicht. Sagen Sie meinetwegen flink, verwegen, hübsch oder sonst etwas, bloß nicht fein! Ein feiner Mann sielt sich nicht betrunken unter den Billardtischen, der erlaubt den Fliegen nicht, ihm um das aufgesperrte Maul zu tanzen!«

»Wie widerlich!« ereiferte sich Maria Klusch, »Fliegen um das aufgesperrte Maul! Wie kann man so von guten Bekannten sprechen!«

»Und wie kann ein guter Bekannter sich so aufführen?« gab die andere scharf zurück. »Wenn ich's nur von anderen gehört hätte ... aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«

»Na, geben Sie schon zu, dass Sie übertreiben«, lachte Emma, die Freundin Christines. »Und dann geben Sie auch gleich zu, dass Sie übertrieben haben, als Sie ihn hübsch nannten!«

»Na, ist er etwa nicht hübsch?« wandte das Fräulein ein. »Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber mir gefällt er. Und was meinen Sie, Christine? Sie kennen ihn doch besser als wir alle?«

»Mir ... mir gefällt er auch«, gab Christine zur Antwort.

»Und mir auch«, gestand Emma. »Aber hübsch kann man ihn doch nicht nennen. Sein Gesicht sieht aus wie aus zwei Teilen zusammengesetzt. Stirn, Augen und Nase, freilich, die sind hübsch, aber dann der Mund, die großen Backenknochen und die Ohren …

»Ei ei ei, wie genau Sie alles bemerken, Sie wissen sogar, was für Ohren jemand hat!« lachte Akmentin.

»Nicht, was für Ohren irgend jemand hat, sondern was für Ohren einer hat, der mir gefällt!«

»Nun, und was für welche hat Edgar?«

»Sehr abstehende.«

»Wie? Was sagen Sie da?« mischte sich ein hübscher junger Bursche ins Gespräch. »Wer hätte gedacht, dass unsere Damen sich diesen Taugenichts so genau ansehen! Sogar seine Ohren! Das ist doch allerhand! Vielleicht kann jemand von Ihnen sogar sagen, wieviel Flaschen Bier er trinken kann, bis es ihm vor den Augen flimmert?« »Wir kennen seinen Fehler«, sagte das Fräulein vom Baltinhofe, »ich habe ihn selbst erwähnt, deshalb hätten Sie lieber nicht noch davon sprechen sollen. Und was die Flaschen betrifft ... soweit ich mich erinnere, waren damals, als Edgar sich unter dem Billard wälzte, Ihre Augen auch ziemlich trübe. Wieviel Dutzend hatten Sie denn damals geleert?«

Der junge Mann wurde rot.

»Damals ...«, begann er stotternd, »damals ... ich weiß nicht ... wie das kam ... ich mache doch keine gemeinsame Sache mit ihm ... aber damals ... er bestellte und bestellte immerfort, als ob er verrückt wäre, und drängte midi immer zu trinken ... Weiß Gott ... pfui, so ein ...«

»Wie denn, er hat Sie gewaltsam zum Trinken gezwungen? Direkt in die Gurgel gegossen?«

»Nein, wieso in die Gurgel, aber ...«

»Hätten Sie lieber den Mund gehalten, Herr Mailit. Auf fremde Kosten trinken und dann über den herfallen, der Sie freigehalten hat, das ist viel, viel schlimmer, als

sich unter dem Billard zu wälzen und ... na und so weiter! Edgar würde so etwas nie tun!«

Der junge Spötter wurde verlegen und drückte sich. Bald darauf hörte das Mädchen, wie er zu anderen sagte: »Fräulein Baltin scheint nicht abgeneigt, den Edgar zu heiraten.«

Aber diese Flegelei machte auf das Mädchen gar keinen Eindruck; sie lachte nur laut auf.

»Wer weiß?« rief sie laut und lustig. »Ein Muttersöhnchen mit einem Lutscher um den Hals nehme ich nicht. Dann schon lieber einen, der sein Fläschchen Schnaps aus der eigenen Tasche bezahlt.«

» ... und eine Peitsche in der Hand hat«, ergänzte Mailit und versuchte ungeschickt seinen eben erst sprossenden Schnurrbart zu drehen.

»Eine Frau fürchtet die Peitsche nicht, Herr Tenor, wenn sie nur in den Händen eines richtigen Mannes ist.«

»Tatsächlich? ... Und so einer ist Edgar?«

»Scheint mir so.«

Aber da kam der Lehrer heraus und lud die Jugend zum Singen ein. Das Gespräch brach ab.

Christine kam unbeabsichtigt neben das Fräulein vom Baltinhof, und beide Mädchen gingen Hand in Hand in die Schule.

Die Sonne neigte sich schon, als der Lehrer die Sänger entließ. Emma hatte Christine gebeten, sie bis zur Alainebrücke zu begleiten; Christine musste zwar einen kleinen Umweg machen, brauchte dafür aber nicht den Weg zur Kirche zu nehmen, auf dem Akmentin nach Hause ging, und hatte daher mit Freuden eingewilligt.

»Akmentin hat mir erzählt, dass du ihn nächsten Sonntag besuchen wirst«, sagte Emma.

»Ja, er hat Mutter und mich eingeladen.«

Emma seufzte.

»Was seufzt du denn?«

»So ein Glück möchte ich auch haben«, erwiderte die Freundin. »Du bist wirklich zu beneiden.«

»Du weißt nicht, was du redest! Nimm mein Glück, nimm es doch!« rief Christine erregt.

»Ich weiß doch, Liebe ... glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, wie deine Augen gestrahlt haben, als Fräulein Baltin für Edgar eintrat? Ich verstehe dich nicht. Edgar ist natürlich ein Mensch, der den Mädchen gefallen kann, aber verglichen mit Akmentin ...! Ist dieser Bursche denn wirklich so ganz Herr über dein Herz?«

»Was fragst du? Ich möchte ja so gern von ihm freikommen. Aber er lässt und lässt mich nicht los.«

»Aber wie weit ist es denn mit euch gekommen? Hast du ihm dein Wort gegeben? Voriges Mal hast du mir doch gesagt…«

»Du hast mich nicht verstanden«, unterbrach Christine die Freundin. »Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll und ob du mir glauben willst, aber er tut mir einfach leid. Früher, ehe er in Polen war, hat er mir gefallen, nun – wie einem eben ein hübscher Bursche gefällt; aber jetzt ist bei ihm so etwas zum Vorschein gekommen ... das zieht mich mit unwiderstehlicher Gewalt zu ihm … ich weiß selbst nicht, was das ist. Vielleicht sein Leichtsinn ... Schließlich bin ich ja nicht verrückt ... Und doch, je mehr er sich gehenlässt, um so mehr tut er mir leid ... Ich möchte ihn so gern auf den richtigen Weg bringen ... Du fragst, ob ich ihm mein Wort gegeben habe? Das ganze Jahr habe ich mit ihm nur über eins gesprochen, nur über ihn selbst, über sein Leben. Ich habe ihm Vorwürfe gemacht, ich habe ihn getadelt, und jedesmal hat er versprochen, sich zu bessern. Und so war es jedesmal. Er hält nicht Wort, und ich weiß das; und trotzdem verlange ich von ihm immer und immer wieder das Versprechen, sich zu bessern; jedesmal hoffe ich, diesmal werde er es tun. Ach, ich bin wie verrückt! ...« Christine brach plötzlich in bitterliches Weinen aus.

»Und so hübsch ist er überhaupt nicht!« fuhr sie fort. »Du hast ganz richtig gesagt, dass er gleichsam zwei Gesichter hätte. Und trotzdem ist er mir hundertmal lieber als Akmentin. Während der Singstunde heute habe ich mir Akmentin dauernd angesehen. Er hat hübsche rote Lippen, und Edgars Mund ist blass, groß ... Aber was soll man hier sagen, was soll man sagen! ...«

Emma legte schweigend den Arm um Christine.

»Also gedenkst du, ihn zu heiraten?« fragte sie betrübt.

»Nein! Ich habe mir selbst und der Mutter versprochen, dass ich das niemals tun werde. Die Mutter hat ganz recht, wenn sie meint, ich würde mit ihm sehr unglücklich werden.«

»Ja, deine Mutter hat recht«, wiederholte die Freundin, »tu es nicht, heirate ihn nicht! Heirate Akmentin. Ich weiß, du bist jetzt wie behext, aber wenn du ihn nicht mehr sehen wirst, wird alles wieder gut werden«, und stehenbleibend fügte sie hinzu: »Komm nicht weiter mit! Leb wohl. – Und heirate ihn nicht!« Sie küssten sich zum Abschied.

Ein schmaler Fußpfad führte von der Brücke an den Ruinen des alten Schlosses vorüber zu dem steilen Ufer des Flüsschens Alaine, wo der große Gutspark seinen Anfang nahm.

Langsam näherte sich Christine dem dunklen Waldesdickicht. Unten rauschte und schäumte das Wasser; Nachtigallen sangen bald an dem einen, bald am anderen Ufer. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber ein blasser Schein über den Pappeln kündigte sein baldiges Erscheinen an.

Plötzlich blickte Christine auf. Sie hatte nichts gehört, sondern nur das Gefühl, dass ihr jemand entgegenkomme. Aber niemand war da, und so setzte sie ihren Weg mit tiefgesenktem Kopfe fort. Dann war plötzlich Edgars Gestalt vor ihr aufgewachsen. Er trug noch immer die weißen Reithosen, ging aber barfuß und ohne Jacke. Aus dem herzförmigen Westenausschnitt blickte ein rotes Hemd, als wäre es ein blutüberströmtes Herz. Auch um die Handgelenke leuchtete die Blutfarbe. »Guten Abend!«

»Guten Abend!«

»Wo warst du denn?«

Christine gab keine Antwort und ging rasch weiter. »Warte doch, ich hatte gedacht, du würdest an der Kirche vorübergehen; aber als ich sah, dass du nicht bei den anderen warst, bin ich hierher gerannt. Du hast wohl Emma begleitet?«

»Ja.«

»Lauf doch nicht so! Ich muss dir etwas sagen. Bist du böse?«

»Worüber?«

»Gibt es nicht Grund genug? Du hast das sicher geglaubt, was der Kammerdiener bei Tisch geschwatzt hat.« »Ja.«

»Aufrichtig gesagt ... ich war nur eine Minute dort. Nur so zum Spaß ... Das Fenster war noch erleuchtet ... und ich kam aus dem Gasthaus heim. Ede zog mich am Ärmel, und da ging die Scheibe entzwei. Es lohnt sich wirklich nicht, deshalb böse zu sein.«

»Ich bin ja auch nicht böse.«

»Wenn du nicht böse wärst, würdest du nicht in solchem Tone sprechen. Es ist wirklich wahr, ich bin dort nicht länger als eine Minute gewesen ... Du denkst doch nicht etwa, dass mir eine solche Vogelscheuche wie die Ede oder die Made gefällt?«

»Und wenn sie dir gefallen, was geht mich das an?«

»Nun ja, nun freilich! Das heißt, ich dachte ... Ach ... ich hatte in der Kneipe nicht viel getrunken, nur ...«

»Aber getrunken hast du doch? ... Und was hast du mir versprochen?«

Edgar schwieg eine Weile, dann sagte er mit aufrichtiger Zerknirschung:

»Was soll ich dazu sagen ... Ich bin ein Halunke ... ein ausgewachsener Halunke!«

Gewöhnlich folgten solchem Geständnis bittere Vorwürfe von Christinens Seite. Heut aber war es, als wäre sie stumm. Sie ging weiter, ohne ihn zu beachten. Durch die Bäume sah man schon die Mauern des Elternhauses schimmern, und immer noch sprach Christine kein Wort. Edgar blieb stehen.

»Warte doch«, sagte er. »Du bist mir also so böse, dass du nicht einmal mit mir sprechen willst?«

»Ich bin ja gar nicht böse.«

»Warum schweigst du dann?«

»Weil ich in diesen Gesprächen keinen Sinn mehr sehe.« Und das Mädchen wollte schon in den Pfad nach dem Gärtnerhäuschen einbiegen, aber Edgar vertrat ihr den Weg

»Spazieren wir noch ein Stückchen, ich muss dir etwas Wichtiges sagen.«

»Es ist spät, Mutter erwartet mich gewiss schon.«

»Komm, gehen wir, sei nicht so ... Nun bitte ... gehen wir ... Hast du denn gar keine Zeit für mich?«

»Nein.«

»Keine Zeit? Absolut keine Zeit? Bin ich denn so ein schlimmer Verbrecher?«

»Lass mich vorüber!« antwortete Christine ruhig.

»Bitte ... Nur bis zur Bank dort ... so viel Zeit hast du doch noch ...«

Christine schwankte für einen Augenblick, dann bogen beide in die dunkle Allee ein.

»Was wahr ist, muss wahr bleiben«, begann Edgar. »Ich habe bisher nicht viel auf dich gehört ... Habe dir mein Wort gegeben, aber gehalten hab' ich es nicht. Und warum? Weil ich glaubte, als Junggeselle kann man sich so etwas erlauben. Betrachten wir doch einmal, worin meine Sünden bestehen? Habe ich gestohlen oder jemandem auch nur das kleinste bisschen genommen? Oder habe ich Gaunereien begangen? Oder jemanden verleugnet? Oder ein Mädchen entehrt? Doch nicht! Ich bin nur mit meinem Lohn ... nun und ... mit meiner Gesundheit etwas verschwenderisch umgegangen. Das weiß ich nicht daher, dass ich es zu spüren bekäme. Bis jetzt habe ich nur gespürt, dass meine Kräfte immer mehr zunehmen ... Also das ist die ganze Sache. Und da kommst du und sagst, dass ich nicht so leben soll. Warum? Nur weil es dir nicht gefällt. Anderen ist es ganz gleichgültig, ob ich mir den Hals heute oder morgen breche. Und ich möchte mich doch so gern ein wenig austoben. Wozu ist man denn jung, wozu lebt man auf der Welt? Und wie leben denn andere? Sieh dir zum Beispiel diesen Kutscher an. Als ihm die Wirtschafterin am Geburtstag des Barons ein zweites Gläschen gegeben hat, ist er gar vor Verlegenheit errötet wie ein junges Mädchen; aber noch am selben Abend hat er sich in der Kneipe so volllaufen lassen, dass er nicht mehr stehen konnte. Und glaubst du, der versteht es nicht, in Fenster einzusteigen? Und der Kammerdiener? Das ist überhaupt kein Mensch, das ist ein Schleimtier! Frag mal, wohin er mich geführt hat, als der Baron uns im Frühjahr nach Riga mitgenommen hatte! Aber kommst du in sein Zimmer, da liegt die Bibel aufgeschlagen auf dem Tisch! ... Und da verstehe ich wirklich nicht, warum ich schlechter als die anderen sein soll und warum alle schreien ›Edgar! Edgar!‹ Die Verleumder und Neidhammel missgönnen mir nur, dass ich den Mut habe, offen zu tun, was sie selbst nur in der Stille und mit vorsichtigen Seitenblicken zu tun wagen.« Christine entsank aller Mut. Das war also alles, was sie mit ihren Vorwürfen und ihrem Drängen erreicht hatte? Er hielt das Laster nicht mal für ein Laster! Er meinte, das müsse so sein. Also hat er ihr alle Qualen absichtlich zugefügt?

»Und das ist alles, was du mir sagen wolltest?« fragte das Mädchen empört.

»Nein, nicht alles, aber ich musste dir alles erst einmal erklären.«

»Dann sei so gut und erkläre mir zunächst einmal, wie das zugeht: Du gestehst ein, dass du ein Halunke bist, ein Trinker, ein Bummler, und erklärst gleichzeitig, dass du ein guter Mensch bist.«

»Was ist da zu erklären? Wenn ich mit den Stallknechten zusammen bin, dann spüre ich nicht, dass sie und ich nach Pferdeschweiß riechen. Da sind wir einer wie der andere ... Und so ist's mit allem… Warum soll ich mich für schlechter als den Kutscher halten, als den Kammerdiener oder den Wächter, wenn ich weiß, dass die genau so denken, reden und handeln wie ich? Etwa nur deshalb, weil sie verstehen, die Augen heuchlerisch zum Himmel aufzuschlagen und zu sagen, o wie abscheulich!« »Nein, solange ich unter solchen edlen Menschen lebe, kann ich mich nicht für schlechter ansehen als sie. Aber dann, ... wenn ich ... wenn ich dich treffe, dann ist alles ganz anders ... Du bist nicht so eine wie Ede oder Made. Die handeln einmal so und dann wieder so ... Aber du ... So wie du morgens bist, so bist du auch abends ... Und vor dir komme ich mir vor, als wäre ich aus dem Dreck gekommen, als wäre ich aus dem Sumpf herausgekrochen ...«

Sie waren bei dem Bänkchen am Ende der kleinen Lichtung angelangt.

»Setzen wir uns ein wenig.«

Christine gehorchte. Der Mond war aufgegangen, und sein gelbes Licht floss durch das dichte Laubwerk. Das Baumwollherz unter Edgars Kehle sah aus wie vergossenes Blut. Edgar suchte auf der Bank nach Christines Hand, aber Christine hatte die Hände in den Schoß gelegt. Plötzlich beugte Edgar sich vor und sagte: »Christine, wir müssen heiraten.«

Das Mädchen zuckte zusammen, blieb aber ruhig sitzen.

»Warum?« fragte sie mit gepresster Stimme.

»Weil du mich liebst, und ich dich auch liebe. Wenn du mich nicht liebtest, würdest du nicht bei mir sitzen, und ich ... ich kann mich schon längst kaum noch halten, dass ich dem Akmentin nicht an den Wagen fahre.« Edgar konnte seine Aufregung nicht mehr bändigen, und die letzten Worte stieß er fast heiser hervor.

Christine presste krampfhaft die Hände zusammen. Ihr Mund zuckte, sie biss sich mit aller Gewalt auf die Unterlippe.

»Du sagst, ich sei ein liederlicher Kerl«, fuhr Edgar fort, der wieder ein wenig Selbstbeherrschung gewonnen hatte. »Dasselbe denken auch deine Mutter und Madam Asta ... Es ist auch so, aber niemand als du wird mich auf den richtigen Weg bringen. Wenn andere schlecht von mir reden, dann packt mich nur die Wut, selbst die freundlichen Reden von Madam Asta reizen mich nur ... Was haben die sich um mich zu bekümmern? Sollen sie lieber vor ihrer eigenen Tür kehren ... Aber wenn du sprichst, dann fühle ich immer, dass du recht hast und dass ich anders leben sollte… Bisher allerdings ist es mir noch nicht gelungen ... Ich habe schon gesagt ... ich meine ... Dann werde ich wissen, für wen ich jede Kopeke sparen muss. Und auch alles andere wird sich ändern. Auch mit der Trinkerei und den Mädchen wird es sofort ein Ende haben. Willst du mich heiraten?«

Ein leichter Windhauch säuselte in den Baumwipfeln und mischte sich mit dem Rauschen des Wasserfalls. Christine wartete, bis es in den Bäumen wieder ruhig war – dann sagte sie:

»Nein!«

Der junge Mann warf ihr einen raschen Blick zu, und zwischen seinen Brauen erschien eine Zornesfalte.

»Das ist nicht wahr«, sagte er. »Sprich nicht so.«

»Ich sage, was ist. Ich heirate dich nicht.«

Edgars kecker und selbstsicherer Blick wurde ungewiss.

»Was soll ich dann machen?« sagte er ratlos. »Ach, du willst mich nur quälen ... Gib mir dein Jawort!«

»Was ich nicht kann, das kann ich nicht«, antwortete Christine.

»Liebst du mich denn nicht? Sollte ich mich getäuscht haben? Nein, das kann nicht sein! Es kann nicht sein!« stieß Edgar erregt hervor und wollte ihre Hand fassen, aber Christine gab sie ihm nicht und rückte von ihm ab.

»Ich will nicht lügen«, sagte sie mit bebender Stimme. »Wenn ich dich nicht ... Wenn du mir nicht gefielst, dann würde ich nicht hier sitzen. Aber ich habe das Versprechen gegeben, dich nicht zu heiraten, und ich werde mein Wort halten.«

Edgars blasses Gesicht wurde noch bleicher.

»Und warum hast du diesen Entschluss gefasst?«

»Weil unser Leben unglücklich sein würde. Du kannst dich nicht mehr ändern, und so einer, wie du es jetzt bist ... so einer ... Nein, das wäre so gut wie der Tod ...«

»Aber ich sage dir doch, dass ich dieses Leben nicht weiterführen werde. Bei Gott – ich schwöre es dir!«

»Ich glaube dir, ich glaube es gern, dass du jetzt von ganzem Herzen bereit bist, ein neues Leben anzufangen. Nur wird bei alledem nichts herauskommen: Du bist an das bisherige Leben schon zu sehr gewöhnt.«

»Meinst du, dass du mit mir nicht fertig würdest?«

»Bin ich denn bis jetzt mit dir fertig geworden?«

»Bis jetzt ... bis jetzt! Ich habe dir doch erklärt ... Bis jetzt habe ich nicht ernstlich gewollt. Du hast es mit deinen Vorwürfen nicht ernst gemeint, und ich habe deine Worte nicht für Ernst genommen.«

»Ich habe es nicht ernst gemeint?«

»Nun ja, vielleicht war es auch dein Ernst, aber ich ... ich ... Ach, was war, das ist jetzt vorbei, aber wenn wir erst verheiratet sind, dann werde ich ein ganz anderer Mensch werden. Ich werde dir folgen wie der Hund dem Herren. Ist das denn so selten, dass ein Mann nach der Hochzeit seine Junggesellengewohnheiten aufgibt? Ich bin doch kein alter Mann? ... Dreiundzwanzig Jahre ... Willst du mich? Nun sag! Ja?«

»Nein, nein!«

»Willst du mich zum besten haben? Das kann doch wohl nicht sein ...«, er wollte wieder ihre Hand ergreifen; aber Christine stand auf.

»Wir haben uns ausgesprochen und damit genug. Es ist Zeit für mich, nach Hause zu gehen ...«, sagte sie leise.

»Ich lasse dich nicht fort. Ich kann dich nicht lassen!« schrie Edgar leidenschaftlich auf und umfasste sie.

Christine machte sich schnell frei.

»Lass mich los! Ich will nicht!« sagte sie streng.

Edgars Gesicht verfinsterte sich.

»Du willst nicht?« flüsterte er, und seine Augen funkelten. »Du liebst mich und zürnst mir dafür, dass ich ... Das ist alles dummes Zeug!« - Er umschlang sie, drückte sie an die Brust und versuchte, sie auf den Mund zu küssen.

»Edgar!« schrie Christine empört. »Lass los, lass sofort los!«

Aber Edgar hörte nicht. Seine Lippen suchten ihren Mund.

»Edgar! Du Teufel!« Sie stemmte ihre Hand gegen das Herz, das blutrot aus seinem Westenausschnitt leuchtete, drängte seinen Kopf zurück, riss die andere Hand los und schlug ihn mit aller Kraft ins Gesicht.

Edgars Arme lösten sich und sanken herunter. Wie vom Blitz getroffen, ließ er sich auf die Bank fallen. Aber Christine verharrte unbeweglich auf der Stelle. Vor ihren Augen schwammen zahllose goldene Kreise, in den Ohren brauste der Wind. Eine unbekannte Kraft in ihr trieb sie, Edgar um den Hals zu fallen und zu schreien: »Verzeih mir!« Aber das Mädchen biss die Zähne aufeinander und kniff die Augen fest zusammen, um die tanzenden Kreise zu verjagen, tastete mit dem Fuße nach dem Weg und ging schwankend davon.

Edgar blieb, das Gesicht mit den Händen bedeckt, auf der Bank sitzen.

Als Christine nach Hause kam, war die Mutter schon zu Bett gegangen. Das Mädchen zog sich leise aus und schlüpfte hinter den Vorhang. Als es sich hinlegte, hörte es die Stimme der Mutter, die noch keinen Schlaf gefunden hatte.

»Wie weit hat Akmentin dich denn begleitet?« Christines Herz zog sich zusammen. Sie hatte sich noch immer nicht beruhigt und fürchtete, die Mutter könnte ihre Erregung am Klang ihrer Stimme merken. So verbarg sie den Mund unter der Bettdecke und sagte halblaut:

»Er hat mich überhaupt nicht begleitet. Ich bin mit Emma gegangen.«

»So.«

Am anderen Morgen trafen sich Edgar und Christine beim Frühstück. Edgar war blass, seine Miene drückte Trotz aus. Er grüßte kurz, aber höflich wie immer und beteiligte sich nicht am allgemeinen Gespräch. Nachdem er seinen Kaffee getrunken hatte, ging er in den Pferdestall.

»Unser Freund hat letzte Nacht offenbar kein Glück gehabt«, spottete der Kutscher, »spricht kein Wort und schlägt mit dem Schweif wie ein gereizter Löwe.«

»Entweder hat er eine kalte Dusche bekommen, oder er ist sehr heiß geliebt worden«, bemerkte der Kammerdiener. »Aber bei wem mag er wohl gewesen sein?«

»Ich sage ja, er spricht kein Wort ... Jedenfalls aber war er irgendwo zu Besuch, er ist spät nach Hause gekommen.«

»Betrunken?«

»Anscheinend war er nüchtern.«

Christine stand auf und ging in die Küche, ohne den Kaffee ausgetrunken zu haben. Ihr war das widerlich.

»Unser Fräulein ist heute auch ein bisschen blass und schweigsam«, bemerkte der Kammerdiener. »Das wird schon seine Gründe haben – lassen auf einmal beide den Kopf hängen. Offenbar war da etwas zwischen ihnen.«

»Ist alles möglich. Kann sein, Christine hat abgelehnt, die zerschlagene Scheibe zu bezahlen.« –

Wiskrelis fand diese Vermutung durchaus begründet und begann, über Christine zu witzeln. Der Kutscher blieb hinter ihm nicht zurück; bald unterhielten sich die beiden Freunde nur noch halblaut und gingen schließlich ganz in den Flüsterton über.

Als der Kutscher vom Tische auf stand, waren die beiden Kumpane sich darüber einig, dass Christine und Edgar schon längst alle an der Nase herumführten. Und ein solches Lasterleben vor den Augen. des Barons! Nein, das konnte man nicht länger dulden!

Aber wie eifrig der Kutscher auch jeden Schritt Edgars verfolgte, wie auch Wiskrelis nachrechnen mochte, wie lange Christine sich jeweils hier und da aufhielt, sie brachten gar nichts heraus.

Edgar tat vielleicht alles zu heftig und verdarb oder zerbrach, was er in die Hände nahm. Er zankte sich viel mit dem Kutscher und lag während seiner Freizeit Tag und Nacht wie tot auf dem Bett. Vergeblich ließ sich Ede hie und da im Pferdestall blicken; noch gut, dass der Kutscher sich freute, mit ihr witzeln zu können, denn Edgar bemerkte sie überhaupt nicht.

Schweigend wie ein Schatten erfüllte Christine ihre Obliegenheiten. Ihr zartes Gesichtchen wurde völlig durchsichtig, und die sonst so heiteren Augen zeigten einen feuchten Schimmer. An den Abenden suchte Wiskrelis alle die dunklen Alleen, alle verschwiegenen Winkel des großen Parks ab, tagsüber rannte er zu verschiedenen Stunden, bald mit diesem, bald mit jenem Auftrag in das Zimmer der Wäscherin – alles war vergebens. Nicht ein einziges Mal gelang es ihm, Edgar und Christine zu ertappen. Dann auf einmal glaubte er endlich Glück zu haben. Das Fenster zum Kutscherzimmer stand offen, im Zimmer war kein Mensch. Der Pferdestall war noch zugesperrt, aber plötzlich vernahm Wiskrelis hinter der Tür Flüstern, unterdrücktes Gekicher und tatsächlich doch Küsse! Rasch riss er die Tür auf, ein schwaches »Au!«, und Ede, das Dienstmädchen des Verwalters, entrang sich den Armen des Kutschers und sauste wie der Wind am Kammerdiener vorüber.

Von diesem Tage an waren der Kutscher und der Kammerdiener noch dickere Freunde.

Der Sonntag war gekommen. Christine hatte um Erlaubnis gebeten, auf Besuch fahren zu dürfen, und Mutter wie Tochter rüsteten sich zum Kirchgang. Christine trug dasselbe bescheidene graue Kleid wie am vorigen Sonntag, obwohl die Mutter sie gebeten hatte, ihr neues schwarzes anzuziehen. Sie band sogar dasselbe Tüchlein um, nichtsdestoweniger drehten die Burschen während der Predigt öfter als schicklich die Köpfe nach ihr. Nach dem Gottesdienst begrüßte Akmentin Mutter und Tochter vor der Kirchentür und führte sie zur Kutsche. Als die Wäscherin das schöne teure Gespann sah, konnte sie ihr Entzücken nicht zurückhalten. Mit glückstrahlendem Lächeln half Akmentin den Frauen in den Wagen, er selbst setzte sich auf den Bock, und bald hatte der stattliche Braune sie in schnellem Trabe bis an die Grenze von Akmentins Gut gebracht. Hier zügelte der junge Wirt den Braunen etwas, damit die Gäste die wohlbestellten grünen Felder gehörig bewundern konnten.

Und dann fuhr man endlich in den Hof ein.

Der armen Wäscherin hüpfte das Herz im Leibe. O lieber Gott, was war dies Kesberi für ein Gut! Das Wohnhaus aus roten Ziegeln und die Fenster fast so groß wie im Hause des Barons. Und wie sauber und schön es überall war! Als die Kutsche beim Hause vorfuhr, erschien auf der Außentreppe ein junges Mädchen. Unter freundlicher Begrüßung stellte es sich vor – es war Maria, die Schwester Akmentins. Der junge Bauer führte das

Pferd in den Stall, und Maria bat die Gäste ins Zimmer. Die Inneneinrichtung des Hauses entsprach vollkommen seinem Äußeren. Die geräumigen hellen Zimmer, die bequemen Möbel, alles bezeugte den Wohlstand und den guten Geschmack der Besitzer ... Die Frauen nahmen im Wohnzimmer Platz, und Maria unterhielt sich mit der Wäscherin über das Wetter und den Weg, bis Akmentin eintrat. Dann verschwand sie.

»Nun, wie gefällt es Ihnen bei uns?«

Die Frage war an beide gerichtet, und die Mutter hoffte, dass die Tochter antworten würde; aber Christine schwieg.

»Wem sollte es hier nicht gefallen!« rief die Wäscherin schließlich. »Ich habe selten so schöne Höfe gesehen. Sie sind ein glücklicher Mensch, Herr Akmentin.«

»Nennen Sie mich nicht glücklich, nennen Sie mich nicht glücklich!« gab Akmentin heiter zurück. »Ein Mensch, der Wünsche hat, die erfüllbar wären und doch nicht in Erfüllung gehen, der ... der kann sich trotz allem nicht glücklich fühlen ... Und Sie, Christine, wie gefällt es Ihnen hier? ... Das heißt ... ich meine ... so nach dem ersten Eindruck ... denn ... so richtig haben Sie ja noch nichts gesehen.«

»Ich kann nur wiederholen, was Mutter gesagt hat: Es ist alles sehr schön«, antwortete Christine.

Akmentins klare Augen strahlten, und er begann heiter über alles mögliche zu plaudern.

Dann kam Maria herein und lud alle zu Tisch.

Der Tisch war im kleinen Esszimmer mit viel Liebe gedeckt. Selbst Blumen hatte man nicht vergessen. Sie standen mitten auf dem Tisch in einem hohen, geschliffenen Glase.

Obwohl das Essen ausgezeichnet war, konnte Christine sich doch nur mit Mühe zu einem Teller Suppe und einem Stückchen Braten zwingen. Im Grunde ihres Herzens war ihr zumute, als ob jemand sie zwänge, Komödie zu spielen. »Es ist vergeblich, alles vergeblich, nie werde ich hier Bäuerin werden!« klang es in ihren Ohren. Überall Ordnung, Sauberkeit, Wohlstand, und doch schien ihr irgend etwas Wichtiges zu fehlen. Die Zimmerwände trugen keine Tapeten, sondern waren mit Ölfarbe gestrichen. Der leichte Glanz der Farbe erschien ihr grau, die Wände kalt und ungemütlich. Plötzlich fuhr es Christine durch den Kopf: Wie, wenn dies alles Edgars Besitz wäre und Edgar an Akmentins Stelle am Tisch säße? ... Oder wenn Edgar midi sähe, wie ich hier sitze und Mittag esse? ... Christine schnürte es den Hals zu, und sie legte Messer und Gabel auf das Messerbänkchen.

Nach dem Braten setzte Maria die Pastete auf den Tisch. Die Wäscherin konnte nur den Kopf schütteln; aber Maria lachte und bat, schnell zuzulangen. Akmentin schenkte Wein ein. Christine wurde es plötzlich peinlich, dass sie während der ganzen Zeit so verschlossen gewesen war. Sie ergriff das Glas, wandte sich Akmentin zu und sagte: »Auf die Gesundheit des Hausherrn!« und leerte das Glas bis zum Grunde, um möglichst schnell aus ihrer inneren Befangenheit herauszukommen.

Akmentin verneigte sich, dankte und wurde rot wie ein Mädchen. Nach dem Essen ging der junge Bauer, der Mutter die Wirtschaft zu zeigen, während Christine von Maria in den Garten geführt wurde. Zwischen fünf oder sechs alten Apfelbäumen standen reihenweise ausgerichtet junge Bäumchen, Bienen summten um ihre Stöcke, und in den Zweigen einer großen Eiche neben dem Haus lärmten die Vögel. Christine fühlte sich freier und begann rasch ein Gespräch mit der jungen Wirtin, ohne jedoch erkennen zu lassen, dass sie deren feine Anspielungen auf die Zukunft sehr wohl verstand. Die Zeit bis zum Abend verging sehr schnell. Als die Kutsche wieder vor der Tür stand, verabschiedete sich Christine aufs herzlichste von Maria. Aber je mehr sie sich dem Gute und ihrem Gärtnerhäuschen näherten, um so schwerer wurde ihr ums Herz, und als säe am Pferdestall vorüberfuhren, erlosch an ihrem Herzen auch der letzte Strahl von Heiterkeit. Wie im Traume reichte sie Akmentin zum Abschied ihre leblose Hand und vermochte kein Wort hervorzubringen; statt ihrer dankte die Mutter dem liebenswürdigen Wirt. Dafür aber drückte Akmentin Christines Hand mit viel Leidenschaft.

Als Mutter und Tochter zu Hause waren, zündete Christine eine Kerze an, ließ die Vorhänge nieder und ließ sich kraftlos auf einen Stuhl fallen. Auch die Mutter setzte sich. Die Hände auf dem Schoß gefaltet saß sie da, starrte auf das Muster des Bettvorhanges und brach plötzlich in Schluchzen aus. Christine blickte auf.

»Warum weinst du denn, Mama?

»Vor Glück, Christine ... So ein Mensch ... So ein Gut ... Christine, Christine!«

Christine schauderte zusammen. Die Worte der Mutter schnitten ihr wie mit Messern ins Herz.

»Und gut hast du dich heute benommen, gerade wie es sich geziemt, nicht zu kalt und nicht zu warm ...«, fuhr die Wäscherin fort. »Halte dich nur auch künftig von Edgar fern, benimm dich so wie vorige Woche, und alles wird gut werden!«

Christine sprang auf, ihre Augen funkelten.

»Was sprichst du da, Mutter? Habe ich midi etwa so benommen, damit er Hoffnung schöpfen kann? Mutter, soll ich mich denn wirklich verkaufen?«

Und sie riss den Vorhang zur Seite, warf sich aufs Bett, und den Kopf in die Kissen gedrückt, schluchzte sie bitterlich.

Als Christine am Montagmorgen zum Gute hinaufstieg, begegnete ihr Edgar. Er sah noch bleicher aus, seine Augen waren eingefallen und hatten einen unnatürlichen Glanz. Christine fühlte, dass er wusste, wo sie gestern gewesen war. Beim Vorübergehen grüßte er nicht, sondern verzog nur den Mund zu einer verächtlichen Grimasse.

Christine fühlte sich gerichtet. Bis jetzt war sie die Klägerin gewesen und er der Angeklagte; jetzt aber wusste sie, dass er im Rechte war, wenn er ihr zürnte und sie verachtete. Sie liebte ihn, und er wusste das, sie hatte es ihm ja selbst gestanden; und trotzdem hatte sie sich erlaubt, sich mit einem anderen einzulassen. Widerwärtig! Mit Mühe schleppte sich Christine zum Herrenhaus und machte sich daran, die Zimmer aufzuräumen. Aber vielleicht war es so richtig? Mochte er denken, was er wollte! Je mehr sie sich voneinander entfernten, desto besser war es. Edgar würde ja doch bald erfahren, dass sie Akmentin abgewiesen hatte. Etwas beruhigter machte sich Christine an ihre übliche Arbeit.

Von diesem Tage an hörte Edgar auf, sich um die Insassen des Gutes zu kümmern, die alte Madam ausgenommen. Über den Grund dieser Veränderung aber wusste niemand etwas Rechtes.

Den Herrn Verwalter grüßte er überhaupt nicht mehr, er bekam dafür eine Rüge vom Baron, grüßte aber nach wie vor nicht. Das ging so über eine Woche lang, bis zu jenem Morgen, da der Baron dem Kutscher befahl, den Wagen anzuspannen, den Kammerdiener mitnahm und davonfuhr.

»Wann kommt der Baron denn heute zurück?« fragte Edgar die Wirtschafterin beim Essen.

»Gar nicht. Er hat gesagt, dass er erst morgen oder übermorgen wiederkäme.«

»Wo ist Christine? Dort?« Edgar deutete nach den Zimmern des Barons.

»Ja.«

Er stand auf.

»Ich muss mit ihr reden.«

»Was wollen Sie tun?« rief Madam, die ihm nachging. »Gehen Sie nicht, was wollen Sie von Christine?«

»Haben Sie keine Angst, dass ich sie ... sie ...« Edgar verschluckte das Wort »beißen werde« als allzu unanständig für die Ohren der alten Madam Asta. »Glauben Sie, dass ich sie belästigen werde?«

»Freilich, aber nun sagen Sie um Gottes willen, was ist eigentlich los mit Ihnen? Sie benehmen sich allen gegenüber so ... ich finde kaum das richtige Wort dafür ... Sie sollten sich schämen!«

»Aber was tue ich denn?« fragte Edgar kurz. Zwischen seinen Brauen stand die Zornesfalte. »Trinke ich, randaliere ich, dann ist es nicht gut; mache ich überhaupt nichts, dann ist es schlecht!«

»Edgar, Edgar! Ihre Mutter würde viel Kummer mit Ihnen haben, wenn sie noch lebte. Gehen sie wieder in den Pferdestall und denken Sie über Ihr Benehmen nach, aber zu Christine lasse ich Sie nicht!«

»Madam, Sie halten mich also auch für so einen widerlichen Burschen ... so einen ... so einen ...«

»Sie wissen sehr gut, wie ich zu Ihnen stehe«, unterbrach ihn die Wirtschafterin. »Aber jetzt sind Sie im Zorn und müssen sich beruhigen. Gehen Sie!« Sie verschloss die Tür zu den Zimmern des Barons und steckte den Schlüssel in die Tasche.

Edgar ging hinaus. Da war sie nun allein, abgeschnitten von aller Welt, eingeschlossen in den großen, prachtvollen Zimmern. Sie mochte schreien, weinen, tun, was sie wollte, niemand würde sie hören. Er stieg die breiten Steinstufen empor und drückte mit der Hand gegen die Tür. Verschlossen! Offenbar hatte Madam abgeschlossen, als der Baron weggefahren war. Na gut. Falls sich herausstellen sollte, dass Christine kein einziges Fenster offengelassen hatte, dann würde er eben eine Fensterscheibe zum Zimmer der seligen Baronesse eindrücken. Das Verlangen, sie zu sehen, erfüllte seinen Kopf wie ein Rausch. Er lief zur Südseite des Hauses – nein, auch hier waren alle Fenster geschlossen. Aber auf dem Balkon wurden bunte Sessel gelüftet, und über dem Geländer hingen Teppiche. Mit zwei Sprüngen war er auf dem Balkon. Ja, die Glastüren waren nur angelehnt. Geräuschlos trat er ins Haus, verschloss die Tür hinter sich, riss die Stiefel von den Füßen und stellte sie mit den Fußlappen zusammen beiseite, dann ging er barfuß in den Saal. Niemand. Auch im anstoßenden Eckzimmer war Christine nicht. Edgar musste umkehren, denn die ganze Zimmerflucht lag auf der anderen Seite des Saales. Und auf einmal sah er drei Zimmer entfernt Christine in der Tür stehen. Sie schaute Edgar an, als wäre er ein Gespenst. Wieder war er barfuß, in weißen Reithosen, rotem Hemd und weißer Weste – genau wie an jenem Abend. Was wollte er von ihr? Hatte Madam ihn vielleicht nach etwas geschickt? Nein, es war unwahrscheinlich, dass er mit einem Auftrag von ihr kam. Eine unbeschreibliche Angst erfasste Christine, eine Angst, in die sich unbestimmte süße Lähmung mischte. Und plötzlich war es ihr, wie früher schon manches Mal, dass sie nur im Traum in diesen prächtigen Zimmern sei, aus denen sie fliehen musste, Hals über Kopf fliehen musste. Aber die Kräfte versagten ihr, und auf sie zu bewegte sich ein unerbittliches Etwas, und sie spürte seinen feuchten, betäubenden, heißen Atem. Und dieses Wesen kam wirklich auf sie zu ... Christine schrie auf und floh überstürzt.

Sie rannte in das Speisezimmer, von da in den Korridor; aber die Tür zur Küche war verschlossen. Mit rasender Geschwindigkeit schoss sie durch das Speisezimmer in das Arbeitszimmer des Barons, von da ins Schlafzimmer, vom Schlafzimmer in einen kleinen, engen Gang und durch eine Glastür nach oben über die breite Treppe in den zweiten Stock. Als sie durch zwei dunkle Zimmer gelaufen war, hörte sie, wie die Tür auf der Treppe geräuschvoll zuschlug. Er war hinter ihr her! Christine war, als stünden ihr die Haare zu Berge. Besessen stürzte sie weiter, sie fühlte schon Edgars Hand auf der Schulter. Durch das eine Fremdenzimmer, durch das zweite Fremdenzimmer, dann ins Zimmer der Gouvernante, ins Zimmer der seligen Baronesse ... und hier war die Flucht zu Ende, denn dieses Zimmer hatte nur eine Tür. Es war schon längst nicht mehr bewohnt, aber die ganze Einrichtung war unverändert geblieben –der Schreibtisch, der Toilettentisch, mit einem blauen Tuche bedeckt, die blauen Möbel und die blaue Atlasdecke auf dem Bett. Christine versteckte sich erst hinter dem Bett, dann hinter dem Toilettentischchen; aber dann schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, die Tür abzuriegeln… Es war zu spät, Edgar hatte sie schon geöffnet. Mit aller Kraft stemmte Christine sich gegen die Tür; aber sie gab nach, und Edgar schob erst das linke Bein herein – und dann folgte der ganze Körper. Aufschreiend sprang Christine von der Tür zurück, riss die blaue Decke vom Bett und hielt sie wie einen Schild vor sich.

»Komm nicht näher, komm nicht näher! Was willst du?«

Eine Staubwolke stieg auf, die Atlasdecke flog mitten ins Zimmer, zwei rote Flammen schlugen um Christine empor, und sie fühlte ihren Kopf gewaltsam an Edgars Brust gedrückt.

»Edgar! Zu Hilfe! Zu Hilfe!« schrie sie, so laut sie konnte.

Der junge Mann nahm Christine auf die Arme, trug sie zum Sessel und setzte sich, das Mädchen wie ein Kind auf den Knien.

»Schrei nicht, es hört doch niemand! Das Zimmer hat Doppelfenster.«

»Lass mich los!«

»Loslassen? Dich?«

»Hilfe! Zu Hilfe!«

»Je mehr du schreist, desto länger halte ich dich fest. Schrei nur, schrei nur!«

Christine begann zu weinen.

»Lass mich los!«

»Ich habe dir doch gesagt, schrei!« sagte Edgar lachend.

»Ach du ... ach du ... Edgar!« Und das Mädchen wurde still. Sie schaute zur Decke und hörte, wie laut ihr Herz schlug. Plötzlich fühlte Christine seinen forschenden Blick auf ihrem Gesicht.

»So!« sagte er nach einer Weile. »Jetzt sieh mir in die Augen!«

Seine Stimme, in der sie eben noch ein unterdrücktes Beben gehört, klang ganz ruhig, und Christine blickte ihm ins Auge.

»So – und jetzt werde ich dich bestrafen.« Völlig ruhig bog er ihren Kopf zurück und drückte einen langen und zärtlichen Kuss auf ihre Lippen. Dann ließ er die Arme sinken und sagte: »Nun, wenn du jetzt die blaue Decke wieder aufs Bett legen willst, kannst du es tun.«

Aber Christine rührte sich nicht. Wie zuweilen ein einziger Blitzschlag die Spannung gegensätzlicher Kräfte in der Luft löst, so hatte auch dieser Kuss mit einem Male all ihre Furcht zerstreut. Von der ungeheuren Erregung war nur eine wohlige Schwäche geblieben. Christine hatte das Gefühl, eine schwere Last von ihren Schultern geworfen zu haben, und in ihrem Herzen wurde es licht. Mit glücklichem Lächeln erhob sie langsam einen Arm und legte ihn dem Burschen um die Schulter.

»So hast du mir verziehen? Ja?« flüsterte sie.

Wieder sahen sie einander in die Augen, und Edgar beugte sich noch einmal über ihre Lippen. Dann standen sie auf und gingen aus dem Zimmer. Die blaue Bettdecke blieb auf dem Boden liegen. Edgar hielt das Mädchen umfangen, und so gingen sie bis zum Saal.

»Wir wollen noch ein Weilchen durch den Saal wandern«, sagte Edgar, und sie gingen umschlungen durch den prunkvollen Raum, blickten in die riesigen Spiegel an den Wänden und lächelten. Und die Sonne strahlte durch die großen Fenster, und im Garten duftete das frische, leuchtende Grün, und ringsum war Stille!

»Mir ist wie im Traum!« sagte Christine.

Edgar führte sie zu dem plüschbezogenen Sofa, vor dem ein gewaltiges Tigerfell ausgebreitet lag. Beide setzten sich. Edgar spielte mit dem kleinen Löckchen hinter Christines Ohr.

»Wenn uns jetzt der Baron sähe«, sagte er, während er die Füße in dem weichen Fell vergrub. »Was würde uns dann geschehen!«

»Würde er uns davonjagen?« fragte Christine lustig.

»Aber sicher.«

Beide schwiegen.

»Wohin würden wir dann gehen?«

»Hm, wohin? Irgendwohin ... Und was wird erst geschehen, wenn man erfährt, dass ich ...«

Edgar brachte den Satz nicht zu Ende und fragte kurz, als wäre darüber schon längst gesprochen worden:

»Und wann gehen wir zum Pastor?«

Über Christines Gesicht glitt ein Schatten.

»Zum Pastor? ... Darüber müssen wir erst noch mit Mutter sprechen.«

»Dann gehe ich jetzt gleich und spreche mit ihr.«

»Nein, jetzt gleich nicht, abends werden wir mit ihr sprechen.«

»Warum?«

»Sie wird weinen«, sprach Christine langsam und starrte in den Kronleuchter. Obwohl die Sonnenstrahlen den Leuchter nicht trafen, funkelten die Prismen in allen Farben des Regenbogens. – »Sie wird weinen ..., und ich bin jetzt so glücklich!«

Aber die Wäscherin weinte keineswegs. Wenn ein Unglück unabwendbar geworden ist, das man schon lange kommen sah, dann hat es keinen Stachel mehr, welcher der Seele noch mehr Wunden zufügen könnte. Der Mensch hat seine Bitternis dann schon vorher gekostet und nimmt es fast wie etwas längst Gewohntes hin.

So erging es auch der Mutter. Sie hatte so oft geweint, dass ihre Augen trocken blieben, als sie jetzt von Christines Entscheidung hörte.

Die drei saßen in dem kleinen Zimmerchen, die Mutter wiederholte noch einmal alles, wovor sie Christine immer wieder gewarnt hatte, und setzte hinzu, dass ihre einzige Tochter offenbar ohne mütterlichen Segen werde in die Ehe treten müssen – denn ihren Segen könne sie dieser Verbindung nicht geben.

»Sie meinen also, Mama, dass ich so etwas wie ein räudiger Hund bin?« fragte Edgar.

»Ach, Edgar, ich denke jetzt nicht daran, ob du gut oder schlecht bist, sondern dass ihr beide unglücklich sein werdet, und Christine noch unglücklicher als du.«

»Aber Mama, Mama!« flüsterte Christine. »Edgar wird sich ja ändern. Er ist schon jetzt besser geworden ...«

»Was ist das für eine Besserung, wenn ein Mensch etwas in der ersten Aufwallung tut. Er hat ein heißes Herz und einen trotzigen Sinn; schon als kleiner Junge ist er so gewesen.«

»Aber wenn ich mich nun wirklich bessere? Wenn Christine mich bessert?«

»Ach, ich habe auch einmal jemanden zu bessern versucht!«

»Aber schließlich sind doch nicht alle Menschen gleich«, bemerkte Edgar.

»Wozu dies leere Gerede!« gab die Mutter zurück. »Ihr denkt so – und ich denke so. Ihr glaubt – und ich weiß.«

»Sie sprechen so, Mama, als hätte sich noch nie ein Mensch geändert«, sagte Edgar bitter. »An Ihrer Stelle hätte ich vielleicht auch einen reichen Schwiegersohn gewählt und nicht einen solchen Taugenichts wie ich es bin. Aber dann sollte man auch nicht bloß davon sprechen, dass ich schlecht, sondern auch davon, dass ich arm bin.«

»Was fällt dir ein, willst du mir etwa einen Vorwurf daraus machen, dass ich Christine Akmentin geben will?« rief die Wäscherin. »Und hätte nicht jedes Mädchen mit Freuden Akmentin geheiratet? Du hast Gutes in dir, aber auch Schlechtes – in Akmentins Charakter gibt es nur Gutes. Werde so wie Akmentin, und dann komm und halte um Christine an, und du wirst sehen, wie dann meine Antwort ausfallen wird.«

Der junge Mann stand auf; er wusste keine Antwort und kniff die Lippen zusammen. Christine saß mit gesenkten Augen da; dann aber hob sie den Blich mit einer stummen Bitte zu Edgar auf. Die Mutter ging ans Fenster, riss es auf, blickte in den Garten und Schloss es wieder geräuschvoll.

»Ja, werde so wie Akmentin«, wiederholte sie. »Führe dich ein Jahr lang so wie Akmentin, und dann komm und bitte mich um Christines Hand. Dann wirst du sehen, ob ich ein Wort über deine Armut verliere. Ihr seid beide noch sehr jung. Und überhaupt habt ihr gar keinen Grund, die Hochzeit so zu überstürzen. Du hast noch Zeit, dich nicht nur mit Worten, sondern mit der Tat zu bewähren.«

»Und dann werden Sie nicht mehr ablehnen, mir Christine zu geben?«

»Ich werde nicht nur nicht ablehnen, ich werde selbst auf die Hochzeit drängen!«

Edgar sprang auf, in seinen Augen brannte feste Entschlossenheit.

»Gut! So soll es sein! Christine, wir beide wollen warten. Ein ganzes Jahr wird Mutter nicht von uns fordern. Bis zum Georgstag ist genug – also gut, ich gebe mein Wort, dass ich bis zum Georgstag so leben werde, dass weder ihr noch sonst jemand Grund hat, sich über mich zu beklagen.«

»Und wenn du dein Wort nicht hältst?«

»Dann ... dann ... ich weiß nicht…«

»Dann muss Christine Akmentin heiraten«, erklärte die Mutter fest und strich entschlossen über ihre Schürze.

»Mutter!« schrie Christine auf.

»Gut, so soll es sein!« sprach Edgar feierlich. »Wenn ich mich nicht bessere, dann würdest du wirklich eine große Dummheit begehen, wenn du mich heiraten und Akmentin ablehnen würdest. Aber treffen dürfen wir uns doch wohl? Kann ich Euch nicht von Zeit zu Zeit besuchen?«

»Das kannst du.«

Edgar blieb noch einen Augenblick schweigend stehen, dann tat er einen Schritt auf die Wäscherin zu, als wollte er dankbar ihre Hand ergreifen. Jedoch nicht gewohnt, seine Gefühle zu zeigen, hielt er inne und brummte verlegen:

»Nun gut, so soll es sein!« – und ging aus dem Zimmer.

Über zwei Monate waren vergangen. In den Gärten von Alaine wurden die Äpfel gepflückt, und vor dem Balkon prangten die Blumenbeete mit buntfarbigen Astern. Das Leben auf dem Gute ging fast unverändert seinen Gang. Nur die Verwaltersköchin Ede war fortgegangen. Sie hatte sich unendlich gekränkt gefühlt, als die Wirtschafterin Paul aus der Meierei verbot, abends in die Verwaltersküche zu kommen. An Edes Stelle hatte der Herr Verwalter ein noch ziemlich junges und recht hübsches Mädchen aus Riga geholt, das gleich in der ersten Woche dem Paul einen Krug kaltes Wasser ins Gesicht gegossen hatte. Wenn Paul nun auch weiß Gott kein schöner Mann war, so war es bisher in der Verwaltersküche doch nicht üblich gewesen, junge Männer in dieser Weise zu empfangen. Und so brachte dieses Verhalten Minna in den Ruf ungewöhnlicher Sittenstrenge. Und als dann der Kutscher den Versuch gemacht hatte, diesen Ruf auf die Probe zu stellen, musste er zugestehen, dass er vollauf begründet war – ebenso begründet wie das Gerücht von Edgars Charakteränderung. Während dieser letzten zwei Monate hatte Edgar nur anderthalb Rubel ausgegeben und fast immer zu Hause gesessen. Er brach nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit einen Streit vom Zaun, und man konnte ziemlich gut mit ihm auskommen.

Der Kutscher und der Kammerdiener waren endlich zu der Überzeugung gekommen, dass sie Christines Wohlwollen doch nicht gewinnen würden; daher machten sie sich immer weniger aus ihr, und Christines Zusammenkünfte mit Edgar wurden ihnen gleichgültig. Beider Interesse richtete sich jetzt auf andere Mädchen.

Als Wiskrelis durch den Kutscher von Minna hörte, versuchte er ebenfalls, sich bei ihr einzuschmeicheln, aber mit demselben negativen Erfolg. Eines Abends, nachdem Minna ihn ziemlich grob vor die Tür gesetzt hatte, er^ schien der Kammerdiener in der Kutscherstube, traf hier aber nur Edgar an, der am Tisch saß und die Zeitung las. Wiskrelis war in der Absicht gekommen, seinem Ärger bei dem Kutscher Luft zu machen, da er ihn aber nicht antraf, begann er ein Gespräch mit Edgar.

»Wo ist denn der Kutscher?«

»Soll angespannt werden? Will der Baron ausfahren?«

»Nein, ich frage nur so.«

»Er hat versprochen, bald wiederzukommen«, antwortete Edgar. »Ich habe deshalb auch den Pferdestall noch nicht zugeschlossen.«

Wiskrelis setzte sich.

»Offenbar hat sich die ganze Welt umgekehrt. Du sitzt zu Hause, und der Vollbart sumpft herum.«

»Und das passt dir wohl nicht? « fragte Edgar scharf. »Dir hat es sehr gefallen, so wie es früher war? Da gab's wenigstens etwas zu erzählen, wie?«

»Wie du mir, so ich dir. Du bist grob zu mir gewesen, und ich habe dir auch nichts hingehen lassen. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Aber jetzt liegt die Sache anders. Wir könnten uns beide gut vertragen, du bist ein ganz anderer Kerl geworden.«

»Sieh einmal an!« brummte Edgar. In Gegenwart dieses Menschen kam ihm seine Mäßigkeit beinahe wie eine schimpfliche Schwäche vor. »Sieh einmal an!«

»Tut so ganz bescheiden! Heute hat sich sogar der Baron selbst gewundert.«

»Dass dich ...!« sagte Edgar und ließ die Zeitung sinken.

»Schade, hat er gesagt, dass du nicht vor dem Juristag so warst, dann hätte er dich zum Kutscher gemacht«, fuhr Wiskrelis fort, und er log dabei nicht einmal; denn der Baron schätzte den Kutscher tatsächlich nur als Pferdepfleger, aber durchaus nicht als Fahrer.

»Mir geht's auch so ganz gut«, antwortete Edgar.

»Mag dem sein, wie ihm wolle; aber als Reitknecht kannst du doch nicht heiraten ...«

»Na, und was besagt das?«

»Wie meinst du das?«

»Was das heißen soll? Habe ich etwa die Absicht, zu heiraten?«

»Nun, offenbar doch!«

»Das ist mir mal eine Neuigkeit! In welcher Zeitung steht denn die?«

»Alte Leute sagen, wenn ein Mensch alte Gewohnheiten aufgibt, dann geht's entweder auf die Hochzeit oder aufs Begräbnis zu.«

»Nun, dann werde ich wahrscheinlich bald sterben!«

»Du wirst als Junggeselle sterben und als glücklicher Jungverheirateter wieder auferstehen!«

»Nun hör auf, dummes Zeug zu schwatzen und geh, es ist Schlafenszeit«, erwiderte Edgar.

»Du wirfst mich wohl hinaus, weil du Angst hast, ich könnte nach ihrem Namen fragen?« lachte Wiskrelis.

»Und du denkst, du kennst ihn schon längst?«

»Gott behüte. Du hast so viele gehabt, wie sollte ich mich da auskennen? Bloß eines kann ich sagen – Minna heißt sie nicht.«

»Minna? Was ist das für eine Minna?«

»Nun seht den mal an! Ist so sehr mit seiner Einzigen beschäftigt, dass er nicht mal weiß, wie das hübscheste Fräulein auf dem Gute heißt. Von Minna spreche ich, der neuen Köchin beim Herrn Verwalter!«

»Ach, von der«, sagte Edgar gleichgültig und streckte sich auf dem Bett aus.

»Ein Teufelsmädchen!« fuhr der Kammerdiener lebhaft fort. »Ein richtiger kleiner Satan!«

»So? ...«

»Und was meinst du ... Na, lassen wir dies Gespräch, für dich ist ja schon längst Schlafenszeit.«

»Macht nichts. Erzähle nur ...«, antwortete Edgar gähnend.

»Na also ... denk einmal ... mir hat ... na, kurz und gut, ich habe für meine Freundlichkeit um ein Haar den gleichen Lohn bekommen wie Paul ... Hast wohl gehört, was sie mit Paul gemacht hat?«

»Hab's gehört.«

»Eine Schande – Eine ganze Woche bin ich um sie herumgeflattert wie ein Schmetterling, und zum Lohn hat sie mir beinahe die Augen ausgekratzt. Die reine Katze!«

Edgar lachte und dehnte sich behaglich. Solche Unfälle waren ihm doch noch nicht zugestoßen.

»Du lachst? Du glaubst wohl, dir würde es anders ergehen?« rief Wiskrelis.

»Natürlich«, gab Edgar kurz zur Antwort.

»Na, Eigenlob ist billig.«

»Was heißt hier Eigenlob! Man kennt doch diese Mädchen aus der Stadt. Man muss nur wissen, wie man sie zu nehmen hat!«

»Na, ich verstehe mich doch auch aufs Poussieren. Aber diese Minna ...«

»Blech!«

»Na dann versuch's doch!«

»Damit du wieder beim Mittagessen von meinen Reithosen erzählst?« fragte Edgar.

»Ich habe dir doch gesagt: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus«, antwortete der Kammerdiener. »Wenn du gewollt hättest, könnten wir längst die besten Freunde sein!«

»Ach, du bist förmlich vergangen vor Sehnsucht nach meiner Freundschaft«, spottete Edgar. »Schwatzt Dinge, an die er im Traume nicht gedacht hat! Geh lieber und schlaf dich aus!«

»Flegel!« brummte der Kammerdiener gleichgültig vor sich hin und ging.

Edgar nahm sich wieder die Zeitung vor. Als es elf Uhr geschlagen hatte und der schläfrige Reitknecht schon den Pferdestall abschließen wollte, ertönte die Klingel. Der Kutscher kam nach Hause und schlich mit säuerlichem Gesicht an Edgar vorüber. Edgar Schloss den Pferdestall zu und löschte das Lämpchen an der Wand. Als er ins Zimmer zurückkam, sah er, dass der Kutscher, an die Wand gelehnt, auf dem Bett saß und auf die Tür starrte.

»Was ist dir denn zugestoßen?« fragte Edgar, der den Kutscher aufmerksam betrachtete.

Der Kutscher gab keine Antwort und begann sich schweigend auszukleiden.

»Pfui!« spuckte er erbost.

»Was ist denn los?«

»Ist dir schon einmal passiert, dass du von einem Mädel eins hinter die Ohren bekommen hast, weil du sie küssen wolltest?«

Edgar krümmte sich vor Lachen.

»Und von wem?«

»Dann verstehst du vielleicht, wie mir zumute ist!«

»Sieh mal einer an! Von wem denn?«

»Ach, hol der Teufel sie alle miteinander!« entgegnete der Kutscher finster, legte sich hin, zog die Decke über den Kopf und sprach kein Wort mehr.

Edgar blies das Licht aus und legte sich auch zu Bett, konnte aber lange nicht einschlafen. Da war also Christine nicht allein so ein Rühr-mich-nicht-an? Wäre doch interessant zu erfahren, welches Mädchen dem Kutscher die Ohrfeige gegeben hatte? Und wer sonst, wenn nicht Minna ... Was mochte das für eine sein? Manna war einige Male in den Pferdestall gekommen mit dem Auftrag, für den Herrn Verwalter anzuspannen, hatte aber mit Edgar nur einmal gesprochen, und da hatte der sich gerade gewaschen und sie nicht angesehen ... Hässlich würde sie nicht sein, sonst würde der Kammerdiener nicht so um sie herumscharwenzeln. Nach Vogelscheuchen hielt der nicht Ausschau.

Als Edgar am nächsten Morgen ans Pferdeputzen ging, konnte er sich nicht enthalten, den Kutscher zu fragen, wer ihn denn so beleidigt habe.

»Wer?« wiederholte der Kutscher mit saurer Miene. »Ich war gestern abend im Hause des Verwalters ... und da ist die neue Köchin ... netter Käfer ...« »Hübsch?«

»Was fragst du? Als ob du sie nicht selbst schon gesehen hättest!«

»Ich habe sie nicht richtig angesehen.«

»Ach, ich habe vergessen, dass du ja jetzt wie im Traum lebst«, bemerkte der Kutscher. »Na ja, hübscher als deine ...« -

»Welche ›meine‹?«

»Na die im Häuschen, an der Mauer ... Viel hübscher. So eine Kleine mit braunen Augen und kurzgeschnittenem Haar ... sieht aus wie ein Junge ...«

»Mhm«, brummte Edgar und fuhr fort, das Pferd zu striegeln. Vor seinen Augen stand plötzlich das Bild eines kleinen Mädchens mit braunen Haaren und roten Wangen, hübschen rosigen Öhrchen und silbernen Ohrringen darin ... Sie hatte kleine Händchen gehabt, etwas schmuddelig, aber so weich ... Margita! Ein ganzes Jahr lang war sie ihm in Polen treu geblieben ...

»Hm!« räusperte sich Edgar wieder. »So, kurzgeschnitten, sagst du…«

»Ja, kurzgeschnitten«, wiederholte der Kutscher und setzte nach einer Pause hinzu: »Weißt du was?«

»Was denn?«

»Du musst diese Minna kennenlernen.«

»Ich? Und wozu?«

»Du bist doch der tapferste Bursche auf dem Gut. Zahl ihr diese Ohrfeige heim, und ich werde vor Freude zwei Kästen Bier spendieren.«

In Edgars Augen flammte ein Leuchten und erlosch sofort wieder.

»Ach, wozu das. Ich habe mir die Hörner schon abgelaufen.«

Der Kutscher sah Edgar von der Seite an und grinste.

»Noch war keine Hochzeit, und du stehst schon unter dem Pantoffel. Wer hätte das von Edgar gedacht!«

»Unter dem Pantoffel? Vor der Hochzeit? Du weißt nicht, was du redest«, sagte Edgar voller Ärger.

»Sprichst du die Wahrheit? Na ja, was solltest du sonst auch sagen«, erwiderte der Kutscher. »Aber mir genügt schon, was ich sehe ... Tüchtig, Edgar, tüchtig! ... Muss man loben! ... Aber immerhin ... ein kleiner Streich wird dein Glück nicht stören. Schließlich seid ihr ja noch nicht verheiratet. Und du hast selbst immer gesagt, solche Streiche bringen einem Burschen keine Schande ... Na, aber lassen wir das lieber.«

Damit endete dies Gespräch. Aber in Edgars Herzen war eine Erinnerung wach geworden. Gott weiß, wie sich die kleine Margita damals mit ihrem Donat versöhnt haben mochte. Ob Minna ihr wohl ähnlich war? Und ob sie ebenso übermütig lachte wie Margita? Ach, was war das für eine wunderbare Zeit gewesen! Man musste sich diese Minna immerhin einmal ansehen ...

Aber Edgar fand weder an diesem noch am folgenden und am dritten Tage Gelegenheit dazu. Ohne Veranlassung in das Haus des Verwalters zu gehen, war nicht ratsam, und Minna hatte offenbar kein Bedürfnis, in den Pferdestall zu kommen. Edgars Neugier wuchs. Selbst in Gegenwart Christines kam ihm Minna in den Sinn. Er war auf sich selber wütend; aber er konnte nichts dagegen tun. Und außerdem erwachte in ihm wieder etwas, mit dem er schon längst fertig zu sein geglaubt hatte.

Wenn er mit Christine allein war, erlaubte ihm das Mädchen, der Mutter zum Trotz, sich neben sie zu setzen, ihr den Arm um die Schultern zu legen und sogar, sie zu küssen. Aber Edgar dünkte das viel zu wenig. Vor aller Welt hätte er Christine fest, ganz fest an die Brust drücken und endlos umarmen und küssen mögen. Seine Augen funkelten, und in seinen Küssen war ein Feuer, vor dem Christine zurückschreckte.

Eines Abends, als er wie gewöhnlich im Gärtnerhäuschen vorsprach und Christine antraf, fiel er ihr um den Hals und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

»Edgar!« fuhr Christine auf, und ein Vorwurf lag in ihrer Stimme. »Geh lieber!«

Edgar stützte sich auf das Fensterbrett und schwieg eine Weile.

»Bist du böse?« fragte er sanft.

»Böse? Nein.«

Der junge Mann schwieg wieder, dann wünschte er freundlich »Gute Nacht« und ging.

Er war verbittert. Er liebte Christine, er liebte sie so heiß, und sie stieß ihn zurück. Er war ihr treu, und sie war so kalt. Er war entbrannt, und sie wollte das nicht

verstellen. In brennenden Qualen irrte er durch den Park und befand sich schließlich beim Obstgarten des Verwalters. Das Fenster in der Strohhütte war erleuchtet, eine dunkle Gestalt beugte sich über einen Haufen Äpfel ... Sie hatte ihm damals einen schönen großen Apfel gegeben, und statt »Danke« zu sagen, hatte er sie zum erstenmal geküsst. Und sie hatte ihm das nicht übelgenommen ... Verflucht. Schon wieder diese Margita! Edgar kehrte um, so, als wollte er vor diesen Erinnerungen flüchten. Er ging zum Flusse, wandte sich zu den Ruinen des Schlosses und begann dann wieder durch den Park zu wandern. Ein niedrighängender Ulmenzweig streifte sein Gesicht und verschob die Mütze – das erinnerte ihn wieder an Margita. Dieses verdrehte Mädchen hatte einmal wegen einer unbedeutenden Schramme ein ganzes Betttuch eingeweicht und ihm auf die Stirn gelegt. Wie war sie damals komisch gewesen! Niemals vermochte Christine so lustig zu scherzen. Dafür war Christine freilich viel hübscher und hatte mehr Güte als dieser Teufel im Weiberrock. Aber Margita war niemals so streng zu ihm gewesen! Wenn er sie jetzt plötzlich hier träfe, hier in Alaine? Wenn irgendein Zufall sie hierher verschlüge? Wenn sich auf einmal herausstellen würde, dass diese Minna niemand anderes wäre als Margita? Was kamen ihm nur für Dummheiten in den Kopf, warum drehten sich seine Gedanken immerfort um diese Minna? Man musste sie wirklich sehen, um ein für allemal Ruhe zu haben. Und Edgar schlug den Weg zum Hause des Verwalters ein.

Am Ende der Lichtung erblickte Edgar die Bank, auf der er im Frühjahr mit Christine gesessen hatte, und er blieb stehen. Wie deutlich erinnerte er sich noch der Verzweiflung und des Grolls, die ihn erfasst hatten, als Christine gegangen war und ihn allein gelassen hatte.

Damals hatte er sich geschworen, sie entweder zu gewinnen – oder mit sich selbst Schluss zu machen ... und jetzt–ging er zu einer anderen! ... Und der junge Mann bog mit einer schroffen Wendung auf den Pfad ab, der zum Pferdestall führte. Als er bei der Gartenpforte nahe dem Gärtnerhäuschen war, blitzte ihm der Gedanke auf, zu Christine zu gehen, aber da klang ihm ihr »Edgar, geh!« in den Ohren, und sofort besann er sich wieder.

Die Lippen zusammengepresst, trat er in die Kutscherstube, wo der Kutscher und Wiskrelis beim Kartenspiel saßen.

Wiskrelis fragte Edgar, wo er gewesen sei.

»Ja, ich ... war einfach so ...«, gab Edgar kurz zur Antwort und setzte sich.

Der Kutscher musterte aufmerksam Edgars Gesicht.

»Einfach so? Die Augen glänzen wie bei einem Kater, und das Gesicht glüht, als hätte er den ganzen Abend Holz geschleppt! Man sieht gleich, was dieses ›einfach so!‹ zu bedeuten hat.«

»Ich will dir sagen, wo ich war; aber du glaubst es doch nicht. Im Park bin ich gewesen.«

»Allein?«

»Allein.«

»Schwindel!«

»Ich habe ja gesagt, du wirst es mir nicht glauben ... Lasst midi mitspielen.«

Er setzte sich an den Tisch, unter dem Flaschen klirrten.

»Was ist da?« fragte Edgar.

»Kein Dieb und kein Spitzbube«, lachte der Kutscher. »Wenn du ein Gläschen leeren willst, dann geh und schließ die Tür zum Pferdestall.«

Früher waren solche kleinen Trinkereien in der Kutscherstube ziemlich häufig gewesen. Edgar ging, sperrte den Stall zu und löschte das Lämpchen aus.

»Jetzt wollen wir mal eine aufmachen!« Sein Mund war ausgetrocknet, und ein Glas Bier kam ihm gerade recht. Alle drei tranken, spielten und tranken wieder. Als der Kasten leer war, fragte der Kutscher Edgar:

»Du bist also wirklich nicht dort gewesen?«

»Wo? … ach, dort? Nein, ich war nicht da.«

»Und gehst auch nicht?«

»Nein.«

»Wovon sprecht ihr?« fragte der Kammerdiener.

»Von Minna«, gab Edgar laut zur Antwort.

»Er will, dass dies Teufelsmädchen auch dir die Finger in der Tür einklemmt«, lachte Wiskrelis. »Passt dem Halunken nicht, dass er allein der Leidtragende sein soll.«

»Soll sich nur keine Hoffnungen machen! Das Vergnügen wird keiner haben. Meine Finger werden immer heil bleiben.«

Sie spielten und tranken weiter, bis die letzte Flasche geleert war.

»Nichts mehr da?« fragte Edgar.

»Nein«, antwortete der Kutscher. »Mehr als dreizehn für einen Rubel gibt's in der Kneipe nicht.«

»Na, das ist gerade bloß zur Anregung!« meinte Edgar. Er war nicht betrunken, nur angeheitert. »Ach, man sollte sich wieder einmal ordentlich die Gurgel ausspülen. Ich laufe schon so lange wie ein Pferd um den Zaun herum und sehe, ob man nicht irgendwo hinüberspringen könnte. Höchste Zeit, sich wieder einmal richtig auszutoben. In Polen damals, da war ein Mädelchen – wie gut habe ich mit der gelebt! Einmal, da haben wir uns so lange mit Kissen, Decken, Laken und Strümpfen beworfen, bis wir beide vor Lachen nicht mehr stehen konnten, und dann ist sie mir in die Arme geflogen. Ach, wozu das, gehen wir in die Kneipe.«

»Ich kann ...« sagte der Kutscher.

Der Kammerdiener sah auf die Uhr.

»Ich kann auch nicht lange.«

Arm in Arm schritten die drei über den Hof. Als sie am Hause des Verwalters vorüberkamen, musste Edgar wieder an Margita denken, und ein leidenschaftliches Verlangen überkam ihn, Minna jetzt gleich zu sehen.

Im Zimmer der Hausmädchen brannte Licht.

»Gehen wir hinein?« schlug Edgar vor. »Nach euren Erzählungen muss diese Minna meinem polnischen Mädel sehr ähnlich sein; ich möchte sie mir doch mal ansehen.«

»Warum denn zu dreien ... Wenn du sie nur begrüßen willst, warten wir auf dich.«

»Na schön, wartet solange, ich bin gleich wieder da.«

Die Tür zu der Küche und dem Hausmädchenzimmer war noch nicht verschlossen.

»Na, und wir?« fragte der Kammerdiener nach einer Weile. »Gehen wir rein, oder gehen wir in die Kneipe? So bald kommt der nicht wieder.«

»In die Kneipe«, antwortete der Kutscher und setzte vielsagend hinzu: »Wenn Edgar uns nicht überholt – einholen wird er uns sicherlich.« Und die beiden machten sich auf den Weg.

Sechs Tage später brachte das kleine Söhnchen des Hundewärter gegen Abend Christine einen Brief.

»Wer hat dir das gegeben?« fragte sie, während sie die unleserlich mit Bleistift geschriebene Adresse betrachtete.

»Der Vater«, antwortete der Junge. »Dem hat es jemand in der Schenke gegeben.«

Der Kleine ging. Christine sah sich die Handschrift an. Es schien Wiskrelis' Hand zu sein. Dann riss sie den Umschlag auf, überflog den Zettel und zerriss ihn.

Nach zwei Tagen bekam sie wieder einen Zettel. Diesmal brachte ihn der alte Mikus, der auf dem Gute das Gnadenbrot aß und dafür täglich die Post von der Station zu holen hatte. Auch diesen Brief zerriss Christine. Nachdem sie aber den vierten Brief erhalten hatte, konnte sie sich nicht länger beherrschen. »Um halb neun«, stand da geschrieben. Christine warf ein großes Tuch über und ging. Im Fenster des Kutscherzimmers sah man unter dem kurzen Vorhang die Hände des Kutschers, die ein Budi hielten. Beide Betten waren leer.

Edgar war also nicht zu Hause. Am Hause des Verwalters schnürte die Aufregung Christine fast die Kehle zu. Nein, es war ja doch nicht möglich! Das Fenster zum Hausmädchenzimmer war mit dichten grauen Vorhängen verhängt. Nur durch einen kleinen Spalt konnte man ins Zimmer sehen; Christine lauschte, doch sie hörte nur das Pochen ihres eigenen Herzens. Aber plötzlich erklang ein lautes, fröhliches Lachen ... eine tiefe Männerstimme. War das Edgars Stimme? Nein, nein, nicht Edgars: … nicht die seine! ... Christine bebte wie im Fieber.

Aber nein, sie musste Gewißheit haben.

Mit leisem Schritt wie ein Dieb schlich sie ins Haus und suchte tastend die Tür. Unbeschreiblicher Widerwillen erfüllte sie, aber unbeirrt suchten ihre Hände weiter nach der Klinke – und dann riss sie die Tür auf.

Auf dem Tisch brannte ein Lämpchen. Nicht weit vom Tisch saß ein Mädchen mit kurzgeschnittenem kastanienbraunem Haar und bräunlichem, rotbäckigem Gesicht und ihr gegenüber rittlings auf einem Stuhle Edgar, eine Hand auf der Stuhllehne, die andere Hand nach dem kleinen Ohr des Mädchens mit dem silbernen Ohrgehänge ausgestreckt.

»Mutter«, sagte Christine und warf das Tuch auf einen Stuhl, »wie meinst du, wird Akmentin jetzt einverstanden sein, mich zu heiraten?«

Die Wäscherin hatte über einer Stopfarbeit gesessen, jetzt ließ sie die Hände in den Schoß sinken.

»Wie, was?« rief sie erschrocken.

»Ich frage, ob du glaubst, dass Akmentin mich jetzt heiraten würde?« wiederholte Christine im gleichen festen, dumpfen Tone.

»Was ist denn geschehen, Christine? Wie siehst du denn aus? Wo bist du gewesen? Wo ist Edgar? Oder hat er wieder ...?« Voller Aufregung sprang die Mutter auf.

»Frage nicht, was geschehen ist! Du hast ganz recht gehabt, Mutter. Edgar ist ein widerlicher, unverbesserlicher Mensch. Mit ihm mach' ich endgültig Schluss. Ich heirate Akmentin.«

Die Wäscherin war bis in den Grund ihrer Seele erschüttert. Ihr sehnlichster Wunsch ging in Erfüllung, sie hatte es aus Christines eigenem Munde gehört. Im stillen hatte sie immer darauf gehofft, immer hatte sie gedacht, dass Christine schließlich doch noch ihren Entschluss ändern und Edgar abweisen werde. Jetzt aber wusste sie nicht, sollte sie sich freuen oder traurig sein. Die Mutter fühlte, dass Christine tödlich verletzt war, und ihr Herz krampfte sich vor Schmerz zusammen.

»Aber was ist denn eigentlich geschehen?« flüsterte sie erschreckt. »Erzähle doch!«

»Du meinst also, er wird mich nicht nehmen?« sagte Christine, gerade so, als hätte sie die Worte der Mutter nicht gehört.

»Was heißt hier ›nicht nehmen‹? Warum sollte er dich nicht nehmen? Noch vor zwei Tagen war er hier. Und jedesmal, wenn er mich trifft, redet und redet er, dass ich gar nicht von ihm loskomme ...«, erzählte die Wäscherin, hielt es allerdings nicht für nötig, hinzuzufügen, dass sie sehr liebenswürdig zu Akmentin gewesen war. »Aber warum sofort?«

»Nun, wenn es so ist, Mama, dann geh, und bitte Madam Asta um Papier, Feder und Tinte; ich werde ihm sofort schreiben.«

»Sofort? Heute abend noch? Überstürz es doch nicht so, Mädel! Schreibe lieber morgen früh ... über Nacht wirst du ruhiger werden, überleg es dir noch einmal…«

Die Wäscherin zögerte. Warum war Christine so plötzlich anderen Sinnes geworden? Aber dann ging sie doch. Wenn zwei verständige Menschen sich heiraten, dann kann ihr Leben ja nicht unglücklich werden, es ist ja nicht wie mit Edgar. Mag Christine denn ihren Willen haben.

Nachdem die Mutter von Madam Asta zurückgekehrt war, fragte sie:

»Was wirst du ihm denn schreiben?«

»Er mag kommen und um mich anhalten.«

»Was? ... Aber ... aber schickt sich denn das für ein Mädchen?«

»Warum können denn andere machen, was sich nicht schickt?« gab Christine kalt zurück und setzte sich zum Schreiben nieder:

»Bisher habe ich mich so verhalten, als ob ich Ihre Andeutungen nicht verstünde. Ich hatte eine andere Hoffnung. Sie ist zerstört, und ich bin frei. Jetzt willige ich ein, Ihre Frau zu werden, falls Sie nicht anderen Sinnes werden sollten, wenn Sie diese Zeilen gelesen haben.«

»Bring das morgen nach Kesberi«, sagte sie, während sie den Brief in den Umschlag steckte. »Falls er fragt, wann er kommen kann, dann sag ihm, je eher, desto besser. Du kannst ihm auch von Edgar erzählen, er wird ja doch schon etwas davon gehört haben. Nur möchte ich dich sehr bitten, kein unnötiges Gerede zu machen!«

Christine legte den Brief vor die Mutter auf den Tisch und ging zu Bett.

Die Wäscherin betrachtete versonnen den weißen Umschlag, hielt ihn eine Zeitlang in der Hand, legte ihn wieder auf den Tisch, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Wenn Christine nun unglücklich würde? Sie war so bleich, als sie diesen Brief schrieb. Es kommt ja oft vor, dass Menschen ohne Liebe und Freude in die Ehe treten; aber Christines Gesicht zeigte einen Ausdruck, als ob sie sich nur aus Hass für Akmentin entschieden hätte. Hat eine Mutter denn das Recht, eine solche Ehe zu segnen?

Am anderen Morgen hätte die Wäscherin sehr gern Edgar getroffen. Nicht, dass sie ihn mit Christine versöhnen wollte; aber sie hielt es doch für notwendig, erst mit Edgar zu sprechen, ehe sie nach Kesberi ging. Aber Edgar war nirgends zu sehen, und zum Frühstück war er nicht erschienen.

So kleidete sich die Wäscherin für den Weg an.

»Vielleicht willst du noch etwas ausrichten lassen?« fragte sie Christine freundlich, »oder noch etwas dazuschreiben?«

»Nein. Mehr braucht es nicht.«

Nachmittags brachte Akmentin selber die Wäscherin auf das Gut zurück und begrüßte Christine verlegen. Als sie aber beide allein waren, hatte er sich offenbar gefasst und sprach sehr ruhig. Er dankte Christine für ihr Vertrauen; er dankte ihr, dass sie sich entschlossen hatte, ihr Schicksal mit dem seinigen zu verbinden; er glaube fest, dass sie ihn eines Tages lieben werde; denn er werde alles tun, um dies zu erreichen. Sein volles Gesicht und seine klaren Augen strahlten vor Glück. Akmentin sprach taktvoll und wählte seine Worte klug, um Christine keinen Schmerz zu bereiten, und rückte ihr dabei ein wenig näher. Er glich einem kleinen Jungen, der nun endlich das Vögelchen eingefangen, das er so lange verfolgt hatte, und der sich vor Glück nicht enthalten kannte, ihm zärtlich die gebrochenen Flügel zu streicheln.

Christine nahm alle Kraft zusammen, um freundlich mit dem Freier zu sein. Zu guter Letzt fragte er, auf welchen Tag Christine die Hochzeit ansetzen wolle.

»In drei Wochen«, sagte das Mädchen, »falls das möglich ist.«

»Durchaus«, antwortete Akmentin.

Also wurde beschlossen, in drei Wochen Hochzeit zu feiern.

Noch am gleichen Tage ging Christine zum Baron, bat um ihre Entlassung und erklärte ihm den Grund; sie setzte hinzu, dass sie bis zur Hochzeit gern noch Weiterarbeiten wolle, da sie keine besonderen Vorbereitungen zu treffen habe.

Der Baron war damit einverstanden.

Die Kunde von Christines Verlobung rief allgemeines Staunen hervor.

»Die wird jetzt ein gutes Leben haben«, meinte der Kutscher mit süß-saurer Miene zum Kammerdiener.

»M-ja«, antwortete der. »Aber danke schön wird sie uns doch nicht sagen. Und was sagt Edgar?«

Was Edgar sagte, wusste der Kutscher auch nicht. Er hatte versucht, ein paar Witze über die entgangenen Hoffnungen zu machen; aber Edgar hatte ihn so wild angesehen, dass er es für geraten hielt, zu schweigen. Zwei Tage lang kam Edgar nicht zum Mittagessen »auf den Berg«. Wenn es nicht dringend nötig war, verließ er den Pferdestall nicht und lag stundenlang mit offenen Augen auf dem Bett oder schritt auf dem mit Sägespänen bestreuten Fußboden des Stalles hin und her. Bald trat er an das eine Fenster, bald an das andere, trommelte mit den Fingern an das Drahtgitter und begann wieder von einem Ende zum anderen zu gehen.

Mit Christine traf er nicht zusammen. Bei Tisch sahen sie einander nicht; denn Edgar aß entweder bevor oder nachdem die anderen gegessen hatten. Und seit Christine einmal, als sie sah, dass er ihr entgegenkam, auf der Stelle umgekehrt war, bog Edgar schleunigst vom Wege ab, sobald er sie nur von weitem erblickte.

So vergingen einige Tage. Dann begann Edgar zu trinken. Jeden Abend kam er schwankend nach Hause und trommelte aus Leibeskräften an die Stalltür. Sein Gesicht wurde grau, die großen blauen Augen noch größer, und ein gefährliches Feuer brannte in ihnen. Die schönen und die abstoßenden Züge seines Gesichts schienen in eins zu verschmelzen; er sah ganz merkwürdig aus.

Einmal nach dein Mittagessen rief Madam Asta den Burschen in ihr Zimmer.

»Lieber Edgar«, begann sie mit freundlichem Vorwurf, »ich muss Sie schelten. Man sagt, Sie haben wieder angefangen, stark zu trinken.«

»Ja, Madam, ich trinke. Vollkommen richtig, ich trinke sehr stark.«

»Warum tun Sie das denn? Sie hatten doch schon so ein schönes Leben angefangen, und jetzt ist wieder alles verloren.«

»Ja, Madam, Sie haben recht. Jetzt ist wieder alles verloren. Deshalb trinke ich ja.«

»Lieber Edgar, aber damit bessern Sie doch nichts.«

»Will ich denn etwas bessern? Ich will nur von der Welt verschwinden ... untergehen ... verschwinden«, sagte Edgar vor sich hin.

»Edgar! Edgar!« rief die Wirtschafterin. »Sie sind nicht der einzige auf der Welt, der Leid zu tragen hat! Reißen Sie sich zusammen!«

»Ich will nicht ... Ich selbst habe mein Glück mit Füßen getreten ... mit meinen eigenen Füßen habe ich es zertreten ... Ich will nicht«, stieß er hervor und fiel auf einen Stuhl.

Die Wirtschafterin betrachtete eine Weile das von Leid entstellte Gesicht des jungen Mannes, und tiefes Mitgefühl erfüllte ihr Herz. Sie trat zu Edgar und legte ihre weiße, weiche Hand auf seine Schulter.

»Lieber Edgar, so darfst du nicht fort, du darfst nicht eher gehen, als bis du mir dein Wort gibst, dass du für eine Zeitlang das Trinken lassen wirst. Ich weiß, du wirst das der alten Mutter Asta versprechen, die dich schon als Kind gekannt hat. Und was du versprichst, das wirst du auch halten.«

»So glauben Sie mir noch? Mir?«

»Ich weiß, dass du kein schlechter Mensch bist, Edgar. Das weiß ich.«

»Madam! Sie glauben? Gut, dann werde ich nicht mehr trinken!«

Der Zeitpunkt, da Christine Alaine verlassen sollte, kam heran.

Einige Tage vor der Hochzeit fuhr der Baron nach Riga, um sich nach einem neuen Zimmermädchen umzusehen. Kutscher und Kammerdiener gingen nach dem Mittagessen ins Wirtshaus Billard spielen. Edgar, der eben erst den Baron zur Bahn gebracht hatte, aß allein. Die Tür zu Madam Astas Zimmer war verschlossen, man hörte dahinter Christines und der Wirtschafterin Stimmen. Madam lobte etwas und sagte, Christine solle in den Saal gehen und sich im Spiegel ansehen.

Das Mädchen wollte nicht.

Plötzlich aber sprang die Tür auf, und Christine trat in das Esszimmer. Sie war im Brautstaat, im weißen Kleide; wie eine Wolke umhüllte der lange Schleier sie von Kopf bis Fuß. Ein paar Myrtenzweiglein waren ins Haar gesteckt.

Als Christine Edgar erblickte, blieb sie erschrocken stehen, dann ging sie eilenden Schrittes in die Küche und verschwand hinter der Korridortür.

Edgar sah ihr nach, als wäre sie ein Gespenst, und schlug die Augen nieder. Zu seinen Füßen lag ein kleiner Myrtenzweig. Die winzigen Blättchen waren am Rande ein ganz klein wenig angewelkt. Edgar bückte sich, hob es auf und legte es vor sich hin. Ein feiner, zarter Duft ging davon aus; Edgar fuhr zusammen, stand mit einer brüsken Bewegung auf, nahm den Zweig und ging in die Küche.

Im gleichen Augenblick kam die Wirtschafterin aus ihrem Zimmer.

»Edgar!« schrie sie auf.

Aber Edgar stand schon in der Korridortür.

»Edgar!« wiederholte Madam Asta erschreckt und eilte ihm nach. Aber Edgar hatte inzwischen schon die Tür hinter sich verriegelt.

»Edgar! Edgar!«

Niemand antwortete. Im Speisezimmer zog Edgar blitzschnell die Stiefel von den Füßen, warf seine Arbeitsjacke neben sie und ging in den Saal.

In der Tür blieb er stehen.

Den Rücken dem großen Spiegel zugekehrt, den Kopf an das Plüschsofa gelehnt, saß Christine auf dem Tigerfell. Edgar stand, ohne ein Auge von ihr zu wenden, und wartete darauf, dass sie sich bewegen würde. Es verging eine lange Zeit, bis man endlich aus dem Arbeitszimmer des Barons die Uhr schlagen hörte. Christine fuhr zusammen und erhob sich.

Sie weinte nicht; aber ihre Augen waren gerötet, und das ganze Gesicht drückte tiefes Leid aus. Aber das alles veränderte sich sofort in dem Augenblick, als sie Edgar in der Tür stehen sah. Sie blickte ihn stolz und verächtlich

an, zog den Schleier fester um sich und schritt, den Kopf hochmütig erhoben, auf die Tür zu.

Aber Edgar trat nicht zur Seite. Die Hand kaum merklich erhoben, blickte er in ihre kalten Augen. »Christine!«

Christine blieb stehen. Wieviel Leid, Liebe und Mitleid klang in diesem verzagten Aufschrei »Christine!« »Was willst du?« brachte sie mühsam heraus.

»Ich weiß nicht.«

»Dann lass mich durch.«

Aber er rührte sich nicht von der Stelle und wiederholte:

»Christine! Christine!« und dann »Christine, hör mich an!«

»Du hast mir nichts zu sagen, und ich habe jetzt von dir nichts zu hören. Es ist alles zu Ende, lass mich!« »Christine! Ich weiß, dass alles zu Ende ist, dass es schon zu spät ist. Ich weiß, dass ich jetzt vor dir stehe wie der elendste Hund ... und dennoch ... dennoch ... Christine! Christine!«

Seine Stimme brach. Umsonst biss Edgar die Zähne zusammen, um die Fassung zu bewahren ... Schluchzen überwältigte ihn, und er fiel in einen Stuhl, der neben der Tür stand.

Christines Knie wankten. Es wurde dunkel um sie, und Halt suchend lehnte sie sich gegen das Fenster. »Geh!« flüsterte sie. »Geh! Ich flehe dich an!«

»Ich kann nicht«, gab Edgar zur Antwort. »Ich muss sprechen, ich muss midi aussprechen, sonst erstickt es midi ... Christine, du stößt mich in die Hölle!«

»Ich?!« schrie Christine auf, und ihre Augen flammten. »Ich?! Du, du allein bist an allem schuld! Und du wagst noch zu sagen, dass ich ... Ach, du bist kein Mensch mehr, du bist ...«

»Du hast recht«, brachte Edgar verzweifelt hervor. »Ich bin vor dir kein Mensch mehr ... ich bin ein Tier ... ein Teufel ... Aber ich liebe dich ... Ich kann es nicht aussprechen, wie ... Ich habe dich gequält wie einen Hund ... wie den ärmsten Hund, und dennoch ... Christine ... Ich bin so wie ich bin, ich kann mich nicht ändern ...«

»Davon bin ich schon längst überzeugt. Aber du willst ja auch gar nicht anders werden! Du kannst nicht, weil du niemals wirklich gewollt hast ...«

»Ich habe gewollt! Ich schwöre es dir, diesmal habe ich aus ganzem Herzen gewollt! Aber in mir sitzt ein Teufel, mit dem ich nicht fertig werden kann, und der stößt mich zurück in den Sumpf.«

»Warum sagst du mir das alles?« fragte Christine schroff.

»Ich will, dass du weißt, was ich für ein ... Du sagst, ich sei an allem schuld ... Aber ich habe das ohne Vorsatz getan. Ich darf nicht sagen, dass ich ein Kind wäre, das nicht weiß, was gut und was böse ist. Ich weiß es, das da ist böse, und das da ist gut. Aber manchmal überfällt mich so etwas ... etwas, dass alles verwirrt. Ich sträube mich ... ich kämpfe ... und dann bricht alles zusammen, und ich stürze ... ich weiß nicht wohin ...« Edgar hatte die Stimme gesenkt und sprach in der gleichen Verzweiflung weiter. »Aber dann gehen mir wieder die Augen auf. Mein Herz brennt vor Reue ... dass ich deine Liebe so verhöhnt habe ... Und ich frage mich und frage mich immer wieder, wie denn das alles möglich war! Und ich kann es nicht erklären ... Aber du bist erbittert auf mich ... und strafst mich. Und du tust das nicht wie ich, sondern mit kalter Überlegung, mit Vorsatz ... Du kleidest dich in deinen Hochzeitsstaat, obwohl du wünschst, dass es dein Sterbegewand wäre ... Christine! Christine!

Erbarme dich meiner und deiner selbst und stoß uns nicht beide in den Abgrund ...

Christines bleiches Gesicht war weißer geworden als ihr Brautkleid. Sie lehnte den Kopf an das Fensterkreuz und flüsterte:

»Geh, Edgar! Geh! Es ist zu spät! Geh!«

Aber Edgar sprach weiter.

»Heute ist dir nur aus Zorn gegen midi schwer ums Herz. Übermorgen wirst du dieselbe Qual erdulden wie ich. Du wirst dein Wort geben, und du wirst es nicht halten. Du wirst an deinen Mann denken sollen, und du wirst an mich denken ... dann wirst du dir sagen müssen, dass du ebenso abscheulich geworden bist wie ich ... und kein Lob von den Leuten wird dir helfen können ...

Christine stöhnte auf und schlug die Hände vors Gesicht.

»Und dann wirst du hören, wie verkommen ich bin«, fuhr Edgar mit bebender Stimme fort. »Ich bin ein schlechter Mensch und würde dich gequält haben, aber ich liebe dich ... ich liebe dich ... Und du hättest mir geholfen ... du hättest mir geholfen, mich zu halten und nicht unterzugehen ... Aber jetzt kommt eine Zeit, da ich mich im Graben sielen werde, und du wirst in der Kutsche zweispännig an mir vorüberfahren ... Und dein Herz wird nicht zittern ... Dein Herz wird so kalt und so ungerecht sein ... Und in der Kirche wirst du Gott danken, dass du so eine gute, ehrliche Frau bist, dass Gott dir Kraft gegeben hat, dich von einem solchen Manne wie mich loszumachen ... Und das wird das Ende sein ...«

»Nein, nein, nein!« schrie Christine auf und rang die Hände. »Was soll ich tun, o was soll ich tun?«

Und da war ihr, als erwachte in ihrem Herzen eine neue machtvolle Stimme, die ihr zurief: »Liebe ... auch wenn die Liebe dir Leid bringt ... liebe ...«

Christine schritt auf Edgar zu.

»Hilf mir, mein Gott ...« sie wollte noch etwas sagen; aber sie vermochte es nicht.

Edgar sah ihr ins Gesicht, stand auf und ging langsam vorwärts, als wollte er vor ihr aufs Knie sinken.

Christine reichte ihm die Hände, er ergriff sie, beugte sich über sie und drückte ihre kalten Finger an seine glühende Schläfe ...


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