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Das mußte er nun allerdings im wörtlichen Sinne. Da er in der Kniekehle immer noch leichte Schmerzen fühlte, hatte er sich einen Doktor Walz aufnötigen lassen, Dirigent aller Kinderhospitäler. Dieser Medikus erschien mit Empfehlung der verwitweten Großherzogin Sophie von Baden als deutscher Landsmann. »Ich bin aus Heidelberg, was gewiß Euer Exzellenz freundliche Erinnerungen erweckt. Das Übel an dero Bein ist leicht zu heben, sobald ich eine Salbe dagegen verschreibe.«
»Aber es plagt mich wenig, und da ich demnächst nach Berlin reise, um meine Frau abzuholen –«
»Gerade deshalb, dadurch kann sich die Sache verschlimmern. Das Mittel ist so leicht, daß es Exzellenz gar nicht belästigen wird. Es fällt in ein paar Tagen ab, das Pflaster, höchstens eine Röte bleibt davon zurück.«
»Nun, wenn Sie meinen!« Die Salbe wurde angeschmiert. Einige Stunden später erwachte Otto mit wahnsinnigen Schmerzen. Sie steigerten sich so unerträglich, daß er das Pflaster abriß. Ein Stück Fleisch mit, eine handgroße Wunde entstand, in der wundgefressenen Kniekehle blieben immer noch schwarze Massen stecken. Der sofort herzitierte Giftmischer arbeitete nun mit einem metallischen Instrument in der Wunde herum, so daß selbst der Hüne beinahe in Ohnmacht fiel, doch gelang es nicht, das Gift erheblich zu entfernen, obschon der biedere deutsche Landsmann versicherte: »Die Sache werden wir gleich kriegen, Exzellenz hätten das Pflaster nicht abreißen sollen.«
»So? Dann wäre ich draufgegangen.« Otto heftete auf ihn einen kurzen starren Blick.
»Ja, ich fürchte, die Salbe war zu stark gepfeffert. Ein Versehen des Apothekers«, entschuldigte sich der Verbrecher mit freundlichem Lächeln. Nachdem er gegangen, ließ Otto seinen Kammerdiener Engel kommen.
»Geh zu dem Apotheker, hier ist die Adresse, und erbitte dir das Rezept. Es ist ein Deutscher.«
Engel kam zurück. »Doktor Walz hat das Rezept zurückgenommen. Die Salbe bestehe hauptsächlich aus sehr giftigen Stoffen, die – ich habe mir's aufgeschrieben – immerwährende spanische Fliegen erzeugen. Die Dosis war ganz ungewöhnlich stark.«
Als Walz wieder erschien, fragte ihn Otto mit dem gleich starren Blick: »Ich möchte Ihr Rezept sehen.«
»Ach wie fatal! Das habe ich natürlich nicht mehr. Wozu auch!«
Wozu auch! In der Tat! Bedeutet dies nur die dreiste Frechheit eines Kurpfuschers, der ein Experiment probieren wollte? Zu solchem Wagnis sucht man sich gewöhnlich nicht eine hohe Persönlichkeit aus. Sie wollen mich durchaus beseitigen. Sehr schmeichelhaft! Wenn die Feinde meines Vaterlandes mich so verbrecherisch hassen, so liebe ich sicher mein Vaterland. Da falle ich also im Dienste wie ein Soldat, nur etwas schmerzhafter. O Germania, du alte Närrin! Still, auf die Mutter darf man nicht schimpfen, sie hat uns geboren. Wozu die Verbitterung! Um Erleuchtung der Obrigkeit beten hat keinen Zweck. Denn Gott, der Preußen zerschlagen oder hochheben kann nach seinem Willen, läßt sich nicht beirren. Der Allwissende weiß warum. Im letzten Stündlein, wenn es ans Ende geht, werden wir lächeln über die Streitfrage, ob Preußen oder Österreicher gewinnen. Alles nur eine Zeitfrage. Die Wellen zerschellen, und es bleibt das ewige Meer. Was sind vor ihm unsere Staatengebilde! Ameisenhaufen, die jeder Ochse zertreten kann, Bienenstöcke, die ein Imker ausnimmt. Rechberg ist ein langer Kerl, ich auch, aber wenn uns der Tod diese Fleischmaske von den Knochen reißt, dann werden wir uns verzweifelt ähnlich sehen, und niemand weiß mehr, ob Rechberg für seinen Staat oder ich für meinen stritt. Und ob er dumm ist oder ich, bah, als Skelett sind wir alle die gleichen. Ich habe hochgradiges Fieber. Hätte ich ein Wundfieber von Solferino, so wäre es genau das gleiche. Ein Gaukelspiel. Und wo bleibt da der Patriotismus? Von dem hängt unsere ewige Seligkeit auch nicht ab. Pfui, schäme dich! Charity begins at home, wer seine Landsleute nicht liebt wie sich selbst, wer soll da das Gebot des Heilandes erfüllen? Wer erfüllt es denn! Und Gott lieben über alles? Ich möchte ja, doch er ist so fern. Ich würde mich dem Teufel verschreiben, wenn es nur ein teutonischer Teufel wäre. Deutschland rollt langsam in den Abgrund, und ich krepiere hier wie die Ratte im Loch und schlafe ein vor übergroßen Schmerzen... Schlafe, schlafe, große Seele! Ein Allmächtiger wacht über dir ...
Das Wunder geschah, das Unglaubliche. Schon am 11. Juli Frieden von Villafranca! Eher, als Preußen auch nur in einer Formfrage nachzugeben, nahm Österreich die Bedingungen Napoleons an, des »Kämpen unterdrückter Nationalitäten«, der sich dafür mit Nizza und Savoyen bezahlen ließ. Lieber die Lombardei preisgeben, als das Übergewicht in Deutschland! Und nach dieser schamlosen Aufopferung der staatlichen Ehre (denn man hätte den Krieg zum ernsten Schaden Napoleons fortsetzen können) hatte man noch die eiserne Stirn, zum Himmel zu schreien, man sei vom »natürlichen«, (wer lacht da!) »Bundesgenossen« im Stich gelassen! Andererseits konnte man Napoleon nicht verdenken, daß er seiner Armee erklärte, ihr Sieg sei durch die drohende Haltung Preußens verkleinert worden, und er könne seinen Schwur deshalb nicht erfüllen, Italien von den Alpen bis zur Adria zu befreien. Vorsicht ist bekanntlich ein Teil der Tapferkeit. In Villafranca ließen beide hohen Kontrahenten Winke fallen, daß sie sich künftig gegen das verräterische Preußen wenden würden. Doch das war das kleinere Übel. Der Regent war fest geblieben gegen Österreichs unverschämte Ansprüche, in die eigentliche Falle stürzte er nicht, der Krieg unterblieb ... Ach, der alte Gott lebt noch, Otto raffte sich auf, nach Berlin zu reisen.
»Ach, mein lieber Bismarck, was haben Sie mit sich angefangen?« Der Zar entsetzte sich über das trostlose Aussehen des Hünen, den er in kraftstrotzender Männlichkeit vordem so oft sah. »Da muß etwas geschehen. Sie sind ja wie eine geknickte Eiche. Tun Sie alles für Ihre Heilung, tun Sie es mir zuliebe! Wir dürfen Sie nicht verlieren. Ich gehe im Herbst nach Breslau oder Berlin, um meinen verehrten Oheim zu treffen. Da hoffe ich Sie als den Alten wiederzusehen!« –
Die Reise bereitete ihm viele Qualen, und als er im Hotel d'Angleterre in Berlin lag, schüttelten die Ärzte den Kopf. Die Jodbehandlung half nichts, man gab ihn als hoffnungslos auf.
»O du mein Einziger! Guter! Ottochen, was haben sie mit dir gemacht!« Johanna, eiligst aus Reinfeld herberufen, warf sich schluchzend über ihn, dann nahm sie sich fest zusammen und warf, ohne ein Wort zu sagen, alle Jodflaschen zum Fenster hinaus. »Jetzt werde ich dich kurieren.« Sie hatte stets als heilkundig gegolten, wie manche adlige Gutsherrin in ihrem ländlichen Wirkungskreis, und sei es Suggestion der Liebe, sei es wirkliche Naturheilkraft, sein Befinden besserte sich. »Jetzt mußt du mir nach Wiesbaden und Nauheim.« Doch auch dort genas er nicht, erst allmählich kehrte die Gesundheit wieder unter medizinischer Aufsicht eines Marburger Professors Beneke. Die Schwäche im Beine blieb, und zeitweilige Schmerzen plagten ihn noch lange. Die Geschäfte drangen wieder ein, er lächelte trübselig. »Just am 1. April, meinem Geburtstag, trat ich mein Amt in Petersburg an. War das ein böses Omen und verhängnisvoll? Ob ich dort noch mal den 1. April verbringe? Alle guten Freunde und Bundesgenossen arbeiten daran, mich von dort wegzuhaben, denn selbst in der Ferne bin ich ihnen nicht artig genug. Deinen Geistes hab' ich einen Hauch verspürt ..., am liebsten hätten sie mich gefesselt, wie Bertram de Born. Lahm bin ich schon genug, muß aber doch dem Zaren bis Warschau entgegenfahren und ihn nach Breslau geleiten. Denn aus den Augen, aus dem Sinn, les absents ont toujouirs tort, bei mir muß es heißen: toujours en vedette!«
»Der Arzt verbietet dir Anstrengung und Arbeit. Dein Bein wird immer wieder beim Gehen dick, die Jodvergiftung hast du noch in den Nerven.«
»Bah, die Stränge halten noch aus. Eine Vene ist zerstört, da muß man eben ohne sie auskommen. Vor sechs Wochen schien mir das Weiterleben nicht wünschenswert, und jetzt beglücken mich die kondolierenden Gratulanten mit der erfreulichen Post, daß sie mein Weiterleben nicht erwarteten. Wie taktvoll! Herrlich war Harry Arnim, der mit Leichenbittermiene den düsteren Unkenruf erschallen ließ: Alle preußischen Gesandten sterben oder werden verrückt! Ich glaubte ihm letzteres, was seine werte Person betrifft, und erinnerte ihn daran, daß wir alle sterblich sind, ob wir Gesandte spielen oder nicht. Na, denn man los! Eingeschneit im Bärenpelz einen Winterschlaf tun, dafür ist Petersburg gut. Ich schnalle den Kothurn von meinem kranken Bein, da kann man nicht auf Stelzen gehen, und werde schnarchen, daß man mich bis Archangel hört.«
Johanna schwor dem Quaksalber Walz Tod und Verderben.
»Das laß man gut sein. Dessen Hintermänner findet man nie. Der Kerl, Sohn des Hofkonditors in Heidelberg, machte nie sein Examen. Dieser brave Heilgehilfe rechnete nicht mit dem Frieden von Villafranca, der hat mir das Blut gereinigt. Auf der Seereise nach Stettin war der Chirurg Pirogow mit an Bord, und der wollte mir das Bein hoch überm Knie amputieren. Diese Schlächtermeister möchten immer nur operieren. Wenn doch in der Politik auch solche Chirurgen hantieren wollten! Aber dort scheut man sich schon, nur eine Zehe oder den kleinen Finger abzusägen, mag die Blutvergiftung noch so kennbar um sich greifen. Und hinterher hilft doch nur ein Kaiserschnitt bei unserer deutschen Schwergeburt.«
»Du siehst aber, es geht auch ohne Operation.«
»Ja, Fünkchen lebt noch.«
Im September in Baden-Baden ging es ihm noch wohl. Er feierte dort mit seinem Frankfurter Becker ein fröhliches Wiedersehen, und der Arzt Struck versicherte ihm, er könne ganz ohne Sorgen sein. Er traf auch die schöne Obolenski und trug ihr Grüße an ihren greisen Vetter, den Archäologen in Moskau, auf, dessen überschwengliche russische Gastfreundschaft den Deutschen ins Herz schloß und in ihm hohe, wissenschaftliche Altertumskenntnisse entdeckt haben wollte. Mit dem Admiral Fürst Menschikow, seltsamerweise nebst seinem Mitadmiral Großfürst Konstantin dem einzigen eifrigen und guten Reiter der Petersburger Aristokratie, ritt er aus und befand sich gut dabei. Diese Gegend mit der damaligen Weltstadt Frankfurt bildete nun mal das große Wirtshaus an der Landstraße Paris-Petersburg, und es hatte für ihn etwas Anheimelndes, wieder in der dortigen Internationale der blaublütigen Welt sich umzuschauen.
»Ach, das ist auch Flügelteufel!« brummte Gustav v. Alvensleben, der als Adjutant des Thronfolgers zur Stelle war. Edwin Manteuffel war gemeint, jetzt offizieller Chef des Militärkabinetts und Otto nicht sehr gewogen. Er grüßte zurückhaltend: »Sie erwarten Herrn v. Schleinitz schon lange, wie ich höre. Er war abgehalten, kommt aber jetzt. Der Gesandte Usedom, den Sie ja alle kennen, befindet sich momentan bei Seiner Königlichen Hoheit.«
Es wurde immer unheimlicher. Schleinitz war kühl, und es regnete heftig. Otto saß immer bei seinen Moskowitern und hatte nichts auf der Zunge als Galizin, Trubetzkoi, Ustinow, Beranow und andere, die ein »sow« als Endsilbe hatten. Aus Langeweile machte er der Obolenski in allen Ehren den Hof, sehnte sich aber krank nach seiner schlichten deutschen Familie in Reinfeld. Der Thronfolger hörte Klagen von Damen über die Impertinenzen der englischen Usedom, und von männlicher Seite über die Unfähigkeit des Gesandten, vermochte aber dem Bruder Freimaurer nicht gram zu sein, den Schleinitz und vor allem die Prinzessin protegieren. Über Otto kam es am Frühstückstisch zu Meinungsverschiedenheiten.
»Ich glaube ja auch, daß der Mann es gut meint,« urteilte die hohe Frau, »doch die Enge seines Gesichtskreises!«
»Er ist eben zu sehr Idealist für eine so positive Kunst wie die Realpolitik, und doch so wenig Idealist, daß er uns mit dem Neffen Parvenü verbünden möchte gegen deutsches Blut!«
Das war der Staatsmann Schleinitz, der so sprach. Doch der Regent schwieg und lehnte weiteres Eingehen auf den Gegenstand ab.
In Frankfurt suchte Otto die Gallusgasse auf, wo er so lange gewohnt, und stand dort, an den Gartenzaun gelehnt, in tiefen Gedanken. Acht Jahre verzweifelter Arbeit für nichts, wie Spülicht weggegossen, vertollpatscht durch windige Dreinpfuscher! Er drehte sich militärisch kurz auf den Hacken um und kehrte dem Schauplatz seiner Kämpfe den Rücken. Gott helfe Deutschland, ich kann's nicht mehr! ... Und nimmermehr betrat er diese Stätte, summte ihm Byrons Wort im Ohr ... Das unsichtbare Transparent sah er nicht, das im Astrallicht über seiner alten Wohnstätte strahlte: Hier schaute der Erwählte das neue Reich.
*
Er fand sich im goldschimmernden Troß hoher Würdenträger ein, der sich in Lazianka, der Warschauer Residenz, um den Zaren drängte. Dessen Zusammenkunft mit dem Prinzregenten in Breslau schien günstige Folgen zu haben und belehrte jedenfalls Europa, daß Preußen gegen halbe oder falsche Freunde nicht alleinstehen werde. Daß Otto einen erheblichen Anteil an dieser russischen Entente hatte, hob sein Ansehen in Berlin, nichtsdestoweniger fuhr man fort, ihn als eine Art Spießgesellen, Helfershelfer und Mitschuldigen des arglistigen Napoleon zu verunglimpfen. Denn mit der unergründlichen Gemütstiefe des deutschen Michels verträgt sich stets die Zuneigung am falschen Ort und der übertriebene maßlose Haß gegen denjenigen seiner Feinde, gegen den man mit Gefühlswerten sich erhitzen kann. Wir haben alle nur einen Feind! schrie das deutsche Volk und ereiferte sich unvernünftig gegen Napoleon, der wenigstens bisher noch keine Feindseligkeit zu erkennen gab. Daß die Austriaken ihre übel erworbene und mit unnützer Schärfe behauptete Fremdherrschaft über die Lombardei einbüßten, was keinen Deutschen etwas anging, erfüllte Michels Herz mit Entrüstung vaterländischen Stolzes. Die edlen deutschen Brüder wurden in Deutschland erst recht populär, als sie für Deutschland den Namen Tedeschi ihrer Kroaten und Heiduken für ewig in Italien verhaßt machten.
Vielleicht wirkte der nagende Ärger über solche Verkennung und Michelei mit, daß er, auf der Rückreise nach Petersburg in Hohendorf bei Below Station machend, sofort wieder Unpäßlichkeit spürte.
Als er in Reinfeld im Billardstübchen von Nanne Abschied nahm, hatte er sie lange umschlungen, wie in Ahnung eines Unheils. Er schrieb ihr aus Hohendorf: »Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer.« Nun war es zum Reisen schon zu spät im November, alle Wege verschneit, nur ein Teil der Strecke bis Petersburg mit eingleisigen Schienen belegt, alles übrige eine für Frau und Kinder unmögliche, halsbrecherische Kütschlifahrt. Da draußen die weite winterliche Welt!
Von Osten her das Klingeln der Schlittenschellen, wo das heilige Rußland wie in Gogols Toten Seelen durch die Steppe fährt, von Westen das Schellen der Narrenkappe. Da feiern sie jetzt als Nationalfest den hundertjährigen Geburtstag Schillers. Sehr schön und auch nützlich für Emporlodern idealer Kräfte. Doch es bleibt bei tönenden Schlagworten. Ich habe nichts gegen Posa und Tell, wenn der eine nur nicht so viel reden und der andere sich nicht als Befreier brüsten wollte, weil er einen Landvogt erlegte. In der Wirklichkeit gibt's nur Kabale und keine Liebe, Begeisterungsrummel fügt keinen Stein zum Bau, dem nur Blut ein Mörtel sein kann. Wallenstein – o ja!
Er ging mit wankenden Schritten zum Bücherschrank, wo selbst der konservative Below die Klassiker aufstellte, und nahm den Band heraus, suchte und fand die Stelle:
Der Augenblick ist da, wo du die Summe
Der großen Lebensrechnung ziehen kannst.
Die Zeichen stehen sieghaft über dir,
Glück winken die Planeten dir herunter
Und rufen: es ist an der Zeit!
Ein heftiger Fieberschauer schüttelte ihn, und er versank in eine Betäubung. Nach Rußland ... wie war das doch bei meiner Hinreise? Da packte mich ein alter, freundlicher General auf den Extrazug des Prinzen von Oranien, welcher joviale Herr mir eine gute Sumatrazigarre offerierte ..., wie man sich doch an jede Fürstlichkeit erinnert, als seien dies Auserwählte des Himmels ..., der Prinz wird wohl nie davon reden, daß er mal mit einem gewissen Bismarck im Salonkupee durch die Einöde fuhr ..., meine Tage sind gezählt, mein Name bald vergessen...
Ihm schwanden die Sinne. Zu Bett gebracht, hörte er gelehrte Konsultation von Ärzten: »In der zerstörten Vene hat sich ein Trombus formiert, der hat sich jetzt losgelöst in die Blutzirkulation. Daher akute Lungenentzündung.« Aus weiteren halblauten Äußerungen und bedenklichen Mienen bei Fortschreiten der Krankheit entnahm er sein Todesurteil. Nachdem er letztwillige Verfügung getroffen, erwartete er eine Woche lang unter kaum ertragbaren Qualen sein Ende. Wäre nur erst alles vorbei! Die arme Nanne, die armen Kinder! Da überkam ihn ein furchtbarer Gedanke, ein furchtbar erhabener Gedanke: das arme Deutschland!
Und Cromwells Frage auf dem Totenbett fiel ihm ein: Kann einer aus der Gnade fallen, der einmal darin war? Nein? Nun, ich weiß, daß ich einmal in der Gnade war ...
Und er betete mit zitternden Lippen: Du lebst, gerechter Gott, und ich, der ich sterben soll, bin nichts vor dir, ein unwürdiges Rüstzeug. Aber ich habe mich redlich bestrebt nach meinen schwachen Kräften für eine große Sache. Es gibt wohl bessere Kämpfer als mich, aber ich sehe sie nicht, darum will ich versuchen, zu leben. Solches sei mir ein Zeichen: sind andere würdiger befunden vor dir, so laß mich dahingehen, bin ich aber gewürdigt deiner Gnade, dann laß mich leben. Denn du weißt, ich bitte jetzt nicht für mich ... Und abermals fielen ihm Cromwells Todesworte ein: Tat ich Großes und Gutes, sei es nur England angerechnet, tat ich Schlechtes, nur mir allein!... In deine Hände befehle ich meinen Geist. Mag ich leben oder sterben, lang lebe das Volk der Deutschen! –
Die Ärzte fanden ihn in festem, tiefem Schlaf, in Schweiß gebadet, die Zähne zusammengebissen, auf dem schreckhaft ernsten Gesicht den Stempel finsterer Entschlossenheit. Sie tauschten gelehrte Betrachtungen aus. »Die Krise ist überstanden, er wird davonkommen, der Mann hat eben eine Riesennatur.«
Gott kann alles. Der Mann des Schicksals hatte den Tod überwunden.
*
Erst im März des folgenden Jahres konnte er sich wieder in Berlin einstellen, Rekonvaleszent von langem Siechtum. Darauf nahm man aber wenig Rücksicht, nötigte ihn zu Sitzungen im Herrenhaus und lieh seinem Wunsch zu baldiger Abreise auf seinen alten Posten kein geneigtes und geflissentlich taubes Ohr. Budbergs Kaviar und Kurier hatten die Wege schon frei gefunden, voll Staub statt voll Schnee, Otto aber mußte Wochen um Wochen in der grüntapezierten Hotelstube sitzen und vom Balkon aus die Spreekähne und die Spatzen betrachten, was keinen Ersatz für das Newabild gab. Mit der Loreley fühlte er um so weniger Ähnlichkeit, als er keine Kämme für sein goldenes Haar bedurfte, das schon durch Abwesenheit glänzte. Seine Glatze verbreitete sich immer kahler. Schon die vierte Abschiedsaudienz und immer wieder der freundliche Befehl: »Bleiben Sie noch einige Tage.« Man wollte ihn offenbar hier behalten. Die Gräfin Perponcher, deren Gatte in Ottos Abwesenheit ihn in Petersburg vertrat, und er klagten sich manchen Abend gegenseitig ihr Leid.
»Hangend und bangend mit schwebendem Bein, ›Goethes Turnerlied‹, sagte die Engländerin. Einen Fuß hier, den anderen im Norden.«
»Und dabei wünscht Schleinitz dringend meine etwas entferntere Bekanntschaft!« lachte er im Kreise Moritz Blanckenburgs, der in der Kammer als Abgeordneter allerlei Nadelstiche an den Minister des Auswärtigen austeilte. »Mein hoher Vorgesetzter hat eine Heidenangst, daß ich ihn verdrängen will.«
»Das wäre ja herrlich.«
»Nicht für mich. Fürst Hohenzollern und Auerswald sind dafür. Aber zwei wollen nicht: die Prinzessin und ich.«
»Doch wenn dir dein Patriotismus gebietet –«
»Der tut es eben nicht. Minister darf man nur werden, wenn es die rechte Zeit ist. Und die jetzige ist das nicht. Ich würde nutzlos Kraft vergeuden und nur der Sache schaden durch verfrühtes, voreiliges Anschlagen von Akkorden, die man heut noch nicht hören will.«
Malle klagte schwesterlich: »Man wird dich mir noch umbringen mit den ewigen Gesellschaften. Du soupierst so oft bei Regents. Sollten dich doch lieber fortlassen, wenn dir bei Kaisers an der Newa das Essen besser schmeckt. Haben sie dich denn gar so gern?«
»Könnt' ich nicht sagen. Die Frau Prinzessin betrachtet mich als störendes Element, der Regent ist gnädig und würdevoll wie immer, aber die Schleinitzer Ohrenbläserei ging nicht ohne Spur vorüber. Viele Tropfen höhlen den Stein.«
»Stehst du dich noch mit Polte Gerlach?«
»Nicht besonders. Aus alter Pietät halt' ich zu ihm. Der kommende Mann ist General Roon, mit dem ich die einstige ziemlich flüchtige Bekanntschaft erneuerte und sehr kultiviere. Neulich aß ich bei ihm. Kreuzzeitungsmann, aber hellsichtig und nur auf das bedacht, was sein Ressort angeht, die Heeresreform.«
»Oskar sagt, du würdest doch Minister werden. Die Augsburger Allgemeine, das Leiborgan der Liberalen, sei sehr nervös und beschuldige dich in jeder Nummer des Bonapartismus. Das sei ein gutes Zeichen, daß sie deine Ministerschaft fürchten, die in der Luft liegt.«
»Da mag sie liegen bleiben! Im übrigen kein schlechtes Kompliment, den Feinden Preußens ein Schrecken zu sein. Augsburger und Kompagnie sind alles verkappte Austriaken. Am Hof hat man meine Gesinnung so gesiebt und gesichtet, daß die Wiener Lügenfabrik sich auf etwas anderes besinnen muß.« –
Erneut zur Tafel befohlen, klagte er ostentativ über das Mailüftle, bei dem der Storch klappert und wir klappern mit. Bei so kaltem Wind müsse er jetzt reisen, während es vorher milde war, wollte er andeuten. Doch der Regent parierte gelassen: »Und bei solchem Wetter wollen Sie nach Petersburg?«
»Dort ist's nicht schlimmer als hier, und der Mensch kann doch nicht ewig im Hotel wohnen.«
Kronprinz Friedrich Wilhelm sprang ihm schelmisch bei: »Abschied nehm' ich nie mehr von Ihnen, viermal tat ich's schon, doch Sie sind immer noch hier.«
Otto warf dem Regenten einen betrübten Blick zu mit der stummen Frage, ob er diesen berechtigten Spott verstehe, doch der hohe Herr machte unwillig kehrt und ließ beide stehen. Der glückliche junge Ehemann wurde dann sogleich durch seine Gattin, die Prinzeß Royal Viktoria, von Bismarcks Seite abgeholt. Die zierliche junge Frau, sehr klug und gebildet, ließ sich zwar nicht die geringste Unhöflichkeit zuschulden kommen, sondern blieb liebenswürdig in der äußeren Form. Doch sie ließ immerhin ihre Voreingenommenheit merken und strafte diesen fremdartigen Bären, der den ererbten Gehorsam gegen England aufkündigte, also den echtdeutschen Charakter verleugnete, mit gelegentlichen kleinen Spitzen.
»Es ist recht grausam, daß man Sie vom Lande Ihrer Sehnsucht fernhält. Ich begreife Ihren Schmerz. In Rußland ist alles so ... so patriarchalisch. In England waren Sie noch nie?«
»Nur vorübergehend, Königliche Hoheit.«
»Ach, dort würde es Ihnen nicht gefallen. Bei uns zu Hause hat man so einen weiten Horizont. Reisen Sie recht bald, und glückliche Reise! Komm, Fritz!« Das hohe Paar ließ ihn stehen. Es verletzte nicht wenig seine patriotische Empfindlichkeit, daß die Britin englische Sitten in ihrem Hofhalt einführte und so oft die Wendung »bei uns in England« brauchte. Jetzt hatte er also zwei mächtige Feindinnen am Hofe in unmittelbarster Nähe des Herrschers. Und er vertrug sich sonst mit klugen Frauen so gut. –
Da er seines Gegners Schleinitz nicht habhaft werden konnte, der sich beharrlich verleugnen ließ, machte er ihn wenigstens auf einem Diner beim Kammerherrn Graf Redern dingfest. »Sie sollten von Amts wegen die gute Perponcher und mich interimistisch verheiraten, sintemal sie ohne Mann und ich ohne Frau hier Trübsal blasen.«
Schleinitz lächelte. »Eine solche Verfügung geht über meine Befugnis, doch will ich Perponcher beurlauben und Croy als Geschäftsträger anstellen.«
»Das hilft aber mir nichts. Ich will lieber von meinem Posten abgehen, als diese Wartezeit länger aushalten.«
»Aber ich bitte Sie! Nur noch einige Tage! Vielleicht sind Änderungen im Wege, eingreifender Art.«
»Angreifender für mich. Mein Gesundheitszustand verbietet mir jede übermäßige Aufregung. Ich möchte bleiben, was ich bin. Freilich, wenn man mich nach Frankfurt schickte, dann nehme ich gerne an. Dort rheinbündlerts, und ich schmeichle mir, ein kleines Donnerwetter dazwischenjagen zu können.«
»Wirklich? Aber Olympia würde olympisch zürnen.«
»Na, die kann ich nicht heiraten, aber mein ganzes Haus in Petersburg steht ihr offen, wenn wir die Plätze tauschen.«
Schleinitz sah ihn prüfend an, Otto las die Frage: Hand aufs Herz, Sie wollen wirklich nicht Minister werden? Aus Genehmigung der Abreise wurde wieder nichts, wohl aber gestaltete sich die fünfte Abschiedsaudienz zu einer solennen Konferenz, an welcher außer dem Regenten die Minister Hohenzollern, Auerswald, Schleinitz teilnahmen.
»Es ist bei mir angeregt worden, Sie näher zum Konseil der Krone heranzuziehen. Wollen Sie daher Ihr Programm deutlich klarmachen!«
»Wie Königliche Hoheit befehlen. Die ganze Schwäche unserer Politik ist die liebevolle Schwäche für Österreich, von Olmütz bis heut. Es wird jede Durchführung unserer deutschen Aufgabe so lange hindern, bis es nicht die Gewißheit hat, wir würden endgültig mit ihm brechen. Fühlung mit Rußland ist unbedingte Notwendigkeit. Gegen Österreich ist man dort immer zu haben. Doch wir haben dort ein so schönes Guthaben – daß wir im Krimkrieg uns von allen Lockungen nicht verführen ließen und dadurch auch Österreich im Schach hielten, vergißt man uns nie –, daß wir selbst mit Österreich gehen könnten, ohne daß uns Rußland den Rücken kehrt.«
»Nun also!« fiel der Regent lebhaft ein. »Das ist eine sehr vernünftige Auffassung, meine Herren.« Doch Otto fuhr trocken fort:
»Leider muß ich bekennen, daß Österreich sich zu sehr über- und uns unterschätzt, als daß je eine Verständigung auf solider Basis erfolgen könnte. Es hält die Festung Olmütz gleichsam für ein Zwing-Uri, beides natürlich symbolisch gemeint, wo es sich für immer häuslich einrichtete und von Preußen permanente Reverenz vor dem Geßlerhut verlangt.« Der Regent rückte unruhig auf seinem Stuhl, jede Erinnerung an Olmütz regte ihn auf. Deshalb bohrte Otto das Eisen tiefer in die Ehrenwunde. »Es vergißt nur, daß es damals Rußlands Schwert mit in der Wagschale hatte und wir bei solcher Ungunst der Lage durchs Kaudinische Joch mußten. Aber seit dem Krimkrieg ist das Umgekehrte der Fall, und doch treibt man das alte Spiel unglaublicher Prätensionen fort. Die Leute glauben offenbar, wir seien die dumme Henne, vor der man einen Kreidestrich zieht, den sie nicht zu überschreiten wagt. Wir müssen diese Illusion zerstreuen, die eine täuschende Phantasmagorie von Österreichs Macht mit Hilfe der Presse und der geheimen Fonds den Deutschen vorzaubert. So bestechend« (mit doppelsinniger bitterer Betonung) »diese Täuschung ist, würde sie dem Schwerthieb Preußens nicht standhalten. Wenn Österreich unsere gerechten Ansprüche ignoriert, können wir, von Rußlands Wohlwollen gedeckt, es auf offenen Bruch ankommen lassen.«
Der Regent wandte sich an Schleinitz: »Ich fordere Sie auf, nun Ihre gegenteilige Auffassung zu entwickeln.« Der Minister hielt einen wohleingeölten Vortrag mit geläufiger Suada. Er sagte unter anderem:
»Ich knüpfe an das Testament unseres hochseligen Königs Friedrich Wilhelm III. an. Dieser erkannte die Gefahren, die uns stets vom Westen drohen, insbesondere für die innere Ruhe, da alle revolutionären Elemente naturgemäß nach Frankreich gravitieren. Deshalb müssen intime Beziehungen zum deutschen Kaiserstaat unverbrüchlich bewahrt bleiben. Der Herr Vorredner nahm auf Rußland Bezug, allein dieser Faktor kommt nicht in Betracht. Die hohe russische Gesellschaft neigt stets zu französischem Wesen, und eine franko-russische Allianz ist keineswegs ausgeschlossen. Unsere ganze öffentliche Meinung aber verpönt jede nähere Verbindung mit dieser halbbarbarischen Macht, deren veraltete Regierungsform weit hinter dem europäischen Bildungsstande zurückblieb.«
Kaum hatte Schleinitz geendet, als der Regent sofort einfiel: »Die Traditionen, die mein hochseliger Vater hinterließ, sollen von mir heilig gehalten werden. Ich entscheide mich für den Gedankengang meines Ministers.«
Otto verneigte sich und schwieg. Offenbar hatte man die Verhandlung nach Verabredung inszeniert, um Hohenzollern und Auerswald scheinbar einen Gefallen zu tun, die von Schleinitz als einer bloßen abhängigen Kreatur weiblicher Herrschsucht abrücken wollten. Otto machte sich wiederholter Gehorsamsverweigerung schuldig, indem er sich durch Sym- und Antipathien der regierenden Dame nicht überreden ließ, seine eigenen danach zu färben und sie dann seinem Herrn als Eigengewächs vorzusetzen. Natürlich wollte die Prinzessin das Beste, und hielt ihre Frauenweisheit für wohltätig. Es wäre ihr aber nie gelungen, den gesunden männlichen Sinn ihres Gemahls zu beeinflussen und seinen klaren Verstand zum Sprachrohr ihrer Launen zu machen, wenn nicht die angeborene deutsche Treue und das hochgespannte großdeutsche Vaterlandsgefühl des ungewöhnlichen Mannes ihn mit sentimentaler Ehrfurcht vor dem stammverwandten Kaiserhaus und mit unüberwindlicher Abneigung gegen den französischen Erbfeind erfüllt hätten, während sein Abscheu vor jeder autokratischen Willkür ihn von Rußland abstieß.
Denn daß er auch ohne Bismarcks Zutun eine stolze Selbständigkeit und kluge Berechnung hervorkehren konnte zeigte seine Zusammenkunft Mitte Juni, wo Otto sich endlich mit Frau und Kind nach Petersburg begeben hatte, in Baden mit Napoleon. Dieser wollte tatsächlich mit Preußen ein ähnliches Manöver vornehmen wie mit Piemont, mit dem er schon zuvor Abtretung Nizzas abmachte; er wollte Preußen gewaltsame Einigung Norddeutschlands vorschlagen mit seiner Hilfe, und dafür das linke Rheinufer abknapsen. Doch der Regent umgab sich mit den vier anderen deutschen Königen und stellte sich als Deutschland, nicht als Preußen, gegenüber. Der Verführer änderte sofort seine Taktik und versicherte mit der Miene gekränkter Unschuld, nichts liege ihm ferner, als ein Stück deutschen Bodens an sich zu reißen. So kühl ablehnend bei aller Höflichkeit, so würdevoll stolz war die Haltung des Fürsten Wilhelm, daß Napoleon noch in der Thronrede des folgenden Jahres seinen Ärger in der allgemeinen Phrase ausdrückte: die Große Nation lasse sich durch Drohungen nicht provozieren.