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Die rosa Elefanten beim Tanzen. Die Freifrau von Einsiedel hat große Wäsche. Die Kunst und Wissenschaft der Devotion. Der Freiherr glaubte, der Schreiber Emanuel Karger würde ihm an die Brust sinken und rufen. »Du! – Ja du!« Einsiedel treibt's in die Nacht hinaus.
Die rosa Elefanten hatten Tanzunterricht.
Im Speisesaal arbeitete Tanzmeister Aulhorn im Schweiße seines Angesichts und geigte und kommandierte.
»Heu links! – Stroh rechts,« sagte er. »Heu! – Stroh! – Eins – zwei – drei – eins, zwei, drei –. Stroh heißt rechts, sage ich, Heu links, – gnädigstes Fräulein Friederikchen. – Aufpassen! – Aufpassen! – – So wird's nie im Leben ein Menuett! Oder soll ich Stroh an den Fuß binden.
Mit Links, Rechts fang ich schon gar nicht an: Heu, Stroh! – Stroh! Stroh! Heu!
Hochgeborne Fräuleins, nicht so schwitzen. – Nicht so steigen! – Schweben – Schweben! – sag' ich.«
Der alte Tanzmeister legte die Geige nieder, faßte die süßlila Tuchrockschöße zierlich, hob sie an beiden Seiten 23 in die Höhe – und schwebte. Die Lackschuhe mit ihren breiten Schnallen hüpften, der Zopf schwenkte und ein todernstes Lächeln verschönte die Züge. Er schwebte im wahren Sinne des Wortes, denn er glaubte zu schweben.
Fräulein Friederikchen und Fräulein Katharinchen kicherten und krochen fast ineinander, – so kicherten sie.
Niemand hatte darauf geachtet, auch die Baronesse nicht, die als Ehrendame am Kamin ihr Schläfchen machte, daß der alte Freiherr von Einsiedel eingetreten war. »Gänse!« donnerte der: »Was gibt's da zu lachen! – Er tut seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Mach Er,« wendete der alte Einsiedel sich an den Tanzmeister, der sein Schweben unterbrochen hatte und vollkommen Devotion geworden war, »mach Er, daß diese gracile werden, dann wird sein Douceur erklecklich ausfallen. – Meine Stieftöchter sind, wie Er weiß, Schnauze von Pfettrach, – haben demgemäß Hefe im Blut, das werden Sie wissen: die Familie war stets beleibt. – Es wird böse aufgehen; – aber im Zwischenreich hat das Frauenzimmer gracile zu sein, ist's auch meist.«
»Hochfreiherrliche Gnaden, werde mich bestreben mit allen Kräften und nach der Möglichkeit.«
Tanzmeister Aulhorn war Meister in der äußeren und inneren Wissenschaft und Kunst der Devotion und wendete sie gradweise und mit absoluter Sicherheit an. Er war wie Öl. Seine geistige Berührung immer angenehm 24 und wohltätig, kein Aulhorn, sondern ein Füllhorn von Ehrerbietung, angenehmen Redensarten. Man konnte nichts gegen ihn haben. Auch der Freiherr fand keine Ecke, an der er sich zu reiben vermochte, wie ein alter Eber solches zu tun liebt.
»Hochfreiherrliche Gnaden,« begann der Tanzmeister wie verzückt, »wenn ich an die Junker Friedrich Hildebrand und August denke, so möchte ich, ohne den hochgeborenen Fräuleins nahetreten zu wollen, untertänigst bemerken, daß selbige Junker außerordentlich gracile waren, ein Neigen, ein Gleiten, – ein Hochgenuß – und in wie jungen Jahren hatte ich die Junkerchen schon unter den Händen. Wenn ich von Weimar kam und auf den Altenburger Schlössern meine Tournee machte, da standen die Junker Friedrich Hildebrand und August mir wie Götterjünglinge vor der Seele.«
»Er ist mit den Jahren reichlich überschwenglich geworden,« sagte der Freiherr. »Laß Er das hier. Das mag in Weimar am Platz sein. Wie mir Friedrich Hildebrand schreibt, geruht man sich dort der Kanaille, der gebildeten Kanaille, über jede Gebühr hinaus zuzuneigen. – Sie werden es bereuen. Hat Er meinen Sohn kürzlich gesehen?«
»Zu dienen, hochfreiherrliche Gnaden. Freiherrliche Gnaden, Herr Friedrich Hildebrand, sahen wie's Leben aus und sind ein Kavalier wie noch einmal ein Kavalier. 25 Da gibt's nichts. Wie der seine Menuette tanzt, das sollten sie ihm einmal nachmachen, die Bürgerlichen, da fehlt's weit – und immer, wie mir gesagt wird, im ersten Menuett vor den Augen ihrer herzoglichen Gnaden. Mit Junker Friedrich Hildebrand lege ich hohe Ehre ein.«
»So mach Er nur, daß es auch hier geschieht. Das Frauenzimmer hat Er appetitlich zuzurichten, deshalb lebt Er.« Der Freiherr lachte laut auf, und der Tanzmeister machte eine tiefe Reverenz, ergriff seine Geige und ermunterte die hochgeborenen Fräuleins, fortzufahren.
»Paß auf,« sagte der Freiherr zu seiner Schwester, »daß die Mädchen ihre Sache ordentlich machen, damit es ihnen nicht ergeht, wie dir es erging, meine Liebe.«
»Heu links – Stroh rechts, eins, zwei, drei. Kompliment. Heu – Stroh, Stroh – Heu. Heu links, Stroh rechts. So – so – vortrefflich!«
Heute, zu Ehren der Tanzstunde, die Fräulein Friederikchen und Fräulein Katharinchen von Schnauz von Pfettrach gracile machen sollte, stand das ganze alte Schloß Lumpzig unter Wäschedampf. Auch die beiden Fräulein hatten kurz vor dem Tanzunterricht in der gewaltigen Waschküche mit an den Zubern gestanden und mitgewaschen, waren dann nur in ihre Kamisols geschlüpft und in die größten Reifröcke gekrochen und waren somit von einer schweren Arbeit in die andere gefahren.
26 Frau Barbara von Einsiedel gehörte zu den Hausfrauen nach altem Schrot und Korn, liebte große, dampfende Hauswirtschaften. Schlachten, Waschen, Backen, das war's, wonach ihr Herz verlangte. Die große Frau brauchte Hausrevolutionen, Hauskriegszüge und Belagerungen. Erst dann war's ihr wohl, wenn ganz Ungeheures sich begeben hatte.
Schmutzige Wäsche mußte sich zu einem Gebirge ansammeln, dann gab's ein Fest, dessen war sie sicher. Lange vordem standen die Zuber voll Regen- oder Bachwasser in der alten Burgwaschküche, in der schon Generationen gebrüht, geseiht, gerieben, gescholten, gewürgt hatten, und die Kessel kochten und die Holzasche gab Lauge.
Und als das übelduftende Leinengebirge dann anrückte, gab's für zwanzig kräftige Arme Götterwonne. Schaum und heiße Wasserströme, die sich ergossen – Wolken von Dämpfen, Schwirren von Gelächter und wilder Eifer, der von der Freifrau mächtig angefacht wurde durch schäumendes Hausbier, gewaltige Brote, Käse und Wurst, daß die Arbeitswut nur so aufdampfte.
Es war der Kriegszug der Weiber gegen den Schmutz.
Raserei und Kampfeswonne, Grauen vor der Übermacht des Feindes, Selbstsucht und Opfermut, Kleinmut und Größe, alles war vorhanden. Immer und überall dasselbe.
Und wenn nach unsäglichem Kampf, nach unsäglicher Arbeit und Not Begeisterung, Pflichttreue und Freude, 27 man denke an das Trocknen der blütenweißen Wäsche, der flatternden Hemden in windbewegter Sonnenluft auf grünem Wiesenplan, die Wäschestücke endlich unschuldsvoll und weiß in weiten Körben lagen, da schwoll das Herz solch einer Frau, wie Barbara von Einsiedel eine war, vor Stolz. Daß diesem hochgemuten Hausfrauenherzen die unerbittliche Tanzstunde der Töchter mitten in den Arbeitswirbel hinein ungelegen kam, ist zu verstehen. – Ach, es kam ihr manches ungelegen. Freiherr Schnauz von Pfettrach war ein bei weitem umgänglicherer Gemahl gewesen; – auch er hatte Hefe im Blut gehabt wie seine Töchter und war im Alter aufgegangen gleich einer Dampfnudel. Der alte Freiherr von Einsiedel aber war schieres Fleisch und fest, als trüge er eine Rüstung. Und dieser schiere Mann war unbezwinglich und souverän, was Frauen betraf, was Trunk betraf, das war seine und niemandes anderen Sache. Auch die Tanzstunde ging ganz nur ihn etwas an. Er hatte den Aulhorn kommen lassen. Es war sein Aulhorn und Füllhorn und seine Tanzstunde.
Aber in diese Tanzstunde gerieten auch noch der Junker August von Einsiedel und der gute Emanuel Karger. Als der junge Einsiedel seine Stiefschwestern unter dem Kommando Heu – Stroh so bemitleidenswert herumhopsen sah, rührte das sein Herz, und er nahm die Schwester 28 Friederikchen in die Arme. »Emanuel, nimm du die andere, und in Gottes Namen – schwenken wir sie einmal.
Aulhorn, spiel Er uns eine Mazurka, so recht aus dem Handgelenk, wie Er's so schön kann.«
Das tat Aulhorn entzückt und aufs angenehmste berührt, denn er liebte die Junker von Einsiedel, und siehe da, trotzdem der Bruder feinknochiger, zierlicher als die Schwester war, brachte er Friederikchen, kraft seiner elastischen Energie, einigen Rhythmus bei; auch der etwas klapprige und bescheidene Emanuel entfaltete eine Sicherheit im Tanz, die man ihm nie und nimmer zugetraut hätte. Er hielt Katharinchen, das hochgeborene Fräulein, ganz zünftig im Rechte des heiligen Rhythmus in den Armen.
»Ja, ja,« sagte August Einsiedel, als er seine Schwester und Dame wieder an ihren Platz am Kamin geführt hatte, »da fehlt's noch weit. Du steckst unverhältnismäßig tief in einer bockigen Natur, und es wird schwer halten, dich herauszuholen. – Es müßte denn durch eine Liebe sein, davor aber bewahre dich Gott im Himmel; das ist, habe ich mir sagen lassen, eine außerordentlich unbequeme, schmerzliche Sache, an der schon viele Leute zugrunde gingen und starben.«
»Ne, an einer Liewe ging ich nich zugrunde, Aagust.«
»Ne,« sagte der bösartig, »da is auch noch kein Sachse oder Altenburger zugrunde gegangen, – die wird allemal fortgegäkst; – aber, sieh mal, wie Emanuel Karger, 29 euer geliebter Lehrer, flott mit Katharinchen tanzt, – ganz und gar nicht unebenbürtig, – ganz verteufelt.« August von Einsiedel machte sein scharfes Maul und sah unverschämt aus. »Der Trieb des Männchens ist immer souverän, auch beim befangensten Tierchen.«
»Was schwätzt de denn da fir Zeigs,« sagte Friederikchen.
»Ich gääkste!«
Er war nervös und frech, winkte Emanuel Karger zu und sagte: »Kommen Sie, lassen wir die Tanzbären.«
Und sie gingen miteinander, machten einen Gang durch die Felder einen Wiesenpfad entlang, der sich an einem Bächlein dahinschlängelte.
»Ich bin ekelhaft, – wie eine Kreuzspinne giftig. Wie ich denn auf dieser Welt keinen Zusammenhang begreife, als den mit Stricken und den nur halbwegs; denn ich begreife nicht, weshalb die Teile des Stricks beisammen bleiben.
Und das beständige Närrischfinden und Nichtbegreifen ist mir lieber als die Erkenntnis a priori. Darin, meine ich, liegt auch die vom asiatischen Weisen so gerühmte Kontemplation. So eine Art von Entzückung, von Nichteinwirkung der ganzen Welt, bloßes Erstaunen und Lachen.
Wenn sie nur nicht so gäksen wollten! Alles, was böse und frech in mir ist, gäksen sie heraus. Das ist nicht gut. 30 Es gibt immer eine Wunde, die wieder heilen muß. – Das nimmt Kräfte.«
»Sie sollten nicht hier bleiben, lieber Junker.«
»Sprechen Sie nur weiter, lieber Herr Karger, ich weiß schon, was Sie sagen wollen, mein Herr: Ihro freiherrliche Gnaden müssen ins Joch, – müssen sich einspannen lassen. – Ja, wenn ich mir noch wie die meisten Menschen auf meine Wirksamkeit Wunderstreiche einbilden könnte.
Übrigens, mein Lieber, mit mir geht's absolut nicht: Ich bin und bleibe der Junker freiherrliche Gnaden für dich. Mit meiner Schwester aber da scheint sich's vortrefflich zu machen, ihre angenehme rosige Masse preßtest du recht vertraulich im Tanz ans kärgliche Brüschtlein.«
»Junker August, was fällt Ihnen ein!« Emanuel Karger war heftig errötet.
»Ist nicht so schlimm gemeint. – Ich sag nur so. Mich läßt du ruhig und sachlich in meiner Isolierung, ein bißchen fader Rhythmus, und alles ist über den Haufen geworfen, Herr Prinzgemahl.«
»Ich verbitte mir Hohn.«
»Schau, in mir sitzt keiner, höchstens so ein paar Spritzerchen dummen Witzes auf den Lippen, – hat gar nichts zu sagen, mein Lieber. Bei mir hat überhaupt fast nichts was zu sagen. – Schlimm. Ich bin jetzt wundgerieben und deshalb unausstehlich.«
31 »Und es ginge Ihnen so gut, wenn Sie nur wollten, Begabung an allen Ecken und Enden. Und Sie können reisen, Sie können studieren, sind Ihr eigener Herr!«
»Das alles heißt, du willst mich wohl wieder ins Bergamt spedieren; aber nein. Ich bin so frei, als irgendein Mensch unter der Sonne, allzu frei, mich zieht nichts an sich. – Ich verhungere schließlich vor lauter Freiheit. Niemand nimmt von mir Notiz.
Unterhalb des Erdbodens ist's wie oberhalb. 's ist alles närrisch, läuft gegeneinander, reibt sich aneinander, drückt und ängstigt sich vor Druck. Mir wird's alle Tage klarer, daß die Natur noch viel komplizierter im Zerstören ist als im Erhalten. Ich lebe hier doch recht isoliert, 's ist niemand, der mich begreifen kann, hab' keine Freunde, keine Existenz, will's nun noch zu guter Letzt mit der Chemie versuchen; aber ich merk's im voraus, es ist im Feuer so wenig Ausfüllung für mich als in jedem anderen Element.
Einen einzigen Menschen hab' ich hier,« da wendete sich August von Einsiedel an seinen subalternen Freund, faßte dessen Hand warm, »so lieb und treu ist er als einer, aber in einfacheren Verhältnissen, in beständigem Fleiß und kleinlicher Tätigkeit aufgewachsen, sind ihm so mancherlei Verhältnisse nie zum Gefühl geworden.«
Emanuel Karger schaute betroffen auf, denn sein Herr und Freund hatte mit der ganzen sehnsüchtigen Innigkeit 32 eines vereinsamten Herzens gesprochen, so rückhaltlos, wie nur eine edle Seele, die ganz Wahrheit ist, gar keinen Grund sieht, sich zu verstecken, sprechen kann, eine Seele ohne Eitelkeit, ohne heftige Triebe, eine Seele, die die Welt überwand, ohne es zu wissen, und nun in jungen Jahren, die von Weltüberwindung noch nichts wissen sollten, nicht weiß, was sie mit dieser überwundenen Welt beginnen soll.
Er hielt seines Freundes Hand, um dessen Nähe und handgreifliche Liebe und Wärme er vielleicht nur launenhaft kämpfte, fest, als wollte er sich daran halten. Er glaubte, daß ihm Emanuel an die Brust sinken würde und rufen: »Du, ja du, du Freund! – Endlich sind wir auch äußerlich vereint – endlich hab' ich den Turm, von dem ich gestern sprach, geistig erstiegen und sehe alles unter mir, alle Vorurteile, alle Schranken um mich her und über mir den freien ewigen Raum.«
Statt dessen aber sah er in ein zuckendes Gesicht, auf niedergeschlagene Augen, auf ein zaghaftes Männchen, das daheim eine arme Mutter zu ernähren hatte, dem Angst war, durch eine Unbedachtsamkeit die gute Stelle bei seiner freiherrlichen Gnaden zu verlieren, den armen, kleinen, guten, eingeschnürten Spießer. Da erbarmte sich des Freiherrn vereinsamtes Herz und er sagte: »Laß gut sein, mein Lieber – wir brauchen das gar nicht. Es ist so wohl noch schöner.«
33 Zugleich mit diesem Erbarmen kam die Grazie und der Übermut einer freien Seele über ihn, und er sagte: »Aber das hochgeborene Fräulein Katharinchen hat er doch sehr männlich an sein mageres, vorsichtiges Brüschtlein im Tanze gedrückt. Die Natur kommt eben auch dem Hilflosen zu Hilfe.«
»Das hochgeborene Fräulein war im Tanze nicht gar leicht zu bewegen,« antwortete Emanuel befangen.
»Bravo! Ritterlicher Jüngling! – Nur keinen Schritt vom Wege.«
*
Die Nacht vor Ostern, als unser Herr einst im Grabe lag wie jeder arme Mensch, ausgestoßen von den Lebendigen, in Einsamkeit verborgen, den Tod auskostend. Diese geheimnisvolle, wiederkehrende Nacht, in der die Tiere reden dürfen, in der die Sterne tanzen, die Schneeglöckchen läuten, das Erz in den Bergen leuchtet, in der die Gräber sich auftun in Sehnsucht nach dem Jüngsten Tag, an dem das Leben sich neu ergießen wird, die Nacht, in der die Bauernmädchen und Weiber, o Wunder, schweigend zum Born gehen, um das Osterwasser zu schöpfen, das ewige Schönheit verleiht, diese Nacht liebte der Freiherr von Einsiedel vor allen Nächten von je, und wenn's gar noch stürmte und Wolken jagten und die kahlen Bäume, in denen der Saft wie starker Wein kreiste und schäumte, um 34 bald in Knospen und Blüten auszubrechen, rauschten und sausten, in der die liebenden Katzen hexenmäßig schrien und die Käuzchen närrisch vor Liebe waren, da trieb es ihn hinaus, da lustwandelte er, das war seine Nacht, die Nacht seines eigenen Wesens.
Auch er lag dann wie im Grabe, wie vereinsamt – ausgestoßen von den Lebendigen, so erschien es ihm; auch sein Grab öffnete sich in dieser Nacht in Sehnsucht – ganz feine Glöckchen läuteten in ihm, die er sonst nicht hörte. – Das Erz, die ungehobenen Schätze in seiner Natur, begannen zu glimmen und sich zu regen, und die stummen Tiere seines Wesens redeten zu ihm. – Es war seine heilige, geheimnisvolle Nacht; heute mehr wie je.
So wandelte er durch den Park, den Wiesenpfad am Bächlein hin, das glucksend im Mondlicht dahinglitt, und der Mond leuchtete mit seinem Halbgesicht im abnehmenden Zustand und schaute so fremd, wenn die jagenden Wolken ihn freiließen.
So schlenderte Einsiedel durch das schlafende Dorf, das, weit verstreut unter Bäumen lang sich hinziehend, in einer Erdfalte windgeschützt sich barg.
Durch ein niederes, erleuchtetes Fensterchen blickte der nächtliche Lustwandler, da sah er Wunderliches: Auf dem Tisch im Zimmer brannte die Kerze im hölzernen Lichthalter und im niederen, großen Raume standen die Bewohner des Hauses regungslos. Der Bauer wie aus Holz 35 geschnitzt so steif. Sein Schatten fiel deutlich auf die weiße Wand dem Fenster gegenüber, der Altvater neben ihm, die Bäuerin, die Söhne, die Töchter, der Knecht, die Magd, alle gleich steif, gleich feierlich in einer Reihe und alle mit dem Gesicht der Wand zugekehrt, und ihre Schatten standen ihnen gegenüber, als wären ihre Seelen aus ihnen herausgetreten, die sie nun ängstlich und ehrerbietig betrachteten. Eigen schauerlich war dieser Zufallsblick in das nächtliche, unerwartete Treiben fremder Menschen, und er blieb mit wunderlichem Grauen stehen, da fiel ihm ein, daß es ein alter Brauch sei, die Nacht vor Ostern das Schicksal zu befragen, wer vom Hause in diesem Jahre sterben müsse, dem schwand der Kopf im Schattenbild dahin. Und so standen sie starr und gefaßt und doch voll inneren Entsetzens regungslos, in tiefem Schweigen, und Einsiedel schaute gespannt mit ihnen.
Da klang ein fester, starker Schritt auf der einsamen Dorfstraße, ein Schritt, den er gar wohl kannte, ein ungehemmter Schritt, den nichts im Leben geändert hatte, der Schritt eines Jägers, der mit der Beute zufrieden war, eines Herrenjägers, der auf eigener Flur gejagt hatte.
Einsiedel verbarg sich hinter dem Holzstoß am niederen Fenster und ließ seinen Vater an sich vorüber, so nah, daß er dessen Geruch spürte und daß er ihn im hellen Mondlicht deutlich sah, das Gewehr über der Schulter, ein 36 Liebesliedchen summend, mächtig, wohlhäbig, guter Laune, so ging der schiere Mann, so kam er von irgendeinem Abenteuer, einem gutgeglückten und reichlich begossenen Handel etwa, einem munteren Zusammentreffen mit guten Bekannten, einem Liebeshandel.
Zärtlich pfiff er, zärtlich brummte er vor sich hin. Er war zärtlich, der alte Knabe, so mochte es wohl kein Pferdehandel gewesen sein, der ihn solchergestalt bewegte – und so ging er wohlgemut seinem Heime zu, in dem ihm alles und alle dienten.
»Nachttier!« flüsterte der Sohn ihm nach, – nicht giftig, nicht erregt, aber kalt und kurz.
Es war nicht das erstemal, daß Vater und Sohn einander so nächtlich trafen, der Alte ahnungslos, heiter, ungehemmt, der Junge einst mit stockenden Pulsen.
Das erstemal entsann er sich, da hatte er im Zwielicht eines Winterabends den Vater einem Diebe gleich aus einem Hause schleichen sehen, und als der Junge staunend den stolzen Vater mit großen Augen angeblickt, da hatte er von ihm eine souveräne Schelle bekommen, daß ihm Hören und Sehen vergangen.
Das Nebelbild des schleichenden Mannes aber war trotz der väterlichen Schelle in der Seele des Jungen nicht ausgelöscht worden, es hatte sich zu einem Eisgebilde kristallisiert und hatte Kälte erzeugt, Nachsinnen, Grübeln und Mißtrauen.
37 Und das alles war in der Seele des Kindes gewachsen, hatte sich darin eingenistet.
Die stramme zweite Frau, die das sanfte, verfeinerte Leben der ersten im Hause bald verwischt hatte, war für den sensibeln Jungen wie in eine Dunstwolke von Nahrung gehüllt. In der Küche, beim Einmachen, beim Schlachten, in der Milchwirtschaft, überall war die fleißige Frau zu sehen, überall, wo es dampfte, appetitlich roch, wo Speise zubereitet wurde. Wenn sie sprach, sprach sie von Speise, wenn sie mit der Hand dem Jungen übers Haar gestrichen, hatte die Hand nach Speise, nach Gebäck, gewürzig, gar nicht unangenehm gerochen. So hatte er angenommen, daß sie durch und durch so speiseduftend sei. Es verbanden sich sonderbare Ideen mit ihr; aber daß es Liebe und Zugehörigkeit war, davon zu wissen, schien er zu allen Zeiten weit entfernt gewesen zu sein.
Die zweite Brut, die im Hause aufwuchs, die mit in die Ehe gebracht war, konnte auch das Herz des verschlossenen Jungen nicht erwärmen, und der eine Bruder, Friedrich Hildebrand, war ein zu feines Bürschchen, das sich in alles besser zu schicken wußte, der geborene, abgeschliffene Hofmann, der alles nahm wie es war und die Wissenschaft und Kunst der Devotion mit auf die Welt gebracht hatte. Der die eigene, immer verschwiegene Freiheit so behandelte, als wäre sie gar nicht vorhanden.
38 So wandelte August Einsiedel heute niedergeschlagenen und sehnsüchtigen Herzens nach den einfachsten Bedingungen des Lebens in der Osternacht seines Weges, als ein zerflatternder Mann, der nicht wußte, wohin er sein Haupt legen sollte, den eigentlich nichts an diese Welt band und weniger noch spürte er Verlangen nach einer künftigen.
Da hob sich in seiner Seele wie von ungefähr das Bild einer Frau, seiner Mutter jüngsten Schwester, und er hörte im Geiste seine Mutter sagen: »Wenn meine kleine Schwester kommt, die ich die Burg nenne, weil sie so brav und lieb ist, wird alles gut.«
Und die Burg kam, aber es wurde im Sinne dieser Welt nicht gut, die liebe Mutter starb – aber sie starb in Frieden und mit einem Lächeln auf den Lippen und in den Armen eines guten, schönen, ganz jungen Wesens. Er entsann sich, daß die Burg ihm einst während des Krankenlagers seiner Mutter im Park begegnet war, weiß gekleidet, mit einem grauen, zarten, bauschigen Busentuch, und daß sie ihn gebeten hatte: »Geh, lieber Bub, bind mir meinen Schuh,« und hatte das Kleid ein wenig gehoben und ihm ihr Füßchen hingesetzt, an dem die Schuhschleife aufgegangen war.
Und er hatte mit großer Mühe und viel Zeitverbrauch ein kleines Ungetüm von Schleife zusammengebracht. Da hatte die Burg sich zu ihm gebeugt und ihn an sich gezogen 39 und zärtlich geküßt und ihre Tränen waren ihm auf die Wangen getropft wie ein warmer Frühlingsregen. – »Du, mein Bub,« hatte sie geschluchzt, »wie du zu uns gehörst, – wie du ganz der unsere bist. Gelt, wir verlassen einander nicht?«
»Und weshalb heißt du denn die Burg?« hatte er gefragt, weil ihm nichts anderes einfiel.
»Ich heiß doch Amarelle, Burg nennt mich nur deine Mutter, weil ich so viel fester bin als sie und weil deine Mutter sagt, ich hielte, was ich verspreche – und so wollen wir einander oft wiedersehen.«
Aber sie hatte es nicht halten können, was sie dem Jungen versprochen, das Leben war zwischen sie und ihn getreten. Ihre Heirat mit einem Grafen Sternberg führte sie ins Ausland – und sobald es anging nach der Mutter Tod, war die neue Frau auf Schloß Lumpzig eingezogen und hatte ihr Regiment begonnen und er hatte selten von der Burg gehört.
Hin und wieder war ein Brieflein an ihn gekommen, das ihn warm und lebendig berührt hatte. Er wußte, daß sie früh verwitwet, kinderlos, jetzt auf einem kleinen Gütchen bei Eisenach lebte.
Aber nun wollte er sich auch aufmachen – ja – er wollte reisen, mit der Welt anbinden und sehen, was sich daraus ergeben würde. Und so ritt er bald darauf auf seinem Schecken und im hechtgrauen Reisehabit und ließ 40 Schloß Lumpzig hinter sich, in dem zwei ihm nachfühlten. Der Buckel im scharlachnen Rock hatte ihm das Felleisen gepackt und den Koffer, der mit Fahrgelegenheit befördert werden sollte. Dem Buckel war es gewesen, als verbände sich längst Vergangenes mit Kommendem, als ritte sein lieber Junker der schönen Zeit wieder zu, die der Alte in seinem dummen Mohrenherzen mit allen Herrlichkeiten auszuschmücken beliebte, und war wohl weiter nichts gewesen als ein vornehm verwöhntes Lärvchen, eine süße Stimme, zarte Düfte und vielleicht ein weiches, leidendes, freundliches Herz.
*
Emanuel Karger brachte seinen freiherrlichen Freund ein gut Stück Wegs und ging neben dem Schecken müde und schon verlassen einher. – »August, lieber, geliebtester August! Freund aller Freunde,« klang es in ihm, denn wahrlich, er wanderte neben dem Liebsten, das er auf Erden besaß, und seine Seele war angefüllt mit Zärtlichkeiten, Stolz, Liebesbeteuerungen, Freundschaftsschwüren und Leid. Nichts aber, o Himmel, von all dem kam über die Lippen des Braven, in sich selbst Eingeschnürten. Sie sagten sich Lebewohl, ohne daß Emanuel imstande gewesen wäre, die Schranken seines Spießertums zu durchbrechen.
August von Einsiedel aber spürte den Kampf in der unfreien Seele des subalternen Freundes, hielt sein Pferd 41 an, stieg ab, nahm den armen Befangenen in seine Arme, preßte ihn warm an seine Brust und gab ihm einen innigen Freundschaftskuß.
Dann schieden sie.
Emanuel schaute mit heißen Tränen nach: »Da zieht er hin, der liebe Teuerste, und wer reist – Gott weiß, wann und ob – und wie er zurückkehrt. – Gott behüte ihn.« 42