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Das Strafgesetzbuch operiert mit einem Begriff des sexuellen Schamgefühles, als ob er der einfachste, ausgemachteste und jedermann geläufigste wäre. Er ist es aber zu keiner Zeit gewesen und gehört heute, wo man nirgend sonstwo das Schamgefühl kennt, sucht und annimmt als im Sexuellen, zu den belastetsten und darum verworrensten Komplexen. Man kann gegen Sitten und Bräuche verstoßen, indem man auf Ort und Zeit nicht Rücksicht nimmt. Das tut etwa ein unbeherrschtes Liebespaar, das sich am lichten Tage und vor allen Leuten umarmt. Daß solches aber das Schamgefühl jener Leute verletze, die sich nur des Nachts oder bei sich zu Hause im geschlossenen Raum umarmen, können diese Leute wohl nicht sagen. Sondern nur, daß jenes Paar mit der drastischen Äußerung seiner Gefühle gegen Brauch und Sitte, vielleicht auch gegen den guten Geschmack, den Überbau über Brauch und Sitte, verstoße. Man reinigt sich die Fingernägel, aber nicht vor Leuten. Man geht ziemlich nackt, aber nur am Strand zur Badezeit. Man belacht heute die reichliche Bekleidung, welche die Badenden vor zwanzig Jahren trugen. Man würde, täte solches heute eine Badende, diese lächerlich finden, aber nicht von ihr sagen, daß sie das Schamgefühl verletze. Wie man es vor zwanzig Jahren von einer Frau gesagt hätte, welche, wie heute jede Frau, ihre Beine bis zum Knie öffentlich zeigte, weil es damals die Mode nicht so verlangte. Die Öffentlichkeit, und nur mit ihr hat es ja das Gesetz hier zu tun, wird von wechselnden Sitten und Bräuchen bestimmt. Ihnen als unvariable Größe ein sexuelles Schamgefühl zu unterschieben, ist polizeilich bequem, aber deshalb noch nicht richtig. Der Exhibitionist, der ein achtjähriges Schulmädchen durch den Anblick, den er ihm gewährt, sexuell attakiert und zu seiner Lusterfüllung braucht, von ihm kann nicht gesagt werden, daß er das Schamgefühl jenes Mädchens verletze, das es, gänzlich unschuldig und sexuell unwissend, wie man es doch voraussetzen muß, gar nicht besitzen kann, auch nicht in der vom Gesetz gewissermaßen metaphysisch behaupteten Weise. Schämen kann man sich nur aus einem Wissen heraus. Das Schulmädchen wird erstaunt, verblüfft, gelächert sein, daß ein erwachsener Mann so ungewöhnlich und gegen den Brauch Zeit und Ort sucht, seine Notdurft zu verrichten; denn eine andere Funktion wird das Kind mit diesem Tun des Mannes nicht verbinden können, sexuell unwissend wie es anzunehmen ist. Die Achtzehnjährige wird über diesen von ihr nicht gewünschten und bewußt nicht provozierten Einbruch in ihr privates Leben durch einen fremden Mann entrüstet sein, angewidert, empört über einen durchaus unverlangten sexuellen Kontakt. Sie wird einen Chok empfinden, den sie als unangenehm registriert. Aber wenn sie erklärt, ihr Schamgefühl sei dadurch verletzt worden, so spricht sie in dem Unvermögen, ihre Empfindungen entsprechend auszudrücken, nur ein polizeilich souffliertes Wort nach. Es ist die Vereinfachung eines sehr komplizierten Vorganges durch ein Wort, in dessen weiten Maschen nichts hängen bleibt. Dem Kinde ist das Tun des Exhibitionisten eindeutig und meist komisch. Der Achtzehnjährigen ist es verwirrend und unangenehm. Der aufgeklärten Frau ist es das Erlebnis eines sexuell Erkrankten, das praktisch kennen zu lernen sie keinerlei Bedürfnis hatte, als sie nicht weiter interessierend. Aber daß einem dieser drei Alter das Schamgefühl verletzt worden sei, ist nichts als eine juristische Behauptung, auch dann, wenn es von den Betreffenden nachgesprochen wird. Die auffallend prompte Aussage fast aller Zeugen in Affären des Sittlichen, daß ihr Schamgefühl verletzt worden sei, legt nahe, daß diese Verletzung von den Zeugen nicht so unangenehm empfunden worden sei, wie sie behaupten. Das Wortgehege Schamgefühl, in das sie sich wie in ein undurchdringliches Gebüsch flüchten, ist ihnen sehr willkommenes Versteck. Sie rächen sich, eines verkrüppelten Sinnenlebens Opfer, die sie meist sind, an ihren mißbrauchten Lusterregern, indem sie sie denunzieren. Oder sie genießen erst ihre Lust in dieser Denunziation. Die Zeugenschaft in den Sittlichkeitsprozessen ist eine trübe Gesellschaft, wie jene der Angeber, Spitzel und Spione. Diese »unbefangenen Dritten, deren geschlechtliches Schamgefühl verletzt« wird und von denen der Paragraph spricht, mögen vieles sein, unbefangen sind sie gewiß nicht. Das neue Strafgesetzbuch hat in seinem Entwurfe diesen Paragraphen erweitert. Danach gibt es ein »Geschlechtsgefühl der Jugend« – Personen unter achtzehn Jahren – das durch »Schrift, Abbildung oder andere Darstellung überreizt oder irregeleitet« werden kann. Gemeint mit diesem Gefühl ist wohl das, was man die geschlechtliche Reizbarkeit nennt. Das Geschlechtliche zu reizen oder anzureizen scheint darnach bis zu einer gewissen Grenze gestattet, aber über diese hinaus wird es bestraft. Wo diese Grenze liegt? Nur die Willkür vermag das zu sagen. Sie ist so wenig bestimmbar wie das, was man »normalen Reiz« nennt. Denn auch dann, wenn man, wie wohl das Gesetz, bei dieser ganzen Angelegenheit als das nichts als Sexuell-Normale die Umarmung mit Kinderfolge behauptet, ist, was vor dieser Umarmung und auch oft während ihrer vorgeht, keineswegs so einfach normal und für jedermann gültig, wie der Gesetzgeber gegen besseres Wissen behauptet. Was alles sexuell reizen kann, ist Legion, entsprechend der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der sexuellen Membrane nach Ort, Zeit, Gelegenheit, Alter, Erfahrung, Frische und Abgenütztheit, Neigung und Vorurteil, und dabei immer nur dem Gesetz entsprechend das von ihm behauptete Normale bedacht, also Umarmung mit Kinderfolge. Man kann sagen, es gibt nichts auf der Welt, das sich der sexuell reizbare Mensch nicht in den Dienst eines sexuellen Reizmittels stellt, bis auf eines: das Kind, das er zeugen will. Von diesem durch eine Funktion erwarteten oder nicht erwarteten Kinde geht keinerlei Reiz aus. Diese Reizlosigkeit des Kindes kann bei Frauen, welche diese Folge nicht wünschen oder fürchten, so bedeutend werden, daß davor alle Reizmittel versagen.
Da der Paragraph vom »Irreleiten« des Geschlechtsgefühl spricht, kennt dessen Verfasser den richtigen Weg dieses Geschlechtsgefühles, der für ihn kein anderer ist als jener, der in der Folge Kinder hat. »Wer, der über einundzwanzig ist« – so fährt der Paragraph fort – »einer Person unter sechzehn Jahren eine Schrift, Abbildung oder Darstellung anbietet, überläßt oder vorführt, die geeignet ist, das Geschlechtsgefühl zu überreizen oder irrezuleiten,« – das will sagen: wer einer Geliebten unter sechzehn Jahren ein Mittel zeigt, das das Kinderkriegen verhindert, der leitet irre und wird eingesperrt. Wer ein Mädchen unter sechzehn Jahren heiratet, muß die Tür seines Schlafzimmers bis zum sechzehnten Geburtstage seiner Frau dem Staatsanwalt offen lassen, damit sich dieser zu jeder Stunde überzeugen kann, ob der Gatte auf dem rechten Wege sei und seine Frau nicht irreleite.
Der Staat und die Kirche sind, im Gegensatz zu den meisten Menschen, so sehr für das Kinderkriegen, daß sie jede Ablenkung von diesem einzig erlaubten Ziele der Geschlechtsbeziehung bestrafen. Staat und Kirche statuieren Begriffe wie normal, Schamgefühl, Geschlechtsgefühl, Reiz, Überreiz, um ihrer Interessenpolitik den Anschein zu geben, als wäre sie nicht dieses, sondern das begrifflich eingefangene Leben der Menschen selber. Da die einzelnen, so sagt kirchliche und staatliche Weisheit, nur in seltenen Fällen ein Interesse daran haben, sich fortzupflanzen und entsprechend zu funktionieren, statuiert eben diese um die Menschheit besorgte Weisheit, daß, was nicht diese Folge des Kindes habe, verwerflich und strafbar sei, Sünde und Missetat. Würde sich die Gesetzgebung in dieser Materie von der Theologie befreien, so käme sie mit wenigen Bestimmungen aus: das Kind wäre als funktionell untauglich zu schützen. Und der Erwachsene vor der Erpressung einer geschlechtlichen Leistung, ausgeübt vom Vorgesetzten, Brotgeber usw. unter Drohung des Stellenverlustes. Und wenn man schon etwas gegen den Schund in Schrift und Bild tun will, würde es genügen, den Händlern zu verbieten, etwas anderes als Schulbücher an Schulkinder zu verkaufen, seien das andere patriotische oder pornographische Lektüre, Filmdiven oder Aktbilder. Man kann es bedauern, daß die sexuelle Reizfähigkeit Erwachsener so gering ist, daß sie, damit ein Reiz zustande komme, zu pornographischer Lektüre und Photos greifen müssen. Aber es zu bestrafen ist sinnlos. Der sich davon reizen lassen muß, der begeht weder eine böswillige noch betrügerische noch sonstwen schädigende Handlung. Man kann es bedauern, daß die Reizempfindlichkeit eines Erwachsenen so stark ist, daß er beim Anblick der Venus von Milo ihm unangenehm seine Sexualität gereizt spürt. Aber deshalb die Venus zu verbieten, wäre sinnlos. Doch geschieht so Sinnloses und gänzlich Erfolgloses hier wie dort, weil ein sehr vieldeutiger Paragraph da ist, der seine Praktizierung verlangt. Zopfabschneider, Stecher, Exhibitionisten, Notzüchter, Lustmörder und was es sonst noch an sexuell Erkrankten gibt, die sich ohne besondere Einladung an einem unfreiwilligen Partner betätigen, soll man zu heilen versuchen. Aber einen Strafakt soll man nicht aus ihnen machen, nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus Sauberkeit des Denkens. Leiden diese Individuen an ihrem Fall, könnte man ihnen die Barmherzigkeit der Kastration angedeihen lassen, wenn man weniger drastische Mittel zu ihrer Kur nicht findet. Jedenfalls sollte man die Verwirrung des Denkverhaltens zum Sexuellen vermeiden, die dadurch entsteht, daß man diese Individuen als »verbrecherische Wüstlinge« bestraft. Denn das sind sie nur in der sexuellen Phantasie der anderen.
Die Schamhaftigkeit nehme mit der Schönheit der Frau zu, meinen einige, denen in zweifelhafte ethische Kategorien befangen die Augen verloren gegangen sind. Denn das Gegenteil ist richtig. Wenn außer der Erziehung, dem Geschmack und dem Takt irgend etwas die der Frau bis zu einem gewissen Momente natürliche Schamhaftigkeit vermehren kann, so ist es nicht das Bewußtsein der Schönheit, sondern eines Leibesdefektes. Die Kokotte muß schön sein, und diese Schönheit macht sie schamloser, nicht der Beruf. Wie nun? Kann man, was sich aus einem Vorzuge des Leibes ergibt, verwerflich finden? Es ist die Natur der Schönheit, weniger schamhaft zu sein als die Häßlichkeit. Die Schamlosigkeit der Häßlichen – wenn es das gäbe – entbehrt des zureichenden Grundes und ist deshalb unsittlich.
Die Verwirrung in den Meinungen über diese Sache hängt mit dem Irrtum zusammen, in der geschlechtlichen Scham die originäre Scham zu sehen, wo gerade das geschlechtliche Schamgefühl abgeleitet ist: eine utilitarisch bedingte Konvention, die ihren Utilitarismus verschleiern möchte und dafür wegen der zufälligen Ähnlichkeit der Gesten sich der Scham bedient. Diese Scham ist aber eine rein geistige Tugend und nur in geistigen Dingen wird sie manifest. Die häßliche Frau hat die Tendenz, das Sinnliche zu »vergeistigen« – aus begreiflichen Gründen – und zu dieser seltsam bedingten Vergeistigung gehört das Schamgefühl als gute Helferin, wenigstens in der Meinung der so »Schamhaften« –: sie deckt mit der Scham zu, was sie nicht hat, und will mit der Geste beeindrucken als habe sie doch. Man muß noch sagen, daß durch diese fälschende Verlegung des Schamgefühls ins Geschlechtliche diese Zeit sich die Freiheit der Schamlosigkeit dort gibt, wo sonst allein das Schamgefühl herrschte.
Herr von Schennis war unfreiwilliger Zuschauer einer etwas freien Szene gewesen und wagte es nicht, die Geschichte der Gräfin Baalen zu erzählen, hatte aber nicht die gleichen Skrupel gegenüber der Kokotte Süsülü. »Schennis,« sagte die Gräfin, »Sie glauben nicht, daß ich die Geschichte anhören kann? Ich bin sicher, gegenüber Süsülü sind Sie anders. Sie respektieren mich, aber sie lieben mich nicht.« – »Schennis,« sagte Süsülü, »Sie schämen sich nicht, mir diese Geschichte zu erzählen? Würden Sie sich das bei der Gräfin Baalen getrauen? Sie respektieren mich eben nicht, Sie können mich nur lieben.«
Herr von Schennis hatte eine Geliebte. Sie war schön und intelligent und wurde beides immer mehr. Aber Schennis war verzweifelt, denn, so sagte er, ihre Klugheit ruiniert ihre Schönheit. Ich kann den Mund der Venus nicht küssen, wenn mich dabei immer die Augen der Pallas Athene anschauen. Und Herr von Schennis gab diese Geliebte auf und nahm eine andere. Die war schön und dumm. Sie wurde beides immer mehr, und Herr von Schennis war verzweifelt. Ihre Dummheit nahm ihrer Schönheit allen Zauber. Sie las, besuchte Museen, redete mit gebildeten Leuten und wurd so gescheut wie die erste, aber ohne deren Leichtigkeit machte das ihre Dummheit immer größer. Man merkte sie ihr schon an, wenn sie kein Wort sprach. Herr von Schennis gab sie auf und lernte eine Frau kennen, deren Klugheit sich in nichts als der Grazie äußerte, mit der sie schwieg. Sie war schön wie ein anmutige Katze und süß wie ein Traum am Morgen. Für Schennis hatte sie nur den Fehler: sie gab sich nicht die geringste Mühe, ihn zu lieben.
Jenes Abenteuer der Frau des Potiphar könnte den Frauen fatal sein. Aber immer damit beschäftigt, ihre Positionen zu verteidigen und zu festigen, die in der Liebe die öffentliche Meinung kreieren, haben sie es auch bei diesem Abenteuer verstanden, das Licht abzubiegen, das für sie ein schlimmes Licht bedeutet hätte. Man erinnere sich: eine Frau läßt jede Maske fallen, gibt alle Zurückhaltung auf, bietet sich einem jungen Manne an – und wird zurückgewiesen. Der junge Mann will nicht. Es gelang den Frauen, sich aus diesem schweren Fall glücklich herauszuziehen. Sie warfen einfach alles Licht auf den Joseph und ließen die Frau im Schatten. Man sieht sie nicht, weiß kaum wie sie heißt, nur so die Frau des Potiphar. Man sieht nichts als den Mann. Und dieser Mann ist unheilbar lächerlich. Seine Haltung ist absurd gemacht. Zitiert man ihn, so um sich über ihn lustig zu machen. Niemand wagt es, ihn zu verteidigen. Er ist der durchaus und immer lächerliche »keusche Joseph«, dank dem Genie der Frauen, welche die Meinung geschaffen haben, daß der Mann der Frau nicht widerstehen darf, wenn er nicht lächerlich werden will. Die Attacke wird ihm als Pflicht auferlegt, ja als ein Gebot simpler Höflichkeit.
»Der Mensch ist böse – so sprachen mir zum Troste alle Weisesten. Ach, wenn es heute nur noch wahr ist: Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft.« Nietzsche wußte wohl nicht, daß er mit diesem Satze der Widerschall einer Stimme war, die hundert Jahre früher gerufen hatte: »Die Grausamkeit ist nichts anderes als die menschliche Energie, an der die Zivilisation noch nichts zu verderben vermochte. Und so ist sie eine Tugend und nicht ein Laster.« Dies steht in des Marquis de Sade Philosophie dans le Boudoir, einem Buch, das den Situationswitz des jüngeren Crébillon nicht glücklich nachahmt und nicht besser ist als Sades andere Kolportageromane, über deren erste Seite man nicht hinauskommt. Hier und da ein umgekehrter Gemeinplatz, was die Pedanten bei Wedekind und Shaw ein Paradox nennen.
Eine Dame, deren Schönheit keine Runzeln bekam, wenn sie ernster von den Dingen des Lebens sprach, sagte einmal: »Vielleicht ist die Liebe nichts anderes als das Raffinement des Hasses.« Ein labyrinthischer Palast mit tausend Zimmern, verschlungenen Gärten und offenen Terrassen, heimlichen Gängen und sichtbaren Promenaden, mit fensterlosen Räumen wie Verliese und andere mit heiterem Licht aus einer frohmütigen Gegend, Rosendüften und Blutgeruch, Mondschein und Landschaft ohne Himmel, Feste der Worte und stummes Kämpfen, Zärtlichkeiten leisester Berührung und Schmähung mit brutalen Gesten – aber: nicht dieses oder das, sondern dieses und das, eines das andere ablösend, verdrängend, sich ineinanderschiebend, stützend, steigernd, Mittel und Zweck zugleich – nach dem Willen des Daimon, der immer unsichtbar zwischen den Menschen steht, die im Gefängnis ihrer Liebe sind. In welcher Gegend der Liebe wir uns gerade aufhalten, aus scheinbar freier Wahl, aber doch weil wir müssen, das mag vielleicht unser jeweiliges: »Die Liebe ist ...« bestimmen, als Wort für unsere Lust oder unseren Zorn, unsre Ohnmacht oder unsere Sehnsucht – je nachdem der Augenblick uns trifft und der Eindruck der Gegend mächtig genug ist, eine Gegenbewegung in uns auszulösen.
Aus dem Hause der Liebe kommt eine düstere Musik. Man tötet sich in diesem Hause, ohne sich zu berühren, ja ohne Wort. Man tötet sich durch die bloße Gegenwart.
Die Grausamkeit, die ein großes Herz bricht, ist die Neugierde des Kindes: sehen, was darin ist. Die Grausamkeit, die auf ein großes Herz lastet, ist die Neugierde: wieviel es aushält. Die Frau quält den Bittenden: Vergiß es – und ihr Vergessen ist Grausamkeit. Sie quält den Bittenden: Verzeih – und ihre Verzeihung ist eine Waffe. Des Mannes Grausamkeit aber ist die Geduld: sie tötet langsam mit kleinen Dolchstichen. Einer erzählte mir diese wahre Geschichte. Ein junger Sizilianer in einer kleinen deutschen Stadt liebte eine Frau. Aber sie widersteht allen seinen Bemühungen und bleibt ihrem Manne treu. Der Sizilianer macht sein Testament und erschießt sich. Das Testament setzt die treue Frau zur Erbin des ganzen sehr großen Vermögens ein. Dem Gatten wie der Stadt ist es damit bewiesen, daß die Frau die Geliebte jenes Italieners war. Armut und Schulden zwingen den Mann die Erbschaft anzunehmen. Drei Jahre nach diesem Tag hat der Gatte seine Frau und sich umgebracht. Die Tat des Italieners war gemeine Rache, die eine Hölle in die Ehe einer treuen Frau setzte. Welches tragische Theater der Grausamkeit müssen diese drei Jahre gewesen sein!
In einer Männergesellschaft bei Herrn Claude Anet kam das Gespräch auf einen Kriminalfall, von dem die Zeitungen voll waren. Eine Frau war verhaftet worden, die sich und ihre Gäste mit sadistischen Akten an unmündigen Kindern vergnügte. Dr. Fridell meinte, für die Dame und ihre Kinder sei gutzuschreiben, daß die letzteren von der ersteren Schläge und dann Bonbons bekommen hätten, während die lieben Kleinen in der Schule zwar auch Schläge, aber keine Bonbons bekämen.
Aber es waren in der Gesellschaft einige eigensinnigere Herren, die den Fall nicht so auf das leichte Nebengleise des Spaßes abgeschoben sehen wollten und sich seiner mit ganzem Ernst annahmen, wie das eben systemliebende Leute gern tun. Nietzsches so populärer Rat für Besuch bei Damen wurde ja nicht zitiert, denn es waren nur gebildete Herren da, aber ein älterer Philologe erinnerte an eine wie er sagte gewichtige Schrift des humanistischen Arztes und Drüsenentdeckers Meibom: »De utilitate flagellationis in rebus amoris« Über die Nützlichkeit der Prügel in Liebesdingen. Und ein weitgereister ethnographisch sehr orientierter Herr zitierte Geschichten aller Völker zum Beweise, daß die Frau die Prügel, die sie von ihrem Manne bekommt, durchaus als einen schlagkräftigen Beweis seiner Liebe ansehe. Es gäbe auch weit bei uns im Volke noch den oft gehörten Klageschrei der Frau aus dem Volke: »Mein Mann liebt mich nicht mehr, er haut mich nicht mehr.« Ein Kenner nannte das altenglische Theaterstück »The woman killed with kindness« von Heywood, worin der allzugütige Gatte den Ehebruch der Frau mit deren Verbannung auf einen einsamen Landsitz bestraft und mit nichts sonst, ohne böse Worte oder so. Und mit dieser Güte tötete er die Frau. Sie starb einfach daran nach zwei Jahren. Hätte er getobt und ihr ein paar Ohrfeigen gegeben, wäre sie heut noch am Leben. Ein Arzt nahm die Erwähnung jener Schrift des Meibom auf und meinte, daß es das zuweilen träge Blut nötig habe, durch Massage, und etwas anderes seien ja Schläge nicht, in einige Bewegung gesetzt zu werden. Für phlegmatische Frauen könne man ganz gut solche allerdings etwas undisziplinierte und drastische Massage ordinieren.
Kurz, es bemühte sich jeder der anwesenden Herren, zunächst verschanzt hinter seine nicht persönlichen, sondern wissenschaftlichen Erfahrungen, etwas zu der Tatsache beizubringen, daß der Perversion des Sadismus so etwas wie ein ganz normales Bedürfnis, seine Geliebte zu schlagen, entsprechen müsse. Der normale Mann schlage nur die Frau, die er liebt, und tut es aus Liebe. Der anormale Sadist hat keinerlei Liebesbeziehung zu seinem ihm fremden Opfer und dieses keine zu ihm: er schlägt aus bloßer Lust. Die Liebe schlösse nun als das Größere die Lust ein, während die Lust als das Kleinere die Liebe nicht einschließen könne.
Nachdem man sich in wissenschaftlichen Argumenten erschöpft hatte, wurde das Gespräch über den Gegenstand etwas ergiebiger. Es sagte nämlich jemand, daß die Frauen ganz heimlich wünschten, geschlagen zu werden. »Sie geben es nicht zu, nicht einmal sich selber, und wissen es vielleicht gar nicht.«
Der Arzt sagte, es könne das ein Atavismus sein, Erinnerung tief eingegraben an die Ohrfeigen, die Eva vom Adam vor den zugefallenen Toren des Paradieses bekam. »Nicht mit Unrecht«, sagte der Dr. Fridell, mit einer Kulturgeschichte beschäftigt, die von jenem schlimmen Apfel ihren Anfang nahm. Der Arzt, den es viel in mondänen Zirkeln herumbrachte, sagte: »Es ist nicht ganz ausgeschlossen, daß jene Frauen, die ihrem Manne eine sogenannte Szene machen, von ihm Prügel wollen. So eine Frau ist enerviert, weiß nicht Ursache noch Heilmittel ihrer Krankheit, aber die wunderbare und blinde Sicherheit ihres Instinktes zeigt ihr den richtigen Weg: sie findet schnell einen Vorwand und spickt ihn mit Stacheln. Der meist dumme Mann strengt sich sehr zur Ruhe und Beruhigung an, denn er will zeigen, daß er als Mann ein besonnenes Wesen und Herr seiner selbst ist. Und je gescheuter er redet, um so wilder wird die Frau, denn sie will den Mann außer sich bringen. Der aber macht Fäuste in den Taschen und entzieht seiner Frau so vielleicht die einzige Medizin, die sie braucht: Prügel. Ich glaube, das gibt es häufiger als man meint.« So sprach der mondäne Arzt.
Darauf bemerkte ein Ethiker, der sich als Pazifist hervorgetan hatte: »Daraus wäre der Schluß zu ziehen, daß der Mann die Frau nicht zu seinem eigenen Vergnügen schlagen dürfe, sondern zu ihrem Wohlbefinden. Aber die Perversion des Sadismus ließe sich daraus nicht ableiten, denn von einem Wohlbefinden des Geprügelten zu sprechen, wäre im Fall eines zu diesem Zwecke gekauften Individuums wohl übertrieben.«
Natürlich wurde dieser Bemerkung widersprochen mit dem Hinweis, daß hiermit die Käuflichkeit nichts zu tun hätte. Sondern die im Sadismus isolierte, lieblose Lust könne Lust beider Teile, des schlagenden wie geschlagenen, sein und sei es meist. Man könne vermuten, daß eine vom Geliebten nicht wie sie wünscht geschlagene Frau diese Medizin sich eben von einem anderen Geliebten reichen lasse, wie eine von ihrem Mann vernachlässigte Frau ja auch nur selten ins Nonnenhafte resigniere.
Ein junger Mann, vor kurzem erst verheiratet, machte die Bemerkung, daß die Frau es doch als eine Erniedrigung ansehen müsse, von ihrem Manne geschlagen zu werden. Es habe doch etwas Beschämendes. Und diese Bemerkung führte zu dem zweiten Axiom, das man aufstellen müsse, nachdem das erste sei, daß man nur aus Liebe und zum Glück der Frau diese schlagen dürfe. Und dieses zweite Axiom formulierte man so: der Mann, der seine Frau aus Liebe schlägt, muß stärker sein als diese Frau. Von einem schwächeren Manne geschlagen werden, muß sie und wird sie als Erniedrigung empfinden.
Man war, wie man sieht, dabei, dieses heikle immer mißverstandene Thema gründlich aufzuarbeiten und in seinen Grundelementen festzulegen, wodurch sich alle Abgrenzungen ergaben sowohl gegen die gemeine Brutalität des Rohlings hin als auch gegen den Perversen hin. Der Boden war zu Konfidenzen bereitet. Und einer der Herren erzählte, wie er einmal eine sich und ihn mit grundloser Eifersucht quälende Geliebte alle Beherrschung verlierend so heftig am Arm gepackt habe, daß sie aufschrie und in Weinen ausbrach, und wie ihn beim Anblick dieser Tränen ein unsagbares Gefühl des Glückes überkam, der Erleichterung, Erlösung. Er habe nicht um Verzeihung gebeten, so wohl habe er sich gefühlt. Und die Frau? Sie hat Tränen des Glücks vergossen. »Warum haben Sie sie, wie Sie sagten, nach drei Monaten verlassen?« fragte man. Und der Herr weigerte nicht die Antwort: »Weil ich sie nicht mehr genug liebte, um sie zu schlagen. Aber ich bin ihr dankbar,« sagte Herr Claude Anet.
Man kam zu einem dritten Axiom, das lautete: Man darf nicht aus Wut schlagen, sondern muß es mit Verstand tun. Es darf kein Akt bloßer Roheit sein.
Damit war der bedeutende Gegenstand und die ihn behandelten erschöpft.
Der Flirt der ganz jungen Mädchen ist ohne Arg, ein Spiel, lieblich tierhaft. Man möchte ihn nicht entbehren; denn er bereichert die Bewegungen, mehrt die Kenntnis um das Vermögen Geistes und Leibes, probt die Macht, belebt das Gespräch, regt die Phantasie an. Er ist das alles auch bei der Frau und etwas anderes noch. Die Frau kennt den Trugschluß, den der Mann macht, da er aus solcher äußerlich sichtbaren Wissenschaft auf die Kenntnis aller Geheimnisse schließt: Wie muß diese Frau erst in der Leidenschaft sein! (Viel könnend, viel wissend, liebend selten.) Alle Menschen wollen den besten Eindruck machen, wenigstens legen nur wenige Menschen Wert darauf, einen schlechten zu machen. Erst recht so der Mann zur Frau hin, die Frau zum Manne hin. Heute sagt man als das höchste Lob: Diese Frau hat Temperament. Bemühung daher aller Frauen, nicht, Temperament zu haben, denn das kann man sich nicht anschaffen, aber Temperament zu täuschen. Temperament heißt hier: größte Fähigkeit zu stärkster Liebe. Die Täuschung: das ist der Flirt und keine leichte Sache für eine Frau von dreißig Jahren. Denn übt sie ihn ungeschickt, so wird alles fürchterlich offenbar, was nicht da ist, und mehr noch: der ungeschickte Flirt kann eine Frau auch vor dem Manne das wenige verlieren lassen, das sie wirklich besitzt. Wie eine Frau von vierzig Jahren, die sich das Haar rot färbt, dadurch eine fünfzigjährige Greisin wird. Wer auf das gefahrvolle Gebiet nicht sich zu begeben getraut, wendet lieber die letzte Koketterie an: deutlich nicht kokett zu sein. Das kann nur ein Vergnügen bringen, aber nie lächerlich machen und oft die unerhörtesten Wirkungen erzielen. Wenn die Sphinx um ihre Rätselfragen herum viel geplappert und getan hätte, die Rätselrater wären bald ausgeblieben.
Die Temperamentsfrage macht vielen Kummer. Unlängst eine kleine Dame vom Theater: »Man sagt ich habe kein Temperament, aber ich kann doch nicht die Beine auf den Tisch legen!« und die Tafel herum: »Ich kann doch nicht die Beine ...« – und keiner tat der Armen den Gefallen, zu sagen: »Sie können, Verehrteste.«
Der ganz intellektualistische Simmel fiel in seiner falschen Definition der weiblichen Koketterie auf einen Sprachgebrauch herein, der eine Kokette eine kalte Frau nennt, die so tut, als ob, und gar nicht daran denkt, mehr zu tun, als ob. Es ist das wie mit dem Wort Charakter, das gemeiniglich nur für einen bestimmten Charakter, nämlich den starken, energischen, braven Mann gebraucht wird, während der Dieb, der Hochstapler so was wie Charakter nicht besitzt. Die Koketterie, das Spiel des Anziehens und Entschlüpfens, des sich Gebens und Entziehens, Hoffnungerweckens und -zerstörens – schon alle Tiere üben es als das biologisch wahrscheinlich nötige Vorspiel, im bekokettierten Männchen das Maximum an Spannung zu erzeugen, um auch ein Maximum der Entladung zu genießen. Aus Flau plus Flau wird nichts.
Es wird wenig auf der Welt geben, das nicht in den Dienst der Koketterie gestellt wird, wenige Situationen, wo sie nicht angebracht werden könnte, wenige Gegenstände, die ihr nicht als Mittel dienen. Sogar das Buch. Natürlich nicht das Wirtschaftsbuch, das Schulbuch, der heimlich gelesene Schundroman, der von aller Welt gerade gelesene Moderoman. Jede Koketterie bemüht sich ja um eine sozusagen persönliche Note. Womit alle Frauen der Welt kokettieren, das sinkt ja alsbald ins Wirkungslose, weil es nicht weiter auszeichnet. Es wird komisch und als komisch nur mehr auf der Bühne geübt, wie ein gewisses Zwinkern mit den Augen oder derlei. Daß es dem Belachtwerden preisgegeben wird, zeigt an, daß es im Leben abstirbt, weil es wirkungslos wurde. Also nicht das gang und gäbe Buch, sondern das überraschende, individuell vorstellende wird ein Mittel der Koketterie bei Frauen sein, die es aus ihrer etwas geistigen Art heraus brauchen und anzuwenden verstehen. Ich erinnere mich, es war vor Jahren in der Halle des Hotels »Vier Jahreszeiten« in München. Eine auffallend große, elegante Dame legte das Buch, in dem sie las, auf den Tisch, erhob sich und verließ die Halle. Nicht ohne aufzufallen. Nicht ohne näher Sitzende neugierig zu machen, was für ein Buch diese Dame las. Man konnte, es lag auf dem Bauche mit den Deckeln nach oben, in schwarzer Schrift auf gelbem Leinen lesen, wenn man langsam an dem Tischchen vorbeiging, es waren »die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbestimmung«. Ein sehr gelehrtes, etwas schwieriges Buch. Ich bin überzeugt, die schöne Frau verstand keinen Satz daraus. Und ich hatte recht, wie ich eine Stunde später konstatieren konnte. Das Buch war Koketterie. Es gab eine Zeit, wo solchem Zwecke des koketten Buches der »Dorian Gray« von Wilde diente. Die Zeit dauerte nicht lange, denn es trat zu massenhaft auf, daß junge Mädchen sich mit diesem Buche kokettisch insinuierten, und es rutschte ins Komische. Da wurde es sofort aufgegeben. Zur Zeit unserer Großmütter kokettierte das junge Mädchen bücherisch mit »Was sich der Wald erzählt« oder solchen Elaboraten deutscher Innigkeit und frauenhaften Gemütes. Auch das kam außer Mode wie eben dieses innige Mädchen, wie das dämonische um einige Jahrzehnte später. Einen sonderbaren Fall des kokettierenden Buches erlebte ich als Student auf der vierten Galerie der Wiener Hofoper. Das war die Zeit um 1890 und man war so zwischen sechzehn und zwanzig alt und versäumte keine Wagner-Oper, nicht aus Deutschtümelei – nur die Grazer bezogen ihr Deutschtum aus dem Wallhall Wagners, nicht die Wiener –, sondern weil das Schweifende, Unartikulierte, ewig Brauende dieser sinnlichen Tonwelt ähnlichem Zustand des jungen Menschen stärker entspricht als die sinnliche, eindeutige Helle Mozarts. Und wie man selber, so war auch immer bei allen Vorstellungen ein junges Mädchen um vier Uhr dort zu treffen, wo man sich für die Galerie anstellte, und dieses Mädchen las, ob man nun den Lohengrin gab oder die Walküre, immer nur das Textbuch des Tristan. Und sie las es mit während der Vorstellung, las »Sink hernieder, Nacht der Liebe!«, während sie auf der Bühne sangen »Winterstürme wichen dem Wonnemond«. Es war übrigens ein charmantes Geschöpf und las den Tristan-Text nur zu Wagnerschen Musiken, sonst nicht.
Es gibt Verleger, die in dem Wahn befangen sind, Bücher mit einem Inhalt, der Frauen gefallen dürfte, wie sie glauben, »kokettisch« ausstatten zu müssen. Sie meinen, die Frauen würden sowas mit Vorliebe mit sich herumtragen. Das ist ein grober Irrtum. Ein richtiger Männerirrtum. Frauen wollen sich das, womit sie kokettieren, nicht von Männern fix und fertig herrichten lassen. Sie wollen da selber darauf kommen, jede nach ihrer Art und Fähigkeit. Denn die Koketterie ist ja der Versuch einer individuellen Vorstellung, da eine generelle ja nicht nötig ist und schon durch die Tatsache, die sichtbare, gegeben, daß es eben eine Frau ist. Eine bestimmte Frau will sich in der Koketterie vorstellen, so wie sie ist, so wie sie zu sein glaubt, so wie sie scheinen zu müssen glaubt einem bestimmten Mannsbild gegenüber, von dem sie sich ein Vergnügen erwartet.
Weil Charlotte das Lächeln wundervoll stand, fand man sie schön. Sie log aus vollem Herzen und lächelnd, mit dem unschuldigen Blau ihrer Augen. Für die Geschichten, die sie erfand, ging ihr nie der Vorwand aus. Lügen waren es eigentlich nicht. Sondern nur die Worte ihres Verlangens, ihrer Wünsche, die sie sagte. Läßt man sie tun, was sie will, ist sie gutmütig. Aber sie verliert nie den Kopf, denn sie ist bei aller Sinnlichkeit kühl. Sie ist eine Nehmerin, versteht es aber glauben zu machen, daß sie sich gibt. Sie hat vortreffliche weißgelbliche zubeißende Zähne, und Hände, deren angeborene Röte sie nicht ganz zum Verschwinden bringen kann. Ihre Lippen können den Stift entbehren, so stark ist ihr natürliches Rot. Kind von Eltern, die es im Lauf ihres Lebens zu Vermögen brachten, hat sie früh von Geld gehört und wie es nötig sei, immer mehr Geld zu haben. In ihrem Denken ist das ein Zweck des Lebens geworden, über den nicht zu reflektieren ist. Mit sechzehn Jahren nahm Charlotte sich den ersten Liebhaber aus einer Reihe von jungen Leuten, die ihr den Hof machten. Daß es gerade dieser war, bestimmte nur ein Zufall. So gibt sie ihn auch nach drei Wochen auf, für einen andern. Und diesen nach zwei Tagen. Dann vergnügt es sie, eine Woche durch vier Männer gleichzeitig zu haben, einen mit dem andern betrügend. Ihre Macht in diesem Spiel kennen zu lernen und zu erproben, das ist ihre ganze Moral. Und nie verstößt sie dagegen. Mit neunzehn Jahren heiratet sie einen dreimal älteren Mann aus der Provinz. Sie weiß, daß sie sich damit zum ersten Male verkauft. Aber sie wägt ihre Leistung gegen die des reichen Mannes und findet sie reichlich bezahlt. Die Aussicht auf das geschickte Belügen dieses Mannes unter den erschwerenden Umständen eines ehelichen Lebens, bringt das schönste Lächeln auf ihr Gesicht und in Situationen, die sie ohne diese Perspektive als widerlich empfände. Sie rechnet ihre Zahlen zusammen und findet, daß ihr Tageseinkommen aus Mitgift und Vermögen des Mannes nur die Hälfte dessen beträgt, was sie braucht, um leben zu können nach den Vorstellungen, die sie vom Leben, als auf Lügen gegründet, nur haben kann. Sie hat ihre sicherste Lüge in ihrem Lächeln. Sie muß bezaubern, um nicht vor Langweile zu sterben. So liebt sie ihren Leib. Küßt vor dem Spiegel ihre Arme, streichelt ihre Brüste. Schnüffelt ihren Geruch. Sie liest nie ein Buch, das denkende Teilnahme beansprucht. Sie unterscheidet sich in nichts von einer gewöhnlichen Frau, aber diese ist sie bis in die Fingerspitzen. Charlotte versagt sich nichts, denn sie will frei sein, was ihr soviel wie ohne Sitten bedeutet. Sie braucht sich nur hinzugeben, um alles was sie will zu bekommen, alles was sich gibt. Reizend zu ihren Liebhabern, kann sie es sich erlauben, nach einem Jahr Ehe ihrem Manne ihre Verachtung offen zu zeigen. »Du hättest meine Mama heiraten sollen«, sagte sie ihm, der lieber stürbe, als sie verlassen. Er ist sechzig, sie zwanzig. Es ist ihr im Witz versteckter Haß, daß sie ihn ihr schmutziges Waschwasser trinken läßt. Es ist die einzige Nähe, die sie ihm zu den Intimitäten ihres Leibes gestattet. Sie bestiehlt ihn. Manchmal kommt ihr der Einfall, daß sie ihn auch umbringen könnte. Was wäre dabei? denkt sie. Sie gibt sich ganz diesem Gedanken hin, und es schüttelt sie Fieber und inneres Lachen.
Wenn unser Stolz, unser Männerstolz, denn nur einen solchen gibt es, eine Demütigung erfahren und Strafe gesetzt sein soll auf die große Freude der Freiheit, den Übermut der Freiheit, dann ist Demütigung und Strafe die Leidenschaft der Sinne: sie ist der Eingang zur Hölle. Man zahlt ihn mit dem Blute der Seele. Nicht die Wollüstigen kennen die Leidenschaft. Die begehen ein Sakrileg gegen Gott, dem sie zu dienen glauben. Die Reinen wissen in dem, was sie nicht wissen, mehr als die Wollüstigen in ihrer Praxis. Die Leidenschaft der Liebe ist Genialität ohne Werk. Die Wollüstigen suchen eine Lust. Aber die Leidenschaftlichen wissen den Tod hinter allem. Ihnen wird das Fleisch Herz. Nichts ermüdet sie: nicht Ekel noch Gewohnheit, nicht Schande noch Langeweile. Ihr Jahr kennt immer nur einen fiebrischen Frühling. Man muß seiner brennenden Pracht immer in die Augen sehen können. Die Leidenschaft der Frau leidet nur vom Mangel; ihre weite Sehnsucht irritiert das kurze Genügen. Das Leid des Mannes ist stärker; denn er kann, so sehr er sich auch müht, nie genug Tier werden in diesem Paradiese, das die Hölle ist. Die Frau leidet, wenn sie allein ist. Der Mann leidet, wenn er nicht allein sein kann. Und er muß doch aus seiner Einsamkeit dem Ruf folgen, dem gehobenen Arm, dem Lächeln. Er muß sein eigenes Leben von sich speien. Er muß hingehen mit der schrecklichen Sicherheit seines Verlustes, um im Verluste sein einziges Glück zu finden. Der Henker Leidenschaft hat vier Helfer, die den Widerstrebenden in den dunklen Hof hinunterschleppen: der Gedanke, die Verzweiflung, das Verlangen, die Furcht. Warum ist dir kalt? Stehst du nicht im Feuerofen der Leidenschaft, in der Glühhitze deines Wunsches? Und du weinst vor Kälte. Glaub nicht, daß die Leidenschaft dein Böses ist, und du wirst ohne Schuld sein ... Die Leidenschaft hat das mit dem Religiösen gemein, daß sie an eine Sünde gegen sich glaubt. Das Leiden ist die Reinigung. In den zeitlosen Augenblicken des Vergehens schließt die Frau die Augen, um nicht gesehen zu werden, als ob sie sich wehren wollte gegen das Zuviel ihrer Hingabe. Der Mann schließt die Augen unter gekrampften Brauen vor allem: Er ist bereit für Nacht und Tod, versinkt ... Wie scheu gehen dann die Worte zwischen den beiden am Tage, finden sich nicht, berühren sich nicht, haben einen fremden Sinn, sagen vielleicht: wir sind verliebt, wissen: wir sind verdammt.
Wenn er nicht dabei ist, erzählt man von Menalk, daß er seine Frau mit vier Liebhabern auf einmal überrascht hat. Die vier Liebhaber stimmen, aber die Überraschung betraf nur die Zahl: Menalk hatte fünf erwartet. Als er von seinem verborgnen Ort aus – um den seine Frau übrigens wußte – die vier sah, sagte er: »Zwei ... drei, vier Geliebte. Viermal ist sie Frau! Nun muß ich vier Existenzen in mir entfalten, um sie bis zur Sättigung zu lieben.« Das ist eine sehr einfache Rechnung. Vier Frauen verlangen vier Männer, vier Frauen in einer verlangen vier Männer in einem. Daran ist nichts Erstaunliches.
Es gibt banale Gründe für die männliche Eifersucht. Die Angst vor dem Verglichenwerden z. B., welche Angst manchen so sehr auf dem Jungfrautum seiner Frau bestehen läßt. Was aber auch bei andern noch andere Gründe hat. Kennt die Frau nur einen Mann, so kennt sie keinen, und sie muß sich mit dem guten Glauben trösten, der gerne zu dem schlimmen Aberglauben entartet: alle Männer, sind gleich. Die meisten Eifersüchtigen haben Grund, diesen Aberglauben ihrer Frau sehr bequem zu finden. Ein weniger banaler Grund der Eifersucht beim Manne ist der Geschmack. Es gibt Frauen, die durch Untreue zur Karikatur werden, da ihnen nur die Treue steht. Der Mann verträgt die Geschmacklosigkeit seiner Frau nicht: das ist seine Eifersucht. Auch Phantasielosigkeit des Mannes ist ein Grund der Eifersucht: er kann sich nichts vorstellen und wütet deshalb. Das Gegenteil solcher Phantasielosigkeit besaß Menalk in hohem Maße. Daß er, als seine Frau bei sieben anlangte, sich nicht mehr mit sieben in die Gleichung setzen konnte und seine Frau verließ, war nur persönliche Talentlosigkeit, kein Fehler in der Rechnung.
Daß die Eifersucht ein Reizmittel sein kann, zeigt die Geschichte des älteren Gatten einer jungen Frau. Er lud sich auf sein Landgut einen jüngeren Freund, der sich in die Frau verliebte und sie noch etwas vag in ihn. Bei der ersten, noch ganz harmlosen Aussprache – er hielt nur ihre beiden Hände – überraschte die beiden der Gatte. Der Freund verließ das Haus auf der Stelle und erwartete von seinem Freunde die Forderung. Es kam aber ein Brief des Gatten, worin etwa stand: »Da auch dieses Mittel, die Eifersucht, nicht den erhofften Erfolg gehabt hätte, so bliebe eben nichts anderes übrig.« Der Mann hat erst seine sehr geliebte Frau und dann sich, den die Frau nicht weniger liebte, erschossen.
Anders war Tityr. Nach langem Kranksein nahm er, dem Tode nahe, von seiner Frau Abschied, um, wie er sagte, seine Gesundheit auf einer längeren Reise zu suchen. Allmonatlich bekam die Frau einen Brief ihres Mannes von außer Land, von über der See, aus dem Süden und aus dem Norden. Jeden Monat einen ganz kurzen hübschen Brief durch elfundeinhalb Jahre durch – den letzten genau an ihrem fünfundvierzigsten Geburtstag: »Ich schreibe dies in meiner Todesstunde, die mich ereilt, nicht unerwartet, acht Tage nach unserer Trennung, während welcher acht Tage ich hundertsiebenunddreißig Briefe an dich verfertigte und denen zugehen ließ, die sie dir allmonatlich schicken sollen. Dieses ist Nummer hundertachtunddreißig und leider der letzte. Aber du wirst, wenn du ihn bekommst, genau fünfundvierzig Jahre alt sein, und Peregrin, mit dem du mich betrogst, wird dich nun nicht mehr heiraten, wie er es sicher getan hätte nach deinem Witwenjahr vor elfundeinhalb Jahren. Ich sterbe sehr ruhig in dem Gedanken, dich daran verhindert zu haben, daß du deine Untreue durch eine Heirat legitimiertest.« Dieser boshafte Eigensinn eines Sterbenden brachte es wirklich zustande, daß die arme Frau ihren Mann zu betrügen meinte, da er schon über elf Jahre tot war. Und also doch nicht tot. Da zwei Wochen bevor Nummer hundertachtunddreißig ankam, auch der Liebhaber gestorben war, befand sich die Dame in höchst zwiespältigen Trauerverhältnissen. Mehr als alle andern Tragödien haben die der Eifersucht eine immanente Komik.
Als Lord Abercon erfuhr, daß ihm soeben seine Frau mit einem Geliebten durchgegangen sei, schickte er eilends den beiden seinen Wagen nach, da er es unsittlich fand, daß eine Lady Abercon in einem Mietwagen fahre. Ein Bankier hörte in London, daß seine Frau in Wien mit ihrem Geliebten täglich ausfahre und immer die besten Pferde aus dem Stalle dazu einspannen lasse. Er ließ durch seinen Diener Joseph seinem Kutscher Anton schreiben, er möge die alten Fuchsen dazu nehmen, die für den Dienst noch gut genug wären. Man möchte neben den Tragödien der Eifersucht mit ihren ewig gleichen Peripetien von Totschlag und Selbstmord diese sublimierten Variationen, wie sie das Beispiel der beiden Herren so sehr verschieden zeigen, nicht vermissen, denn sie fördern wirklich die Sittlichkeit. Nur der starke Mann kann übrigens mit Anstand eifersüchtig sein.
Unerhörte Gefühle haben und sie heftig ausdrücken, ist eine vulgäre Passion, wie der Gebrauch von Superlativen; sie nimmt in dem Maße zu, wie die Fähigkeit zu Gefühlen abnimmt. Wo in unseren Zeiten solche Explosionen Erscheinung werden, sind sie lächerlich, langweilig oder gefährlich, meistens auch verlogen. Der unbeherrschte Schmerz bei einem Sterbefall: das Individuum will die seltene Gelegenheit nützen, seine Schmerzerregbarkeit gänzlich zu zeigen. Es ist ein Mißbrauch, wie es eine gefälschte Wertung ist, wenn einer seine Geliebte mit dem Revolver bedroht, weil sie was andres mag. Ein wütend gewordener Hund erzeugt um sich her viel mehr Aufregung als ein sterbender Mensch. Wer wird bei der lustigen Komödie sich vor Lachen die Seiten halten? Ein Strohhalm, an die Fußsohle gebracht, erzeugt eine viel stärkere Wirkung. Aber der Mensch will sich besonders fühlen, jeder. So drängt und pufft er sich mit seinen Schmerzen und Freuden aus der Menge: sie sollen ihn auszeichnen. Es ist Snobismus der Gefühle: jeder will sie sich besonders stark und heftig und eigentümlich zuschreiben. »Nie wird dich eine Frau so lieben wie ich«, »du kannst bei keinem andern Mann so glücklich werden wie bei mir«, und alle diese Geschichten bis hinunter zu den Verbrecherromanen und bis hinauf zum unerhörtesten Einzelfall eines Gefühles – solche Äußerung ist falscher Geschmack, ist pöbelhaft, ist Angst vor dem Gemeinplatz, ist ein Bedeutenwollen mit dummen Mitteln. Jeder Ergriffenheit fehlt das Wort und fehlt die Geste. Man macht ein Theater, aber ein kleines Hündchen hebt alles auf. Ich kannte einmal einen jungen Mann, dessen schwindsüchtige Geliebte und deren kleines Muffhündchen Affi. Es war eine larmoyante Menage, die ich einmal zu Gast hatte. Die Geliebte bekam des Nachts einen Blutsturz und wurde bewußtlos zu Bett gebracht. Der Geliebte blieb bei ihr, um zu wachen, wie er sagte, und das Hündchen lag am Fußende. Am andern Morgen trat ich, als man meinem Klopfen keine Antwort gab, in das Zimmer. Der armen Frau im Bett war die Kinnlade ein für allemal heruntergefallen. Auf dem Boden vor dem Bette lag halb sitzend der Mann, hielt die Hand der Toten und schnarchte. Affi war aufgesprungen und bellte. Als er mich erkannte, hörte er damit auf, beschnupperte den Kopf des Mannes am Bettrande, hob ein Hinterbein, und des Schlafenden Gesicht empfing die Libation. Damit gab das Tierchen der aus dem guten Gewöhnlichen fallenden Situation wieder die Ausgleichung und epilogisierte treffend, wenn auch etwas zu stark pointiert, die reichlichen Gefühle eines Liebespaares, das sich immer höchst sonderbar und darin herrlich vorgekommen war.
Künstlern und Narren ist ihre Manie Existenz. Der ordentliche Mensch aber wird sich nur zu eigner und anderer Gefährdung und Langweile vom Gemeinplatz entfernen. Alle überlebensgroß geäußerten Gefühle werden ihn um jedes Gefühl überhaupt bringen und ihm die Antwort eines Gefühls des andern versagen.
Wer meint, daß Amfortas es der Kundry leicht gemacht hat, der hält nicht viel von der Frau und glaubt, daß mit einigen Bewegungen der Hüften und schiefgestellten Augen alle weibliche Kunst sich ausgebe und schon mehr leiste, als nötig ist, um das Ziel: die Eroberung, zu erreichen. Man kann Amfortas in einer ewig lächerlichen Situation darstellen und ihn überhaupt nicht ernst nehmen und wird dies immer tun, sowie man die gemeinen Wirklichkeiten der Erfahrenen unterstellt und dem Amfortas einen bürgerlichen Namen gibt. Aber in der metaphysischen Persönlichkeit sind alle Möglichkeiten nicht nur, sondern auch alle Denkbarkeiten als logisch wirklich zu nehmen. Jeder Liebhaber steigert Wesen und Art der Geliebten. Er »macht sich etwas aus ihr«, wie man sagt. Denn alle Männer wachsen auch in einem andern Sinne in das Weib hinein, stürzen in die Frau hinein wie Luft in ein Vakuum. Viele Geheimnisse des Mannes kennt die Frau aus Instinkt, und die andern, die noch bleiben, entlockt sie ihm in den schwachen Stunden, die nur der Mann hat, und welche die starken Stunden der Frau sind. Sie entlockt sie ihm, indem sie ihren Leib als Preis setzt oder so tut, was auf dasselbe herauskommt; denn dieser Preis ist im Denken der Frau eine Fiktion des Mannes. So ist die Frau die Bewahrerin von des Mannes Rätseln, der vor dem Weibe steht als vor seinen eigenen Unklarheiten, staunend und schaudernd. Wir können den Klang unserer eigenen Stimme nicht hören und haben das Fieber, wenn wir ihn hören, und suchen das Fieber, damit wir ihn hören.
Amfortas war der Vorletzte einer langen Reihe, die vielleicht mit einem Dichter begann oder mit dem ersten besten; denn für die jungen Mädchen gibt es oft nur das Mittel des Mannes, um die Männer zu bekommen, die sie haben wollen. Parzival schloß die Reihe, wenn anders mit ihm nicht eine neue anhebt, die man die zerebrale nennen kann: Männer, die einmal nichts sonst als Leidenschaft gewesen waren und jetzt nur noch Gedanke sind; glatte harte Stirnen wie Stein, aus denen das Feuer zu schlagen die Frauen gelüstet. Die asketischen Heiligen, die in die Wüste gehen, haben ein zerbrechliches Heiligtum. Die Anfechtungen ihrer Tagesträume sind mächtiger als alle Versuchungen der irdischen Nächte, die im Mond gleißen und in Düften schwimmen. Geißeln züchtigen die Seele, aber dem Blute sind sie eine Belustigung. Die Asketen sind Sinnliche mit schwachen Lenden. Nun: in der kuriosen Antithese seines Zustandes erfand sich Amfortas eine Philosophie, deren Bromgehalt ein beträchtlicher war. Sein Gehirn dachte ein ganzes Arsenal gegen das Böse aus, das er so phantastisch und begehrlich in seinem Blute fühlte, daß er dieses Böse in seiner Gestaltwerdung als Umarmung mit aller Stärke und Macht dieser Welt ausstattete: diabolus in lumbis. Seine erhitzte Phantasie fand unerhörte Worte dafür, die ihn schützen sollten mit dem Klang ihrer Greulichkeit. Und die Gegner wuchsen, da sie sich maßen. Heimlich und hinter dem Rücken seiner unsinnig-sinnlichen Begehrung baute Amfortas Wall und Graben gegen den Feind, eine steile Burg auf spitzem Berg, und baute sich immer ärger und enger ein mit sich selber, sich mit seinem lustigen Feind. Schon glaubte er ganz Geistigkeit zu sein, da kam es zum Nahkampf: Amfortas unterlag. Er verlor den Speer, und es blieb die Wunde. Der Zuschauer Klingsor, diese unphilosophische Bestie, lachte sich schief.
Wie man die Güte predigt, wenn man grausam ist und keine Freude daran hat, wie man die Grausamkeit lehrt, wenn man gütig und damit nicht glücklich ist, so ist der Mann voll Wut gegen die Frau, die er liebt. In Vorwissen wütend, denn jede Geliebte ist dein künftiger Feind. Es ist klar, daß Amfortas nur deshalb so gegen das Weib sich stellte, weil er es liebte. Er komplizierte sich die Sache nur damit, daß er als ein christlicher Neuplatoniker die Idee verehrte. Er wollte die Liebe ohne die Pausen in der mechanischen Aktivität, er wollte die Sehnsucht in Permanenz, die dauernde Trennung und die ewige Wiedersehensfreude. Er war durchaus für getrennte Schlafgemächer: zwischen beiden eine Glaswand ohne Tür. In der Ferne sind es leuchtende Sterne – in der Nähe dicke runde Trivialitäten. In der Ferne ist es das Weib, in der Nähe ist es Frau Soundso. Zum Weibe kann man divagierend beten, Frau Soundso hält sich an die rituellen Paternoster. Amfortas machte aus seinem Herzen eine Mördergrube. Er glaubte sich über alle Maßen reizlos und unappetitlich aufzuführen, da er ein härenes Gewand anzog, sich wie die Österreicher auf Reisen nicht rasierte und Heuschrecken aß. Er war ein solches Kind bei aller Weisheit. Er wußte nicht, daß was er für kälteste Abweisung hielt, als süßeste Lockung wirkte. Denn auch die Philosophie, und sei sie die reine Mathematik, hat für Kundry Geschlechtscharakter. Und Amfortas war wie ein Weininger doch nur ein allgemeiner Psychologist über die Frau d. h. ein völliger Unkundiger. Einen Schritt, der ihn von allen Übeln erlöst, ihn außer alle Begehrung gesetzt hätte, den Schritt tat er nicht. Einmal aus Philosophie: der Tod, und auch der hier gemeinte partielle, löst keine Differenz, denn er hebt den Differenzträger auf und damit natürlich auch jede Möglichkeit einer moralischen Überwindung. Und dann: nicht nur Lucretia wollte den Tarquinius zuerst kennenlernen, bevor sie sich erdolchte.
Kundry nimmt immer die komplementäre Farbe des Mannes an, mit dem sie zu tun haben will. Und mag sich der Mann eine unerhörte Position ausdenken, die Frau wird immer gleich die Stelle finden, wo sie, als ob nichts dabei wäre, ihre Menschlichkeit unterbringt. Die Nuance im Fall Amfortas schien schwierig. Gerade deshalb lockte die Probe und steigerten sich alle Mittel ins Grandiose. Das heißt: sie wurden in diesem Falle primitiv wie die Natur selber. Denn es ist das größte Kunststück einer Frau vor dem Mann: wie Natur sein. Als es später Kundry um die Versuchung des reinen Toren zu tun war, erschien sie diesem blaß in einer Blässe, an der die Essenzen aller Jahrtausende gearbeitet hatten. Dem Amfortas kam sie als das braune stammelnde Kind des Waldes, ein Tier fast. Auf einem Blumenlager toller Blüten, die Mädchen waren, lag sie für Parzival, bis an den ziegelroten Mund bedeckt mit der Pracht starrer Gewänder – aus einem wilden Dornbusch in zerfetzten Lumpen, durch die das harte bronzene Fleisch brannte, kroch sie dem Amfortas über den Weg, der ihn über den kurzen Steg der Bewußtlosigkeit in das lange öde Tal jammervollen Weinens führte. Denn Kundry, die Schweifende, die nichts als Versuchende, versagte ihm die Wiederkehr des einen Rausches, und so war was leuchtet kein Stern mehr, das Weib diese Frau, und die Liebe die eiserne Karotta der Begierden, nicht mehr das Blumenband der Sehnsucht, nicht mehr der Nebelstreifen der Idee. Ja, in die Erinnerung der vorhin noch strahlenden Scheibe der Idee fielen die dunklen Schatten des Erlebnisses und verunreinigten sie. Amfortas weinte über seine verpfuschte schöne Karriere. Mit seiner Heiligkeit in das heilige Böse sich zu begeben, zu dieser genialischen Perversion besaß er die Kraft nicht. Denn man kommt zum Satanismus nur mit der Kraft, nicht mit der Not. Und Amfortas besaß bloß die Einsicht, aber nicht die Kraft, wie Parzival die Heiligkeit hatte, aber nicht die Weisheit. Parzival war nur durch Mitleid wissend, und das Genie handelt nicht impulsiv, sondern bewußt; und Mitleid ist ein Impuls. Einmal kommt doch die Stunde, da Parzival die Kundry, der er das Geheimnis seines Mitleids geschenkt hat, fragen wird, warum sie die Kleider nicht mehr anzieht, die sie damals auf der Blumenwiese getragen. Ach, wie schnell wird sie ihren Kammerzofen klingeln! Ja: die Keuschheit ist ein Mittel gegen den Eros. Aber da dieses Mittel selber von Eros ist, wird sein Gebrauch keine neue Melodie geben, sondern nur die alte variieren. Der Keusche ist eine ständige Versuchung für die Frauen; keine Wüste ist groß genug, daß sie nicht zu ihm kämen. Und der allein zu sein meinte, lebt in einem Harem, wo ihm von tausend Händen das Taschentuch geworfen wird. Eine Flut von Batist, Linon und Spitzen erstickt ihn.
Ein ganz unerfahrenes junges Mädchen sagte: »Der Gedanke, daß es in meiner Macht liegt, einmal einem Manne das Glück zu sein, ist berauschend«, und bekam von einem Philosophen die Antwort: »Und wie entwertet wird Ihnen dann der Mann deshalb vorkommen, daß Sie, eine Frau, für ihn das Glück sein konnten!« Der Mann ist sehr stolz darauf, philosophieren zu können, und er stellt die Frau unter sich, weil ihr der Philosoph lieber ist als die Philosophie, weil sie nicht ewig geliebt sein will, sondern lange, weil sie gemeinsam nach Nizza fahren will und nicht zu den Sternen, weil sie praktisch ist und nicht theoretisch. Die Vollendetheiten des Mannes sind vielerlei, die Vollendetheit der Frau nur eine: ganz Frau sein, und dies heißt: gar nichts vom Mann haben, aber auch gar nichts; also auch nicht das Denkenkönnen. Il est plus important pour une femme de savoir assembler deux nuances d'étoffes que deux idées, sagt La Rochefoucault. Ließe es sich vergleichen, so hätte die vollendete Frau vor dem vollendeten Manne den Vorzug, denn sie ist dem Leben näher, auch in raffinierten Kulturen. Und wir messen einmal die Dinge am Leben. Wo der Mann, die langweiligste Seite der Frau, ihr feindlich nahe kommt, wird sie ihre ganze Natur sofort zeigen, dieses prachtvoll tierhafte Leben, dessen Nähe, ja dessen Krallen wir brauchen, um nicht unmenschlich zu werden. Die Überlegenheit der Frau ist es, daß unser Männerleben durch sie immer den so nötigen Rechenfehler bekommt. Wir sind nie sicher. Gott sei Dank nie sicher. Denn diese Sicherheit wäre banaler Tod.
Aber es steht diese Animalität der Frau heute in lebhafter Verleugnung durch die Frau selber. War sie früher ein Leib, so steht heute ihr Ehrgeiz auf eine Serie von Leibern. Und was ehemals der Glaube an den weiblichen Körper war scheint sich als Aberglaube zu erkennen.